EXPERIMENTALEN ÄSTHETIK
VON
GUSTAV THEODOR FECHNER.
ERSTER TEIL.
Vom Verfasser übergeben den 20. Dezember 1870
Der Abdruck vollendet den 7. Januar 1871
Vorerinnerung.
Der vorliegende erste Teil der hierzu bietenden Untersuchungen
wird außer allgemeinen Gesichtspunkten, historischen und kritischen
Erörterungen, nur erst die Darlegung der Methoden der Untersuchung
enthalten; indes die zur Verwertung der Versuche nötigen Rechnungsregeln
mit den Versuchen selbst dem folgenden Teile vorbehalten bleiben. Diese
Versuche sind in vieler Beziehung noch zu vervollständigen und gern
würde ich die Veröffentlichung des Ganzen bis zu dieser Vervollständigung
verschoben haben, um nicht wiederholt auf die Zukunft deshalb verweisen
zu müssen, da manche, schon hier zu berührende wichtige Punkte,
sowohl was Methoden als Resultate anlangt, noch nicht hinreichend erledigt,
sind, wenn nicht der Wunsch, durch Veröffentlichung dieses ersten
Teiles als Festschrift einen Beitrag zu einer, für die königliche
Gesellschaft wichtigen, Feier zu geben, mit dem Bedürfnisse und dem
Wunsche zusammengetroffen wäre, dadurch die Fortsetzung der Versuche
selbst zu fördern. Jene Feier betrifft das fünfzigjährige
Ordinariatsjubiläum des hochverehrten Seniors der Leipziger Universität
und Sekretärs der mathematisch-physischen Klasse der königlichen
Gesellschaft, Professors Ernst Heinrich Weber (am 8. Januar 1871).
Abgesehen von seinen anderweiten hohen Verdiensten war derselbe seit Galilei’s
Zeiten wohl der erste, welcher (durch seine bahnbrechenden psychophysischen
Versuche) das Gebiet exakter Untersuchung über scheinbare Grenzen
desselben hinaus erweitert hat, und zwar nach einer Richtung, in welche
nach der im folgenden Eingange gemachten Bemerkung die jetzige Untersuchung
aus gewissem Gesichtspunkt hineintritt, worin die Darbietung der Schrift
bei dieser Gelegenheit ein Motiv finden konnte. Die Hoffnung und das Bedürfnis
aber, durch diese Veröffentlichung des Anfanges der Untersuchung den
Fortschritt derselben selbst, zu fordern, ruht darin, dass dadurch eine
größere Geneigtheit für Beteiligung an den dazu nötigen
Versuchen hervorgerufen werden könnte, als ich bei der Fremdartigkeit
der Gesichtspunkte, die der Untersuchung unterliegen, bisher zu erzielen
vermochte.
Jedenfalls hat diese Untersuchung keinen Vorwurf
Seitens des Sprichwortes: "Nonum prematur in annum" zu fürchten, da
sie schon im Jahre 1861 begonnen, und, freilich mit langen Unterbrechungen
und oft ziemlich schläfrigem Betriebe, bis jetzt fortgesetzt worden
ist, wobei ich einer Unterstützung Seitens der Herrn Grabau
und Dr. Nies dankbar zu gedenken habe; nur dass teils die mangelnde
Gelegenheit, eine hinreichende Zahl von Versuchssubjekten dazu zusammenzubringen,
teils die Nötigung, frühere, zum Teil schon längere Zeit
fortgesetzte, Versuchsreihen wegen unzweckmäßiger Einrichtung
wieder fallen zu lassen, wie dies in einem ganz neuen Versuchsfelde wohl
erklärlich ist, keinen raschen und ergiebigen Fortschritt gestattete
und für die Entscheidung mancher erst spät auftretenden Fragen
noch kein hinreichendes Versuchsmaterial hat gewinnen lassen. Eine vorläufige
Anzeige des allgemeinen Gesichtspunktes und Hauptresultates der Untersuchung
ist gelegentlich einer dahineintretenden Spezialfrage im Naumann-Weigelschen
Archive für zeichnende Künste (1865, XI) gegeben.
Nach Allem meine ich nicht, wenn ich im folgenden
Eingange die Anfange einer exakten Behandlung der Ästhetik in Aussicht.
stelle, dass die Exaktheit der Resultate in dieser Lehre überhaupt
so weit getrieben werden könne, als in Astronomie und Physik; ich
meine aber, dass durch Anwendung und weitere Ausbildung der hier auseinanderzusetzenden
Methoden der Genauigkeit und Sicherheit so nahe wie möglich gekommen
werden könne. Es gibt überhaupt in dieser Hinsicht Unterschiede
zwischen verschiedenen Lehren und zwischen verschiedenen Aufgaben jeder
einzelnen Lehre. Auch die Physiologie kann hinsichtlich der Exaktheit ihrer
Resultate allgemeingesprochen nicht mit Astronomie, Physik und Chemie wetteifern,
weil sie die Bedingungen, die es zu untersuchen gilt, nicht eben so isoliert
vorfindet oder eben so leicht isolieren kann. Und diese Schwierigkeit.
der Isolierung trifft auch unsere Lehre. Aber man tut in dieser Hinsicht,
was man kann, und erreicht damit doch mehr Sicherheit im Allgemeinen, als
wenn man sich überhaupt nur an allgemeine Apercus hält oder aus
komplizierten Bedingungen einfache Schlüsse zieht, und kann selbst
über viele Spezialpunkte mit Sicherheit entscheiden.
Inhalt
II. Historisches und Kritisches.
IV. Prinzipien der experimentalen Untersuchung; Maß und Methoden.
V. Eingehendere Bemerkungen über die verschiedenen Methoden.