Viertes Kapitel.

Verlauf der nervösen Leitungsbahnen.

Die Betrachtung der Bauelemente des Nervensystems hat bereits der Vorstellung Raum gegeben, daß Gehirn und Rückenmark samt den aus ihnen entspringenden Nerven ein System leitender Fasern bilden, die in den Zentralorganen durch zahlreiche Knotenpunkte, die Ganglienzellen, in Verbindung gesetzt sind, während sie in der Peripherie des Körpers in von einander getrennte Bezirke ausstrahlen. Auch die äußeren Formverhältnisse der Zentralorgane scheinen diese Vorstellung zu unterstützen. Denn sie lehrten uns eine Reihe von Formationen grauer Substanz kennen, welche die von den äußern Organen herankommenden Fasern sammeln und ihre Verbindung mit höher gelegenen grauen Anhäufungen vermitteln, bis endlich die zuerst in den Rückenmarkssträngen, dann in den Hirnschenkeln und schließlich im Stabkranz nach oben strebenden Leitungsbahnen in die Hirnrinde eintreten; hier aber weisen die Commissuren auf einen Zusammenhang der Rindenelemente beider Hirnhälften hin. Es erhebt sich jetzt die Frage, ob dies im allgemeinen gewonnene Strukturbild auch im einzelnen sich bestätige, und wie der Verlauf der verschiedenen nervösen Leitungswege beschaffen sei.
    Die in den Nervenfasern geleiteten Vorgänge bezeichnet man, weil ihre greifbarsten Ursachen äußere Reize sind, allgemein als Reizungen oder Erregungen. In solchen Fällen, wo diese Vorgänge ihren nächsten Ursprung nicht außerhalb, sondern in den Zuständen der nervösen Teile selber zu haben scheinen, pflegt man dann eine innere Reizung der letzteren anzunehmen. Als Zeichen der Erregung wird am häufigsten die Empfindung oder die Muskelbewegung benutzt; doch sind dies keineswegs die einzigen Effekte äußerer oder innerer Reize. Die Erregung kann in der Form irgend eines andern physiologischen Prozesses, z. B. als Drüsensekretion, als Wärmesteigerung, sich äußern, unter Umständen vermag sie sogar auf andere Reizungsvorgänge hemmend einzuwirken: in allen diesen Fällen nennen wir trotzdem den Vorgang eine Reizung oder Erregung. Geleitet wird diese Auffassung durch das physiologische Prinzip, daß die Vorgänge in der Nervenfaser von gleicher Beschaffenheit sind, welchen Enderfolg die Reizung auch haben möge1).

1) Näheres über dieses Prinzip vergl. am Schluß des fünften Kapitels.

Nach der Richtung, in welcher die Reizungvorgänge übertragen werden, unterscheiden wir die Leitungsbahnen als zentripetale und zentrifugale. Bei den ersteren beginnt die Reizung an irgend einer Stelle der Peripherie des Körpers und nimmt die Richtung nach dem Zentralorgan. Bei den letzteren geht sie vom Zentralorgan aus und ist nach peripherischen Teilen gerichtet. Die physiologischen Effekte der zentripetal geleiteten Reizung sind, sobald sie zum Bewußtsein gelangen, Empfindungen. Häufig tritt zwar dieser Enderfolg nicht ein, sondern die Erregung reflektiert sich, ohne auf das Bewußtsein zu wirken, in einer Bewegung. Doch werden auch in diesem Fall, wenigstens teilweise, die nämlichen Leitungswege in Anspruch genommen, die den bewußten Empfindungen dienen. Wir bezeichnen daher die zentripetalen Leitungsbahnen allgemein als die sensorischen. Von mannigfaltigerer Art sind die physiologischen Resultate der zentrifugal geleiteten Reizungen: diese können sich in Bewegungen quergestreifter und glatter Muskeln, in Drüsensekretionen, in parenchymatösen Absonderungen und in den von letzteren abhängigen Ernährungs- und Wachstumsvorgängen äußern. In der nachfolgenden Darstellung werden wir jedoch nur die Bewegungsleitung oder die motorischen Bahnen berücksichtigen, da diese den wichtigsten und für psychologische Erfolge fast allein in Betracht kommenden Anteil der zentrifugalen Leitung darstellen. Jene Reizungsvorgänge, welche die nutritiven Prozesse beeinflussen, setzen überdies einer genaueren Untersuchung ihrer Leitungsverhältnisse ungleich größere Schwierigkeiten entgegen. So weit sie bis jetzt erforscht sind scheinen die betreffenden Wege den motorischen Bahnen der entsprechenden Körperprovinzen sich anzuschließen.
    Die Leitung der Erregungen geschieht auf die einfachste Weise, so lange sie durch den ununterbrochenen Zusammenhang der Nervenfasern vermittelt wird. Sie gestaltet sich verwickelter, wenn der Verlauf der letzteren durch graue Substanz unterbrochen ist. Hierbei können nicht nur Verzweigungen und Richtungsänderungen der Leitungswege stattfinden, sondern es kann auch, wie die Erfahrung lehrt, in Folge der Zwischenschiebung von Nervenzellen der Enderfolg des Reizungsvorgangs wesentlich verändert werden, sei es dadurch daß die Zelle Leitungsbahnen, die mit verschiedenartigen Endgebieten zusammenhängen, mit einander verbindet, sei es dadurch daß in ihr selbst der Vorgang modifiziert wird. Endlich wird da, wo durch Einschaltung grauer Substanz eine Leitungsbahn sich in mehrere Zweige trennt, stets die Frage gestellt werden können, auf welchem Weg die Erregung am häufigsten, etwa schon bei mäßiger Intensität des Reizes, sich fortpflanzt, und welche Wege die selteneren sind, die vielleicht nur bei starken Reizen oder bei ungewöhnlicher Beschaffenheit der Reizbarkeit eingeschlagen werden. Kurz, in allen solchen Fällen wird die Hauptbahn von den Neben- und Zweigbahnen zu unterscheiden sein.
    Bei dieser ganzen Untersuchung stützt man sich auf ein Prinzip, ohne welches dieselbe überhaupt nicht geführt werden könnte, auf das Prinzip nämlich, daß innerhalb jeder Leitungsbahn der Reizungsvorgang isoliert bleibt, nicht auf benachbarte Bahnen überspringt. Die Richtigkeit dieses Prinzips, welches als das Gesetz der isolierten Leitung bezeichnet wird, erhellt aus der Tatsache, daß die Erregungsvorgänge im allgemeinen, bei normaler Beschaffenheit der Reizbarkeit und nicht zu hoher Intensität der Reize, örtlich beschränkt bleiben. Ein genau lokalisierter äußerer Eindruck auf eine Sinnesoberfläche erzeugt eine scharf begrenzte Empfindung, ein auf eine bestimmte Bewegung gerichteter Willensimpuls bringt eine umschriebene Muskelzusammenziehung hervor, u. s. w. Mehr freilich als eine in der Regel stattfindende Sonderung der Vorgänge in den Hauptbahnen beweisen diese Tatsachen nicht, eine strenge Isolierung der Reizung innerhalb jeder Primitivfibrille ist nicht einmal während des peripherischen und noch weniger während des zentralen Verlaufs derselben wahrscheinlich. In Bezug auf die Nervenfaser haben wir dies schon früher hervorgehoben2). Die Nervenzelle aber erscheint durch die vielen Fortsätze, die sie entsendet, so sehr als ein Organ, welches Leitungswege vereinigt oder zerstreut, daß man aus anatomischen Gründen geneigt sein möchte, noch viel ausgedehntere Übertragungen der zentralen Reizungsvorgänge anzunehmen, als solche durch die physiologische Beobachtung bestätigt werden.

2) Siehe Zweites Kapitel.

    Zur Nachweisung der nervösen Leitungswege können wir sowohl den Weg der anatomischen wie denjenigen der physiologischen Untersuchung einschlagen. Entscheidende Ergebnisse wird zwar nur die letztere geben, da der Begriff der Leitung ein physiologischer ist. Aber nachdem als Bedingung derselben die Kontinuität der Nervenfaser, sowohl die unmittelbare als die durch Ganglienzellen vermittelte, nachgewiesen ist, wird man nicht nur bestrebt sein überall, wo das physiologische Experiment die Existenz einer Leitungsbahn dargetan hat, dieselbe auch anatomisch wiederzufinden, sondern es wird überdies in solchen Fallen, in denen die Physiologie noch nicht im Stande war, einen Leitungsweg genauer zu verfolgen, die Anatomie von sich aus versuchen dürfen durch Erforschung der erforderlichen Faserzusammenhänge denselben zu entdecken. In der Tat steht gegenwärtig die Sache so, daß im Gebiete des peripherischen Nervensystems und bei der niedersten Abteilung der Zentralorgane, beim Rückenmark, die Nachweisung der Leitungsbahnen ausschließlich durch das physiologische Experiment geschieht, während dieses von den weiteren Wegen, welche die Reizungsvorgänge innerhalb des Gehirns nehmen, höchstens einige rohe Umrisse oder einzelne Punkte auffinden kann, alles nähere aber der Aufhellung der anatomischen Struktur anheimgeben muß. Dies hat seinen begreiflichen Grund in der Schwierigkeit, die mit einander zusammenhängenden und zum Teil verborgenen Gebilde des Gehirns isoliert dem Experiment zugänglich zu machen.
    Die physiologische Erforschung der Leitungswege bedient sich fast überall der willkürlichen Herbeiführung von Leitungsstörungen durch Unterbrechung der Bahnen an einer bestimmten Stelle ihres Verlaufs. Sobald eine Kontinuitätstrennung von einer motorischen oder sensorischen Lähmung gefolgt ist, wird geschlossen, daß die Trennungsstelle im Bereich derjenigen Bahn liegt, welche den Muskeln oder der empfindenden Fläche, deren Funktion aufgehoben ist, entspricht. Durch Reizungsversuche können nur die peripherischen Bahnen mit einiger Sicherheit ermittelt werden, indem man aus den Muskelzuckungen oder aus dem Ort der peripherisch lokalisierten Empfindungen auf das Verbreitungsgebiet der Nerven welche gereizt worden sind, schließt. Innerhalb der Zentralorgane dagegen lassen sich auf diese Weise teils wegen der unten zu erwähnenden veränderten Reizbarkeit der zentralen Substanz, teils wegen der unbestimmteren Ausbreitung der Erregungen keine zuverlässigen Aufschlüsse mehr gewinnen. Zuweilen gestatten die Kontinuitätstrennungen auch noch auf einem andern Wege als dem der direkten Beobachtung eintretender Störungen Schlüsse über den Verlauf der Bahnen. Die Trennung peripherischer oder zentraler Nervenfasern hat nämlich, wenn sie längere Zeit besteht, eine eigentümliche Veränderung desjenigen Teils der Fasern im Gefolge, dessen Zusammenhang mit bestimmten Zentralherden grauer Substanz aufgehoben ist. Diese Veränderung besteht in Schwund des Achsenzylinders, körnigem Zerfall der Markscheide und Zunahme der Bindegewebselemente, also des Neurilemmas oder der bindewebigen Grundsubstanz der Zentralorgane. Zugleich treten in der letzteren mit Fettkörnchen erfüllte Zellen, so genannte Körnchenzellen, auf; sie sind wahrscheinlich veränderte Bindegewebskörper der Neuroglia3). Für die Hirnrückenmarksnerven liegen jene Zentralherde, an welche die Erhaltung ihrer histologischen Eigenschaften gebunden ist, innerhalb des Cerebrospinalorgans. Durchschneidung der Nerven bewirkt daher Degeneration des peripherischen Teils der Fasern, während der von der Trennungsstelle aus nach dem Zentralorgane verlaufende Teil unverändert bleibt. Für die meisten sympathischen Nervenfasern scheint den Ganglien die Rolle solcher Erhaltungszentren zuzukommen. Übrigens bewahrt keineswegs jede Anhäufung grauer Substanz die mit ihr zusammenhängenden Nervenfasern vor Degeneration. Vielmehr kann, wie namentlich das Beispiel des Rückenmarks zeigt, auch nach der Trennung einer zentralen Faser auf der einen Seite der Trennungsstelle die Veränderung eintreten, auf der andern aber ausbleiben, obgleich die Faser auf beiden Seiten mit grauer Substanz im Zusammenhang steht. Jede Faser scheint also an jeder Stelle ihres peripherischen oder zentralen Verlaufs hauptsächlich von einem Endigungspunkte her Einflüsse zu empfangen, von welchen ihr normaler Bestand abhängt. Wahrscheinlich ist dies immer derjenige Punkt, an dessen Erhaltung vorzugsweise die Funktion der Faser gebunden ist. In der Tat ist auch die Veränderung durchschnittener Nerven völlig jenen Veränderungen analog, welche alle außer Funktion gesetzten Organe erleiden4). Für eine Nervenbahn, welche von ihren Funktionsherden getrennt ist, kann nun augenscheinlich das Symptom der Degeneration mitbenutzt werden, um ihren Verlauf zu bestimmen; doch sind auf diesem Wege bis jetzt nur geringe Aufschlüsse gewonnen worden.

3) TÜRCK, Sitzungsber. der Wiener Akad. VI, S. 288. simon, Archiv f. Psychiatrie II, S. 349.

4) In jedem Organ, dessen Funktion ruht, wird nämlich das schwindende Gewebe allmälig durch Bindesubstanz ersetzt. Übrigens gibt es eine Beobachtung, welche mit der Annahme, daß die Degeneration der Nervenfasern auf der Trennung von ihrem Funktionszentrum beruhe, in Widerspruch steht: nach der Durchschneidung einer sensibeln Nervenwurzel soll nämlich nur das mit dem Zentralorgane, nicht das mit dem Ganglion zusammenhängende Stück sich verändern. Da aber alle andern Tatsachen, insbesondere auch die unten zu erwähnenden Veränderungen der Rückenmarksstränge nach Trennungen derselben, mit dem Satze im Einklang stehen, daß der histologische Bestand der Organe an ihre Funktion geknüpft ist, so tragen wir vorläufig, ehe wiederholte Bestätigung vorliegt, Bedenken, grade bei den Nerven eine Ausnahme zu statuieren und für sie besondere gangliöse Ernährungszentren anzunehmen, die von den funktionellen Zentren verschieden wären.

    Der Gedanke liegt nahe, die Erforschung der nervösen Leitungsbahnen bei einem Endpunkte derselben anzufangen und von da zum andern Ende zu schreiten, indem man diejenige Richtung einhält, welche die geleiteten Vorgänge selber nehmen. Von diesen beginnen nun, wie oben bemerkt wurde, die einen in den peripherischen Organen und verlaufen zentripetal zum Gehirn, die andern gehen vom Zentralorgane aus und eilen zentrifugal nach der Peripherie des Körpers. Aber es würde offenbar unzweckmäßig sein, dergestalt entgegengesetzte Ausgangspunkte für die verschiedenen Leitungswege zu benutzen, da diese doch an verschiedenen Stellen ihres Verlaufs in Beziehung zu einander stehen. So scheint es denn angemessen hier überhaupt nicht ein physiologisches sondern ein anatomisches Prinzip in den Vordergrund zu stellen und die Verfolgung der Bahnen bei demjenigen Punkte ihres Verlaufs zu beginnen, wo dieselben am einfachsten angeordnet sind. Dieser fest bestimmte Punkt ist aber derjenige, wo die Nerven unmittelbar in der Form der so genannten Nervenwurzeln aus den Zentralorganen hervortreten. Von da aus wollen wir die Leitungswege zuerst in die Peripherie des Körpers, dann in die Zentralorgane hinein verfolgen. Außer der Einfachheit der Betrachtung kann für den hier gewählten Gang noch der weitere Grund angeführt werden, daß auch historisch die Nachweisung der Nervenbahnen mit der Auffindung des Leitungsgesetzes für die Nervenwurzeln begonnen hat.
    Aus dem Rückenmark treten die Nervenwurzeln in zwei Längsreihen, einer hinteren und vorderen. Die hinteren Nervenwurzeln sind sensibel, ihre Reizung erzeugt Schmerz, ihre Durchschneidung macht die ihnen zugeordneten Strecken der Haut unempfindlich; die vorderen Nervenwurzeln sind motorisch, ihre Reizung bewirkt Muskelkontraktion, ihre Durchschneidung Muskellähmung. Die Fasern der hinteren Wurzeln leiten zentripetal, nach ihrer Durchschneidung verursacht nur die Reizung des zentralen Stumpfes Empfindung, nicht die des peripherischen; die Fasern der vorderen Wurzeln leiten zentrifugal, hier erzeugt Reizung des peripherischen Stumpfes Muskelzuckung, nicht die des zentralen5).

5) Eine Ausnahme bildet die von MAGENDIE entdeckte, von BERNARD und SCHIFF bestätigte Erscheinung, daß der peripherische Stumpf der vorderen Wurzel ebenfalls eine schwache Sensibilität zeigt, die aber verschwindet, sobald man die hintere Wurzel durchschneidet. Man erklärt diese "rückläufige Sensibilität" nach dem Vorgang von magendie gewöhnlich durch die Annahme, daß die sensible Wurzel an die motorische Fasern abgibt, welche in der letzteren von der Vereinigungsstelle an rückwärts verlaufen. (schiff, Lehrbuch der Physiologie I, S. 144). Wenn man dem Prinzip der isolieren Leitung nur eine begrenzte Gültigkeit zuerkennt, so könnte die rücklaufige Sensibilität möglicher Weise darin begründet sein, daß unter der Vereinigungsstelle der Wurzeln die Reizung von motorischen auf sensible Fasern überspringt. Dann wäre jedoch zu erwarten, daß auch auf Reizung sensibler Wurzeln Muskelzuckung eintrete. Bis jetzt ist dies nur bei der Reizung mit starken elektrischen Strömen beobachtet worden, wo der elektrotonische Zustand die Erregung verursacht. Vergl. Du bois-reymond, Untersuchungen über tier. Elektrizität II. S. 595. Eine andere Möglichkeit ist die, daß sensible Nervenfäden, welche sich im Neurilemma verbreiten, die rückläufige Sensibilität verursachen.

    Aus diesem Gesetz, welches CARL bell zuerst festgestellt hat, und welches nach ihm mit dem Namen des BELL’schen Satzes belegt worden ist, geht hervor, daß an der Ursprungsstelle der Nerven die sensibeln und die motorischen Leitungsbahnen vollständig von einander gesondert sind. Für die Hirnnerven gilt der nämliche Satz mit der Erweiterung, daß bei den meisten derselben diese Scheidung nicht bloß auf einer kurzen, nahe dem Ursprung gelegenen Strecke, sondern entweder während ihres ganzen Verlaufes oder doch auf einem längeren Teil ihrer Bahn erhalten bleibt6). Ihren Grund hat die Vereinigung der sensibeln und motorischen Wurzeln zu gemischten Nervenstämmen ohne Zweifel in der räumlichen Endverbreitung der Nervenfasern. Die Muskeln und die sie bedeckende Haut werden von gemeinsamen Nervenzweigen versorgt. Die Trennung der funktionell geschiedenen Leitungsbahnen auf ihrem ganzen Verlaufe bleibt daher nur bei jenen Hirnnerven bestehen, deren Endausbreitungen ihren Ursprungsorten beträchtlich genähert sind, während die Ursprungsorte selbst weiter auseinandertreten. Hier führt der getrennte Verlauf einfachere räumliche Verhältnisse mit sich, als die anfängliche Vereinigung jener sensibeln und motorischen Fasern, die sich zu benachbarten Teilen begeben.

6) Rein sensibel sind nämlich Riech-, Seh- und Hörnerv, rein motorisch die Augenmuskelnerven, der Angesichts- und Zungenfleischnerv (Facialis, Hypoglossus); ähnlich den Rückenmarksnerven, d. h. nur nahe dem Ursprung unvermischt, sind der Trigeminus, Glossopharyngeus und der Vagus mit dem Accessorius; bloß beiden letzteren besitzt die sensible Wurzel ein Ganglion, das den eigentlichen Sinnesnerven fehlt. Vom morphologischen Gesichtspunkte hat man versucht, sämtliche Hirnnerven mit Ausnahme der beiden vorderen Sinnesnerven ebenfalls in Nervenpaare mit sensibeln und motorischen Wurzeln zu ordnen (vgl. ARNOLD, Handb. der Anatomie II, S. 830). Physiologisch gilt aber der BELL'sche Satz für die Hirnnerven allein insofern, als auch sie in getrennten sensibeln und motorischen Wurzeln aus dem Zentralorgane entspringen, während die Wiedervereinigung jener Wurzeln zu gemischten Nerven nur bei einigen derselben stattfindet.

    Wie der Ursprung, so richtet sich auch der weitere peripherische Verlauf der Nerven wesentlich nach den Bedingungen ihrer Verbreitung. Solche Fasern, die zu gemeinsam wirkenden Muskeln, oder die zu einander genäherten Teilen der Haut gehen, ordnen sich zusammen. Nachdem vordere und hintere Nervenwurzeln einen gemischten Nerven gebildet haben, verläuft daher letzterer nicht immer einfach und auf dem kürzesten Wege zu den Orten seiner Ausbreitung, sondern er tritt häufig mit andern Nerven in einen Faseraustausch. Auf diese Weise entstehen die so genannten Nervengeflechte (Plexus). Die Bedeutung derselben wird man wohl darin sehen müssen, daß die Nervenfasern bei ihrem Ursprung aus dem Zentralorgan zwar vorläufig bereits so geordnet sind, wie es den Bedingungen ihrer peripherischen Verbreitung entspricht, daß aber diese Ordnung doch noch keine vollständige ist, sondern nachträglich ergänzt werden muß. Die Plexus treten deshalb vorzugsweise an denjenigen Stellen auf, an welchen sich Körperteile befinden, die starker Nervenstämme bedürfen, wie die beiden Extremitätenpaare. Hier machen es schon die räumlichen Bedingungen des Ursprungs unmöglich, daß die Nervenstämme genau so aus dem Rückenmark hervortreten, wie sie in der Peripherie sich verbreiten. Außer dieser ergänzenden hat aber die Plexusbildung ohne Zweifel auch noch eine kompensierende Bedeutung. Beim Ursprung aus den Zentralorganen werden diejenigen Nervenfasern einander am meisten genähert sein, welche in funktioneller Verbindung stehen. Diese letztere geht nun zwar häufig, aber durchaus nicht überall mit der räumlichen Ausbreitung zusammen. So vereinigen sich z. B. die Beuger des Ober- und Unterschenkels zu gemeinsamer Aktion: jene liegen aber an der Vorder-, diese an der Hinterseite des Gliedes und empfangen daher aus verschiedenen Nervenstämmen, jene vom Schenkel-, diese vom Hüftnerven, ihre Fäden. Haben nun die Nerven für die Beuger der ganzen Extremität, wie es höchst wahrscheinlich ist, einen benachbarten Ursprung, so müssen sie im Hüftgeflecht in jene nach verschiedenen Richtungen abgehenden Stämme sich ordnen. Wahrscheinlich kommt den einfacheren Verbindungen der Wurzelpaare mehr die ergänzende, den komplizierteren Plexusbildungen mehr die kompensierende Bedeutung zu.
    Da die motorische Wurzel in die vordere, die sensible in die hintere Hälfte des Rückenmarks sich einsenkt, so liegt die Vermutung nahe, daß im Innern dieses Zentralorgans die Leitungsbahnen in der nämlichen Ordnung gesondert nach oben laufen. In der Tat ist diese einfachste Ansicht auch die ursprünglichste gewesen. Die Alten schon betrachteten das Rükkenmark als den gemeinsamen Stamm aller Rumpfnerven. Nach der Feststellung des BELL’schen Satzes wurde diese Vorstellung nur dahin abgeändert, daß man in den Vordersträngen die motorischen, in den Hintersträngen die sensibeln Fasern jenes Nervenstammes annahm. Die Seitenstränge betrachtete bell selbst, da aus ihnen im verlängerten Mark mehrere bei der Respiration beteiligte Nerven (Vagus, Accessorius, Facialis) hervorkommen, als die Faserbündel der Respirationsnerven7). Andere nahmen, weil diese Stränge auf Reize motorisch aber unempfindlich zu sein scheinen, an, daß sie sich mit den Vordersträngen an der motorischen Leitung beteiligen8) Der Weg endlich, welchen die Reizung bei ihrer Fortpflanzung im Mark einhalte, sollte auf der nämlichen Seite liegen, auf welcher die betreffenden Nervenwurzeln heraustreten: für die rechte Körperhälfte sollte also die rechte, für die linke die linke Markhälfte die Leitungsbahnen enthalten. Diese einfache Ansicht fand aber ihre Widerlegung in physiologischen Erfahrungen, welche beweisen, daß die Bedingungen der Leitung im Rückenmark andere und verwickeltere sind als in den peripherischen Nerven. Es sind hauptsächlich drei Reihen von Tatsachen, welche die Lehre von den Leitungsgesetzen im Mark begründet haben: erstens die Leitungsstörungen nach partiellen Querteilungen des Rückenmarks, zweitens die Phänomene der Reflexbewegung, drittens die veränderte Reizbarkeit der grauen Substanz und der aus ihr hervorgehenden zentralen Fasern der Markstränge. Aus der näheren Betrachtung dieser Erscheinungen werden die Leitungswege im Rückenmark, so weit dieselben bis jetzt nachweisbar sind, von selbst sich ergeben.

7) Bell, exposition du systeme natur, des nerfs, trad. par Genest. Paris 1825. p. 27.

8) LONGET, Anatomie und Physiologie des Nervensystems, übers. von Hein. Bd. I, S. 242.

    Die Erfolge der queren Durchschneidung einer Markhälfte beweisen, daß nicht alle Leitungsbahnen auf der nämlichen Seite verbleiben, auf welcher die Nervenwurzeln in das Mark eintreten, sondern daß ein Teil derselben innerhalb des Rückenmarks von der rechten in die linke Hälfte übertritt und umgekehrt. Allerdings sind die Angaben verschiedener Experimentatoren über Art und Umfang der nach halbseitigen Durchschneidungen eintretenden Leitungsstörungen noch äußerst widersprechend9); auch mögen nicht bei allen Tierklassen gleichförmige Verhältnisse bestehen. So viel aber dürfte sich als ein gesichertes Resultat der bei den verschiedensten Tieren ausgeführten Rückenmarksversuche ergeben, daß nach Trennung der einen Markhälfte auf keiner Körperseite eine vollständige Lähmung der Empfindung oder Bewegung eintritt. In Bezug auf die sensible Leitung widersprechen selbst Diejenigen, welche noch in neuerer Zeit eine ungekreuzte Leitung annahmen, nicht diesem Satze, sondern geben nur den Erscheinungen eine andere Deutung10). Häufiger wurde eine komplete Muskellähmung auf der Seite der Durchschneidung behauptet; doch ist auch hier die Mehrzahl der Beobachter gegenwärtig darin einig, daß auf der gleichen Körperhälfte noch Spuren willkürlicher Bewegung und auf der entgegengesetzten Störungen derselben zu beobachten sind11). Bei der sensibeln Leitung ist die partielle Kreuzung deutlicher nachweisbar als bei der motorischen; es ist daher nicht unwahrscheinlich, daß verhältnismäßig mehr sensible als motorische Bahnen den gekreuzten Weg nehmen12). Wie die Wege der Leitung auf die graue und weiße Substanz sich verteilen, muß vorerst dahingestellt bleiben. Im allgemeinen wird nur zu vermu-ten sein und wird auch durch die Erfolge der isolierten Durchschneidung der Markstränge bezeugt, daß die weißen Markfasern in ihrer Mehrzahl in der Richtung der Hauptleitung verlaufen, daß also die Fasern der vorderen Stränge vorzugsweise auf der nämlichen Seite nach oben treten, die der hintern Stränge aber in verhältnismäßig größerer Zahl die gekreuzte Bahn einschlagen.

9) Zur Geschichte dieser Kontroverse vergl. v. Bezold , Ztschr. f. wiss. Zoologie, Bd. 9. S. 307.

10) So CHAUVEAU (journ. de la physiol t. I, 1858, p. 176) und von Bezold (Ztschr. f. wiss. Zoologie, Bd. 9. S. 307) welche die Sensibilitätserscheinungen auf der Seite der Durchschneidung als Reflexe auffaßten oder wenigstens eine solche Auffassung als möglich zuließen. Gegen die Behauptung, daß Zeichen bewußter Sensibilität von Reflexen nicht zu unterscheiden seien, hat übrigens schiff mit Recht bemerkt, daß Schreie und ähnliche Schmerzenszeichen zwar noch nach Entfernung des großen Gehirns als Reflexe von der med. oblongata aus entstehen, daß aber deshalb jene Zeichen nicht an und für sich als bloße Reflexe betrachtet werden können, sondern bei Erhaltung des Gehirns ohne Zweifel in der Regel mit bewußter Empfindung verbunden sind (Physiologie l, S. 233). Eine totale Kreuzung der sensibeln Leitungsbahnen nahm BROWN-SÈQUARD an (Experimental researches applied to physiol. and pathol. New-York 1853. Journal de la physiol. I. 1858. p. 176), doch hat derselbe später zugegeben, daß bei manchen Tieren auf der dem Schnitt entgegengesetzten Seite Spuren von Sensibilität zu finden seien, die er in etwas gezwungener Weise als Muskelempfindungen deutet, welche die in Folge der Reizung ausgelösten Reflexbewegungen begleiten sollen (Lectures on the physiology and pathology of the central nervens System. London, 1860. p. 35). Wie schiff vermutet, sind die Resultate BROWN-SÈQUARD'S durch Beeinträchtigung der grauen Substanz auf der nicht durchschnittenen Seite getrübt worden (Physiologie I, S. 217). Da, wie wir unten sehen werden, die graue Substanz in jeder Richtung Erregungen leitet, so folgt schon hieraus, daß nach halbseitiger Markdurchschneidung auf keiner Seite eine vollständige Anästhesie bestehen kann. Es wäre zwar möglich, daß die sämtlichen in der weißen Substanz enthaltenen sensibeln Bahnen eine Kreuzung erfahren, aber mit Sicherheit ist dies nicht anzunehmen, weil sich nicht bestimmen läßt, ob eine zurückgebliebene Sensibilität von Leitung in der grauen oder in der weißen Substanz herrührt. Beweisend könnte allein eine Markdurchschneidung sein, bei der bloß die weißen Stränge der einen Seite erhalten blieben. Eine solche bietet aber allzugroße experimentale Schwierigkeiten, als daß sie mit der wünschenswerten Reinheit sich ausführen ließe. Vermehrt werden diese Schwierigkeiten noch durch die Hyperästhesie, welche, wie wir unten sehen werden, den Verletzungen der grauen Substanz zu folgen pflegt, und welche eine Vergleichung der Sensibilität vor und nach der Durchschneidung fast unmöglich macht.

11) BROWN-SÈQUARD, lectures p. 48. VULPIAN, lecons sur la physiologie du système nerveux. Paris 1866, p. 385.

12) Eine sichere Feststellung dieses Punktes ist jedoch wegen der unten zu erwähnenden Veränderungen, welche die Verletzung herbeiführt,
kaum möglich, daher um die Frage der sensibeln Kreuzung sich auch vorzugsweise die Kontroverse bewegt hat.

    Abgesehen von den Hauptbahnen der Leitung, welche für die motorische Reizung in den Vorder- und Seitensträngen, für die sensible in den Hintersträngen und vielleicht auch noch im hintersten Teil der Seitenstränge gelegen sind, vermittelt die graue Substanz des Rückenmarks in jeder Richtung die Übertragung der Erregung, so daß, so lange nur eine kleine Lücke grauer Substanz erhalten bleibt, durch dieselbe auch Erregungen, welche ober- und unterhalb stattfinden, geleitet werden können. Diese Leitung durch die graue Substanz unterscheidet sich somit wesentlich von derjenigen, welche die Markstränge bewirken. Die Leitungsbahnen der letzteren halten bestimmte, teils geradläufige teils gekreuzte Richtungen ein, in der grauen Substanz ist aber nicht einmal eine Trennung sensibler und motorischer Leitungsgebiete zu finden13). Aus den Leitungsstörungen, die nach absichtlich oder zufällig herbeigeführten Kontinuitätstrennungen des Marks eintreten, ergibt sich demnach im Ganzen, daß die motorischen und sensorischen Bahnen im Rückenmark teilweise gekreuzte Wege einschlagen, und daß die den Zentralkanal umgebende graue Substanz Erregungen jeder Art in jeder Richtung zu leiten vermag.

13) Das allseitige Leitungsvermögen der grauen Substanz ist namentlich von Schiff durch mehrfach variierte Versuche erwiesen worden. Selbst wenn von den grauen Vorderhörnern nur ein kleiner Teil erhalten ist, werden noch Empfindungseindrücke nach dem Gehirn geleitet (a. a. O. S. 257), ebenso durch die Hinterhörner Bewegungsimpulse (ebend. S. 282). Dagegen hört die Leitung der Empfindung auf, wenn die Hinterstränge samt der grauen Substanz durchschnitten werden, ebenso die Leitung der Bewegung, wenn Vorder- und Hinterstränge nebst der grauen Substanz getrennt sind. Nach diesen Versuchen würden demnach die Seitenstränge als ganz motorisch gelten müssen. Doch ist zu erwagen, daß ihr an die Hinterstränge grenzender Teil von den letztern nicht isoliert werden kann, so daß ein Verlauf sensibler Leitungsbahnen in denselben immerhin wohl möglich bleibt und in der Tat, wie wir unten sehen werden, durch gewisse Versuche bestätigt wird.

    Die Sicherheit der auf Markdurchschneidungen gegründeten Schlüsse wird dadurch erheblich beeinträchtigt, daß bei denselben immer zugleich Reizungserscheinungen eintreten, durch welche das Bild der Leitungsstörung getrübt wird. Jede Verletzung des Rückenmarks bringt nämlich einen Zustand erhöhter Reizbarkeit hervor, der in der Regel auf diejenige Körperseite beschränkt bleibt, auf welcher die Verletzung stattfand, zuweilen aber auch auf die andere Seite übergreifen kann. Sind die sensibeln Bahnen von der Verletzung getroffen worden, so besteht die erhöhte Reizbarkeit in einer Hyperästhesie, welche in verstärkten Reflexen und Schmerzenszeichen auf Einwirkung von Reizen sich äußert. Wurden die motorischen Bahnen verletzt, so stellen leicht entweder anscheinend spontan oder auf Reizung sensibler Nerven länger dauernde Konvulsionen sich ein. Eine solche Hyperkinesie pflegt nicht auf die Seite der Verletzung beschränkt zu bleiben, wie es in der Regel mit der Hyperästhesie der Fall ist14). Bei der letzteren tritt daher die verminderte Empfindlichkeit der entgegengesetzten Körperhälfte noch deutlicher hervor15) , während die Hyperkinesie auf einige Zeit die Lähmungssymptome überhaupt undeutlicher macht. Beide Veränderungen der Reizbarkeit müssen wohl, da sie nicht unmittelbar mit der eingetretenen Kontinuitätstrennung zusammenhängen, sondern sich erst einige Zeit nach der Verletzung einstellen, im weiteren Verlauf aber wieder allmälig verschwinden, auf einen durch dieselbe verursachten Reizungszustand zurückgeführt werden. Dabei ist die erhöhte Sensibilität wahrscheinlich deshalb mehr auf die Seite der Verletzung beschränkt, weil die Reizung vorzugsweise auf die Wurzelfasern der nämlichen Seite sich ausbreitet. Die Hykerkinesie aber zeigt keine solche Beschränkung, da sie überhaupt nicht auf der Leitung zum Gehirn beruht, sondern im Rückenmark selbst zu Stande kommt, indem sich in den Markfasern oder in der grauen Substanz desselben ein Reizungszustand entwickelt, der als erhöhte Reflexerregbarkeit oder sogar als unmittelbare Erregung der motorischen Fasern sich äußert16). Der Zustand der Hyperkinesie scheint sich allmälig von der verletzten Stelle weiter auszubreiten. BROWN-SÉQUARD fand nämlich, daß bei Tieren, welche Verletzungen des Rückenmarks überlebten, nach einigen Wochen anscheinend spontan oder auf mäßige sensible Reize allgemeine Konvulsionen eintraten17). Da der Zentralherd solcher Krämpfe, wie später gezeigt werden wird18), in das Gebiet des verl. Marks und der Brücke fällt, so muß demnach in solchen Fällen die Veränderung der Reizbarkeit bis zu diesen Teilen emporgestiegen sein. Es ist begreiflich, daß die so alle partiellen Durchschneidungen oder andere pathologische Kontinuitätstrennungen begleitenden Veränderungen der Reizbarkeit die Beurteilung der Leitungsstörungen erschweren; dies macht sich aber hauptsächlich bei der Leitung der Empfindungseindrücke geltend, da an den sensibeln Wurzelfasern der verletzten Seite der Zustand erhöhter Reizbarkeit vorzugsweise sich äußert. Das gewöhnliche Bild, welches halbseitige Durchschneidungen oder Verletzungen des Markes darbieten, ist daher: fast vollständige Lähmung der Muskeln und erhöhte Reizbarkeit der Haut auf der verletzten, geringere Bewegungsstörungen und verminderte Empfindlichkeit auf der entgegengesetzten Seite19). Hieraus kann nun zwar mit ziemlicher Sicherheit geschlossen werden, daß die motorischen Bahnen großenteils ungekreuzt nach oben gehen, ob aber die größere Zahl der sensibeln Bahnen einen geradlinigen oder gekreuzten Verlauf nimmt, bleibt ungewiss. Denn hat die erhöhte Reizbarkeit ihren Sitz in den der verletzten Stelle (Fig. 44) benachbarten Wurzelfasern, so wird, sobald nur ein Teil der Bahnen (z. B. b) auf die andere Seite übertritt, die Empfindlichkeit in der peripherischen Ausbreitung dieser Wurzelfasern bei A vermehrt sein. Auf der entgegengesetzten Körperhälfte B aber, auf welche in der Regel die von der verletzten Stelle ausgehende Veränderung nicht übergreift, ist bloß jene Verminderung der Sensibilität bemerkbar, welche durch die Trennung der gekreuzten Fasern b' bewirkt ist20). Wenn an irgend einer Stelle die Leitung in den weißen Marksträngen während längerer Zeit unterbrochen wird, so bilden sich die im allgemeinen geschilderten Veränderungen aus: Schwund der Nervenfasern, Auftreten von Körnchenzellen und Körnchenhaufen, Zunahme des interstitiellen Gewebes. Hat die Verletzung die Hinterstränge betroffen, so pflanzen sich diese Veränderungen vorzugsweise nach aufwärts, in geringerem Maße nach abwärts fort. Umgekehrt verhält es sich nach Verletzungen der Vorderstränge. Die Seitenstränge bieten ein gemischtes Verhalten dar: ein Teil scheint sich den hinteren, ein anderer den vorderen Strängen analog zu verhalten. Diese Tatsachen fügen sich vollständig dem früher aufgestellten Satze, daß die Ursache der Degeneration die aufgehobene Funktion ist. Denn augenscheinlich schreitet die Veränderung in derjenigen Richtung am schnellsten fort, in welcher die vollständigste Aufhebung der Funktion stattfindet: dies ist aber bei den motorischen Strängen die zentrifugale, bei den sensorischen die zentripetale Richtung. In den ersteren können möglicher Weise noch Bewegungsimpulse vom Gehirn, in den letzteren Empfindungseindrük-ke von den Sinnesorganen aus bis zur Durchschnittsstelle geleitet und so ein gewisser Grad der Funktion erhalten werden, wodurch sich der Eintritt der Veränderungen verlangsamt21).

14) Übrigens hat SANDERS (Geleidingsbanen in het ruggemerg. Groningen 1866. p. 66) zuweilen auch eine vorübergehende Hyperästhesie auf der entgegengesetzten, gewöhnlich unempfindlicheren Seite beobachtet.

15) Vielleicht wird auch in Folge des auf der Seite der Durchschneidung bestehenden Reizungszustandes die Erregbarkeit auf der entgegengesetzten wirklich vermindert. Vgl. Sanders a. a. O. p. 112.

16) Daß die Hyperästhesie nicht Folge der Trennung des Zusammenhangs sein könne, hat bereits SCHIFF  (Lehrb. der Physiol. I, S. 274) gegen BROWN-SÉQUARD hervorgehoben. Schiff, der den Zustand daraus ableiten wollte, daß eine Reizung der Hinterstrange verändernd auf die graue Substanz wirke, vermochte aber die Einseitigkeit der Hyperästhesie nicht zu erklären. Sanders beobachtete bei jungen Tieren, daß sich die Hyperästhesie sogar auf die vor der Durchschneidungsstelle abgehenden sensibeln Bahnen fortpflanzen kann; er führte sie daher auf eine Ausbreitung des Wundreizes zurück, welche je nach Umständen eine verschiedene Ausdehnung gewinnen könne (a. a. O. p. 151). Die Hyperästhesie ist, wie schiff beobachtet und sanders bestätigt hat, nach bloßer Durchschneidung der Hinterstränge stärker ausgebildet, als wenn gleichzeitig die graue Substanz verletzt ist. Wahrscheinlich hat dies darin seinen Grund, daß im letztern Fall gleichzeitig die Leitung bedeutend beeinträchtigt wird. Die Hyperkinesie ist bis jetzt so gut wie unerklärt geblieben (vergl. darüber Schiff a. a. 0. S. 290) Man hat wohl bei der Beurteilung dieses Zustandes allzusehr von der Analogie mit der Hyperästhesie sich bestimmen lassen. Es ist aber nicht zu übersehen, daß es sich bei der letzteren immer auch darum handelt, welche Wege für die Leitung der Empfindungseindrücke zum Gehirn offen stehen, während bei der Hyperkinesie die Reizung der motorischen Gebilde des Marks allein in Betracht kommt. Hieraus erklärt sich, wie oben angedeutet, leicht die unbestimmtere Ausbreitung dieses Zustandes.

17) BROWN-SÉQUARD , Arch. gén. de med. 5me ser. t. VII, 1856, p. 14. Ähnliche epileptiforme Zufälle hat BROWN-SÉQUARD neuerdings sogar nach Verletzungen peripherischer Nerven (gaz. médic. 1871, p. 6, 38) und Westphal nach starken Gehirnerschütterungen bei Tieren beobachtet (Berliner klin. Wochenschr. 1871, S. 449).

18) Siehe Kap. V.19) Pathologische Beobachtungen mit ähnlichem Resultat, vgl. hei BROWN-SÉQUARD, Journal de la physiologie VI p. 124, 232, 581, Archives de physiol. I p. 610, II p. 236, und W. MÜLLER, Beiträge zur pathologischen Anatomie und Physiologie des menschlichen Rückenmarks. Leipzig 1871. S. 3 u. f.

20) Die Empfindlichkeit bei A (Fig. 44) resultiert aus der Reizbarkeit der Faserbündel a und b, die von B aus der Reizbarkeit von a' und b'. Würde nun die Durchschneidung bei x nur eine Leitungsstörung nach sich ziehen, so müßte, falls z. B: ebenso viele Fasern gekreuzt wie ungekreuzt verliefen, auf beiden Seiten die Empfindlichkeit gleichmäßig vermindert sein. Wird aber gleichzeitig in der Umgebung von x die Reizbarkeit der Wurzelfasern erhöht, so wird die Empfindlichkeit bei A größer als bei B sein, weil in dem Bündel b die Erregung stärker als in a' ist. Außerdem können a und b', da sie zunächst in grauer Substanz endigen, Reflexbewegungen auslösen, die unabhängig von bewußter Empfindung stattfinden; auch diese müssen aber, teils weil sie überhaupt auf der gereizten Seite überwiegen, teils weil die von x ausgehende Veränderung vorzugsweise auf die Wurzelfasern einwirkt, bei A intensiver als bei B sein. Nun besitzen wir über den Grad der Reizbarkeitsveränderung gar keinen Aufschluß, wir können also auch nicht wissen, in welchem Umfang durch die Hyperästhesie in den Kreuzungsfasern und durch die Erhöhung der Reflexerregbarkeit die Symptome der Empfindungslähmung, welche die Trennung der rechtläufigen Fasern im Gefolge hat, verdeckt werden mögen. Hat die Verletzung längere Zeit bestanden, so verschwindet allerdings die Veränderung der Reizbarkeit, es stellen dann aber stets zugleich jene Kompensationen der Leitung sich ein, welche wir unten kennen lernen werden, und welche allmälig einen Zustand herbeiführen, der mehr und mehr dem normalen sich nähert.

21) JOFFROY, archives de physiol. I. p. 735. Charcot ebend. II. p 291 Westphal, Griesinger's Archiv f. Psychiatrie II S. 415.

    Mit dem Namen der Reflexerregung hat man die in Folge von Reizung sensibler Nerven oder ihrer peripherischen Ausbreitung eintretenden Muskelbewegungen belegt. Die Tatsache der Reflexbewegung beweist, daß in dem Rückenmark die Reizungsvorgänge nicht, wie in einem gemischten Nervenstamm, einfach geleitet werden, sondern daß zugleich ein Überspringen der Erregung von sensorischen auf motorische Bahnen stattfinden kann. Als Ort dieser Übertragung müssen wir die graue Substanz betrachten, da vollständige Trennung derselben bei Erhaltung eines Teils der vorderen und hinteren Markstränge das Reflexvermögen aufhebt. Im allgemeinen zeigen somit die Reflexerscheinungen, daß neben den beiden Hauptbahnen der sensorischen und motorischen Leitung noch eine Zweigleitung existiert, welche innerhalb der grauen Substanz beide Bahnen mit einander verbindet. Diese Zweigleitung besteht aber aus einer großen Zahl von Leitungswegen, welche sämtlich wieder mit einander zusammenhängen. Denn mäßige Reizung einer beschränkten Hautstelle zieht bei einem gewissen mittleren Grad der Erregbarkeit eine Reflexzuckung nur in derjenigen Muskelgruppe nach sich, welche von motorischen Wurzeln versorgt wird, die in der gleichen Höhe und auf derselben Seite wie die gereizten sensibeln Fasern entspringen. Steigert sich der Reiz oder die Reizbarkeit, so geht zunächst die Erregung auch auf die in gleicher Höhe abgehenden motorischen Wurzelfasern der andern Körperhälfte über, endlich, bei noch weiterer Steigerung, verbreitet sie sich mit wachsender Intensität zuerst nach oben und dann nach unten, so daß schließlich die Muskulatur aller Körperteile, die aus dem Rückenmark und verlängerten Mark ihre Nerven beziehen, in Mitleidenschaft gezogen wird22). Jede sensible Faser steht demnach durch eine Zweigleitung erster Ordnung mit den gleichseitig und in gleicher Höhe entspringenden motorischen Fasern, durch eine solche zweiter Ordnung mit den auf der entgegengesetzten Seite in gleicher Höhe austretenden, durch Zweigleitungen dritter Ordnung mit den höher oben abgehenden Fasern und endlich durch solche vierter Ordnung auch mit den weiter unten entspringenden in Verbindung.

22) PFLÜGER, die sensorischen Funktionen des Rückenmarks. Berlin 1853, S. 67 u. f.

    Als eine dritte Erscheinung, welche auf die komplizierteren Leitungsbedingungen im Rückenmark hinweist, wurde bereits die veränderte Reizbarkeit dieses Organs bezeichnet. Die Veränderung ist eine kurze Strecke über dem Eintritt der Wurzeln bereits nachweisbar. Sie hat also sehr wahrscheinlich darin ihren Grund, daß die Wurzelfasern kurz nach ihrem Eintritt in der grauen Substanz endigen, und daß aus den Nervenzellen der letzteren erst neue, zu den höheren Gebieten des Zentralorgans emporstrebende Fasern entspringen23). Den letzteren sowie der grauen Substanz selbst muß sodann die veränderte Reizbarkeit zugeschrieben werden. Diese besteht aber darin, daß die Reize, welche deutliche Zeichen der Erregung, Empfindung oder Muskelzuckung, hervorbringen sollen, im allgemeinen eine größere Intensität und Dauer besitzen müssen, als sie zur Erregung der peripherischen Nervenfasern erforderlich sind. Auch pflegen die eintretenden Schmerzenszeichen oder Bewegungen in keinem Verhältnis zu der Stärke der Reize zu stehen. Viele Reizungen können ohne irgend einen Effekt verschwinden; sobald aber dieser einmal vorhanden ist, pflegt die Erregung so anzuwachsen, daß länger dauernde Schmerzenszeichen oder Muskel Zuckungen auftreten. Auf die physiologische Bedeutung dieser veränderten Reizbarkeit der grauen Substanz des Rückenmarks und der aus ihr hervorgehenden Markstränge werden wir unten, bei der Besprechung der allgemeinen Eigenschaften der Zentralteile, zurückkommen24) ; hier hatten wir sie nur als einen Beleg anzuführen für die Verschiedenheit des Rückenmarks von einem Nervenstamm. Auch enthält die Tatsache, daß bereits eine kurze Strecke über der Eintrittsstelle eines jeden Nervenwurzelpaares im ganzen Querschnitt des Rückenmarks die veränderte Reizbarkeit vorgefunden wird, ein wertvolles physiologisches Zeugnis für den Verlauf, den die Wurzelfasern unmittelbar nach ihrem Eintritt in das Mark nehmen. Offenbar müssen diese sämtlich eine kurze Strecke über oder unter ihrem Eintritt mit den Zellen der grauen Hörner in Verbindung treten, und es können keine Wurzelfasern direkt, ohne vorherigen Zusammenhang mit grauer Substanz, in den Marksträngen nach oben verlaufen25).

23) Bei ihrem Eintritt in das Mark beugen sich die sensibeln Fasern nicht nur nach oben, sondern zum Teil auch nach unten um, wie die Tatsache beweist, daß nach Durchschneidung der Hinterstränge die untere sowohl wie die obere Schnittflache auf Reize sensibel ist.

24) Siehe Kap. VI.

25) Die meisten Physiologen erklären die graue Substanz sowie die aus ihr nach oben tretenden Markfasern überhaupt für nicht reizbar. Andere schreiben ihnen dieselbe Reizbarkeit wie den Wurzelfasern zu. Ich kann keiner dieser Ansichten beitreten. Die zentrale Substanz des Rückenmarks besitzt vielmehr ebenso wie diejenige der höheren Zentralorgane, soweit hier überhaupt eine Reaktion auf Reize nachweisbar ist, eine veränderte Reizbarkeit in dem oben angedeuteten Sinne. Über die ganze Kontroverse vergl. mein Lehrbuch der Physiologie, 3te Aufl. S. 710.

    Mit der veränderten Reizbarkeit, welche die zentrale Nervenmasse gegenüber der peripherischen Faser darbietet, hängen außerdem wahrscheinlich eigentümliche Verschiedenheiten der Empfindungsleitung zusammen. Sobald nämlich diese in Folge einer Trennung der weißen Hinterstränge nur noch durch graue Substanz vermittelt wird, so sind im allgemeinen stärkere oder öfter wiederholte Reize erforderlich, wenn die Erregung durch die erhalten gebliebene Lücke sich fortpflanzen soll. Sobald aber die Erregung entstanden ist, pflegt sie an Intensität, Ausbreitung und Dauer die gewöhnliche durch die Markstränge geleitete Form der Erregung zu übertreffen. Ein entgegengesetzter Zustand scheint sich einzustellen, wenn die graue Substanz vollständig getrennt ist, so daß auf einer gewissen Strecke die Leitung nur durch die weißen Markstränge vermittelt werden kann. Sind nämlich auf diese Weise nur die weißen Hinterstränge erhalten geblieben, so ist die Reizbarkeit der unter der Trennungsstelle gelegenen Hautteile gegenüber schwachen und mäßig starken Eindrücken nicht verändert. Dagegen erreicht die Erregung schon bei einer mäßigen Intensität des Eindrucks ihr Maximum, so daß eine weitere Steigerung der Reize keine verstärkten Zeichen der Sensibilität, also keine Symptome von Schmerz hervorbringt. Eine ganz ähnliche Erscheinung beobachtet man ohne jede Verletzung des Rückenmarks nach der Einwirkung gewisser die zentrale Substanz verändernder Stoffe, nämlich der Betäubungsmittel (Anästhetica) , wie Äther, Chloroform. In einem gewissen Stadium des Äther- und Chloroformrausches ist die Empfindlichkeit für Eindrücke von mäßiger Stärke nicht merklich geändert, für heftigere Reize aber ist sie vermindert, so daß ein Zustand nicht der Empfindungslosigkeit, aber der Schmerzlosigkeit, der Analgesie, eintritt. Diese merkwürdigen Erscheinungen empfangen Licht, wenn wir sie mit den im allgemeinen über die Reizbarkeit der zentralen Substanz ermittelten Tatsachen zusammenhalten. Insofern die weißen Stränge des Rückenmarks ihre veränderte Reizbarkeit erst dadurch gewinnen, daß sie graue Substanz durchsetzt haben, müssen wir offenbar die letztere als die eigentliche Ursache jener Veränderung ansehen. Es ist daher auch von vornherein begreiflich, daß die Veränderung um so bedeutender sich geltend machen wird, je mächtiger die Massen grauer Substanz sind, welche die Reizung passieren muß. Nun wurde durch die Reizungsversuche am Rückenmark wahrscheinlich, daß überhaupt alle Leitungsfasern durch graue Substanz unterbrochen werden. Aber es ist klar, daß in dieser Beziehung immerhin noch Unterschiede zwischen den einzelnen Bahnen existieren müssen: die einen werden unmittelbar, nachdem sie in die Vorder- oder Hinterhörner eingetreten sind, aus diesen wieder hervorkommen und in den Marksträngen nach oben verlaufen; die andern werden in dem Zellennetz der grauen Hörner verschlungene Wege einschlagen, um gelegentlich höher oben oder weiter unten ebenfalls in die Markstränge einzutreten. So bietet sich uns von selbst die Annahme einer Hauptbahn, welche nach dem Eintritt in die graue Masse auf kürzestem Weg wieder in die weißen Stränge übergeht und in diesen, ohne im Rückenmark weitere Unterbrechungen zu erfahren, nach oben verläuft, und zahlreicher Seitenbahnen, welche alle Wege einschlagen, die das viel verschlungene Zellennetz der Vorder- und Hinterhörner ihnen darbietet. Wie nun die zentrale Substanz überhaupt stärkere oder öfter wiederholte Reize erfordert, wenn sie Zeichen von Erregung äußern soll, als die peripherische Nervenfaser, so wird auch diejenige Bahn, welche nur kurz die graue Substanz berührt, in ihren Erregbarkeitsverhältnissen der peripherischen Nervenfaser näher stehen als jene, die auf weite Strecken hin das Netz zentraler Zellen durchsetzt. Wenn alle Leitungsbahnen erhalten sind, wird bei Reizen von mäßiger Stärke die Erregung im allgemeinen nur auf der Hauptbahn sich fortpflanzen, und erst bei stärkeren Reizen wird sie zugleich auch die Seitenbahnen ergreifen. Hierfür spricht schon die Tatsache, daß eine besondere Zweigbahn durch die graue Substanz, von der oben die Rede war, jene nämlich, welche von der sensorischen zu der motorischen Leitung überführt, und welche aus den sensibeln Eindrücken Reflexbewegungen erzeugt, ebenfalls erst bei stärkeren Reizen in Miterregung gerät. Ist nun die Hauptbahn unterbrochen, dadurch daß die weißen Markstränge durchschnitten sind, so muß natürlich die Reizung eine stärkere sein, wenn sie durch die verletzte Stelle sich fortpflanzen soll. Anders verhält es sich, wenn die Leitung durch die graue Zentralmasse getrennt und nur die Leitung durch die weißen Stränge erhalten ist. Um die in diesem Fall hervortretenden Erfolge zu verstehen, müssen wir eine weitere Eigenschaft der grauen Substanz beachten. Wie dieselbe Erregungen gleichsam in sich anzusammeln vermag, so daß sie erst auf oft wiederholte Reize, nun aber auch sogleich mit einer starken und anhaltenden Erregung antwortet, so ist in ihr überhaupt eine weit bedeutendere Summe von vorrätiger Arbeit oder von Spannkraft angehäuft als in der peripherischen oder zentralen Nervenfaser26). Bei wachsenden Reizen wird daher auch in der letzteren verhältnismäßig früher der Grenzpunkt erreicht, wo trotz weiterer Reizsteigerung die Erregung nicht mehr wachsen kann, während, wenn die Reizung größere Strecken grauer Masse zu passieren hat, diese Maximalgrenze erst bei einer höheren Reizintensität erreicht wird, wo demnach auch der Effekt der Erregung, die Empfindung oder Muskelzuckung, eine bedeutendere Intensität besitzt. Für die Leitung im Rückenmark werden wir also voraussetzen müssen, daß die Seitenbahnen der grauen Substanz zwar erst von einem höheren Reizwerte an in Mitleidenschaft gezogen werden, daß sie dann aber auch ein Anwachsen der Erregung bis zu einem höheren Grenzwerte gestatten, als wenn die Leitung bloß auf der Hauptbahn stattfindet. Wieder liegt hierfür ein Zeugnis in dem Verhalten jener zentralen Zweigleitung, welche die sensorischen mit den motorischen Bahnen verbindet. Auch die Reflexbewegung kann, bei Steigerung des Reizes oder der Reizbarkeit, zu einem Effekt anwachsen, welcher bei der direkten Erregung motorischer Nervenfasern nicht zu erreichen ist. Wir können uns demnach das Gesetz, nach welchem mit wachsendem Reize die Erregung zunimmt, für beide Formen der Nervensubstanz durch die Fig. 45 versinnlichen, in welcher die Erregungen als Ordinaten auf eine Abszissenlinie x x' bezogen sind, deren Längen den Reizgrößen entsprechen.
    Die Kurve a b c versinnlicht das Gesetz der Erregung für die weiße, die Kurve e f g für die graue Substanz. Die letztere Kurve verläßt erst bei einem höheren Reizwerte die Abszissenlinie, steigt dafür aber zu einem höheren Maximum an. Hierin finden denn auch die auffallenden Erscheinungen der Analgesie ihre Erklärung. Sind alle Leitungsbahnen erhalten, so wird die Erregung, wie sie bei schwachen Reizen nur die Hauptbahn einschlägt, so umgekehrt bei den stärksten vorzugsweise auf den Seitenbahnen durch die graue Substanz geleitet, indem nur in dieser ein der Intensität des Reizes entsprechender Kräftevorrat disponibel ist. Wird also die graue Zentralmasse getrennt, so bleibt nur die schon bei einer weit geringeren Reizstärke erreichte Maximalerregung, welche auf der Hauptbahn geleitet werden kann, übrig. So kommt es denn, daß neben der Kontinuitätstrennung der grauen Substanz gerade solche Stoffe, welche lähmend auf dieselbe wirken und daher auch die Reflexerregbarkeit stark herabsetzen, die Anästhetica, den Zustand der Analgesie herbeiführen27).

26) Das Nähere hierüber vergl. in Kap. VI.

27) Die wichtigen Unterschiede der Empfindungsleitung durch die graue Substanz und durch die weißen Hinterstränge sind von Schiff entdeckt worden (a. a. O. S. 251 u. f.). Die Resultate seiner Versuche deutete Schiff so, daß er für Tastempfindung und Schmerz verschiedene Leitungsbahnen annahm, die erstere sollte durch die weißen Hinterstränge, der letztere durch die graue Substanz zum Gehirn gelangen; folgerichtig mußte dabei angenommen werden, daß es auch verschiedene peripherische Nervenbahnen für beide Empfindungen, also Tastnerven und Schmerznerven, gebe. Schon Sanders hat darauf aufmerksam gemacht, daß viele der von Schiff gesehenen Erscheinungen sich weit einfacher erklären, wenn man annimmt, daß in den weißen Hintersträngen die Hauptbahn der Empfindungsleitung liegt, und daß die graue Substanz Seitenbahnen derselben enthält (Geleidingsbanen in het ruggemerg p. 60). Auf die oben berührten Reizbarkeitsverhältnisse der grauen Substanz gegenüber der leitenden Faser, worin das wesentlichste Moment der Erklärung enthalten sein dürfte, hat aber auch sanders noch nicht Rücksicht genommen. Es ist wahrscheinlich, daß in Bezug auf die motorische Leitung ganz ähnliche Unterschiede stattfinden. Die Erscheinungen so genannter Ataxie, bei denen bald der disponible Kraftaufwand für Bewegungen vermindert ist, bald diese nicht mit der nötigen Sicherheit ausgeführt werden können (vergl. Kap. V), sind, wenn Verletzungen oder Krankheiten des Rückenmarks zu Grunde liegen, wahrscheinlich oft von solchen Störungen der einen oder andern Leitungsbahn abhängig. Aber die Symptome sind hier zu unbestimmt, auch bis jetzt nicht hinreichend untersucht, als daß eine vollständige Analogie mit den bei der Empfindungsleitung beobachteten Tatsachen nachgewiesen werden könnte.

    Die bis jetzt im allgemeinen dargelegten Erscheinungen der Leitung im Rückenmark zeigen, daß dieses Organ gewissermaßen die Mitte hält zwischen einer Einrichtung, bei welcher alle einzelnen Leitungsbahnen vollkommen von einander gesondert bleiben, und einer solchen, bei der alle zugeleiteten Vorgänge zusammenfließen. Die Strukturverhältnisse des Rückenmarks lassen diese Mittelstellung vollkommen begreiflich erscheinen, sobald wir die aus physiologischen Tatsachen erschlossene Eigenschaft der grauen Substanz in Betracht ziehen, daß durch sie die Leitung schwerer als durch die weißen Markstränge von statten geht. Dann folgt von selbst, daß das Rückenmark in eine Anzahl von Hauptbahnen und in eine große Menge von Nebenbahnen zerfallen muß: die Rolle der ersteren wird den weißen Marksträngen (l, m, n Fig. 46) zukommen, zwischen denen und den abgehenden Nervenwurzeln nur eine kurze Lage von Ganglienzellen eingeschoben ist; Nebenleitungen aber werden in der mannigfaltigsten Weise durch das Zellen- und Fasernetz der grauen Zentralmasse (d, l) vermittelt werden können. Weiter als bis zu diesem Punkte allgemeiner Übereinstimmung mit den physiologischen Verhältnissen gestatten uns jedoch unsere heutigen Kenntnisse über die Struktur des Rückenmarks nicht zu gehen. Über den näheren Verlauf der Hauptbahnen geben uns die letzteren keinen Aufschluß.Man kann höchstens sagen, daß der Übergang von Fasern aus der einen in die andere Hälfte, wie er sowohl in der vorderen als in der hinteren Commissur (f und h) stattfindet, der Annahme eines gekreuzten Verlaufs mancher motorischer und sensibler Bahnen günstig ist, obgleich er dieselbe keineswegs beweist, da ein solcher Faserübergang ebensowohl der Ausdruck eines Zusammenhangs der beiden Seitenhälften grauer Substanz durch Zellenausläufer, wie eines Übertritts von Fasern aus dem einen in den andern Markstrang sein kann28). Im übrigen läßt die Richtung, nach der die Zellenausläufer namentlich in dem einfacher gebauten Rückenmark der Fische gestellt sind, die Annahme plausibel erscheinen, daß die nämlichen Ganglienzellen, welche motorische Fasern an die Nervenwurzeln abgeben, durch aufsteigende Fortsätze eine Verbindung mit den höher gelegenen motorischen Zentren und durch rückwärts gerichtete eine solche mit den sensibeln Leitungsbahnen vermitteln, daß also die Leitungsbahnen der Reflexe und der sensibeln und motorischen Erregungen nicht von einander geschieden sind29). In dem Rückenmark der höheren Wirbeltiere wird die graue Substanz reicher an Zellen, und die Fortsätze der letzteren nehmen wechselndere Richtungen an, so daß wohl im allgemeinen auf eine zunehmende Verwickelung der Leitungsbahnen geschlossen werden darf. Eine in ihrer physiologischen Bedeutung noch nicht abzuschätzende Wichtigkeit hat endlich zweifelsohne die durch alle Wirbeltierklassen zu bestätigende Tatsache, daß die Zellen der Vorderhörner, welche die motorischen Wurzelfasern aufnehmen, in ihrer Mehrzahl von viel bedeutenderer Größe sind, als die Zellen der Hinterhörner, mit denen die sensorischen Fasern in Verbindung treten. Nur an jenen großen motorischen Zellen lassen sich auch die früher (Fig. 3 a, und Fig. 6,) erwähnten Verschiedenheiten der Faserfortsatze mit Sicherheit nachweisen. Man vermutet, daß aus den Achsenfortsätzen die motorischen Wurzelfasern, aus den Protoplasmafortsätzen aber die zentralwärts aufsteigenden sowie die zur Verbindung mit den Vorderhörnern bestimmten Fasern hervorgehen 30). Hierbei lösen sich wahrscheinlich aber Fortsätze der letzteren Art zunächst in das feine Fasernetz auf, welches überall die graue Zentralmasse des Rückenmarks durchzieht, und aus welchem dann erst die Nervenfasern sich sammeln (vgl. Fig. 8). Die Zellen der Hinterhörner stehen vielleicht nur vermittelst dieses Fasernetzes mit den ein- und austretenden Nervenfasern in Verbindung31).

28) Im ersteren Falle würde eine eigentliche Commissur, im letzteren eine Kreuzung vorliegen. Beide Annahmen haben in der Tat unter den Erforschern der mikroskopischen Struktur des Rückenmarks ihre Vertreter. Auch diejenigen, welche eine Kreuzung annehmen, setzen übrigens meistens, namentlich bei der vorderen Commissur, voraus, daß zunächst alle eintretenden Wurzelfasern in Ganglienzellen endigen, und daß aus diesen lateralwärts die auf derselben Seite bleibenden, medianwärts die sich kreuzenden Markfasern hervorkommen. Vgl. STILLING, neue Untersuchungen über den Bau des Rückenmarks. S. 60 f.

29) Stieda, Ztschr. f. wiss. Zoologie. Bd. 18. Taf. I, Fig. 6. Die Annahme einer getrennten Leitungsbahn für die Reflexe lag der Reflextheorie Marshall Hall's zu Grunde, welche hiernach weder aus den physiologischen noch aus den anatomischen Verhältnissen sich begründen läßt. Vgl. M.Hall's Abhandlungen über das Nervensystem, übers, von KÜRSCHNER. Marburg 1840.

30) Max Schulze, STRICKER'S Gewebelehre I. S. 132. Gerlach ebend. S. 682.

31) Gerlach a, a. O. S. 683,

    Nachdem festgestellt ist, daß die Hauptbahnen nach einer kurzen Unterbrechung durch graue Substanz in den weißen Marksträngen verlaufen, und daß der vordere Teil der letzteren für die Leitung der motorischen, der hintere für die Leitung der sensorischen Reizungsvorgänge bestimmt ist, so erhebt sich die weitere Frage, wie des näheren die Bahnen für die einzelnen Muskelgruppen und Empfindungsprovinzen des Körpers angeordnet sind. Die wenigen in dieser Beziehung mehr oder minder sicher festgestellten Tatsachen sind folgende.
    Die Seitenstränge scheinen, wie bereits hervorgehoben wurde, teils motorisch, teils sensorisch zu sein. Die motorischen Bahnen, welche im oberen Teil der Seitenstränge liegen, gehören den Nerven der Atmungsmuskeln an, und sie ziehen auf der nämlichen Seite, auf welcher sie eingetreten sind, bis in das verlängerte Mark32). Außerdem führen die Seitenstränge aber wahrscheinlich noch andere motorische Bahnen. Endlich liegen in ihnen die sensorischen Fasern für die Hautbezirke an der Hinterseite der unteren Extremität: die letzteren kreuzen sich zum größeren Teil, zum kleineren bleiben sie ungekreuzt33). Die Empfindungsfasern, welche der Haut der Extremitäten entsprechen, scheinen die Regel einzuhalten, daß sie um so mehr nach vorn gelagert sind, je weiter die Hautprovinz, die von ihnen versorgt wird, von der Rückenmarksachse entfernt ist: von den sensorischen Bahnen der Hinterbeine sind also die des Oberschenkels am meisten nach hinten, die des Fußes am meisten nach vorn gelagert34). Ähnlich sind ohne Zweifel die motorischen Leitungswege nach den funktionellen Beziehungen der einzelnen Muskelgruppen gesondert: es steht also zu erwarten, daß die Bahnen für die Beuger, Strecker, Ein- und Auswärtsroller einer jeden Extremität, für die Strecker, Beuger und Seitwärtswender der Wirbelsäule ihren getrennten Verlauf nehmen, doch ist dieser für die einzelnen motorischen Bahnen noch nicht nachgewiesen35). Die Fasern für die Ringmuskeln der Gefäße verlaufen höchst wahrscheinlich in denselben Rückenmarkssträngen wie die Leitungsbahnen der Skelettmuskeln; einige Beobachtungen machen es wahrscheinlich, daß sie nahe der Mittellinie liegen36). Übrigens sind alle vasomotorischen Fasern im oberen Teil des Rückenmarks enthalten37).

32) Durchschneidung einer Hälfte des Cervicalmarks lähmt daher die Respiration auf der nämlichen Seite (Schiff, Physiologie S. 309, Pflügers Archiv Bd. 4, 1871, S. 225). Hierin findet also BELL'S Ansicht, der die Seitenstränge Respirationsstränge nannte (s. oben S. 110), in einem freilich beschränkten Sinne ihre Bestätigung.

33) Ludwig und Miescher, Sitzungsber. der kgl. sächs. Ges. der Wissensch. zu Leipzig, 1870, S. 404. Die Verfasser haben zur Erkennung der Reizbarkeit der Haut die Untersuchung des Blutdrucks benutzt; sie schließen daher auch nur, daß die Fasern, welche reflektorisch erhöhten Gefäßdruck hervorbringen, den angegebenen Verlauf nehmen. Da aber im allgemeinen den sensibeln Fasern diese Eigenschaft zukommt, so werden wir wohl annehmen dürfen, daß es sich in der Tat um die Nachweisung der sensibeln Leitungsbahnen hier handelt.

34) Türck, Sitzungsber. der Wiener Akademie. Bd. 6. 1851, S. 427.

35) Abgesehen von der Analogie mit der Empfindungsleitung wird der gesonderte Verlauf der einzelnen motorischen Fasern durch mehrere Tatsachen aus der Physiologie des Gehirns, auf die wir unten kommen werden, im höchsten Grade wahrscheinlich gemacht. Erstens nämlich treten die für verschiedene Muskelgruppen bestimmten Leitungsbahnen zum Teil in verschiedener Höhe innerhalb des verl. Marks und der Brücke von der einen auf die andere Seite. Zweitens endigen die einzelnen motorischen Bahnen in getrennten Provinzen der Gehirnrinde. Drittens können, wenn die Reflexerregbarkeit des Rückenmarks durch Einwirkung gewisser Gifte gesteigert ist, die Reflexkrämpfe entweder vorzugsweise die Strecker oder vorzugsweise die Beuger des Rumpfes und der Extremitäten ergreifen. Da dies auch nach Wegnahme des Gehirns noch der Fall ist, so liegt hierin ein direkter Beweis, daß schon im Rückenmark, nicht erst in der medulla oblongata, die motorischen Bahnen in der angegebenen Weise geordnet sind. Zugleich zeigt die letzterwähnte Tatsache, daß auch in der grauen Substanz, aus welcher die peripherischen Nervenfasern entspringen, die ähnliche funktionelle Scheidung besteht, daß also nicht bloß die Leitungsbahnen, sondern auch die nächsten Ursprungszentren derselben im Rückenmark von einander getrennt sind.

36) v. Bezold, Ztschr. f. wissensch. Zoologie Bd. 9, S. 363. schiff (Untersuchungen zur Physiologie des Nervensystems. Frankfurt 1855, S. 195) fand nach halbseitigen Rückenmarksdurchschneidungen Erhöhung der Temperatur am Unterschenkel und Fuß der gleichen, Verminderung an denselben Teilen der entgegenge-setzten Seite. Am Rumpf und den übrigen Teilen der Extremitäten fand sich das umgekehrte Verhältnis. schiff schloß daher, daß die vasomotorischen Fasern für den Unterschenkel und Fuß auf derselben Seite verbleiben, für die übrigen Teile sich kreuzen. v. bezold führt jedoch dies Resultat, soweit es den Oberschenkel und Rumpf betrifft, auf das allgemeine Sinken der Körpertemperatur, welches nach Rückenmarksdurchschneidungen eintritt, zurück und nimmt daher für alle vasomotorischen Fasern eine ungekreuzte Leitung im Rückenmark an.

37) Bei Kaninchen und Hunden verlassen sämtliche Gefäßnerven das Rückenmark zwischen dem 2. und 11. Brustwirbel, wie v. bezold daraus schließt, daß ausschließlich die Reizung dieses Gebietes Drucksteigerung im Aortensystem, in Folge der Verengerung der kleinen Arterien, hervorruft (Untersuchungen aus dem physiologischen Laboratorium zu Würzburg. I, S. 235).

    Die Störungen der Leitung, wie sie nach partiellen Trennungen des Rückenmarks sich einstellen und uns zur Unterscheidung von Haupt- und Nebenbahnen geführt haben, bleiben nicht unverändert bestehen. Von Anfang an scheint eine Tendenz zur Ausgleichung dieser Störungen obzuwalten, welche bewirkt, daß die anfänglich vorhandenen Lähmungen der Empfindung und Bewegung sich allmälig vermindern und, wenn die Kontinuitätstrennung des Rückenmarks nicht sehr bedeutend war, sogar völlig verschwinden, ohne daß irgendwie der frühere Strukturzusammenhang sich wieder hergestellt hätte. Diese Ausgleichung, deren physiologische Ursachen wir an einer andern Stelle zu untersuchen haben38), ist natürlich nur dadurch möglich, daß von Anfang an neben der Hauptbahn zahllose Nebenbahnen durch die graue Zentralmasse existieren. An die Erhaltung einer Brücke grauer Substanz ist daher auch die Entstehung der Ausgleichung gebunden. Zwischen den einzelnen Bündeln der Markstränge ist keinerlei funktionelle Aushilfe möglich. Wenn also z. B. das Rückenmark an einer Stelle mit Ausnahme der Hinterstränge vollständig getrennt ist, so bleibt die motorische Lähmung, wie sie anfangs eine vollständige war, auch unverändert bestehen. Der ganze Vorgang der Ausgleichung besteht demnach darin, daß, sobald eine Hauptbahn unterbrochen ist, allmälig eine Seitenbahn an die Stelle derselben tritt. Die Aushilfe, welche diese Seitenbahn leisten kann, ist aber um so vollständiger, die ursprüngliche Leitungsstörung verschwindet um so mehr, je größer das noch gebliebene Zellen- und Fasernetz der grauen Substanz ist, welches die Nebenleitung vermitteln kann. Dabei werden wir voraussetzen müssen, daß die so zur Hauptbahn gewordene Nebenleitung in Markfasern überführt, welche einen der ursprünglichen Hauptbahn ähnlichen Verlauf nehmen, da sie im allgemeinen in denselben motorischen und sensorischen Provinzen des Gehirns schließlich ihr Ende finden. Aber während unter normalen Verhältnissen diese Nebenbahnen wegen der Leitungswiderstände, die der längere Weg durch die graue Zentralmasse mit sich führt, nur bei sehr starken Erregungen in Mitleidenschaft gezogen werden, treten sie, nachdem die Hauptbahn unterbrochen ist, allmälig auch bei schwächeren Reizen in Funktion. Der Vorgang in der grauen Substanz, welcher der Ausgleichung zu Grunde liegt, muß demnach in einer Erleichterung der Leitung bestehen, die als Folgezustand der unterbrochenen Hauptleitung allmälig sich ausbildet. Eine ähnliche Ausgleichung stellt, wie wir sehen werden, auch noch nach Leitungsstörungen in den höheren Zentralgebieten sich ein, aber im allgemeinen ist im Rückenmark die Ausgleichung eine vollständigere.

38) Vgl. die Kap. V und VI.

    Mit dem Übergang des Rückenmarks in das verlängerte Mark nehmen die Schwierigkeiten zu, welche sich der Verfolgung der Leitungswege entgegenstellen. Dies hat nicht bloß in der verwickelteren Struktur, welche zugleich einen verschlungeneren Verlauf der Bahnen mit sich führt, sondern auch darin seinen Grund, daß die Erfolge, die nach Trennungen des Zusammenhangs eintreten, sich nicht mehr als einfache Unterbrechungen der Leitung, sondern als kompliziertere Störungen äußern. So wird, wenn die Fortsetzungen der motorischen Stränge getrennt werden, bald nur eine Aufhebung des Willenseinflusses sichtbar, während von unwillkürlich erregten Zentren aus noch eine Innervation der Muskeln erfolgen kann, bald aber treten Störungen in der Kombination der Bewegungen ein, wobei das richtige Maß der letzteren aufgehoben scheint. Störungen der sensibeln Leitung sind schon beim Rückenmark schwieriger zu erkennen, und diese Schwierigkeit vergrößert sich, je näher man dem Gehirn kommt, indem nun bei vollkommener Aufhebung der bewußten Empfindung immer kompliziertere Reflexe ausgelöst werden, welche für den objektiven Beobachter von bewußten Reaktionen schwer zu unterscheiden sind. Alle diese Veränderungen haben offenbar darin ihre Ursache, daß die leitenden Fasern nun immer häufiger von Ansammlungen grauer Substanz, welche zugleich verschiedene Leitungsbahnen mit einander verbinden, unterbrochen werden. Bei jeder Trennung des Zusammenhangs ist daher der Einfluß, welchen die unter ihr unversehrt gebliebenen Zentren noch ausüben, in Rechnung zu ziehen. Hiermit steht endlich die später ausführlicher zu beweisende Tatsache in Verbindung, daß die einzelnen sensibeln und motorischen Provinzen des Körpers nicht, wie man meistens voraussetzte, einfach sondern mehrfach im Gehirn vertreten sind, indem den verschiedenen funktionellen Beziehungen einer jeden Provinz verschiedene zentrale Endigungen entsprechen.
    Verhältnismäßig am einfachsten gestaltet sich die Beantwortung der Frage, auf welcher Seite im verlängerten Mark und in den Hirnstielen die Leitungsbahnen verlaufen, ob und wo also dieselben noch weitere Kreuzungen, außer den schon im Rückenmark stattgefundenen, erfahren. Pathologische Beobachtungen lehren, daß beim Menschen umfangreiche Gewebszerstörungen innerhalb einer Hemisphäre regelmäßig vollständige motorische und sensible Lähmung auf der entgegengesetzten Körperhälfte bewirken, während auf der nämlichen Seite Bewegung und Empfindung erhalten bleiben. Bei den Vierfüßern ist die Lähmung auf der entgegengesetzten Seite in diesem Fall keine vollständige, während auf der nämlichen Spuren einer solchen zu finden sind. Man hat hieraus geschlossen, daß beim Menschen eine totale, bei den Vierfüßern nur eine partielle Kreuzung stattfinde39). Aber diese Deutung ist sehr zweifelhaft. Erstens besitzen bei den niederern Säugetieren die in den Vier- und Sehhügeln gelegenen Zentren, deren Fasern auch beim Menschen nur eine partielle Kreuzung erfahren, offenbar eine größere Selbständigkeit40). Zweitens hat die Reizung der motorischen Zentralpunkte in der Großhirnrinde auch bei den Säugetieren eine gekreuzte Wirkung41). Es scheint demnach die Annahme gerechtfertigt, daß jene Unterschiede nur in dem funktionellen Übergewicht der verschiedenen Hirnteile, der Großhirnlappen beim Menschen, der hinteren Hirnganglien bei den niederern Säugetieren, ihren Grund haben.

39) Schiff, Lehrbuch der Physiologie I, S. 363.

40) vgl. Kap. V.

41) Siehe den Schluß dieses Kapitels.

    In Bezug auf die Orte, an denen der Faserübertritt geschieht, hat der physiologische Versuch folgendes ergeben. Die Kreuzung beginnt nach schiff etwa an der Stelle, wo der Zentralkanal sich zur Rautengrube eröffnet. Hier treten diejenigen Fasern auf die andere Seite, welche die Bewegung der Wirbelsäule und des Kopfes bewirken; weiter oben, nahe der Brücke, kreuzen sich dann die Bahnen für die Hinterextremitäten; an der Grenze der Brücke sollen die für die Bewegung der Wirbelsäule und des Kopfes bestimmten Fasern wieder eine Rückwärtskreuzung auf die ursprüngliche Seite erfahren, während in gleicher Höhe die Kreuzung für die Muskeln der Vorderextremitäten beginnt42). Wahrscheinlich vollendet sich die letztere während des Verlaufs durch die Brücke, denn in den Hirnschenkeln von der Grenze des Pons bis ungefähr zur Höhe des grauen Hockers sind nach afanasieff die motorischen Bahnen für beide Extremitäten gekreuzt; die Fasern für die Rücken- und Halsmuskeln erfahren endlich in der Höhe des grauen Hockers ihre zweite und definitive Kreuzung, so daß von da an eine halbseitige Durchschneidung des Hirnschenkels Lähmung (Hemiplegie) der ganzen Muskulatur auf der entgegengesetzten Körperhälfte verursacht43). Die sensorischen Bahnen sollen nach SCHIFF sämtlich während des Verlaufs durch die Brücke ihre Kreuzung erfahren, da halbseitige Trennung des verlängerten Marks im wesentlichen dieselben Erscheinungen nach sich ziehe wie halbseitige Durchschneidungen am Rückenmark, während in den Hirnschenkeln die vollständige Kreuzung bereits vollzogen sei44).

42) Schiff, Lehrbuch der Physiologie I, S. 320.

43) AFANASIEFF, Wiener medizinische Wochenschrift. 1870. No. 9 u. 10. S. 137 u. 153. Die Punkte der Kreuzung während des Verlaufs der motorischen Bahnen durch den Pons zu bestimmen, ist deshalb unmöglich, weil Verletzungen dieses Hirnteils wegen der Mitbeteiligung des Kleinhirns in Folge der Trennung seiner Brückenarme so intensive Bewegungsstörungen zur Folge haben (vgl. Kap. V), daß an eine genaue Diagnose der Hemiplegie nicht zu denken ist.

44) Schiff a. a. O. S. 304, 321. AFANASIEFF a. a. O. S. 153. Dieselben Umstände, welche es unmöglich machen die Kreuzungsstellen für die motorischen Bahnen im Pons näher zu bestimmen, gelten natürlich auch in Betreff der sensorischen Leitung. Die aufgeführten Resultate gelten übrigens nur für Säugetiere. Bei Vögeln läßt sich zwar nachweisen, daß ebenfalls die Mehrzahl der Bahnen eine Kreuzung erfährt, wo aber letztere stattfindet ist nicht ermittelt. Bei niederern Wirbeltieren scheint sogar der rechtläufige Weg vorzuwalten. Nach Wegnahme der einen Hemisphäre beim Frosch sah ich regelmäßig auf der verletzten Seite die Kraft der Bewegung vermindert, dagegen die Reflexerregbarkeit vermehrt, letzteres ohne Zweifel wegen der in Kap. VI zu besprechenden Hemmung der Reflexe durch den Einfluß der höheren Nervenzentren.

    Die Deutung dieser Ergebnisse ist wiederum zweifelhaft. Ein Schluß ließe sich auf dieselben nur gründen, wenn entweder die Voraussetzung, von der man ausging, daß es nur eine motorische und sensorische Bahn nach dem Gehirn gebe, richtig wäre, oder wenn man die Sicherheit gewinnen könnte, daß sie sich nur auf eine der Leitungen, die für jede peripherische Körperprovinz existieren, beziehen. Auch letzteres ist aber durchaus nicht der Fall. Im Gegenteil ist es wahrscheinlich, daß bald diese bald jene Faserstränge vorzugsweise durch den operativen Eingriff getroffen wurden45).

45) Nach den eingeschlagenen Verfahrungsweisen darf man vermuten, daß in Schiff's Versuchen vorzugsweise der obere Teil der Hirnschenkel, d. h, die Haube und Schleife, die sich zu den Seh- und Vierhügeln begeben, in Afasasieff's Versuchen dagegen der Hirnschenkelfuß, der teils zu den vorderen Hirnganglien teils direkt zur Großhirnrinde emporsteigt, getroffen wurden. Aber bei dem nahen Zusammenhange aller dieser Teile des Hirnschenkels ist natürlich die isolierte Trennung eines Teils um so weniger anzunehmen, als eine solche nicht einmal versucht worden ist, so daß selbst die Experimente eines und desselben Beobachters schwerlich unter sich vergleichbar sind. Möglich, daß das sonderbare Resultat, wonach zuerst Kreuzung, dann Rückwärtskreuzung und hierauf erst definitive Kreuzung der für Wirbelsäule und Kopf bestimmten motorischen Fasern stattfinden soll, sich aus einer solchen Trennung verschiedenartiger Leitungsbahnen erklart. Liegen, wie die unten zu erwähnenden anatomischen Tatsachen fast zweifellos machen, die direkt zur Großhirnrinde emporsteigenden Fasern sämtlich im Hirnschenkelfuß, so ist es sogar wahrscheinlich, daß dieselben sämtlich schon vor dem Eintritt in die Brücke sich kreuzen, da höher oben nirgends mehr Kreuzungsfasern zwischen den vertikal aufsteigenden Strängen nachzuweisen sind. Dann würden also auch in AFANASIEFF'S Versuchen die auf höher stattfindende Kreuzungen hinweisenden Resultate auf einer Trennung tiefer gelegener Teile beruhen, die der Haube des Hirnschenkels angehören.

    Sind dergestalt die Ergebnisse, die sich über den Verlauf der Leitungswege im Großen und Ganzen auf physiologischem Wege gewinnen lassen, von beschränktem Werte, so kann der nähere Verlauf der einzelnen Bahnen fast noch weniger durch den Versuch sichergestellt werden. Partielle Durchschneidungen scheinen zu lehren, daß die sensorischen Fasern im verlängerten Mark eine seitliche Lage annehmen46). Diese Lageänderung ist schon eine beträchtliche Strecke vor Eröffnung der Rautengrube bemerkbar, sie kann also nicht bloß in dem Auseinanderweichen der Markstränge an der Stelle der Rautengrube ihren Grund haben, sondern sie weist darauf hin, daß die hinteren Stränge des verl. Marks nicht unmittelbare Fortsetzungen der Hinterstränge des Rückenmarks sind. In der Tat wird dies durch die anatomische Untersuchung vollständig bestätigt, indem dieselbe zeigt, daß die strickförmigen Körper aus grauen Massen der medulla oblongata erst ihren Ursprung nehmen, während die Hinterstränge teils aufhören, indem sie in andern grauen Massen ihr Ende finden, teils aber aus ihrer früheren Stelle zur Seite und in die Tiefe verdrängt werden. Ein ähnliches Resultat ergibt die Aufsuchung der motorischen Leitungsbahn. Diese scheint nur zum Teil in den Pyramiden, welche die Stelle der früheren Vorderstränge einnehmen, enthalten zu sein; dagegen soll Durchschneidung der zur Seite der Pyramiden die Olivenkerne einhüllenden Stränge, der Hülsenstränge, partielle Lähmungen nach sich ziehen47). Auch hier zeigt die Anatomie den Grund dieses Verhaltens darin, daß die Fortsetzungen der Vorderstränge des Rückenmarks durch die Pyramiden und durch die Olivenkerne teils zur Seite teils in die Tiefe gedrängt werden. Die Lageänderungen der Leitungswege sind also durch das Auftreten neuer Gebilde in der medulla oblongata bedingt, welche zwischen die direkt zum Gehirn aufsteigenden Fasern sich einschieben. Welcher Art sind nun jene Gebilde, und in welcher Beziehung stehen sie zu den sensorischen und motorischen Bahnen? Für die Beantwortung dieser Frage kann uns vorläufig nur die Anatomie Anhaltspunkte darbieten.

46) SCHIFF a. a. O. S. 301.

47) Schiff ebend. S. 310.

    Beginnen wir an der Vorderfläche des verl. Marks, so scheinen hier die Pyramiden unmittelbar aus den Seitensträngen des Rückenmarks hervorzugehen, während die Vorderstränge durch sie zur Seite gedrängt werden. In der Tat bestätigt die mikroskopische Untersuchung für den größten Teil der Pyramidenstränge diesen Ursprung; ebenso zeugt für denselben die Tatsache, daß atrophische Degenerationen der Nervenfasern, die von den Hirnschenkeln in die Pyramiden übergehen, aus diesen sich regelmäßig durch die Pyramidenkreuzung in den gegenüberliegenden Seitenstrang fortsetzen48). Ein kleiner Teil der Pyramidenfasern kommt aber von der zerklüfteten grauen Substanz der Hintersäulen (der formatio reticularis). Er gehört wahrscheinlich der Fortsetzung der sensorischen Leitungsbahn zu; man vermutet, daß er in den obersten, aus feineren Bündeln bestehenden Teil der Pyramidenkreuzung übergeht, der sich auch in seinem weiteren Verlaufe der sensorischen Hauptleitung anschließt49). Ein anderer Teil der denselben Verlauf nehmenden Fasern steht vielleicht mit den Kernen der hier aus dem verl. Mark entspringenden motorischen Nerven, namentlich des Accessorius, in Verbindung. Da somit die Mehrzahl der Pyramidenfasern unmittelbare Fortsetzung der Seitenstränge ist, aus welchen, wie wir gesehen haben, vorwiegend motorische Fasern, insbesondere im oberen Teil des Rückenmarks die Fasern der Respirationsnerven entspringen, so werden wir die Hauptmasse der Pyramiden mit Wahrscheinlichkeit als die Fortsetzung eines Teils der motorischen Leitungshahn, welcher namentlich auch die zentralen Fasern der Respirationsnerven enthält, ansehen dürfen; nur ein kleiner Teil der Pyramidenfasern, und zwar derjenige, der den obersten Teil ihrer Kreuzung bildet, stellt eine Fortsetzung der sensorischen Hauptbahn des Rückenmarks dar50).

48) Türck, Wiener Sitzungsber. Bd. 6, S. 288, Bd. 11, S. 93.

49) Meynert, Gehirn, in Stricker's Gewebelehre S. 804.

50) Über kein Gebilde des verl. Markes gehen wohl die Ansichten weiter auseinander als über die Pyramiden. Während STILLING und DEITERS schlossen, daß dieselben im verl. Mark erst aus grauen Kernen entstehen, kehrten neuerdings MEYNERT und HENLE zu der früheren Ansicht zurück, wonach ihre Fasern teils aus dem Seitenstrang, teils aus dem Hinterstrang stammten, und MEYNERT glaubte, namentlich für den Menschen, mit Bestimmtheit annehmen zu dürfen, daß die große Mehrzahl ihrer Fasern eine nicht durch graue Substanz unterbrochene Fortsetzung des Seitenstrangs sei. Nicht minder widersprechen sich die Physiologen. Während Schiff nach der isolierten Durchschneidung der Pyramiden in den wenigen Fällen, in denen diese schwierige Operation glückte, keine Bewegungsstörung auftreten sah (Physiologie S. 305), betrachtet BROWN-SÉQUARD hauptsächlich auf Grund pathologischer Erfahrungen wieder mit den älteren Physiologen die Pyramiden als die Hauptfortsetzung der motorischen Leitungsbahn (Lectures p. 199). BROWN-SÉQUARD schließt dies hauptsächlich aus der Beobachtung, daß halbseitige Erkrankung oberhalb der Kreuzungsstelle der Pyramiden, z. B. schon im Pons Varoli, beim Menschen kompltete Lähmung auf der entgegengesetzten Körperseite, halbseitige Zerstörung des Rückenmarks solche auf der gleichen Körperseite nach sich ziehe; allein bei Affektion der Pyramiden selber soll, auch wenn diese nur einseitig ergriffen sind, doch die Störung eine beiderseitige sein. Im vorliegenden Fall ist nun in der Tat der pathologischen Beobachtung wohl mehr Gewicht als dem physiologischen Experiment beizulegen. Durchschneidungen der vorderen Stränge der med. oblongata sind mit so bedeutenden Eingriffen verbunden, daß kaum zweifellose Resultate zu gewinnen sind, um so mehr, wenn, wie die anatomische Untersuchung annehmen läßt, die Pyramiden allerdings nur einen Teil der motorischen Leitungsbahnen enthalten. Daher bedürfen wohl auch die Angaben BROWN-SÉQUARD'S einer Berichtigung, insofern in den Pyramiden nur ein Teil der motorischen Fasern auf die andere Seite übertritt, während andere wahrscheinlich schon im Rückenmark, in der zwischen den Vordersträngen verlaufenden vorderen Commissur, und noch andere erst höher oben sich kreuzen. Für dieses Verhalten spricht, abgesehen von den früher erwähnten halbseitigen Durchschneidungs-versuchen die pathologische Tatsache, daß Degenerationen, die von Erkrankungsherden in den motorischen Provinzen des Großhirns ausgehen, sich durch die Pyramidenkreuzung in den entgegengesetzten Seitenstrang, in vielen Fallen aber außerdem in den gleichseitigen Vorderstrang fortsetzen, wo sie allmälig, wahrscheinlich in dem Maße als durch Kreuzung von Vorderstrangbündeln eine Vermischung mit intakten Leitungsbahnen eintritt, verschwinden. (TÜRCK a. a. O.)

    Die Oliven, welche zu beiden Seiten der Pyramiden als Erhabenheiten hervortreten, und die strickförmigen Körper, welche hinten die Rautengrube begrenzen, stehen, wie die mikroskopische Untersuchung höchst wahrscheinlich macht, mit einander in direkter Beziehung. Beide Gebilde, sowie das die ganze Oberfläche des verl. Marks umgürtende zonale Fasersystem hängen mit dem Auftreten des kleinen Gehirns zusammen. Der gefaltete graue Kern der Oliven (O Fig. 47) ist an seiner Außenseite von zonalen Fasern (Z) bedeckt, welche, das verlängerte Mark umgürtend, in die strickförmigen Körper und deren Fortsetzungen, die Kleinhirnstiele (MFC), umbiegen; sie dringen großenteils zwischen Olive und Pyramide (bei XII) in das Mark ein, überschreiten die Mittellinie und treten auf der entgegengesetzten Seite (bei Oi) in den Hilus der andern Olive, wo sie ohne Zweifel mit den Nervenkörpern derselben zusammenhängen. Andere bogenförmige Fasern, welche einen ähnlichen Verlauf nehmen, liegen in der Tiefe, von der Olive bedeckt (Am, As) : auch sie scheinen, wenigstens zum größten Teil, die Olive der gleichen Seite nur zu durchsetzen oder aber hinter ihr über die Mittellinie nach der entgegengesetzten Seite zu laufen, um dort in der Olive zu endigen. Die vorderen dieser Bogenfasern (Am) schließen dem äußern, die hinteren (As) dem innern Teil des Kleinhirnstiels sich an. Eine der Olive ähnliche Bedeutung hat ein weiter oben gelegener Ganglienkern, die so genannte obereOlive51). Die aus der letzteren hervorkommenden Fasern sollen aber großenteils in den Kleinhirnstiel der nämlichen Seite eintreten52). Beide Oliven nehmen zweifelsohne Fasern in sich auf, welche aus dem Rückenmark herstammen, und es ist wahrscheinlich, daß sie diese Fasern aus den Hintersträngen beziehen, welche mit dem Entstehen der Oliven und der strickförmigen Körper plötzlich außerordentlich reduziert werden. Ihre spärlichen Reste liegen unmittelbar unter den Kleinhirnstielen, wo sie sich durch gelatinöse Substanz (G), welche offenbar die Fortsetzung der gelatinösen Substanz der Hinterhörner des Rückenmarks ist (f Fig. 8 ), verraten. Die Verbindung der Hinterstränge mit den Oliven geschieht wohl durch Fasern, die teils in der Mittellinie oder Raphe (R) von hinten nach vorn ziehen, um dann den innersten Teil der Gürtelschichte Z zu bilden, aus welchem sie von außen in den Olivenkern eintreten, teils durch andere, die einen mehr schrägen Verlauf nehmen und so die netzförmige Substanz, welche den Markkern einnimmt, bei MFI durchbrechen53). Man vermutet, daß die grauen Kerne, welche im obersten Teil der Hinterstränge, unmittelbar wo sich über den letzteren die Rautengrube eröffnet, gelegen sind, diese Umlenkung der Hinterstrangfasern aus der seitherigen vertikalen in die transversale Richtung bewirken54). Somit zweigt sich die durch die Oliven zum Kleinhirn gehende Leitung höchst wahrscheinlich von der sensibeln Leitungsbahn ab, indem sie aus den Hintersträngen in die Kleinhirnstiele, und zwar großenteils in die Kleinhirnstiele der entgegengesetzten Seite überführt. Dieser Bedeutung der zum Kleinhirn aufsteigenden Bahn entspricht es, daß der wichtigste aus der medulla oblongata entspringende Sinnesnerv, der Hörnerv, wahrscheinlich ebenfalls mit dem Kleinhirn in Verbindung gesetzt ist (Fig. 47 VIII). Aus den grauen Kernen, aus welchen die peripherischen Wurzelfasern des Acusticus hervorgehen, entspringen nämlich zentralwärts verlaufende Fasern, welche sich teils auf der nämlichen Seite teils nach eingetretener Kreuzung gegen den Kleinhirnstiel zu wenden scheinen55). Auch der größte sensible Nerv, der aus der medulla oblongata hervorkommt, der Trigeminus, bezieht einen Teil seiner Wurzelfasern aus der Gegend des Kleinhirnstiels, so daß man geneigt ist eine Verbindung auch dieses Nerven mit dem Cerebellum vorauszusetzen56). Ob außerdem zentrale Fortsetzungen motorischer Leitungsbahnen sich in das kleine Gehirn abzweigen, ist ungewiß; jedenfalls werden wir annehmen dürfen, daß die große Mehrzahl der Fasern, welche in den unteren Kleinhirnstielen abgehen, mit sensorischen Bahnen im Zusammenhang stehen57).

51) Sie ist beim Menschen vom unteren Ende der Brücke bedeckt; bei den Säugetieren, welche eine kürzere Brücke besitzen, bildet sie eine Anschwellung unter derselben, das corpus trapezoides.

52) Der Zusammenhang der Oliven mit den Kleinhirnstielen durch das zonale Fasersystem wurde von DEITERS nachgewiesen (Untersuchungen über Gehirn und Rückenmark S 264, 301). MEYNERT zeigte dann, daß die Verbindung der unteren Oliven mit den Kleinhirnstielen höchst wahrscheinlich großenteils eine gekreuzte ist; hierfür wird von ihm außer der Verlaufsweise der Fasern die Beobachtung angeführl, daß Atrophie einer Kleinhirnhälfte mit Atrophie der entgegengesetzten Olive verbunden zu sein pflege (a. a. O. S. 768). SCHRÖDER van der Kolk glaubte, die untere Olive stehe durch Faserbündel mit dem Hypoglossuskern, die obere mit dem Facialiskern in Zusammenhang, er vermutete daher in beiden Ganglien Zentren für die mimischen Bewegungen, die Schluck- und Sprachbewegungen (Bau und Funktionen der medulla spinalis und oblongata S. 161, 165). Aber weder DEITERS (a. a. O. S. 258) noch MEYNERT (a. a. O. S. 763) konnten eine wirkliche Verbindung jener Nervenkerne oder der aus ihnen hervorkommenden Wurzelfasern mit den Olivenkernen nachweisen; die von Lenhossek und Schröder angenommenen Commissurenfasern zwischen beiden Oliven sind nach MEYNERT Kreuzungsfasern, welche in den Kleinhirnstiel der entgegengesetzten Seite übergehen (S. 767, Fig. 257).

53) Von den hintersten dieser Fasern nimmt MEYNERT an, daß sie nicht, wie die meisten, den Hinterstrang mit der Olive der nämlichen Seite verbinden, sondern daß sie gekreuzt laufen. Ihnen würden dann mutmaßlich solche Fortsetzungen entsprechen, welche von der Olive zum Kleinhirnstiel der nämlichen Seite treten. (A. a. O. S. 768.) Darnach würde existieren 1) die Hauptverbindung, geradläufig zwischen Hinterstrang und Olive, gekreuzt zwischen Olive und Kleinhirn, 2) nebenbei eine schwächere Verbindung gekreuzt zwischen Hinterstrang und Olive, geradläufig zwischen Olive und Kleinhirn.

54) In Folge der Einlagerung dieser grauen Kerne sind die obersten Enden des Hinterstrangs, der zarte Strang und Keilstrang, kolbenförmig verdickt (Fig. 19). Diese Massezunahme ist nur durch die grauen Kerne im Innern bedingt; die Markfasern des Hinterstranges haben an der nämlichen Stelle in Folge ihres Überganges in bogenförmige Fasern, welche sich nach vorne gegen die Oliven wenden, bereits abgenommen.

55) Am wahrscheinlichsten erscheint schon Vermöge seiner nahen Lage beim Kleinhirnstiel die Verbindung des äußeren Acusticuskerns mit demselben, sie ist nach MEYNERT eine ungekreuzte, während die Verbindung des mehr der Mittellinie genäherten inneren Kerns nach seiner Vermutung eine gekreuzte sein soll. Vgl. MEYNERT S. 781 und Fig. 255. Von DEITERS, der dem Acusticus einen den Rückenmarksnerven völlig analogen Ursprung zuschreibt, wird jede Verbindung desselben mit dem Kleinhirn geleugnet (a. a. O. S. 296). Henle dagegen scheint sogar, wie früher schon foville, eine direkte Einstrahlung von Acusticusfasern in die Kleinhirnstiele, ohne die Zwischenstation der Nervenkerne, anzunehmen (Systemat. Anatomie III, S. 210). Nach meynert lassen sich Verbindungen der zentralwärts verlaufenden Fasern mit den Großhirnschenkeln nicht nachweisen; er hält es daher für möglich, daß der Acusticus, abweichend von allen übrigen sensibeln Nerven, nur vermittelst der über das Kleinhirn gehenden Seitenbahn mit dem großen Gehirn in Verbindung stehe. Dem widersprechen aber entschieden die Resultate der Vivisektion sowohl wie pathologische Beobachtungen, welche lehren, daß das Kleinhirn entfernt werden oder im größten Teil seiner Masse degenerieren kann, ohne daß die Schallperzeption gestört ist. (Vgl. R. Wagner, Göttinger Nachrichten 1860 No. 4. S. 31. Ladame, Hirngeschwülste S. 95.) In den wenigen Fällen, wo dennoch Abnahme oder Verlust des Gehörs beobachtet wurde, kann dies leicht durch einen Druck auf die Ursprungskerne des Acusticus herbeigeführt sein. Hiernach läßt sich nicht bezweifeln, daß neben dem Weg über das Kleinhirn noch eine direkt aufsteigende Bahn des Hörnerven existiert. Der Verlauf derselben ist aber noch unbekannt. Ein am Boden der Sylvischen Wasserleitung gelegenes Längsbündel, das s. g. hintere Längsbündel (hl Fig. 49), welches meynert früher für eine solche Fortsetzung hielt (LEIDESDORFF'S Lehrb. der psych. Krankheiten, 2te Aufl. S. 69), hält dieser Anatom neuerdings ebenfalls für einen Vorderstrangrest, als welcher dasselbe schon von STILLING erkannt wurde.

56) MEINERT S. 777. Es ist der obere Trigeminuskern STILLING'S, aus welchem diese Fasern hervorkommen ; nur wenige derselben gehören der großen sensibeln, die meisten der kleinen motorischen Partie des Trigeminus an. STILLING, Untersuchungen über den Bau des Hirnknotens. Jena 1846. S. 124, 127, Taf. 18—17 und Taf. 20, Fig. 30—34.

57) Für die Abzweigung motorischer Bahnen nach dem kleinen Gehirn könnten möglicher Weise zwei Gründe angeführt werden: erstens die von manchen Beobachtern angegebene Umbeugung von Fasern der die Oliven umgebenden Hülsenstränge in die grauen Kerne derselben, und zweitens das Vorkommen großer, den motorischen Zellen des Rückenmarks gleichender Ganglienzellen in den strickförmigen Körpern. Aber jene scheinbare Umbeugung von Fasern der Hülsenstränge beruht wahrscheinlich auf einer Verwechslung mit solchen der Gürtelschichte, und die Größe der Nervenzellen steht nur in den Rückenmarkshörnern und in den ihnen entsprechenden Nervenkernen der medulla oblongata, nicht aber mehr in den Ganglienkernen in direkter Beziehung zur sensiblen und motorischen Natur der Leitungsbahnen. So gehören insbesondere auch schon die Kerne der Keil- und zarten Stränge, die das obere Ende des Hinterstranges bilden, der größeren Form an (KÖLLIKER, Gewebelehre, 5te Aufl. S. 285, Henle, System. Anat. III, S. 186). Der anatomischen Lagerung ihres Kernes nach hat man namentlich eine Verbindung der portio minor trigemini vermutet; da aber aus der nämlichen Gegend noch einige Bündel zur sensibeln Portion des Trigeminus hervorkommen, so könnte der letzteren die Verbindung mit dem Cerebellum angehören, wofern überhaupt für den Trigeminus eine solche existiert. (S. oben.) Meynert vermutet außerdem einen Zusammenhang des Hypoglossus mit den Kleinhirnstielen, eine Annahme, welche sich übrigens nur auf die äußere Anlagerung zonaler Fasern an zentrale Hypoglossusbündel, die zu den Pyramiden aufsteigen sollen, gründet (a. a. O, S. 792).

    Außer der Zweigleitung, welche von Teilen der vormaligen Hinterstränge und von den sensibeln Nervenkernen der medulla oblongata teils durch die beiden Oliven teils direkt nach dem kleinen Gehirn führt, sind im verl. Mark jedenfalls Verbindungsbahnen gelegen, welche der schon im Rückenmark existierenden Leitung zwischen der sensorischen und motorischen Bahn analog sind. Auf sie können wir aus den physiologischen Eigenschaften jenes Organs zurückschließen. Es gehen nämlich von demselben mehrere unwillkürliche Bewegungen aus, welche teils durch Reize, die im Mark selbst entstanden sind, teils durch Eindrücke auf eine größere Zahl sensibler Nerven beeinflußt werden: so die Atem- und Herzbewegungen, die Kontraktionen der Blutgefäße und wahrscheinlich noch andere kombinierte Bewegungen58). Alle diese Bewegungen weisen auf vielfache Zusammenhänge zwischen den Ursprungspunkten verschiedener und gleichartiger Nerven hin. Bis jetzt sind aber die betreffenden Verbindungen anatomisch noch nicht aufgefunden. Es ist möglich, daß manche der kleineren in der medulla oblongata gelegenen Ganglienkerne, deren Bedeutung noch unaufgeklärt geblieben ist, zu solcher Verknüpfung bestimmt sind.

58) Vgl. Kap. V.

    In Folge der angegebenen Verhältnisse werden die Bahnen, welche die direkte Leitung zwischen dem Rückenmark und dem großen Gehirn vermitteln, aus der Lage, die sie im Rückenmark einnehmen, verdrängt. Die motorischen Vorderstränge werden durch die Pyramiden zur Seite und nach hinten geschoben, ein Teil von ihnen begrenzt die Olivenkerne nach innen in der Form des so genannten innern Hülsenstrangs (hinter XII Fig. 47), ein anderer kommt hinter die Pyramiden zu liegen, wo er zu beiden Seiten der Mittellinie eine Schichte vertikaler Fasern bildet, die sich bis gegen den grauen Boden des Zentralkanals und der Rautengrube erstreckt (M T J); dicht unter dem grauen Boden der letzteren, im Innern der runden Erhabenheiten, bemerkt man noch ein von den übrigen Vorderstrangresten gesondertes Bündel, das hintere Längsbündel, welches auch in seinem weiteren Verlaufe geschieden bleibt (hl Fig. 49)59). Von den Seitensträngen wurde bereits angegeben, daß sie jedenfalls zu einem großen Teil in die Pyramiden übergehen. So weit dies nicht der Fall ist, nehmen sie nach außen von den zur Seite der Raphe befindlichen Vorderstrangresten (bei M F E) ihre Lage, wo sie noch mehr als die letzteren durch die mit dem zonalen System zusammenhängenden Querfasern und durch eingestreute Ganglienzellen zerklüftet werden; ihre vordersten Anteile gehen in die äußeren Begrenzungsbündel der Oliven, den äußeren Hülsenstrang, über (Fig. 47 zwischen Am und dem Olivenkern)60). Von den Hintersträngen, so weit dieselben nicht die Bahn nach dem kleinen Gehirn einschlagen, wendet sich, wie oben bemerkt wurde, ein Teil nach vorn und bildet den obersten Abschnitt der Pyramidenkreuzung, der Rest läuft wahrscheinlich nach außen von den Seitenstrangresten, unmittelbar bedeckt von den Kleinhirnstielen (bei G), nach oben, er ist an der in ihn eingeschlossenen gelatinösen Substanz kenntlich, welche aus den Hinterhörnern des Rückenmarks hierher sich fortsetzt61).

59) Meynert a. a. O. S. 761.

60) BURDACH hatte angegeben, daß die Hülsenstränge aus den Vordersträngen des Rückenmarks stammen (Bau und Leben des Gehirns II, S. 83, 35). STILLING wies dann nach, daß dies nur hinsichtlich der auf der innern Seite die Oliven bedeckenden Fasern richtig ist, während er die äußern aus dem vordern Teil des Seitenstranges ableitet (über den Hirnknoten S. 25, dazu Taf. I d, e). Vgl. a. HENLE, S. 186 und Fig. 117. Nach Meynert sollen Fasern der Hülsenstränge umbiegen und in die Kerne der Oliven eindringen (Stricker's Gewebelehre S. 763).

61) STILLING, über den Bau des Hirnknotens. Taf. I g, t,

    So sind denn die direkt in die Großhirnschenkel eintretenden Stränge des verl. Marks in folgender Weise übersichtlich geordnet: vorn die sich kreuzenden Pyramiden (P), in ihrem größeren unteren Abschnitt Fortsetzungen der Seitenstränge des Rückenmarks, und zwar des motorischen Anteils derselben, in ihrem oberen kleineren Abschnitt Kreuzungsbündel der sensorischen Hinterstränge; hinter den Pyramiden und zum Teil nach außen von denselben die Fortsetzungen der motorischen Vorderstränge (m t j), weiter nach außen die Reste der Seitenstränge in der Form der zerstreuten vertikalen Fasern der netzförmigen Substanz (M F E) und endlich nach außen von dieser, dicht unter dem Kleinhirnstiel, die Reste der Hinterstränge (G). Zwischen den Seiten- und Vorderstrangresten, welche sich nach hinten bis nahe an den Boden des Zentralkanals und der Rautengrube erstrecken, bilden im untern Abschnitt des verl. Marks die Wurzelbündel des zwölften Hirnnerven (XII) die Grenze.
    Ehe wir die auf solche Weise nach dem großen Gehirn aufsteigenden Markstränge weiter verfolgen, wollen wir zunächst jener Zweigbahn nachgehen, welche ein Teil der Hinterstränge nebst einigen in den Nervenkernen des verl. Markes selbst wurzelnden Fasern nach dem kleinen Gehirn einschlägt.
    Das kleine Gehirn der Säugetiere enthält, wie früher bemerkt wurde, graue Substanz in der Form von Ganglienkernen und als Rindenbeleg der ganzen Oberfläche. Die bedeutendsten Ganglienkerne bilden die den Oliven gleichenden gezahnten Kerne in dem Inneren einer jeden Hemisphäre (Fig. 21 cn); außerdem findet sich ein kleinerer Kern im Wurm, in der Markplatte, welche das Dach des vierten Ventrikels bildet und nach vorn in das vordere Marksegel sich fortsetzt: der Dachkern STILLING'S62). Über die Beziehung der in das Kleinhirn ein- und aus ihm austretenden Fasern zu diesen verschiedenen Gebilden aus grauer Substanz läßt im wesentlichen folgendes sich ermitteln. (Vergl. Fig. 19 ) Die Fasern der strickförmigen Körper verlieren sich im Mark des kleinen Gehirns, indem sie um den gezahnten Kern, namentlich an seinem vordern Rand, umbiegen und dann, ohne mit der grauen Substanz desselben in Verbindung zu treten, von seiner obern Fläche gegen die Rinde ausstrahlen, um augenscheinlich in derselben zu endigen. Aus der Rinde gehen sodann die transversalen Fasern hervor, welche die mehr longitudinalen Ausstrahlungen des Strickkörpers kreuzen, um sich zu den mächtigen Brückenarmen zu sammeln. Aus dem Innern der gezahnten Kerne kommen endlich diejenigen Bündel, welche in die Fortsätze des Kleinhirns zum großen übergehen; eine Faserverbindung zwischen dem gezahnten Kern und der Rinde ist nicht nachgewiesen, doch wird man eine solche immerhin als wahrscheinlich betrachten können, sie würde mit den Ausstrahlungen der Strickkörper und der Brückenarme die äußeren Teile des Marks einnehmen, während die innersten von den Fortsätzen zum großen Gehirn gebildet werden63). Der wahrscheinliche Verlauf der Faserzüge nach und in dem Kleinhirn ist demnach folgender: Die durch die untern Kleinhirnstiele aus dem verl. Mark zugeleiteten Fasern endigen in der Rinde, von der letzteren gehen sodann zwei Systeme von Fasern aus: das eine geht direkt in die Brückenarme über, um, wie wir sehen werden, im vordern Teil der Brücke in grauen Massen zu endigen, aus welchen neue vertikal aufsteigende Fasern hervorkommen, die dem Fuß des Großhirnschenkels sich anschließen; das zweite Fasersystem verbindet, wie wir vermuten, die Rinde mit dem gezahnten Kern, aus welchem letzteren die vertikal aufsteigenden Fasern der oberen Kleinhirnstiele oder Bindearme entstehen. Diese treten mit den Fortsetzungen der Rückenmarksstränge nach oben, wobei sie konvergieren, so daß sie nach vorn vom oberen Ende der Brücke die Mittellinie erreichen und eine Kreuzung eingehen. Sie durchsetzen hierauf die Haubenbündel, um in dem roten Kern der Haube ihr nächstes Ende zu finden. Ihr weiterer Verlauf von da aus ist nicht sicher nachgewiesen. Die Lage des roten Kerns sowie der Zug einzelner ihn zunächst umgebender Markbündel rechtfertigen die Vermutung, daß dieses Ganglion zum Teil mit dem Sehhügel in Zusammenhang steht (R K Fig. 50). In seinem hinteren Abschnitt wird es außerdem von Fasern, welche der oberen Quintuswurzel angehören, durchflochten (To)64). Darnach mag also der rote Kern einerseits die Sehhügel mit dem Kleinhirn verbinden, anderseits dem letzteren solche sensorische Fasern zuführen, deren Ursprungskerne (die oberen Quintuskerne) sehr weit nach vorn verlegt sind. Aber hiermit scheint der durch die Bindearme vermittelte Zusammenhang des kleinen Gehirns mit dem großen noch nicht erschöpft zu sein. Nach meynert läßt sich nämlich aus dem vordern Ende des roten Kerns ein Faserbündel weiter verfolgen, welches unter dem Sehhügel nach vom tritt, um sich dem Stabkranz des Vorderhirns anzuschließen: durch dieses scheint also eine weitere direkte Verbindung der Großhirnrinde mit dem Kleinhirn, neben der durch die Brückenarme vermittelten, hergestellt zu sein65). Vollendet wird schließlich die Zahl der nach oben gerichteten Verbindungen des Cerebellum durch das obere Marksegel. Dieses ist als die wahre Fortsetzung des kleinen Gehirns zu den Vierhügeln zu betrachten66), in deren grauen Massen vermutlich seine Fasern endigen. Neben den durch die Kleinhirnstiele zugeleiteten Fasern treten endlich in die Rinde des Cerebellum noch andere, diesem Organ eigene Faserstrahlungen ein, welche teils benachbarte teils entferntere Rindengebiete desselben mit einander verbinden; viele von ihnen bleiben auf der nämlichen Seite, andere treten von einer Kleinhirnhälfte durch den Wurm zur andern Seite über und scheinen so die Rolle eines Commissurensystems, analog dem Balken im großen Gehirn, zu übernehmen.

62) Meynert Fig. 255 T (S. 782), HENLE, Fig. 159, S. 226.

63) Henle, S. 236. Der unterste Teil des Strickkörpers nimmt jedoch nach MEYNERT einen von dem übrigen abweichenden Verlauf, indem er unter allen Markbündeln am meisten nach innen zu liegen kommt und in dem STILLING'schen Dachkern endigt. (MEYNERT a. a. O. S. 797.)

64) Daß die Bindearme des kleinen Gehirns nicht in die Vierhügel eintreten, wie man früher geglaubt hatte und wie die noch jetzt häufig gebrauchte Bezeichnung derselben als processus ad Corpora quadrigemina aussagt, sondern daß sie in ihrem weiteren Verlauf der Haube sich beigesellen, wurde zuerst von Arnold nachgewiesen (Handbuch II, S. 720), ihre Endigung im roten Kern wurde von stilling aufgefunden (über den Hirnknoten S. 144). Die Nervenzellen des Haubenkerns gleichen, wie stilling bemerkt, denen der Oliven. Die Kreuzung der Bindearme ist nach arnold eine teilweise, nach STILLING eine totale.

65) Meynert betrachtet diese letztere Verbindung als die einzige Endausbreitung der Bindearme, einen Zusammenhang mit Sehhügel und oberem Quintuskern nimmt er nicht an. (A. a. O. S. 740.) Anderseits scheint Henle anzunehmen, daß alle Fasern aus dem roten Kern in den Sehhügel eintreten (System. Anatomie III, S. 244).

66) Diesen Namen führen, wie oben bemerkt, die Bindearme mit Unrecht. Die im obern Marksegel gelegenen Verbindungsfasern zwischen Kleinhirn und Vierhügel sind oben von den Querbündeln der Trochleariswurzel, unten von Fasern der Schleife durchkreuzt, (Vgl, Fig. 49.)

    Hiernach begegnen sich in dem kleinen Gehirn folgende Fasersysteme: 1) eine Abzweigung der Hinterstränge des Rückenmarks, die in den unteren Kleinhirnstielen zugeführt wird, 2) eine Bahn zu den vorderen, motorischen Provinzen der Großhirnrinde, welche durch die Brückenarme vermittelt ist, 3) eine Verbindung mit den Kernen der Vierhügel durch das obere Marksegel. Dazu kommen die durch die oberen Kleinhirnstiele oder Bindearme zugeführten Fasern, welche 4) eine Verbindung mit den Kernen der Sehhügel zu vermitteln scheinen und außerdem wahrscheinlich 5) das System der unteren Kleinhirnstiele durch Fasern ergänzen, welche von höher gelegenen sensibeln Nervenkernen, den oberen Quintuskernen, zum Kleinhirn abgelenkt werden; endlich bildet ein Teil der Bindearme 6) eine zweite Bahn zu vorderen Provinzen der Großhirnrinde. Diese ein- und austretenden Markstrahlungen sind 7) von Commissurenfasern durchkreuzt, welche verschiedene Gebiete der Kleinhirnrinde mit einander verknüpfen. Wenn die Masse der einem bestimmten System angehörigen Fasern ein Maß abgibt für dessen relative Bedeutung, so prävaliert augenscheinlich einerseits die von den Ursprungskernen sensibler Nerven aufsteigende Bahn, anderseits der Zusammenhang mit der Rinde des Vorderhirns. Der letztere wird wieder hauptsächlich durch die in den Hirnschenkelfuß übergehenden Fasern der Brückenarme hergestellt, gegen welche die unmittelbar in den Stabkranz des Vorderhirns übergehenden Fasern der oberen Kleinhirnstiele zurücktreten67). Die Kleinhirnrinde setzt also eine Abzweigung der sensorischen Bahn mit den Zentralherden der motorischen Innervation in Verbindung. Nebenbei scheinen dann noch in ihr die in den hinteren Hirnganglien gelegenen Nervenzentren, auf deren Bedeutung wir unten zurückkommen werden, eine Vertretung zu finden.

67) Da die letztere Verbindung von der durch die Brückenarme vermittelten außerdem dadurch sich unterscheidet, daß, wie oben bemerkt, das erste Fasersystem direkt zur Kleinhirnrinde geht, das zweite dagegen zunächst in den gezahnten Kern eintritt, so ist eine verschiedene funktionelle Bedeutung beider gewiß nicht unwahrscheinlich, doch läßt sich hierüber nichts sicheres feststellen. MEYNERT vermutet, daß die oberen Kleinhirnstiele die zentrale Bahn der Acusticusfasern fortsetzen, welche mit den strickförmigen Körpern in das Cerebellum eintreten (STRICKER'S Gewebelehre S. 785). So ansprechend aber auch diese Hypothese bei der nahen Beziehung, in welcher der Hörnerv zum kleinen Gehirn durch seine Ursprungsverhältnisse zu stehen scheint, sein mag, so ist natürlich an eine tatsächliche Begründung derselben vorläufig nicht zu denken. Daß übrigens eine solche Bahn über das Kleinhirn nicht, wie MEYNERT annimmt, die einzige zentrale Acusticusbahn sein kann, wurde schon S. 133 hervorgehoben.

    Diese Auffassung über die anatomische Bedeutung des kleinen Hirns erfährt eine wichtige Bestätigung durch die Struktur der Kleinhirnrinde. Die letztere besteht aus einer äußeren rein grauen und einer inneren rostbraunen Schichte, welche durch eine hellere Zwischenschichte von einander getrennt sind. Die graue Schichte wird durch eine feinkörnige Neuroglia gebildet, in der nur wenige größere Körner zerstreut vorkommen (Fig.48, 1a); der innerste Teil dieser Neurogliaschichte hat eine quergefaserte Struktur und enthält zahlreiche, ebenfalls quer gestellte spindelförmige Zellen (1b). In der rotbraunen Schichte dagegen finden sich dicht gedrängt rundliche Zellen ungefähr von der Größe und Beschaffenheit der Lymphkörper, welche wahrscheinlich teils kleinste Nervenzellen sind, teils zu den Bindegewebselementen gehören (3)68). Durch einen hellen Saum, der aus feinen Querfibrillen mit nur wenigen eingestreuten Körnern besteht, die Markleiste (m), wird diese Schichte von dem Kleinhirnmark geschieden. In der hellen Grenzschichte zwischen der grauen Neuroglia und der braunen Körnerlage finden sich in einer Reihe als charakteristische Formelemente der Kleinhirnrinde eigentümliche Nervenzellen, die PURKINJE'schen Zellen, ausgebreitet (2). Dieselben sind in auffallender Weise bipolar gestaltet. Ihr gegen die Oberfläche der Rinde gekehrtes Ende trägt nämlich einen mächtigen ästig verzweigten Fortsatz, aus welchem breite sich vielfach teilende Fasern hervorkommen, die gegen die graue Rindenschichte hin verlaufen und mit ihren feinsten Ausläufern noch in dieselbe eindringen. Das nach innen gegen den Markkern des Kleinhirns gekehrte Ende jener Zellen dagegen verjungt sich plötzlich zu einem feinen Fortsatz, der in eine einzige schmale Nervenfaser übergeht. Es ist nicht zu verkennen, daß die Zelle an der Seite wo sie den breiten, verzweigten Fortsatz entsendet, einer der großen Zellen aus den Vorderhörnern des Rückenmarks ähnlich sieht, während das innere schmal zugespitzte Ende mehr einer Zelle aus der grauen Substanz der Hinterhörner oder aus den Spinalganglien zu entsprechen scheint. Diese eigentümlich bipolare Beschaffenheit der Rindenzellen unterstützt daher einigermaßen die aus dem Faserverlauf der Kleinhirnstiele geschöpfte Vermutung, daß in diesem Organ eine Verbindung sensorischer und motorischer Leitungsbahnen stattfinde. Sind wirklich die Zellen der Kleinhirnrinde selbst die Stätten dieser Verbindung, so wäre zu vermuten, daß der innere Pol die von der Peripherie zugeführte sensorische Faser aufnehme, der äußere aber Fasern entsende, welche, nachdem sie sich verästelnd der Oberfläche der Binde nahe gekommen sind, umkehren, um sich sodann in den Brückenarmen zu sammeln69).

68) Gerlach hat zuerst auf die Analogie dieser Körnerschichte des Cerebellum mit den Körnerschichten der Retina hingewiesen und bereits einen ähnlichen Zusammenhang derselben mit feinsten wahrscheinlich nervösen Fibrillen beschrieben, wie er neuerdings durch M. SCHULTZE für die Körner der Netzhaut nachgewiesen ist (Gerlach, mikroskopische Studien. Erlangen 1858. S. 8). Auch die Körnerschichte, welche in der Rinde des Riechlappens vorkommt, scheint eine analoge Bildung zu sein. Die meisten Anatomen nehmen danach an, daß die Körner eine Gattung kleinerer Nervenzellen darstellen, welche durch ein feines Fasernetz mit den großen PURKINJE'schen Zellen zusammenhangen. Nur kölliker (Gewebelehre, 5te Aufl., S. 398) sowie HENLE und merkel (Ztschr. f. rat. Med. 3. R. Bd. 34. S. 49) leugnen diesen Zusammenhang; die beiden letzteren halten die Körner für Lymphkörper. GERLACH glaubt, daß die PURKINJE'schen Zellen vorzugsweise durch ihren inneren schmalen Fortsatz, zum Teil aber auch durch Ausläufer ihrer äußeren breiten Fortsätze mit dem Netzwerk der Körner zusammenhängen (a. a. O. Taf. I Fig. 3). hadlich dagegen vermutet, daß nur die äußeren Fortsätze durch ihre gegen das Mark umkehrenden feinsten Ausläufer mit jenem Netz in Verbindung treten (Archiv f. mikrosk. Anatomie VI, S. 201). Der letzteren Angicht hat sich in neuester Zeit auch Boll angeschlossen. (Boll, die Histiologie und Histiogenese der nervösen Zentralorgane S. 75.)

69) MEYNERT, STRICKER'S Gewebelehre S. 799. Die Tatsache der Umbeugung der äußern Zellenfortsätze ist allerdings noch eine bestrittene. Hadlich (Archiv f. mikrosk. Anat. VI, S. 196) und OBERSTEINER (allg. Ztschr. f. Psychiatrie 1870, S. 94) stellen eine solche dar. HENLE tritt dieser Ansicht entgegen und hält die Umbeugungsfasern für Stützfasern des Bindegewebes (System. Anat. III, S. 233). Der innere Fortsatz der PURKINJE'schen Zellen geht, wie KOSCHEWNIKOFF (Archiv f. mikrosk. Anatomie V, S. 382) gefunden hat, unmittelbar in eine markhaltige Nervenfaser über: er hat somit ganz die Eigenschaft eines Achsenfortsatzes; der äußere, welcher demnach einen großen Protoplasmafortsatz darstellen würde, löst sich nach boll mit den feinsten Endzweigen seiner Umbeugungsfasern in ein in der Körnerschichte gelegenes nervöses Fasernetz auf, aus welchem dann erst stärkere Nervenfasern entspringen. (Boll, die Histiologie und Histiogenese der nervösen Zentralorgane S. 71.)

    Wir kehren nun zu der Hauptbahn nach dem Großhirn zurück, deren Schilderung vorhin unterbrochen wurde. Mit den in den mittleren und oberen Kleinhirnstielen aus dem kleinen Gehirn zurückkehrenden Fasern treffen die direkt nach oben laufenden Fortsetzungen der Rückenmarksstränge zusammen. Das Gebilde, in welchem diese Vereinigung der Hauptbahn und des oberen Arms der nach dem Kleinhirn abgezweigten Seitenbahn stattfindet, ist die Brücke (Fig. 49). Sie ist keine Quercommissur zwischen den beiden Kleinhirnhälften, was sie nach dem äußern Anblick zu sein scheint, die wirklichen Commissurenfasern bleiben viel-mehr innerhalb des Kleinhirnmarks, indem sie, wie wir oben gesehen, durch den Wurm hindurchtreten. Die Bedeutung der Brücke besteht aber darin, daß die aus dem kleinen Gehirn ihr zugeleiteten Fasern in ihre grauen Massen eintreten, worauf aus diesen neue vertikal aufsteigende Fasern hervorgehen, welche sich dem Hirnschenkel beigesellen. Die in der Mittellinie (bei R) von der einen zur andern Seite herübertretenden Fasern sind wahrscheinlich der Hauptmasse nach Kreuzungsfasern, welche teils den direkten Fortsetzungen der Rückenmarksstränge durch die Brücke teils den Brückenarmen des Kleinhirns angehören, denn was die ersteren betrifft, so haben uns physiologische Tatsachen belehrt, daß ein großer Teil der Bahnen in der Brücke auf die entgegengesetzte Seite tritt; und daß die Brückenarme sich kreuzen, wird durch pathologische Beobachtungen wahrscheinlich, welche eine funktionelle Verbindung je einer Kleinhirnhälfte mit der entgegengesetzten Großhirnhemisphäre annehmen lassen: Atrophie eines Großhirnlappens pflegt nämlich von einem Schwund der ungleichseitigen Kleinhirnhälfte begleitet oder gefolgt zu sein70). Wie die Fasern der Brückenarme wahrscheinlich alle in Internodien grauer Substanz eintreten, bevor sie in die vertikale Bahn umbiegen, so sind auch in die unmittelbar aufsteigenden oberen Kleinhirnstiele (b a) kleinere graue Kerne eingestreut, bis jene endlich nach eingetretener Kreuzung in den im oberen Teil des Hirnschenkels gelegenen roten Kernen ihr Ende finden. Auf diese Weise, durch Sammlung der von unten aufsteigenden Rückenmarksstrange sowie der seitlich und von oben herantretenden Fortsätze aus dem kleinen Gehirn konstituiert sich innerhalb der Brücke jener ganze Faserzug, welcher die tiefer gelegenen Nervenzentren mit den Gebilden des Großhirns verbindet, der Hirnschenkel. Nebenbei ist aber die Brücke noch durchsetzt von den Wurzelbündeln einiger höher oben entspringender Hirnnerven, deren Ursprungskerne teils auf dem grauen Boden des obersten Teils der Rautengrube, teils in der Nähe der den Zentralkanal fortsetzenden Sylvischen Wasserleitung gelegen sind71).

70) Meynert a. a. O. S. 759.

71) Diese Nerven, deren Ursprungsgebiet der Brücke angehört, sind Facialis, Abducens und mittlere Wurzel des Quintus. Der Trochlearis entspringt mit dem Oculomotorius bereits nach vorn von der Brücke (Fig. 50 III), seine Fasern wenden sich aber nach rückwärts und durchkreuzen in der Höhe der Brücke das Dach der Sylvischen Wasserleitung (Fig. 49 T).

    Die Fortsetzungen der Rückenmarksstränge sind in der Brücke in derselben Weise angeordnet wie in dem unter ihr gelegenen Abschnitt des verl. Marks, doch werden sie durch die Faserbündel der Brückenarme und die in dieselben eingeschalteten Internodien grauer Substanz zerklüftet. Nur die Fortsetzungen der Pyramiden ( p – p' ) bleiben als kompaktere Stränge bestehen, welche unten von den oberflächlichen Querfasern der Brücke (b) bedeckt und zum Teil in einige gröbere Bündel geschieden werden. Dabei kommt derjenige Teil der Pyramidenfasern, welcher die obersten Kreuzungsbündel bildet, also die sensorische Abteilung dieser Stränge, am weitesten nach außen zu liegen. Ebenso bilden die Fortsetzungen der Hülsenstränge kompaktere Bündel, welche, während die Pyramiden den Boden der Brücke bilden helfen, sich nach oben wenden, bis sie im vorderen Teil der Brücke noch über den vom Kleinhirn herabsteigenden Bindearm zu liegen kommen, den sie von außen her schleifenartig umwinden (sl). Die spärlicheren zwischen den genannten Strängen und hinter den Querfasern der Brücke gelegenen Vertikalfasern sind die direkten Fortsetzungen der weiter unten hinter den Pyramiden gelegenen Reste der Vorder-, Seiten- und Hinterstränge (hl bis v', s und g)72). Diesem letzteren Anteil der direkt aufsteigenden Leitungsbahn mischen sich die oberen Kleinhirnstiele (ba) bei, die zwischen den Seiten- und Hinterstrangresten sich einschieben, während sich die aus den Brückenarmen stammenden Längsfaserzüge wahrscheinlich sämtlich den Pyramiden zugesellen, welche dadurch bei ihrem Lauf durch die Brücke bedeutend an Masse zunehmen. Am obern Ende der Brücke tritt endlich noch ein den Längsfasern der netzförmigen Substanz angehöriger Teil (v') zu den Pyramiden und den aus den Brückenarmen entsprungenen aufsteigenden Fasern; vermutlich ist dies die Fortsetzung eines Teils des längs der Raphe gelegenen Vorderstrangrestes 73).

72) Von den Vorderstrangresten behält aber hier sowie im ganzen weiteren Verlauf das erwähnte hintere Längsbündel hl seine kompakte Beschaffenheit.

73) MEYNERT bringt diese Ablenkung eines Bündels aus derjenigen Partie des Hirnschenkels, die weiter nach oben als Haube bezeichnet wird, und seine Zumengung zu den Pyramiden, aus denen sich der Hirnschenkelfuß gestaltet, damit in Zusammenhang, daß ein Ganglion, das in seiner Beziehung zu einer Sinnesfläche den Ganglien, in welche die Bündel der Haube eintreten, analog ist, nämlich der Kopf des Streifenhügels, weit nach vorne zu liegen kommt, in eine Region, welche im übrigen der Ausbreitung des Hirnschenkelfußes zugehört. (Meynert a. a. O. S. 750. Vgl. auch stilling, über den Bau des Hirnknotens Taf. XII, Fig. 7 und HENLE, System. Anat. III, S. 244.) Übrigens ist zu bedenken, daß dieser Hinzutritt von Längsfasern der formatio reticularis zum Hirnschenkelfuße schon insofern nichts auffallendes hat, als es sich dabei höchst wahrscheinlich nur um die Beimengung eines Teils der Vorderstrangreste, also einer rein motorischen Portion, zu dem im größten Teil seiner Masse bereits motorischen Fuße handelt.

    So hat sich denn nach dem Hervortreten aus der Brücke der Hirnschenkel vollständig in seine Abteilungen gegliedert. (Vergl. Fig. 22 ) Pyramiden, Vorderstrangreste und Fortsetzungen der Brückenarme bilden den unteren Teil oder den Fuß des Hirnschenkels. Die substantia nigra SÖMMERING's, die ihn nach oben begrenzt, scheint ein Ganglienkern zu sein, der dem Fuß angehört, indem letzterer durch Fasern, welche aus dieser Substanz hervorkommen, einen weiteren Zuwachs erfährt. Der darüber gelegene Teil, die Haube des Hirnschenkels, wird durch die Seiten- und Hinterstrangreste, die in der formalio reticularis gelegen waren, vielleicht nebst einem Teil der benachbarten Vorderstrangreste gebildet, wozu sich im weiteren Verlauf noch die Fortsätze des kleinen Gehirns zum großen oder die oberen Kleinhirnstiele hinzugesellen. Aus der Fortsetzung der Hülsenstränge endlich geht die den übrigen Hirnschenkel oben und außen bedeckende Schleife hervor. Diesen Ursprungsverhältnissen gemäß ist der Fuß derjenige Teil des Hirnschenkels, welcher hauptsächlich motorische Bahnen zum großen Gehirn führt, nur der äußerste Abschnitt desselben, der aus der oberen Pyramidenkreuzung stammt, setzt einen Teil der Hinterstränge des Rückenmarks fort; die Haube besteht vorwiegend aus sensorischen Bahnen, die Schleife aber ist wiederum die Fortsetzung eines Teils der motorischen Hauptbahn 74).

74) Gestützt auf vergleichend anatomische Betrachtungen hatte früher Meynert (Ztschr. für wiss. Zoologie Bd. 17, S. 655) in der Schleife einen Teil der sensorischen Leitungsbahn vermutet, neuerdings hat er jedoch diese Ansicht, wie es scheint, aufgegeben (STRICKER'S Gewebelehre S. 763).

    Wir wollen bei der weiteren Verfolgung dieser Abteilungen des Hirnschenkels diejenige Ordnung einhalten, in welcher dieselben von unten nach oben ihr zentrales Ende finden. Wir werden daher mit der Schleife beginnen, welche zuerst, schon in den grauen Kernen der Vierhügel, ganz oder teilweise aufhört, daran die Haube anreihen, welcher die Ganglienkerne der Sehhügel entsprechen, worauf als letztes Glied des Hirnschenkels der Fuß kommt, welcher teils in den grauen Massen der vordersten Hirnganglien, der Streifenhügel, teils direkt in der Rinde des großen Gehirns sein Ende findet.
    Wie die Schleife (Tl Fig. 50) das Marklager bildet, auf welchem die Vierhügel unmittelbar aufsitzen, so wird auch der hintere Teil der markigen Füllung dieser Erhabenheiten von den in sie einstrahlenden Fasern der Schleife gebildet. Diese endigen dann in den grauen Kernen der Vierhügel, aus welchen neue Fasern hervorkommen, die nach der Mittellinie verlaufen, im Dach der Sylvischen Wasserleitung mit den von der andern Seite herüberkommenden Fasern sich kreuzen (Xp) und dann in den Marküberzug des entgegengesetzten Hügels ausstrahlen, aus welchem sie direkt in den Vierhügelarm (Bs) übergehen. Der Arm und die oberflächliche Marklage eines jeden Vierhügels stehen sonach mit dem grauen Kern und durch diesen mit der tiefen Marklage des entgegengesetzten Vierhügels, welche wieder eine unmittelbare Ausstrahlung des entsprechenden Schleifenanteils ist, in Verbindung. Zugleich finden aber noch andere Leitungsbahnen in den Vierhügeln und deren nächster Umgebung ihre Knotenpunkte. Der Verlauf dieser Bahnen zeigt, daß die beiden Kniehöcker, der äußere und innere (Ge und Gi), obgleich scheinbar mit den Sehhügeln in nächstem Zusammenhang, doch im wesentlichen den Vierhügeln beigegebene Ganglienkerne sind. Die Kniehöcker werden nämlich dadurch gebildet, daß hier in den Verlauf der Sehnerven graue Kerne sich einschieben, in denen der größte Teil der Opticusfasern sein nächstes Ende findet. Ein weiterer Teil dieser Fasern, namentlich derjenigen, die den inneren Kniehöcker überziehen, kommt aber nicht aus den Kernen des letzteren, sondern aus den Vierhügelarmen hervor, insbesondere sind es Fasern des vordern Vierhügelarmes (Bs), die auf diese Weise als gesondertes Bündel dem tractus opticus sich anschließen. Neben den grauen Kernen der Kniehöcker stehen demnach auch die Kerne der Vierhügel, namentlich diejenigen des vordern Vierhügelpaares, mit den Sehnervenfasern in Verbindung. Letztere Verbindung wird durch das Chiasma der Sehnerven, das, wie der Augenschein lehrt, zu einem Austausch der Opticusfasern beider Seiten bestimmt ist (Fig. 23 II), zu einer total oder partiell gekreuzten. Nach dem Ergebnis physiologischer Versuche ist bei Tieren die Kreuzung im Chiasma entweder eine totale, oder sie trifft doch jedenfalls den größten Teil der Opticusfasern: Zerstörung des Vierhügels hat nämlich Erblindung des Auges der entgegengesetzten Seite zur Folge75); ebenso zieht hier Verlust eines Auges nach längerer Zeit Atrophie des gegenüberliegenden vorderen Vierhügels sowie des zu ihm gehörigen tractus opticus vom Chiasma an nach sich. Beim Menschen pflegt sich in solchen Fällen die Atrophie ziemlich gleichmäßig auf beide Sehnerven und Sehstreifen zu verteilen76). Bei ihm ist demnach die Kreuzung jedenfalls nur eine partielle, und zwar scheinen von jeder Netzhaut annähernd ebenso viele Fasern zum Vierhügel der einen wie zu dem der andern Seite zu treten. Die Zerfaserung des Chiasmas zeigt, daß die äußersten Fasern des Sehnerven und des tractus opticus ungekreuzt bleiben, daß dagegen die innersten Fasern sich kreuzen; außerdem sollen im vorderen und hinteren Winkel des Chiasmas Commissurenfasern verlaufen, dort peripherische, welche der Verbindung beider Netzhäute bestimmt scheinen, hier zentrale zwischen den Endigungen der Sehstreifen im Gehirn77). Nun enden die äußeren Fasern des Sehnerven in den äußeren, die inneren in den inneren Teilen der Retina. Daraus folgt, daß die Außenseite der rechten und die Innenseite der linken Netzhaut im rechten, die Außenseite der linken und die Innenseite der rechten Netzhaut im linken Vierhügel vertreten sind. Auch dies wird durch die pathologische Beobachtung bestätigt. Sobald partielle Erblindung beider Netzhäute aus zentralen Ursachen stattfindet, bei so genannter Hemiopie, sind stets die Außenhälfte der einen und die Innenhälfte der andern Retina zusammen ergriffen78). Nun stehen aber physiologisch die nämlichen Netzhauthälften in nächster Verbindung, indem im allgemeinen einfach gesehene Punkte des Sehraumes auf solchen Punkte der Innenhälfte der einen und der Außenhälfte der andern Netzhaut sich abbilden, welche eine übereinstimmende Lage in Bezug auf das Netzhautzentrum besitzen 79). Man kann daher nicht bezweifeln, daß die partielle Kreuzung beim Menschen für diese physiologische Verbindung der beiden Netzhäute zu den Zwecken des binokularen Sehens von Bedeutung ist. Hierdurch wird es denn auch begreiflich, daß bei den Tieren, bei denen vermöge der Stellung beider Augen diese entweder vollkommen unabhängig von einander funktionieren müssen oder doch nur ein kleiner Teil der beiden Retinen zum binokularen Sehen eingerichtet sein kann80), die Kreuzung eine vollständige oder nahezu vollständige wird81).

75) FLOURENS, Versuche über die Eigenschaften und Verrichtungen des Nervensystems, deutsch von Becker. Leipzig 1824. S. 100. Schiff, Physiologie S. 358.

76) An einigen Präparaten, die mir Prof. Fr. arnold zur Ansicht mitteilte, fand ich folgende Maße in Millim.

1. Zwei Fälle beim Menschen (linkes Auge atrophirt):
Linker         rechter                                 Linker         rechter.
Sehnerv.                                             tractus opticus.
I         1,8             3,5                                       4         3,5
II         2               3,5                                       3,5      3,2
                                    2. Ein Fall beim Pferde (rechtes Auge atrophirt):
 
                                                   3,5            2                                          2,5        4
77) ARNOLD, icones nervorum capitis. Editio altera. Tab. I, Fig. II.

78) J. MÜLLER zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns. Leipzig 1826. S. 93. D. E. Müller, GRÄFE'S Archiv f. Ophthalmologie VIII, 1 S. 160. In dem zuletzt zitierten Fall erwies sich als Ursache der Hemiopie eine Geschwulst in der Schädelhöhe, die den einen tractus opticus zerquetscht hatte.

79) Vgl. Absch. III Kap. XIV.

80) J. Müller, zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns S. 114.

81) Damit, daß korrespondierende Punkte beider Netzhäute in einem gemeinsam Sehzentrum vertreten sind, ist natürlich durchaus nicht gesagt, daß dieselben in einem zentralen Punkte endigen, wie dies J. Müller zur Erklärung des Einfachsehens vorausgesetzt hatte (a. a. O. S. 83 f.). Hiergegen sprechen nicht nur die anatomischen Verhältnisse des Chiasmas, in welchem nur Kreuzung, keineswegs aber Teilung der Opticusfasern nachzuweisen ist, sondern auch die physiologischen Erscheinungen des Binokularsehens, aus denen sich unzweifelhaft ergibt, daß die Netzhautpunkte beider Augen ihre gesonderte Vertretung im Zentralorgan besitzen müssen. Vgl. hierüber den dritten Abschnitt Kap. XIV.

    Wie der Sehnerv, so stehen auch die Ursprungsfasern der beiden vorderen Augenmuskelnerven mit den grauen Kernen der Vierhügel in naher Verbindung. Die von den Vierhügeln bedeckte Sylvische Wasserleitung (A) ist nämlich von grauer Substanz umgeben, in deren Gebiet, nach unten von der Lichtung, ein Nervenkern liegt, aus welchem die Wurzeln des Oculomotorius und Trochlearis hervorkommen (III)82). Aus diesem Kern entspringen nun zentralwärts mehrere Faserbündel. Eines tritt zur Raphe, kreuzt sich mit dem Bündel der entgegengesetzten Seite und schließt sich dann wahrscheinlich auf seinem weiteren Verlaufe dem Fuß des Hirnschenkels an (P'), der sich auf diese Weise aus Zentralfasern der höher gelegenen motorischen Nervenkerne ergänzen dürfte. Andere, weiter rückwärts liegende Fasern aus dem nämlichen Kern stehen ohne Zweifel mit den Ganglienkernen der Vierhügel in teils geradläufiger teils gekreuzter Verbindung. Anatomisch allerdings ist der Weg dieser Fasern bis jetzt nicht nachgewiesen, aber der physiologische Versuch, welcher zeigt, daß Zerstörung der Vierhügel Accomodations- und Bewegungslähmung des Auges herbeiführt, macht denselben zweifellos. Nach diesem Resultat muß auch der weiter unten entspringende Augenmuskelnerv, der Abducens, durch zentralwärts verlaufende Fasern in den Vierhügeln vertreten sein. Die Fasern, welche die Accomodation für die Nähe und die Verengerung der Pupillen bewirken, schließen sich in der Regel der Bahn des Oculomotorius, zuweilen aber auch, wie es scheint, der des Abducens an83): sie treten, nachdem sie eine totale Kreuzung erfahren haben, wahrscheinlich in das hintere Vierhügelpaar84). Verwickelter gestaltet sich die Endigung der Fasern für die Augenmuskeln, welche nach Schiff ebenfalls in dem hinteren, nach Adamük dagegen vorzugsweise in dem vorderen Vierhügelpaar stattfinden soll85). Nach dem letzteren Beobachter bewirkt Reizung des vorderen Vierhügels der rechten Seite Linkswendung beider Augen, Reizung des linken Vierhügels Rechtswendung derselben. Dabei richten sich die Blicklinien horizontal, wenn man den vordern Umfang des Hügels reizt. Langt man mit der Reizung am mittleren Teil desselben an, so richten sich beide Blicklinien nach oben, wahrend die Pupillen weit werden; diese Stellung verbindet sich mit der Konvergenz, wenn man noch weiter nach hinten geht. Wird endlich der hinterste Teil des Hügels gereizt, so nimmt die Konvergenz zu, während sich zugleich die Blicklinien nach unten richten und die Pupillen verengern. Aus diesen Beobachtungen ergibt sich zunächst, daß die zentralen Bahnen der Augenmuskelnerven eine partielle Kreuzung erfahren, indem diejenigen Oculomotoriusfasern, welche, zum innern geraden Augenmuskel tretend, die Innenwendung des Auges bewirken, großenteils in den Vierhügel der nämlichen, die zum äußern geraden Augenmuskel verlaufenden Abducensfasern aber vorzugsweise in den Vierhügel der entgegengesetzten Seile eintreten müssen86). Dabei kann aber nur die Kreuzung derjenigen Oculomotoriusfasern zum Rectus internus eine annähernd vollständige sein, welche am vordern Rand des Vierhügels endigen, weiter nach hinten muß immer mehr eine gleichförmige Verteilung auf beide Hügel eintreten, so daß nun hier die Reizung eine Aktion beider innerer Augenmuskeln d. h. Konvergenz herbeiführt. Eine ähnliche gleichförmige Verteilung gekreuzter und ungekreuzter Zentralfasern muß in Bezug auf die übrigen Augenmuskelnerven angenommen werden, wobei aber wieder die Fasern zu den verschiedenen gemeinsam wirkenden Muskelgruppen in verschiedenen Regionen der Vierhügel ihr Ende finden. Die Oculomotoriusfasern zum Rectus superior und Obliquus inferior, welche bei der Aufwärtswendung des Auges wirksam sind, müssen nämlich mehr dem vordern Ende, die Oculomotoriusfasern zum Rectus inferior und die Trochlearisfasern zum Obliquus superior dagegen, welche die Abwärtswendung bewerkstelligen, müssen weiter hinten ihre Zentra besitzen. Von allen diesen Zentren müssen dann außerdem Zentralfasern zu den verschiedenen Regionen des Pupillarzentrums angenommen werden, um die begleitenden Bewegungen der Iris zu erklären.

82) Die Wurzelfasern des Trochlearis treten nach oben und kreuzen sich vor dem unteren Vierhügelpaar im Dach des aquaeductus Sylvii; die Fasern des Oculomotorius laufen die Haube durchsetzend nach unten, am an der innern Seite des Hirnschenkelfußes an der Oberfläche zu erscheinen (III1).

83) ADAMÜK, med. Zentralblatt 1870, No.12.

84) Schiff, Physiologie l, S. 358.

85) Schiff, ebend. S 359. ADAMÜK med. Zentralblatt 1870, No. 5.

86) Die Vermutung, daß die gleichzeitige Tätigkeit des Rectus externus der einen und des Rectus internus der andern Seite auf partiellen Kreuzungsverhältnissen beruhe, ist zuerst von SCHROEDER v. d. Kolk ausgesprochen worden. Schroeder glaubt aber wegen des der Raphe abgewandten Verlaufs gewisser Wurzelfasern des Abducens, daß dieser der ungekreuzt bleibende Nerv sei, während die Ergebnisse des physiologischen Versuchs zum entgegengesetzten Schlusse führen. (Bau und Funktionen der medulla spinalis und oblongata S. 123.)

    Die hauptsächlichsten den Vierhügeln von der peripherischen Seite zugeführten Leitungsbahnen sind demnach: erstens zentrale Bahnen motorischer Nervenkerne, sie sind teils die Bündel der Schleife, durch welche sich ein Anteil der motorischen Rückenmarksstränge in die Vierhügel abzweigt, teils die den letzteren zugeführten Zentralfasern der Augenmuskelnerven; zweitens sensorische Nervenbahnen, sie gehören, so viel bekannt, ausschließlich dem Sehnerven an. Mit einem Teil dieser ihrer peripherischen Wurzeln sind die Vierhügel in gekreuzter Richtung verbunden. Auf der andern Seite entspringen dann aus ihren Ganglienkernen zentralwärts gerichtete Faserbündel, welche, neben den an Zahl geringeren zum tractus opticus gerichteten Fasern, die Hauptmasse der Vierhügelarme bilden. Diese Faserbündel (Bs, Bi) sind, wie die Vierhügelarme selbst, nach vorn und außen gegen die Sehhügel gerichtet. Sie treten in die Basis der Sehhügel ein, von wo ein Teil sich nach oben wendet und pinselförmig zerstreut gegen die grauen Kerne des Thalamus ausstrahlt. Ein anderer Teil aber tritt unter den Sehhügeln hindurch, um sich direkt dem Stabkranz beizugesellen, und zwar derjenigen Abteilung desselben, welche sich in die Hinterhauptslappen begibt. Zentralwärts stehen also die Kerne der Vierhügel einerseits mit den Sehhügelkernen anderseits mit der Rinde des Occipitalhirns in direkter Verbindung87). Die aus den Kernen der Kniehöcker zentralwärts verlaufenden Fasern scheinen teils zunächst mit den grauen Massen der Vier- und Sehhügel in Verbindung zu treten teils mit den aus den Ganglienkernen der Vierhügel entspringenden Fasern zur Rinde des Occipital- und Temporalhirns sich zu begeben88). Da die Kerne der Kniehöcker als die eigentlichen Nervenkerne des Opticus zu betrachten sind, so ist letzteres offenbar die direkteste Verbindungsbahn zwischen der Netzhaut und der Großhirnrinde.

87) Die Ausstrahlung eines Teils der in den Vierhügelarmen den Sehhügeln zugeführten Fasern in der Markmasse der letzteren läßt deutlich an Abfaserungspräparaten sich nachweisen. Man nahm daher früher keine direkte Verbindung der Vierhügel mit dem Stabkranze an, sondern ließ alle zentralwärts gerichteten Bündel dieser Ganglien in den Sehhügeln endigen. (ARNOLD, Handb. der Anatomie II, S. 750.) MEYNERT wies die direkte Verbindung mit den Stabkranzfasern des Occipitalhirns nach, er scheint aber anzunehmen, daß die Sehhügel überhaupt nur auf den Vierhügelarmen ruhen, ohne daß Fasern der letzteren in sie eintreten (meynert a. a. O. S. 744). Nach Henle strahlen die Fasern des vordern Arms großenteils im Sehhügel aus, nur die äußerl. Schichte derselben geht in den tractus opticus über, die Fasern des hintern Arms dagegen gesellen sich dem Hirnschenkelfuße bei, sie sind es ohne Zweifel, die nach MEYNERT direkt in den Stabkranz übergehen. (HENLE, System. Anatom. III, S; 248.)

88) MEYNERT, Sitzungsber. der Wiener Akad. 1869. Abt. II, Bd. 60, 6. 549.

    Die der Haube des Hirnschenkels zugehörigen Markbündel erstrecken sich unter den Vierhügeln nach vorn (T). Sie bilden den Boden der Sehhügel (vgl. Fig. 27) und strahlen mit Ausnahme der in den roten Kern (RK) eintretenden Fasern, welche den oberen Kleinhirnstielen angehören, und deren mutmaßlicher Verlauf schon früher besprochen wurde, in die Sehhügel ein. Diese Einstrahlung geschieht in zwei Portionen, einer inneren und äußeren. Die erstere, nach innen vom roten Kern gelegen, tritt zum Sehhügel der entgegengesetzten Seite über, ihre Kreuzungsfasern bilden die hintere Commissur (cp Fig. 24 )89); die zweite, den roten Kern unmittelbar umgebend, geht in den Sehhügel derselben Seite ein. Die erstere Portion bildet das innere, die letztere das äußere Marklager des Sehhügels. Die Markfasern treten mit den Ganglienkernen des Sehhügels in Verbindung, wobei das mächtigere äußere Haubenbündel zwischen die graue Substanz eindringt, so daß dieselbe in einige fächerartige Abteilungen getrennt wird (Fig. 27). Eine kompaktere graue Masse trennt die äußere Abteilung des Sehhügels von der inneren, in welche das gekreuzte Haubenbündel einstrahlt90). Endlich nimmt ein kleiner grauer Kern das vordere Ende des Sehhügels ein91). Außer diesen Einstrahlungen aus der Haube des Hirnschenkels nimmt der Sehhügel von der Peripherie her die oben schon erwähnten Faserbündel aus den Vierhügeln durch die vordern Vierhügelarme und andere aus dem tractus opticus auf 92), zu letzteren begeben sich überdies zwar nicht aus den Sehhügeln aber in der Region derselben Fasern, welche von der an der Basis des Gehirns um den grauen Höcker zu Tage tretenden grauen Substanz ausgehen (IIFig. 51)93). In den Ganglienkernen des Sehhügels confluieren somit von der Peripherie her, ähnlich wie in den Vierhügeln, sensorische und motorische Leitungsbahnen. Die sensorischen gehören nur noch zu einem geringen Teil dem Sehnerven an, großenteils sind es Fortsetzungen sensorischer Rückenmarksstränge, welche als Bündel der Hirnschenkelhaube in den Sehhügel einstrahlen. Motorische Leitungsbahnen sind vielleicht zu einem geringen Teil noch den direkten Hirnschenkeleinstrahlungen des Sehhügels beigemischt, zum Teil stammen sie jedenfalls ursprünglich von der Schleife her. Es ist. möglich, daß die in den Vierhügelarmen eintretenden Reste der Schleife, welche vielleicht sogar den größten Teil derselben ausmachen, die Vierhügel nur durchsetzen und zwischen denselben ihre Kreuzung erfahren, um sodann in den Sehhügeln zu endigen. Zentralwärts gehen sehr bedeutende Fasermassen aus dem Sehhügel hervor, welche vorzugsweise in den Stirn-, Schläfe- und Scheitellappen ausstrahlen, während der Occipitalteil des Gehirns keine oder jedenfalls unbedeutende Fasern erhält. Diese Ausstrahlungen geschehen in der Form gesonderter Bündel, welche von der Basis des Sehhügels ausgehen. Während hinten die Hirnschenkelhaube der Boden ist, auf welchem der Sehhügel ruht, bilden jene Stabkranzausstrahlungen mehrere Stiele, durch welche sein vorderes Ende gehalten wird. Ein schmales Bündel windet sich zwischen dem geschwänzten und Linsenkern hindurch, es bildet einen Teil der inneren Markkapsel des letzteren (C i)und geht zum Frontalhirn. Eine zweite reichere Markstrahlung verläuft in mehreren gesonderten Abteilungen unter dem Linsenkern nach der. Gegend der Sylvischen Spalte (St, Z). Endlich kommen noch aus dem vordem Kern des Sehhügels Fasern hervor, die rück- und abwärts zum corpus candicans verlaufen und in diesem schleifenähnlich sich umwenden, um in die aufsteigende Wurzel des Gewölbes überzugehen (Fig. 24 ra, rd). Hierdurch treten Markfasern des Sehhügels auch mit den nach hinten gelegenen Rindenpartieen, und zwar mit der Rinde der in die Hirnhöhlen hervorragenden Gebilde des Ammonshorns und der Vogelklaue, in Verbindung.

89) Ein in seiner Bedeutung noch unerkanntes Gebilde, welches aber wahrscheinlich ebenfalls Kreuzungsfasern des Sehhügels einschließt, ist die mittlere Commissur (A Fig. 51).

90) Centrum medianum von Luys.

91) Er bewirkt die höckerähnliche Erhebung des vordern Endes, das s. g. tuberculum anterius.

92) J. Wagner, der Ursprung der Sehnervenfasern. Dorpat 1862, S. 11 F. Henle a. a. O. S. 250, Fig. 179. Indem WAGNER den äußern Kniehöcker als einen integrierenden Bestandteil des thalamus opticus ansieht (a. a. O. S. 21), sucht er dem letztern die Bedeutung der Hauptursprungsstätte des Sehnerven zu revindiciren.

93) Arnold, Handbuch der Anatomie II, S. 918. Meynert bezeichnet diesen Teil des an der Gehirnbasis zu Tage tretenden Höhlengrau, welcher Ursprungsfasern des Opticus abgibt, als basales Opticusganglion (a. a. O. S. 732).

    Der Fuß oder die Basis des Hirnschenkels setzt denjenigen Teil des Vorderseitenstrangs fort, welcher sich direkt zu den vorderen Teilen des großen Gehirns begibt; er nimmt aber auf diesem Wege den oberen Arm der nach dem Kleinhirn abgeleiteten Seitenbahn auf, der sich innerhalb der Brücke ihm anschließt. Der Fuß sondert sich in verschiedene Abteilungen, deren Ordnung wahrscheinlich während der Kreuzungen der Hirnschenkelfasern vollzogen wird. Die am weitesten nach außen gelegene Abteilung geht, ohne weitere Stationen grauer Substanz zu berühren, in den Stabkranz, sie tritt zwischen Streifenhügel und Linsenkern hindurch, um nach allen Provinzen der Hemisphärenrinde auszustrahlen94). Ein Teil dieser direkt zur Großhirnrinde emporsteigenden Bahn des Hirnschenkelfußes ist die Fortsetzung der oberen sensorischen Pyramidenkreuzung, ein anderer Teil geht wohl aus der größeren motorischen Partie des Fußes hervor. Es ist nach der Verlaufsweise der übrigen Hirnschenkelfasern nicht unwahrscheinlich, daß diejenigen Fasern, welche sich zum Hinterhaupts- und Schläfelappen begeben, der sensorischen, die in die vorderen Teile des Gehirns ausstrahlenden aber der motorischen Bahn angehören. Die weiter nach innen gelegenen Teile treten in verschiedene Ganglienkerne ein, aus welchen sodann Stabkranzfasern hervorgehen. Ein solches Zwischenganglion, in welchem die Hirnschenkelfasern sichtlich an Menge zunehmen, bildet schon die an der Grenze zwischen Fuß und Haube gelegene schwarze Substanz95). Die hauptsächlichsten Ganglienkerne aber, welche die Fasern des Fußes aufnehmen, sind der geschwänzte Kern und der Linsenkern (Fig 52 Nc, Na und Ll—LIII). In den ersteren strahlt der Hirnschenkel (P) radienförmig von innen und unten her aus, in den letzteren treten die Fasern ebenfalls von unten her, sie dringen in die Markscheidewände zwischen den einzelnen Gliedern des Kerns ein und biegen sich von dort aus gegen die Lagen grauer Substanz um. Es scheint somit, daß den genannten Ganglienkernen ausschließlich aus den Leitungsbahnen des Hirnschenkelfußes ihr Zufluß wird. Diese Leitungsbahnen selbst haben aber eine doppelte Quelle, indem sie zu einem Teil direkte Fortsetzungen der motorischen Rückenmarksstränge sind, ergänzt durch die zentralen Fasern höher oben entspringender motorischer Nerven, zu einem andern Teil aus dem kleinen Gehirn herstammen. Eine nähere Sonderung beider Anteile läßt sich nicht ausführen. Außerdem mengen sich dem Hirnschenkelfuß in seinem obersten Abschnitt die aus dem Sehhügel gegen die Rindenteile des Vorderhirns ausstrahlenden Fasern bei (m t h Fig. 52, St, Z Fig. 51). Es läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden, ob diese Bündel sämtlich den Faserverlauf des Fußes nur durchsetzen, um zur Hirnrinde zu gelangen, oder ob einzelne derselben mit in die grauen Massen des geschweiften Kerns und des Linsenkerns eintreten.96) Sollte letzteres der Fall sein, so würden solche Fasern eine unmittelbare Verbindung der Ganglien der Haube mit denen des Fußes und eine Beziehung der letzteren zu den sensorischen Leitungsbahnen vermitteln. Doch ist der letztere Zufluß jedenfalls unbedeutend im Vergleich zu der Breite, welche die rein motorische Leitungsbahn des Hirnschenkelfußes einnimmt. Durch die Eigenschaft, ausschließlich oder vorwiegend motorische Bahnen in sich zu sammeln, unterscheiden sich demnach die dem Fuß zugehörigen Ganglienkerne wesentlich von den weiter rückwärts gelegenen, welche die Haube aufnehmen. Diesen motorischen Charakter bewahrt der Fuß des Hirnschenkels auch noch durch den letzten Zufluß, der ihm wird, durch das bereits erwähnte hintere Längsbündel. Als der am weitesten nach rückwärts verlegte Vorderstrangrest verläuft dasselbe bis in die Region des Sehhügels mit den Bündeln der Haube, um dann dem Fuße sich anzuschließen: es endigt nach MEYNERT in einem nach außen vom Sehhügel und unter dem Linsenkern gelegenen Ganglion, von dem aus sich Fasern zum Klappdeckel und zu den übrigen Wänden der Sylvischen Spalte entwickeln (L Fig. 51)97). Der einzige Teil der nach vorn gelegenen grauen Kerngebilde, welcher sensorische Fasern bezieht, ist der Kopf des Streifenhügels. Er nimmt nämlich, wie wir unten sehen werden, mit seiner Basis aus dem Riechkolben Fasern auf, welche in ihm wahrscheinlich mit der von untenan ihn herantretenden Abteilung der motorischen Leitungsbahn in Verbindung treten. Zentralwärts strahlen die Stabkranzfasern aus den Ganglien des Fußes nach allen Provinzen der Rinde aus. Sie treten am äußern und obern Rande des geschweiften Kerns und im ganzen Umfang des Linsenkerns hervor. Selbst die dem Linsenkern unmittelbar aufliegende Rinde, welche die Wände der Sylvischen Spalte und die Insel bedeckt (J, J' Fig. 51), erhält ihren Zufluß nicht durch radiär ausstrahlende, sondern durch umbeugende Fasern, welche die vom Balken herstammende äußere Kapsel des Linsenkerns umfassen. Aus beiden Hirnganglien geschieht die Ausstrahlung vorzugsweise in die Rindengebiete des Vorderhirns (M Fig. 52).

94) Nach MEYNERT gehen die direkten Ausstrahlungen der Hirnschenkelbasis nur nach dem Schläfe- und Hinterhauptslappen (S. 730). Durch Abfaserung lassen sich aber auch in den Stirn- und Scheitellappen direkte Faserzüge verfolgen (vgl. ARNOLD, tabulae anatom. Fasc. l, Tab. X).

95) Die substantia nigra wird von den früheren Anatomen der Haube zugerechnet (BURDACH, Bau und Leben des Gehirns II, S. 101, Jörg, Beiträge zur Kenntnis vom innern Bau des Gehirns S. 192), die meisten neuern betrachten sie als Grenzschicht zwischen Fuß und Haube und lassen ihre Zugehörigkeit dahingestellt (arnold , Handbuch II S. 73, Henle, system. Anat. III, S. 244). STILLING vermutet eine nähere Beziehung zum zentralen Verlauf des nervus oculomotorius (über den Bau des Hirnknotens S. 159). Nach MEYNERT treten in dieselbe von der Peripherie her Fasern ein, die sich dem Fuß anschließen, so daß sie zu den Ganglien des letzteren gestellt werden muß (STRICKER'S Gewebelehre S. 729 und Fig. 248, S. 738).

96) Arnold, Handbuch II, S. 754.

97) Diese Fasern bilden mit andern, die vom Hirnschenkelfuß zum Linsenkern treten, sowie mit solchen, die aus dem Sehhügel gegen die Wände der Sylvischen Spalte ausstrahlen, die Hirnschenkelschlinge (Sch—Z Fig 51).

    Nur der Streifenhügelkopf macht in dieser Beziehung eine Ausnahme. Seine basale Partie bildet ein in den zentralen Verlauf des Riechnerven eingeschaltetes Ganglion. Die graue Substanz des Streifenhügels hängt nämlich unmittelbar mit der grauen Formation zusammen, welche als vordere durchbohrte Platte oder Riechfeld an der Gehirnbasis zu Tage tritt (B Fig. 51). Viele der zentralen Olfactoriusfasern finden wahrscheinlich hier ihr erstes Ende. Ein anderer Teil des Marks der Riechwindung scheint sich dagegen unmittelbar bis in die Hakenwindung fortzusetzen98). Weitere Markfasern gehen aus der Riechwindung in die Längsfaserzüge des Gewölbes und der Bogenwindung über und endigen wahrscheinlich in der Rinde des Ammonshorns und der Vogelklaue (Fig. 31 B). So wird es begreiflich, daß, wie wir früher schon hervorhoben, Gewölbe, Bogenwindung und Ammonshorn im allgemeinen in ihrer Entwicklung der Ausbildung des Geruchsorganes parallel gehen. Zur Würdigung dieser ganzen Verbindung des Riechnerven muß aber bemerkt werden, daß der Überzug des Riechkolbens eben so wenig wie der graue Beleg des Riechfeldes der eigentlichen Hirnrinde entspricht, sondern daß jener der Zellen- und Körnerschichte der Retina analog ist99), dieser der grauen Kernsubstanz des Streifenhügelkopfes zugehört. Als das letzte Gehirnende wenigstens für einen Teil der Riechnervenfasern ist somit die Rinde der Hakenwindung und des Ammonshorns zu betrachten, welche, wie wir früher gesehen haben, beide mit einander zusammenhängen, da sich die Hakenwindung durch den sulcus hippocampi unmittelbar in das Ammonshorn umschlägt (Fig. 27, Fig.34 ). Einige der zentralen Olfactoriusfasern scheinen direkt dieses Ende zu erreichen, andere zuvor durch die basalen Ganglienkerne des Streifenhügelkopfes, welche im Riechfeld zu Tage treten, unterbrochen zu sein100). Es ist zu vermuten, daß das System des Gewölbes, der Bogen- und Hakenwindung und des Ammonshornes neben Teilen des zentralen Olfactoriusverlaufs noch andere Bahnen führt. Schon die Masse der Fasern, welche diese Gebilde in sich tragen, macht dies wahrscheinlich; auch steht der Fornix durch seine auf- und absteigende Wurzel (ra, rd Fig. 24 ) mit dem Sehhügel in einer Verbindung, welche auf weitere Beziehungen hinweist. Doch sind hierüber bis jetzt nicht einmal Vermutungen möglich101).

98) An letzterem Ort verlaufen die Olfactoriusfasern zum Teil gegen den Mandelkern (mk Fig. 27 ). Offenbar der letztere ist es daher, den LUYS als ein Ganglion des Olfactorius ansieht (recherches sur le système nerveux planche XXV, 14). HENLE (system. Anat. III, S. 256) und MEYNERT (Stricker's Handbuch S. 710) betrachten aber den Mandelkern, ähnlich der Vormauer, als eine der Rinde des Schläfelappens zugehörige Formation. Die weitere Verbindung, welche luys zwischen seinem Olfactoriusganglion und dem vordern Kern des Sehhügels behauptet (a. a. O pl. XV, Fig 1:10), dürfte wohl wesentlich seiner Theorie des Sehhügels als eines allgemeinen sensorischen Zentrums entsprungen sein.

99) Siehe unten über die Struktur der Großhirnrinde.

100) Zu der in die Hakenwindung, also in den Schläfelappen eintretenden Olfactoriusbahn gehört wahrscheinlich auch der Hornstreif (stria cornea), welcher direkt das Mark des Olfactorius mit dem Stabkranz des Schläfelappens zu verbinden scheint. (MEYNERT, in Leidesdorff's Lehrbuch der psych. Krankheiten, 2te Aufl. S. 59.)

101) Pathologische Beobachtungen über diese der Vivisection unzugänglichen Teile können hier wegen der Beteiligung anderer Hirnteile, namentlich der Sehhügel, keine brauchbaren Ergebnisse liefern. Einige Fälle von Zerstörung des Gewölbes vergl. bei Longet, Anatomie und Physiol. des Nervens. I, S. 449. Meynert hat häufig nach langjähriger Epilepsie Atrophie und Sklerose der Ammonshörner und ungleichen Durchmesser derselben beobachtet (Vierteljahrsschr. f. Psychiatrie. I, S. 395). Aber diese Erscheinung dürfte mit der gleichfalls häufig bei Epilepsie gefundenen asymmetrischen Erweiterung der Seitenventrikel zusammenhängen (HOFMANN in derselben Zeitschr. II, S. 332), welche ihrerseits wieder von den Zirkulationsstörungen in der Schädelhöhle herrühren kann, die alle epileptischen Krampfanfälle begleiten. Mit jeder Hemmung des Blutabflusses ist nämlich eine Stauung der Cerebrospinalflüssigkeit verbunden, welche, wenn sie sich oft wiederholt, Erweiterungen der Seitenhöhlen und Atrophie der in denselben liegenden Gebilde, namentlich der in direktem Zusammenhange mit den Gefäßfortsätzen stehenden Ammonshörner, herbeiführen muß.

    Ein dem Vorlauf des Riechnerven angehöriges Fasersystem vermutet man außerdem noch in der vorderen Commissur (ca Fig. 24, VC Fig. 51). Dieser Zusammenhang ist bei den mit starken Riechlappen versehenen Säugetieren deutlich ausgeprägt. Bei ihnen strahlen die Fasern der vorderen Commissur zum größten Teil gegen die Wände des Riechlappens und in das Riechfeld aus, ein kleinerer Teil wendet sich nach rückwärts, um sich im Mark des Temporal- und Occipitalhirns zu verlieren. Bei den Primaten scheint sich dieses Verhältnis umzukehren, indem hier nur spärliche Fasern zur vorderen durchbrochenen Substanz treten, die meisten dem Stabkranz des Hinterhaupts- und Schläfelappens sich beimengen102). Da nun aber auch der letztere, namentlich in den der Hakenwindung zugehörigen Gebieten, einen Teil der Olfactoriusausbreitung in sich aufnimmt, so liegt die Vermutung nahe, daß der vorderen Commissur allgemein die Bedeutung zukomme, zentrale Endigungen der Riechnerven beider Hirnhälften mit einander zu verbinden. Dabei ist es aber noch zweifelhaft, ob es sich um eine wahre Commissur, d. h. um eine Verbindung korrespondierender Rindengebiete beider Seiten, oder nicht vielmehr um eine Decussation handelt. Im letzteren Fall würde, da unzweifelhaft zahlreiche Olfactoriusbündel bis zu ihrer zentralen Endigung auf der nämlichen Seite verbleiben, die Commissur jedenfalls nur eine teilweise Kreuzung vermitteln: man hätte also dann anzunehmen, daß von den Olfactoriusfasern, welche das Riechlappenmark zusammensetzen, ein Teil auf der nämlichen, ein anderer auf der entgegengesetzten Seite in die graue Substanz des Riechfeldes sowie in die zugehörigen Rindengebiete ausstrahle103).

102) Gewöhnlich wird nur eine Verbindung der Schläfelappen in der vorderen Commissur angenommen. GRATIOLET hat aber beim Affen nach rückwärts laufende Faserbündel bis zur Spitze des Hinterhauptslappens verfolgt (Anatomie comp. II, p. 188); Meynert hat dasselbe Verhalten für den Menschen bestätigt (Wiener Sitzungsber. Bd. 60, S. 560).

103) In der menschlichen Anatomie wurde bis in die neueste Zeit die commissura anterior als eine Commissur der Schläfelappen betrachtet, während man sie bei den Säugetieren meistens als eine Commissur der Streifenhügel, namentlich des dem Riechfelde zugehörigen basalen Teils derselben, ansah und zugleich eine Verbindung mit der inneren Wurzel der Riechnerven annahm (Longet, Anatomie u. Physiol. des Nervensystems. I, S. 414, II, S. 17). Erst die Erkenntnis, daß bei den Primaten, wie bei allen Säugetieren, Olfactoriusfasern in den Schläfelappen eintreten, hat eine übereinstimmende Auffassung jenes Gebildes angebahnt. Vgl. J. Sander, Archiv f. Anatomie u. Physiol. 1866, S. 750. Die wahrscheinlichste Annahme ist hiernach die, daß die vordere Commissur eine teilweise Decussation zentraler Olfactoriusfasern einschließt. HUSCHKE (Schädel, Hirn u. Seele, S. 148) und MEYNERT (a. a. O. S. 723) haben in dieser Beziehung die commissura anterior geradezu ein Riechchiasma, ein Analogen zum Chiasma der Sehnerven, genannt. Neben den Kreuzungsfasern enthält aber die vordere Commissur höchst wahrscheinlich auch eigentliche Commissurenfasern.

    Während die Ausstrahlungen des Stabkranzes in die Hirnrinde eintreten, werden sie überall, ausgenommen in der Occipitalgegend (Fig. 52, vgl. a. Fig. 31 u.Fig.32), durchkreuzt von den Fasern des Balkens, welche ebenfalls ihre Richtung gegen die Hirnrinde nehmen, und zwar so, daß sie sich in beiden Hemisphären symmetrisch verteilen. Die Balkenfasern bilden daher augenscheinlich eine Leitungsbahn, die einander entsprechende Rindenpartien beider Hirnhälften vereinigt. Diese Vorbindung findet, wie schon die bedeutende Massezunahme des Balkendurchschnitts von vorn nach hinten vermuten läßt, hauptsächlich zwischen den Rindenpartien der Occipitalregion statt, daher auch mangelhafte Entwicklung des Balkens, wie sie bei mikrocephalischen Individuen zuweilen beobachtet wird, vorzugsweise von Verkümmerung der Hinterhauptslappen begleitet ist104). Außerdem ziehen von Windung zu Windung bogenförmige Faserbündel, welche die Rindenoberfläche je zweier benachbarter Windungen zu verbinden scheinen (fa Fig. 32)105). Einige längere Bündel ähnlicher Art sind endlich zwischen gewissen entfernteren Rindengebieten jeder Hemisphäre ausgespannt: ein solcher Faserzug verbindet den Stirn- und Schläfelappen, ein anderer die Hinterhauptsspitze mit der Schläfe106). Demnach begegnen sich in der Großhirnrinde drei Systeme von Fasern: 1) Stabkranzfasern als Fortsetzung der aufsteigenden Leitungsbahnen, 2) Commissurenfasern als Leitungsbahnen zwischen korrespondierenden Rindenprovinzen beider Hemisphären, und 3) Bogenfasern: mit diesem Namen wollen wir alle jene Faserzüge belegen, welche eine Leitungsbahn zwischen verschiedenen Provinzen der nämlichen Hirnhälfte herstellen. Sie zerfallen wieder in Windungsfasern, welche benachbarte Windungen verbinden, und in Associationsfasern,. welche zwischen entfernteren Rindengebieten einer Hemisphäre verlaufen107). Über die Frage, wie diese verschiedenen Fasersysteme innerhalb der Hirnrinde mit einander zusammenhängen, lassen sich aus der Struktur der letzteren bis jetzt nur wenige Vermutungen schöpfen.

104) J. Sander, GRIESINGER'S Archiv f. Psychiatrie.I, S. 299. BISCHOFF, Abhandl. d. bayr. Akad. 1873. S. 171.

105) Fibrae arcuatae ARNOLD, fibrae propriae GRATIOLET.

106) Der erste wird als fasciculus uncinatus, der zweite als fasciculus longitudinalis bezeichnet.

107) Schon BURDACH unterschied die Hirnschenkel und ihre Fortsetzung im Stabkranze als das Stammsystem des Gehirns von jenen Faserausbreitungen, welche verschiedene Gebiete des Großhirns mit einander vereinigen, und welche er unter dem Namen des Belegungssystems zusammenfaßte. Unter letzterem begriff er aber nicht bloß die Commissuren und Bogenfasern, sondern auch das Gewölbe und den gyrus fornicatus. (Vom Bau und Leben des Gehirns. II, S. 10.) ARNOLD schloß sich der Einteilung BURDACH'S an, unterschied aber die zwei letztgenannten Gebilde als ein besonderes System, das Bogensystem. (Handb. der Anatomie II, S. 742.) MEYNERT nennt den Hirnstamm BURDACH'S das Projektionssystem, die Commissuren und Bogenfasern das Associationssystem (STRICKER'S Gewebelehre, S. 697); seine Einteilung; fällt demnach im wesentlichen mit der unsern zusammen; doch bringt sie die Commissuren- und Bogenfasern in eine Kategorie, während wir glauben beide trennen zu sollen. ARNOLD'S Bogensystem (fornix und gyrus fornicatus) darf seiner physiologischen Bedeutung nach wohl mit den Stabkranzfasern vereinigt werden, da dasselbe teils zentrale Sinnesnervenfasern, die des Olfactorius, zu ihren Rindenbezirken überführt, teils Fasern, die aus Ganglienkernen (des Thalamus) hervorkommen, mit Rinde verbindet.

    Die graue Substanz der Großhirnrinde108) enthält als vorwiegenden Bestandteil mehrere Lagen von Nervenzellen, welche sowohl gegen den Markkern wie gegen die Oberfläche der Rinde in Faserausläufer übergehen. Biese Zellen sind eingebettet in eine Grundsubstanz, welche gegen die Rindenoberflache mehr und mehr dem Bindegewebe verwandt wird, bis sie an der Oberfläche selbst in die rein bindegewebige Gefäßhaut übergeht. In der oberflächlichen Schichte dieser Grundsubstanz (1Fig. 53) sind neben Bindegewebszellen nur spärliche und unregelmäßig gestaltete Nervenkörper zu finden. Weiter nach innen werden diese zahlreicher und nehmen allmälig eine regelmäßigere, pyramidale Form an (2). Je weiter man nach innen geht, um so mehr wächst die Größe der pyramidalen Zelten, während zugleich ihre Zahl abnimmt. Die größeren Pyramiden besitzen eine fast konstante Form (3–4). Jede ist nämlich mit ihrer Basis nach innen gegen das Mark, mit ihrer Spitze nach außen gegen die Oberfläche gerichtet; ihr breitester Fortsatz geht von der Spitze der Pyramide ab und ist nach außen109), ein schmälerer, meist kurz abreißender, von der Mitte der Basis nach innen gekehrt110). Außerdem entsendet jede Zelle einige seitliche Fortsätze, welche meistens näher der Basis als der Spitze gelegen sind111). Der mittlere Basalfortsatz besitzt, da er ungeteilt bleibt und in der Mitte der Zelle zu entspringen scheint, wahrscheinlich den Charakter eines Achsenfortsatzes und geht als solcher unmittelbar in eine Nervenfaser über112). Alle andern Fortsätze verästeln sich und lösen sich auf diese Weise schließlich in ein äußerst feines Terminalnetz auf. Aus dem letzteren sammeln sich dann wieder Nervenfasern, welche zunächst ebenfalls netzförmig angeordnet sind, daher man in der grauen Rinde neben dem feineren ein gröberes Netz aus markhaltigen Fasern unterscheiden kann113). Zwischen den Pyramiden sind rundliche den Lymphkörpern gleichende Zellen in die Grundsubstanz eingestreut. Nach innen hören die Pyramidenzellen, da wo sie ihre bedeutendste Größe erreicht haben und zugleich eine dichtere Lage bilden, plötzlich auf. Es folgen nun auf sie wieder kleinere unregelmäßig geformte Nervenzellen (4), welche sich allmälig mit ihrem längsten Durchmesser vorwiegend der Quere nach stellen und zum Teil eine spindelförmige Gestalt besitzen (5). Zwischen diesen kleineren Zellen laufen Nervenfaserbündel, die sich augenscheinlich teils aus den Fortsätzen der Pyramiden teils aus dem Terminalnetz gesammelt haben, nach innen114). Nicht in allen Teilen der Rinde sind diese verschiedenen Zellenformen gleichförmig verbreitet. Die Pyramiden sind am zahlreichsten an der freien Oberfläche der Windungen, sie verschwinden fast ganz in der Tiefe der Furchen, wo dagegen die kleineren quer gestellten Zellen der inneren Lage an Zahl zunehmen. Entsprechend sieht man die Stabkranzbündel nur in die nach außen konvexen Teile der Wülste eintreten, während in den dazwischen liegenden Furchen unmittelbar unter der Rinde jene Bogenfasern liegen, welche von einer Windung zur andern ziehen. Auch in den verschiedenen Provinzen der Hirnoberfläche ist die Struktur der Rinde keine ganz gleichförmige. Namentlich abweichend verhalten sich die Randwülste der medialen Fläche des Hinterlappens und der Überzug der Hakenwindung und des Ammonshorns. An der ersteren Stelle sind nur spärliche Pyramidenzellen zu finden, während die Formation der kleinen unregelmäßigen Zellen und lymphkörperähnlichen Gebilde überwiegt. Umgekehrt erreichen in der Rinde der Hakenwindung und des Ammonshorns die Pyramidalzellen eine ungewöhnliche Größe und sind in mehrfacher Lage gehäuft115). Den in seiner Struktur bedeutend abweichenden Überzug des Riechkolbens zählt man wohl mit Recht nicht der eigentlichen Hirnrinde, sondern den Sinnesflächen zu. Als vorwiegende Bestandteile findet man kleinere Nervenzellen, welche den Elementen in den Körnerschichten der Retina gleichen und hier wahrscheinlich in den Verlauf der Riechnervenfasern eingeschaltet sind116). Die weitere Oberfläche des Riechlappens gehört zur Hirnrinde; sie soll, ähnlich dem Ammonshorn, aus einer einzigen Form großer Pyramidalzellen zusammengesetzt sein117).

108) R. ARNDT, Archiv. f. Mikroskop. Anatomie II, S. 441, IV, S. 407, V. S. 317, VII, S. 173, Archiv f. Psychiatrie III, S. 467. Meynert, Vierleljahrsschrift f. Psychiatrie I, S. 97, 198, II, S. 88. Henle, system. Anatomie III, 2 S. 268. Rindfleisch, Archiv f. mikr. Anat. VIII, S. 453. Gerlach, med. Zentralblatt 1872, S. 273. BUTZKE, Archiv f. Psychiatrie III, S. 575.

109) Spitzenfortsatz Meynert, Hauptfortsatz ARNDT.

110) Mittlerer Basalfortsatz, Meynert.

111) Seitliche Basalfortsätze, Meynert.

112) BUTZKE, a. a. O.

113) Gerlach a. a. O.

114) Die Vormauer (Claustrum), welche von den älteren Anatomen zu den Ganglienkernen des Gehirns gerechnet wurde, weil sie sich äußerlich dem Linsenkern anschließt, ist nach MEYNERT bloß eine ungewöhnlich starke Anhäufung dieser inneren Zellenlage, die MEYNERT ebendeshalb als Vormauerformation bezeichnet. Ebenso verhält es sich mit dem nach unten von der Vormauer nahe bei der Rinde der Hakenwindung gelegenen Mandelkern (amygdala). (MEYNERT a. a. O. S. 710.)

115) Die Schichte der Pyramidalzellen bezeichnet daher Meynert allgemein als Ammonshornformation (S. 707, 711).

116) An der Oberfläche des bulbus olfactorius bilden diese Körner eine Lage knäuelförmig aufgerollter Gebilde, welche dadurch zu entstehen scheinen daß die Olfactoriusfasern an dieser Stelle, während sie durch Körner unterbrochen sind, einen knäuelförmig verschlungenen Verlauf nehmen (Meynert, STRICKERS Gewebelehre S. 716).

117) Meynert; ebend., S. 717.

    Die regelmäßige Anordnung der aus den Pyramidalzellen entspringenden Fortsätze legt die Annahme nahe, daß dieselben zu den verschiedenen in der Rinde sich begegnenden Leitungsbahnen in Beziehung stehen. Die nach innen gerichteten basalen Fortsätze gehen wahrscheinlich unmittelbar in jene Faserbündel über, welche zum Stabkranz zusammenfließen; den Zusammenhang der Stabkranzfasern mit den Pyramidenzellen bezeugt das gleichzeitige Verschwinden beider in der Tiefe der Randwülste. Über die Verbindung der übrigen Fortsätze mit bestimmten Fasersystemen läßt sich, da hier die Vermittlung erst durch das Terminalnetz stattfindet, kaum eine Vermutung aussprechen. Am wahrscheinlichsten ist es, daß überhaupt kein bestimmter Zusammenhang existiert, indem das Terminalnetz den gemeinsamen Ursprungsort einerseits für alle aus Pyramidalzellen entspringende Protoplasmafortsatze, anderseits für die Commissuren-, Windungs- und Assoziationsfasern bildet. Ob auch Stabkranzfasern aus demselben hervorgehen, muß vorläufig dahingestellt bleiben. Die übrigen Zellen der Hirnrinde haben, so weit sie nicht jugendliche Zustände der großen Pyramidalzellen sind, wahrscheinlich eine mehr sekundäre Bedeutung, indem sie teils Knotenpunkte des Endfasernetzes bilden teils die Richtungsänderung bestimmter Faserzüge vermitteln118). Letzteres gilt namentlich von den quer gestellten Zellen der inneren Schichte, welche durch ihr Vorkommen in der Tiefe der Randwülste auf eine Beziehung zu den Bogenfasern (fibrae arcuatae) hinweisen.

118) Die Größezunahme der Pyramidalzellen von außen nach innen legt den Gedanken nahe, daß dieselben fortwährend von der Oberfläche der Rinde aus, also von den Orten, wo durch die Gefäßhaut der Blutzufluß stattfindet, sich erneuern. Die verschiedenen Schichten der Pyramidalzellen werden dann ebenso viele Zellengenerationen bedeuten, so daß hier jener Vorgang des Untergangs und der Erneuerung, dem alle Elementarteile unterworfen sind, gleichsam vor unseren Augen sich zu vollziehen scheint. — Häufig findet man in erhärteten Präparaten die großen Pyramidalzellen von lichten Räumen umgeben, welche sich, die Spitzenfortsätze umgebend, bis zur Oberfläche erstrecken. Manche vermuten in ihnen Lymphspalten, die, wenn diese Auffassung richtig ist, wohl zur Ernährung der Zellen in Beziehung stehen. (OBERSTEINER, Wiener Sitzungsberichte, Bd. 61, S. 57. Henle, system. Anat. III, S. 271.) Nach Andern sollen aber nur um die Hirngefäße adventitielle Lymphräume vorkommen, jene die Zellen umgebenden Aushöhlungen dagegen Kunstprodukte sein, welche bei der Erhärtung in Folge des verschiedenen Wassergehalts der Teile entstehen. (Boll, Histiologie und Histiogenese der nervösen Zentralorgane S. 85.)

    Man wird kaum umhin können in den mannigfachen Verbindungsfasern getrennter Rindengebiete, welche neben den Ausstrahlungen des Stabkranzes den Mantel des großen Gehirns bilden, Leitungsbahnen zu sehen, die bestimmt sind verschiedene Teile der Hirnrinde zu kombinierter Funktion zu vereinigen. So werden die Commissurenfasern vermutlich der gleichzeitigen oder sukzessiven Funktion entsprechender Rindenteile beider Hemisphären dienen, die Assoziationsfasern werden disparate Endorgane der Hirnrinde, vielleicht sensori-sche und motorische, die Windungsfasern die unmittelbar sich berührenden Rindenteile zu gemeinschaftlicher Wirksamkeit verbinden. Alle diese Annahmen sind freilich nur aus den anatomischen Verhältnissen geschöpft, denn dem physiologischen Versuch sind die genannten Fasersysteme teils für immer unzugänglich, teils sind die durch das Experiment gewonnenen Ergebnisse von allzu unsicherer und vieldeutiger Beschaffenheit119). Außerdem ist wohl die Vermutung gerechtfertigt, daß mit Hilfe jener Verbindungsfasern die Funktionsstörungen, welche nach partiellen Gewebszertrümmerungen der Hirnrinde eintreten, allmälig sich ausgleichen. Solche Ausgleichung durch stellvertretende Funktion scheint gerade in der Hirnrinde wieder in ausgiebigem Maße stattfinden zu können, während dieselbe bei Destruktionen der inneren Teile des Großhirns, der Hirnganglien oder Hirnschenkel, in viel geringerem Grade möglich ist. Den Grund für dieses Verhalten wird man wohl darin suchen dürfen, daß in der Hirnrinde wieder, ähnlich wie in der grauen Substanz des Rückenmarks, gleichwertige Elemente in der vielseitigsten Weise mit einander verknüpft sind und daher leicht auch vicariirend für einander eintreten können. In dem Hirnstamm dagegen sind die zu bestimmten Provinzen des Körpers gehörigen Leitungsbahnen in unveränderlicher Weise angeordnet, so daß, wenn irgendwo eine Bahn unterbrochen wird, nicht leicht eine andere stellvertretend ihre Verrichtung übernehmen kann. Der Satz, daß cerebrale Lähmungen minder leicht als spinale sich ausgleichen, gilt daher auch nur von jenen, die durch Gewebszertrümmerungen des Hirnstammes und seiner Ganglien verursacht sind, nicht von solchen Störungen, welche sich auf die Hirnrinde oder auf die unmittelbar in dieselbe einstrahlenden Stabkranzfasern beschränken.

119) Das einzige unter den Systemen von Verbindungsfasern der Rinde, an dessen isolierte Trennung gedacht werden kann, ist nämlich der Balken. Durchschneidungen desselben bei Tieren verursachen aber keine deutlich ausgesprochenen Störungen. Beim Menschen hat man bei Balkenmangel allgemeinen Stumpfsinn beobachtet, wobei jedoch dahingestellt bleibt, wieweit diese Symptome von begleitenden Abnormitäten der Gehirnstruktur veranlaßt sein können. (Longet, Anatomie u. Physiologie des Nervensystems I, S. 436.)

    Mit Rücksicht nun auf diese umfassenden Ausgleichungen hat man zuweilen angenommen, die beiden Hemisphären seien in funktioneller Beziehung identische Organe, nur deshalb doppelt angelegt, damit das eine für das andere eintreten könne; unter normalen Verhältnissen sollten in denselben alle Vorgänge symmetrisch und identisch verlaufen120). Aber schon die Analogie mit den beiden Augen, an welche man hierbei gedacht hat, ließe eine andere Beziehung vermuten. Beide Augen bilden ein einfaches Sehorgan, doch die Funktion des Doppelauges ist verschieden von der des einfachen. Ähnlich wird auch die Funktion des Doppelhirns nicht mit der des einfachen zusammenfallen, wenn auch eine Hemisphäre für sich zu den notwendigsten zentralen Verrichtungen, ebenso wie das eine Auge zu den Bedürfnissen des Sehens, ausreicht. Ohne Zweifel haben wir die Doppelheit der Hemisphären im selben Sinne wie die bilaterale Anlage der niedrigeren Zentralgebilde, der Seh-, Vierhügel u. s. w., zu deuten. Dieselbe liegt in der bilateralen Anlage des ganzen Körpers begründet. In den niedrigeren Zentralteilen entspricht jede Hälfte des Zentralorgans solchen Muskelgruppen und Sinnesgebieten beider Körperhälften, welche gemeinsam funktionieren: hierin besteht augenscheinlich die Bedeutung der partiellen Kreuzung. Jede Hemisphäre dagegen ist der gegenüberliegenden Körperhälfte zugeordnet, die in sie eintretenden Leitungsbahnen erfahren eine totale Kreuzung, zur Vermittlung der gemeinsamen Funktion beider Seiten sind hier offenbar die Commissurenfasern bestimmt. Dort also in jeder Zentralhälfte Endigungen aus beiden Körperhälften gemischt, die mediane Verbindung durch Kreuzungsfasern bewerkstelligt; hier in den Zentralteilen eine vollständig den peripherischen Organen entsprechende bilaterale Scheidung, beide Hälften durch Commissurenfasern verbunden. In den Gebilden des Zwischen- und Mittelhirns sind die peripherischen Teile ohne Rücksicht auf ihre räumliche Lage, lediglich nach ihrer funktionellen Beziehung vertreten; ja die partielle Kreuzung ermöglicht grade das Zusammenwirken verschiedener oder korrespondierender Teile auf beiden Seiten. In den Großhirnhemisphären entspricht, zunächst in Bezug auf die hälftige Scheidung, und bis zu einem gewissen Grade ohne Zweifel auch in Bezug auf die einzelnen Körperprovinzen, der räumlichen Ordnung der peripherischen diejenige der zentralen Teile. Nur ist die Vertretung eine gekreuzte, und im Zentralorgan findet durch die Commissurenfasern eine Verbindung der korrespondierenden Teile beider Hälften, durch die Windungs- und Assoziationsfasern eine solche zwischen Gebieten je einer Seite statt, Verbindungen, denen in der Peripherie des Körpers kein anatomischer, sondern nur ein physiologischer oder funktioneller Zusammenhang der Teile entspricht. Überdies wird das Prinzip der korrespondierenden Lage zentraler und peripherischer Endfasern dadurch gestört sein, daß in bestimmten Gebieten der Großhirnrinde nicht unmittelbar die peripherischen Teile, sondern zunächst andere Zentralgebilde, namentlich die Ganglienkerne des Großhirns, vertreten sind, unter welchen letzteren die Vier- und Sehhügel, da sie selbst Fasern aus beiden Körperhälften aufnehmen, vermutlich auch jede Großhirnhälfte indirekt mit doppelseitigen Endigungen verbinden werden. Ebenso machen physiologische Tatsachen die Verbindung gewisser Nervenkerne des verl. Markes, welche den stets bilateral wirksamen Nerven der Atmung, der Schluckbewegungen u. s. w. zum Ursprung dienen, wahrscheinlich. Hierdurch mag es geschehen, daß manche Funktionen, die in der Großhirnrinde nur ihre ersten Impulse empfangen, nach der Zerstörung der einen Hemisphäre fortdauern können, obgleich sie mit einer bilateralen Wirkung peripherischer Organe verbunden sind: so die willkürlichen Atem- und Schluckbewegungen, die willkürlichen Bewegungen der Sprachwerkzeuge. In Bezug auf die bewußte Auffassung gewisser Sinneserregungen, nämlich der Geruchs-, Gesichts- und Gehörseindrücke, hat der Hinwegfall der einen Großhirnhälfte ohne Zweifel ebenso wie der Wegfall des einen Sinnesorgans deshalb wenig bemerkbare Folgen, weil für die notwendigsten Bedürfnisse der sinnlichen Wahrnehmung das eine Organ ausreicht, wenn auch namentlich beim Auge die beiden Organe und demgemäß die beiden Hirnhälften, die ihnen äquivalent sind, zur vollständigen Funktion erfordert werden. Anders ist dies bei den Tast- und einigermaßen auch bei den Geschmackseindrücken, weil dieselben nur bei unmittelbarer Berührung des Organs zur Auffassung gelangen, so daß die aufgehobene Sensibilität der einen Seite unmittelbar bemerkt werden muß.

120) Von diesem Standpunkte aus sind z. B. gewisse psychische Störungen, wie die s. g. Doppelvorstellungen, wobei der Patient glaubt, alle Gedanken würden ihm vor oder nachgesprochen u. ähnl., auf eine Incongruenz oder Ungleichzeitigkeit der beiderseitigen Funktion zurückgeführt worden. (Jensen, allgem. Ztschr. f. Psychiatrie. Bd. 25. Suppl. S. 48. Huppert ebend. Bd. 26, S. 529 und Archiv f. Psychiatrie III, S. 66.) Aber, wie mir scheint, erklären sich die hier angezogenen Erscheinungen einfach als Halluzinationen, welche durch Gedanken oder gewöhnliche Phantasievorstellungen wachgerufen sind. Der Patient denkt sich z. B. eine Ziffer, und alsbald steht dieselbe als wirkliches Bild vor ihm. Der Gedanke oder die Phantasievorstellung bilden hier den Reiz, welcher die Halluzination wachruft; zwischen der Ursache und ihrer Wirkung verfließt hierbei eine gewisse Zeit. Daraus hegreift sich auch, daß die Halluzinationen selbst, sowie die den Halluzinationen verwandten Traumvorstellungen niemals verdoppelt werden (HUPPERT, Archiv a. a. O., S. 97).

    Werfen wir zum Schlusse einen Rückblick auf den Inhalt des vorstehenden Kapitels, so ergibt sich über den Verlauf der Leitungswege in den Nervenzentren im wesentlichen folgendes: Die in den Nervenwurzeln von einander isolierten sensorischen und motorischen Bahnen trennen sich bei dem Eintritt in die graue Substanz des Rückenmarks alsbald in mehrere zum Teil in gegenseitiger Verbindung stehende Bahnen. Die Hauptbahn sowohl für die sensorische wie für die motorische Leitung führt unmittelbar aus der grauen Substanz in die weißen Markstränge zurück, von wo sie teils gleichseitig teils gekreuzt nach oben geht, vorzugsweise gleichseitig die motorische, vorzugsweise gekreuzt die sensorische Hauptbahn. Außerdem eröffnen sich zweierlei Nebenbahnen: eine erste verbindet die sensorische mit der motorischen Leitung, sie dient den Reflexen; eine zweite führt innerhalb der grauen Substanz weiter, sie wird regelmäßig bei stärkeren Erregungen in Mitleidenschaft gezogen und vermittelt außerdem, wenn auf der Hauptbahn die Leitung aufgehoben wird, die allmälige Ausgleichung der Störung durch stellvertretende Funktion. Von diesen Bahnen vollendet diejenige Zweigleitung, welche die sensorische mit der motorischen Hauptbahn verbindet, großenteils bereits im Rückenmark ihren Weg, sie nimmt vom Gehirn nur diejenigen Teile in Anspruch, aus welchen noch Nerven hervorgehen. Alle andern Bahnen steigen zum Gehirn empor, die Hauptbahnen direkt, die Nebenbahnen auf den mannigfachen Umwegen durch die graue Substanz, höchst wahrscheinlich aber münden beide im verlängerten Mark, vielleicht auch zum Teil schon höher oben im Rückenmark wieder zusammen, so daß sie hier nur durch eine sensorische und durch eine motorische Hauptbahn vertreten sind. Dies wird schon deshalb wahrscheinlich, weil der Zusammenhang der grauen Substanz, welcher im Rückenmark die Nebenleitung vermittelte, mit dem Abschluß dieses Organs aufhört.
    Die auf solche Weise beim Eintritt in das Gehirn zu einer sensorischen und einer motorischen Hauptbahn zusammengefaßten Leitungen erfahren nun aber von neuem eine Trennung in verschiedene Zweigleitungen. Das Organ, in welchem diese Verzweigung hauptsächlich zu Stande kommt, ist das verlängerte Mark. In ihm zerfällt zunächst die motorische Hauptbahn in zwei Abteilungen: die erste, welche im Fuß des Hirnschenkels weiter geleitet wird, bleibt, wie es scheint, bis in ihre Endausbreitung rein motorisch, d. h. sie tritt nirgends, weder im Verlauf ihrer Faserbündel noch in Ganglienkernen, mit einem Teil der sensorischen Bahn in Verbindung. Diese rein motorische Bahn des Hirnschenkelfußes zerfällt wieder in zwei Unterabteilungen: in eine erste, die sich direkt zur Rinde der Großhirnhemisphären begibt, und in eine zweite, die zunächst in die vorderen Hirnganglien, Streifenhügel und Linsenkern, eintritt, in welchen wahrscheinlich eine Zusammenfassung verschiedenartiger motorischer Bahnen stattfindet, welche dann erst von hier aus zur Großhirnrinde gelangen. Im Ganzen finden die Endausbreitungen der motorischen Hauptbahn vorzugsweise in den vorderen Provinzen der Großhirnrinde statt.
    Die zweite Abteilung der motorischen Bahn besteht aus drei Zweigleitungen: eine erste bildet die Schleife und geht in das hinterste Hirnganglion, den Vierhügel, über; eine zweite geht in die Bildung der Hirnschenkelhaube ein und begibt sich zum Sehhügel. Beide Zweigleitungen treten in diesen Hirnganglien mit Teilen der sensorischen Bahn in Verbindung. Die dritte Zweigleitung endlich beginnt in der Kleinhirnrinde, in deren Zellen sie mit einer von unten in das Kleinhirn eintretenden sensorischen Zweigbahn verbunden ist, und schließt dann dem Hirnschenkelfuße sich an, um mit dessen Ausstrahlungen in den rein motorischen Provinzen der Großhirnrinde, vielleicht zum Teil auch in den vorderen motorischen Großhirnganglien zu endigen.
    Die sensorische Bahn unterscheidet sich in ihrem weiteren Verlauf nach dem Gehirn dadurch wesentlich von der motorischen, daß nur ein kleiner Teil derselben direkt zur Großhirnrinde emporsteigt, während sich der größere sogleich in mehrere Zweigbahnen spaltet, die sämtlich zunächst mit solchen Hirngebilden in Verbindung treten, in denen sie mit motorischen Zweigleitungen verknüpft sind, worauf von da erst weitere Bahnen zur Großhirnrinde führen. Die direkt zur Großhirnrinde gehende sensorische Bahn bildet, so weit sie Fortsetzung von Rückenmarksfasern ist, wahrscheinlich den obersten Teil der Pyramidenkreuzung und geht dann im Hirnschenkelfuße nach oben, um endlich (in dem Markbündel Om Fig. 52) in das Occipitalhirn einzustrahlen. Außerdem treten Seh- und Riechnervenfasern ebenfalls direkt zur Großhirnrinde, erstere teils zum Occipital-, teils zum Schläfelappen, letztere zum Ammonshorn, zur Hakenwindung und wahrscheinlich außerdem zum Occipitalhirn. Gänzlich unbekannt ist dagegen noch die zentrale Endigung des Hörnerven121). Von denjenigen Abzweigungen der sensorischen Bahn, welche zunächst nach solchen Stationen des Zentralorgans sich begeben, in denen sie mit motorischen Elementen Verbindungen eingehen, lenkt die erste nach dem kleinen Gehirn ab, in dessen Rinde sie mit dem oben erwähnten dritten Zweig der motorischen Bahn in Verbindung tritt. Ein zweiter Zweig geht in die Vierhügel: es sind die zentralen Fasern des Sehnerven, welche in diese Ganglien eintreten, um sich in ihnen mit zentralen Fasern der Augenmuskeln, sowie mit der in der Schleife zugeführten Vertretung motorischer Gebiete zu vereinigen. Ein dritter Zweig bildet einen Bestandteil der Hirnschenkelhaube und geht in den Sehhügel ein, wo er mit den dem letzteren ebenfalls in der Haube zugeführten motorischen Bahnen in Verbindung tritt. Ein vierter Zweig endlich, welcher dem vordersten Sinnesnerven, dem Riechnerven, angehört, tritt in der Ganglienmasse des Streifenhügelkopfes mit einein Zweig der motorischen Bahn in Verbindung, der ursprünglich wahrscheinlich ebenfalls in der Haube verläuft, dann aber, nachdem die übrigen Haubenbündel sich im Sehhügel verloren haben, mit den Fasern des Hirnschenkelfußes nach vorn tritt. Mit Rücksicht auf die Art und den Ort der Endigung zerfällt also die ganze Fortsetzung der sensorischen Bahn in drei Hauptabteilungen: in eine erste, die sich direkt zur Großhirnrinde begibt, in eine zweite, die in der Kleinhirnrinde mit einer zur motorischen Endausbreitung im Vorderhirn gerichteten Bahn in Verbindung tritt, und in eine dritte, die in den gemischten Gehirnganglien, Vier-, Sehhügeln und Kopf des Streifenhügels, mit einer in die gleichen Ganglienkerne gelangenden motorischen Zweigbahn verknüpft ist. In der Kleinhirnrinde scheinen einerseits alle sensibeln Flächen des Körpers, anderseits das ganze Gebiet zentraler motorischer Innervation vertreten zu sein; außerdem steht dieselbe noch mit den Vier- und Sehhügeln in Verbindung. Anders verhält sich die sensorische Endigung in den gemischten, halb sensorischen halb motorischen, Hirnganglien. Von diesen ist jedes einem Teil der sensibeln Flächen zugeordnet, so daß sie erst alle zusammen deren Gesamtheit vertreten. So scheinen die Vierhügel dem Sehgebiet, der Kopf des Streifenhügels der Riechfläche, die Sehhügel der empfindenden Hautoberfläche zu entsprechen. Da sonach in jedem dieser Hirnganglien wahrscheinlich die zentrale Verknüpfung je eines besondern Sinnesgebietes mit der ihm zugeordneten Muskulatur stattfindet, so können dieselben wohl auch als reflektorische Ganglien bezeichnet werden. In der Tat wird man voraussetzen dürfen, daß, wie die rein motorischen Ganglien des Hirnschenkelfußes der Kombination verschiedenartiger Bewegungen dienen, so diese reflektorischen Ganglien zusammengesetzte Reflexe vermitteln. Die Kerne dieser Hirnganglien sind aber wahrscheinlich wieder unter einander verbunden, so daß jedes der drei Reflexgebiete auf das andere übergreifen kann. Wollen wir auch für die sensorische Leitung eine Haupt- und Zweigbahn unterscheiden so würde als Hauptbahn jene zu betrachten sein, welche direkt von den sensibeln Nervenkernen nach der Großhirnrinde gerichtet ist. Eine erste Zweighahn wäre diejenige, welche zunächst in die entsprechenden Ganglienkerne und von da zur Hirnrinde geht. Eine weitere Zweigbahn wird sodann durch die Leitung nach dem kleinen Gehirn gebildet, durch welche jedes Sinnesgebiet unter Vermittlung der Kleinhirnrinde mit den motorischen Innervationszentren der Großhirnrinde verbunden scheint. Ihr zentrales Ende scheinen die sensorischen Bahnen vorzugsweise in den hinter der Sylvischen Spalte gelegenen Teilen der Hirnrinde zu finden, da die Stabkranzausstrahlungen aus den Vierhügeln, Kniehöckern und aus dem hinteren Teil der Sehhügel nach dem Occipitalhirn gerichtet sind, nach welchem auch der oberste aus den Hintersträngen des Rückenmarks stammende Teil der Pyramidenfasern, der das äußerste Bündel des Hirnschenkelfußes bildet, seinen Verlauf nimmt.

121) Wohl aber kennen wir ein Gebiet der Großhirnrinde, welches insofern zur Perzeption der Gehörseindrücke eine Beziehung hat, als von ihm die zentrale Beherrschung der Sprachbewegungen ausgeht. Dieses Sprachzentrun), welches in der Umgebung der Sylvischen Spalte liegt (vgl. Kap. V), steht nun zwar ohne Zweifel mit der Acusticusendignng in Verbindung, es kann aber durchaus nicht geschlossen werden, daß die letztere demselben Rindengebiete angehöre. Dies ist nicht einmal wahrscheinlich, da bei Solchen, die in Folge von Zerstörungen jenes Sprachzentrums aphatisch sind, die Auffassung der Schalleindrücke nicht gestört zu sein pflegt.

    Das Resultat, daß vorzugsweise in den vorderen Partien der Hirnrinde die motorischen, in den nach hinten gelegenen die sensorischen Leitungsbahnen endigen, findet in Beobachtungen über den Effekt örtlich beschränkter schwacher Reizungen auf die verschiedenen Teile der Hirnrinde eine merkwürdige Bestätigung. In an Hunden ausgeführten Versuchen sahen fritsch und hitzig, daß bestimmte Muskelgebiete von einem kleinen; meist nur wenige Millimeter umfassenden Teil der Hirnrinde aus durch schwache elektrische Ströme zur Kontraktion angeregt werden122). So konnte ein Zentrum für die Nackenmuskeln, ein anderes für die Strecker des Vorderbeins, ein drittes für die Beuger der gleichen Extremität, ein viertes für die Muskeln des Hinterbeins und ein fünftes für das Gebiet des nervus facialis nachgewiesen werden. Diese Zentren haben die in nebenstehender Figur bezeichnete Lage; sie nehmen alle, wie man sieht, den vorderen Teil der Hirnrinde zwischen der Riechwindung und der Sylvischen Spalte ein; ihre Wirkung ist stets eine gekreuzte. Die zwischen den einzelnen Zentren gelegenen Teile der Hirnrinde sowie das ganze hinter der Sylvischen Spalte gelegene Gebiet zeigt selbst nach Reizung mit viel stärkeren Strömen keinerlei motorische Reaktion. Ich kann diese Resultate nach eigenen Versuchen für den Hund sowie für das Kaninchen bestätigen. Bei letzterem haben die Zentren, so weit sie sich an der glatten Gehirnoberfläche fixiren lassen, eine ähnliche Lage123). Exstirpiert man einen Teil der Hirnrinde, der ein motorisches Zentrum einschließt, so werden die entsprechenden Bewegungen auf längere Zeit gestört, doch gleicht sich diese Störung allmälig wieder aus124). Ähnliche Erscheinungen hat man auch beim Menschen in Folge beschränkter Verletzungen, welche die Konvexität des Stirnlappens trafen, beobachtet125). Die nicht motorischen Gebiete der Großhirnrinde zeigen keinerlei Reaktion auf die stattgefundenen Reize; nichts desto weniger würde es nicht gerechtfertigt. sein hieraus zu schließen, daß sie überhaupt nicht reizbar seien, da wir schwache sensorische Erregungen nicht so leicht wie motorische zu erkennen im Stande sind. Es könnte also immerhin sein, daß die Reizung dieser Gebiete der Hirnrinde oder einzelner derselben sensorische Erregung verursacht126).

122) FRITSCH und Hitzig, Archiv f. Anatomie, Physiologie etc. von Reichert und du Bois-Reymond. 1870, S. 300 f.

123) Um bei den vorstehend erwähnten Versuchen unzweideutige Resultate zu gewinnen, reizt man entweder durch Schließung und Öffnung eines schwachen konstanten Stromes oder durch schwache Induktionsströme bei möglichst geringer Geschwindigkeit der schwingenden Feder des Induktionsapparats; als Elektroden nimmt man abgestumpfte Platinaspitzen oder Stecknadelköpfe, deren Distanz nicht mehr als 1–2 Mm. betragen darf. Der Schädel wird mit dem Trepan möglichst weit vorn eröffnet und die Öffnung nötigenfalls mit der Knochenzange erweitert, dann wird die dura mater zurückpräpariert, die Gefäßhaut aber vorsichtig geschont. Längere Entblößung pflegt namentlich beim Kaninchen die Reizbarkeit außerordentlich abzustumpfen. Das Zentrum für die Rückenmuskeln scheint beim Hunde nach einigen Versuchen die ich ausgeführt habe, hinter dem Zentrum für die Nackenmuskeln, am hintern Rande derselben (präfrontalen) Windung, zu liegen, das Zentrum für die Kaumuskeln im vordem Teil desselben (supersylvischen) Gyrus, dessen hinteres Ende das Facialiszentrum birgt. FRITSCH und HITZIG geben an, daß am Vorderbein Strecker und Adductoren, sowie Beuger und Rotatoren (Pronatoren?) je ein Zentrum haben; ich habe mich davon aber nicht bestimmt überzeugen können.

124) nothnagel (Tageblatt der Naturforscherversammlung zu Leipzig 1872) und FOURNIE (gaz. des hôspitaux 1872, No. 126) haben dies benutzt, um die Resultate von FRITSCH und Hitzig auf folgendem Wege zu bestätigen. Sie injizierten mittelst der PRAVAZ'schen Spritze in die Schädelhöhle eine zerstörende und zugleich färbende Substanz (Chromsäure, blaugefärbtes Chlorzink) und ermittelten auf diese Weise diejenigen Stellen der Hirnrinde, deren Hinwegfall vorübergehende motorische Störungen herbeiführte.

125) Wernher, Virchow's Archiv Bd. 56, Heft 3. Simon, Berliner klinische Wochenschrift 1873, No. 4. Auch die Beobachtung, daß der allgemeinen progressiven Paralyse vorzugsweise Degenerationen der Rinde des Vorderhirns zu Grunde liegen, weist für den Menschen auf eine solche Lokalisation der motorischen Zentren hin (meyer, GRIESINGER'S Archiv f. Psychiatrie I, S. 298). Schwankender sind die Lähmungserscheinungen nach Apoplexien. Die Fortpflanzung des Drucks auf andere Hirnteile macht hier alle Schlüsse bedenklich. Auffallend ist immerhin die Häufigkeit totaler Hemiplegie der Hinterextremität bei Ergüssen in den Streifenhügel und dessen Umgebung (ANDRAL, Krankheiten der Nervenherde, deutsch von behrend. Leipzig 1838, S. 119), womit die Tatsache übereinstimmt, daß vorzugsweise bei Erkrankungsherden im vordersten Teil des Hirnschenkelfußes, welcher die innere Kapsel bildet, sowie der angrenzenden Ganglien des Linsenkerns der Vorderseitenstrang des Rückenmarks von sekundärer Degeneration ergriffen wird. (Türck, Wiener Sitzungsber. Bd. 11, S. 93.) Allerdings sind Hemiplegie und sekundäre Degeneration motorischer Rückenmarksstränge auch häufig nach Herderkrankungen im Sehhügel beobachtet worden, es ist aber sehr möglich, daß in solchen Fällen der Druck auf die Hirnschenkelfasern der innern Kapsel hieran die Schuld trug.

126) Das empfindlichste Reagens auf sensible Reizung ist ohne Zweifel die Veränderung des Herzschlags oder des Blutdrucks. Zur Auffindung etwaiger sensibler Provinzen der Hirnrinde wird es sich daher empfehlen, die Reizungsversuche mit Blutdruckmessungen zu kombinieren. Ich habe bis jetzt keine Zeit gefunden, derartige Versuche auszuführen.

    So ergibt die Verfolgung des Verlaufs der zentralen Leitungsbahnen als wichtigstes Schlußresultat, daß jede motorische und jede sensorische Provinz des Körpers ihre gesonderte Vertretung im Gehirn besitzt. Zugleich aber hat, wie die anatomische Untersuchung zweifellos macht, jede Provinz eine mehrfache Vertretung. Den motorischen Körperteilen entsprechen nämlich 1) solche Fasern, welche in direktem Verlaufe, ohne zwischengelegene Ganglienker-ne zu berühren, die Großhirnrinde erreichen, 2) andere, welche zuvor motorische Ganglien (die Ganglien des Fußes) passieren, in welchen verschiedene motorische Gebiete verknüpft sind, 3) Fasern, welche in gemischte Ganglien (die Ganglien der Haube) eintreten, in denen eine Verbindung sensorischer mit den zugehörigen motorischen Provinzen stattfindet. Ebenso scheinen die empfindenden Teile in doppelter Weise im Gehirn vertreten zu sein: 1) durch Fasern, welche direkt zur Großhirnrinde emporsteigen, und 2) durch andere, welche zunächst zu den Ganglien der Haube gelangen; sie sind mit den unter 3 genannten identisch, indem die Zentralfasern der reflektorischen Ganglien gleichzeitig als eine Vertretung von motorischen und von sensorischen Provinzen aufgefaßt werden können. Von diesen drei Vertretungen der motorischen und der sensorischen Provinzen ist demnach eine, die direkte Vertretung, für beide Leitungsbahnen eine andere. Eine zweite, die von den reflektorischen Ganglien aus, ist beiden gemeinsam. Eine dritte aber, die Vertretung durch Fasern, welche von den motorischen Ganglien kommen und der kombinierten Aktion verschiedener Muskelgebiete entsprechen, ist der motorischen Bahn eigentümlich. Eine besondere Endigungsfläche, in welcher Abzweigungen der motorischen und der sensorischen Bahn sich begegnen, bildet ferner die Kleinhirnrinde. In ihr sind gleichzeitig die sensorischen Provinzen der Körperperipherie und die motorischen der Großhirnrinde vertreten. Zu diesen aufsteigenden Leitungswegen, von denen die direkten sämtlich, die indirekten aber teilweise sich kreuzend auf die entgegengesetzte Seite treten, kommen endlich die Verbindungsbahnen der Commissuren, der Windungs- und Assoziationsfasern, welche wahrscheinlich die kombinierte physiologische Funktion teils verschiedener Rindengebiete derselben Groß- oder Kleinhirnhälfte, teils korrespondierender Provinzen zweier Hemisphären vermitteln.

    Die im obigen mehrfach erwähnten Kreuzungen der Leitungsbahnen sind teils partielle teils totale. Die ersteren betreffen durchweg diejenigen Fasersysteme, welche in den niedrigen Zentralgebieten, insbesondere in den Vier- und Sehhügeln, ihr Ende finden, also die in der Schleife und Haube zusammengefaßten Teile des Hirnschenkels. Eine totale Kreuzung erfahren jedenfalls beim Menschen die im Hirnschenkelfuß zu den Ganglien des Streifenhügelkopfes und direkt zur Großhirnrinde emporstrebenden Bahnen. Ob bei den niedrigeren Säugetieren die letztere Kreuzung ebenfalls eine totale oder nur eine partielle sei, ist nicht ganz sicher: jedenfalls trifft sie aber auch bei ihnen die Mehrzahl der Fasern des Hirnschenkelfußes.
    Unter diesen Kreuzungen läßt sich offenbar der partiellen am leichtesten ein Verständnis abgewinnen. Teils verschiedenartige teils entsprechende Muskeln beider Körperhälften vereinigen sich vielfach zu gemeinsamer Aktion, wie am klarsten das Beispiel der Augenmuskeln zeigt. Gleich diesen sind die Muskeln des Rumpfes in der Regel in assoziierter Tätigkeit. Unabhängiger eingeübt sind zwar die Bewegungen der Extremitäten, doch sind auch hier die Glieder der beiden Seiten fast immer in kombinierter, wenn auch meistens verschiedenartiger Aktion, insbesondere beruhen auf einer solchen alle Formen der Vorwärtsbewegung, wie das Gehen, Laufen, Fliegen, Schwimmen u. s. w. Bei den meisten dieser Formen kombinierter Bewegung hat die partielle Kreuzung offenbar die Bedeutung, daß durch sie in jeder Hirnhälfte die zentralen Nervenenden verschiedenartiger Muskeln beider Seiten, die zu gemeinsamer Tätigkeit sich vereinigen, einander genähert werden, wie z. B. die Zentralpunkte für den Auswärtswender des einen und den Einwärtswender des andern Auges oder für die Beuger der einen und die Strecker der andern Extremität. Für die sensibeln Gebiete kann möglicher Weise schon durch die funktionelle Beziehung zu den Bewegungen der Organe ein ähnlicher Verlauf der Leitungswege bedingt sein, falls nicht eine direktere Beziehung der Empfindungen selbst stattfindet, wie dies beim Auge zweifellos der Fall ist.
    Schwerer ist es über die Ursache der totalen Kreuzung Rechenschaft zu geben, welche im Hirnschenkelfuß beim Menschen und annähernd jedenfalls, d. h. als eine Kreuzung der meisten in die Hemisphären eintretenden Bahnen, auch bei den übrigen Säugetieren stattfindet. Sobald einmal die Fasern einer Körperhälfte ganz oder vorzugsweise nur auf einer Seite des Gehirns endigen, so würde das einfachste Verhältnis offenbar dieses sein, daß die Hauptvertretung auf der nämlichen Seite stattfände. In der Tat haben wir gesehen, daß bei den niedersten Wirbeltieren wenigstens in Bezug auf die motorischen Bahnen wahrscheinlich ein solches Verhältnis existiert. Wenn dasselbe bei eintretender Vervollkommnung der Organisation sich umkehrt, so hängt dies vielleicht mit der bei allen höheren Tieren vorhandenen, bei den Säugetieren aber am meisten ausgeprägten Asymmetrie der Ernährungsorgane zusammen. Die einzelnen asymmetrischen Lagerungsverhältnisse der letzteren sind aufs innigste wieder unter einander verbunden und bestimmen gerade hierdurch die ganze Formbildung des Tierkörpers. Die rechtseitige Lage der Leber, welche einen Hauptzufluß zu dem Venensystem liefert, führt es mit sich, daß die großen Behälter des venösen Blutes ebenfalls auf die rechte Seite zu liegen kommen, womit von selbst dem Arteriensystem die Lage auf der linken zufällt. Diese Asymmetrie, die anfangs nur die Anordnung der Arterien trifft, wirkt dann auch auf das Zentralorgan des Kreislaufs, das Herz, zurück, welches mehr und mehr auf die linke Seite herüberrückt. Wie eng die gegenseitige Beziehung dieser Lageverhältnisse ist, geht aus der Tatsache hervor, daß in den seltenen Fällen, wo eine der gewöhnlichen entgegengesetzte Lagerung eintritt (beim so genannten situs transversus viscerum), immer das Lagerverhältnis aller asymmetrischen Organe sich umkehrt. Die Zentralorgane des Kreislaufs sind es nun, die vorzugsweise des Schutzes bedürfen, daher die meisten Säugetiere im Kampf mit ihren Feinden vorzugsweise die rechte Seite nach vorn kehren. Dadurch aber entwickeln die Muskeln dieser Seite sich kräftiger, was auf jene instinktive Angewöhnung wiederum begünstigend zurückwirken muß. Letzteres Verhältnis erreicht seinen höchsten Grad beim Menschen wegen der aufrechten Stellung desselben. Diese macht die Zentralorgane des Kreislaufs des Schutzes vorzugsweise bedürftig, erleichtert aber gleichzeitig die Gewährung desselben. Anderseits ist es wahrscheinlich, daß die linkseitige Lagerung der Kreislaufsorgane eine stärkere Ausbildung der gleichseitigen Gehirnteile mit sich führt. Damit könnte vielleicht die Beobachtung gratiolet's zusammenhängen, daß die linke Hirnhemisphäre teilweise in ihrer Entwicklung der rechten vorauseilt127). Es ist nun vollkommen begreiflich, daß der stärkeren Körperhälfte die stärker entwickelte Hirnhälfte entsprechen muß, daß also die peripherischen Bahnen der rechten Seite vorzugsweise auf der linken Seite des Zentralorgans, und demzufolge auch jene der linken auf der rechten vertreten sind. Für den Menschen scheint diese Auffassung eine augenfällige Bestätigung in der pathologischen Beobachtung zu finden, daß Sprachstörungen aus zentraler Ursache, Fälle so genannter Aphasie, am häufigsten, wenn auch keineswegs ausschließlich, in Folge linkseitiger Apoplexieen, also verbunden mit rechtseitiger Hemiplegie vorkommen128). Hieraus darf man vielleicht schließen, daß, ähnlich wie die rechte Körperhälfte in Bezug auf die Kraft der Muskeln, so die linke Hirnhälfte in Bezug auf die zentralen Verrichtungen die geübtere ist129).

127) Die Stirnwindungen sollen sich nämlich nach GRATIOLET links schneller ausbilden als rechts, am Hinterhaupte schien das entgegengesetzte stattzufinden. (Anatomie comparée du système nerveux II, p. 242.) Ecker bezweifelt die von Gratiolet angegebenen Unterschiede (Archiv f. Anthropologie III, S. 215). Auch Ogle gibt aber an, daß fast ausnahmslos die linke Hemisphäre schwerer als die rechte sei, und außer ihm behaupten BROCA, BROADBENT u. A. eine kompliziertere Beschaffenheit der linken Frontalwindungen. (Ogle, medico-chirurgical transactions. Bd. 54. 1871 , p. 279.) Eine leicht zu bestätigende Tatsache ist es jedenfalls, daß bei allen Primaten die Furchen am Vorderhirn asymmetrischer angeordnet sind als am Occipitalteil.

128) So hat TROUSSEAU auf 125 Fälle von Sprachlähmung mit rechtseitiger Hemiplegie nur 10 mit linkseitiger gesammelt. (Meissner's Jahresber. d. Physiol. 1867. S. 532.) Mehrmals ist bei linkshändigen Menschen Aphasie verbunden mit linkseitiger Hemiplegie oder mit rechtseitiger Apoplexie beobachtet worden. (Ebend. 1872, S. 266 und 1871 S. 298.) Diese Tatsache ist aber nicht vollkommen beweisend, da überhaupt die Zahl der Fälle, wo bei rechtseitigen Gehirnerkrankungen Aphasie beobachtet wurde, sich allmälig vermehrt hat. Mit Recht hat man hierin eine Widerlegung der von einigen Pathologen ausgesprochenen Annahme gesehen, daß das zentrale Sprachorgan ein einseitiges sei. Dagegen scheint allerdings die pathologische Statistik darzutun, daß die linke Hirnhälfte meistens einen bedeutenderen Einfluß auf die Sprachfunktion ausübt als die rechte, Das zentrale Sprachorgan ist sonach ohne Zweifel bilateral entwickelt, aber auf der einen Seite, in der Regel auf der linken, mehr geübt als auf der andern. übrigens beruht die bilaterale Wirksamkeit der Muskeln des peripherischen Sprachorgans wahrscheinlich, ähnlich wie die der Atem- und Schluckmuskeln, nicht auf einer bilateralen Vertretung im großen Gehirn, sondern auf einer direkten Verbindung der Nervenkerne im verl. Mark.

129) Leyden, Berliner klin. Wochenschrift. 1867. No. 7. Ogle, a. a. O. Näheres über den zentralen Sitz der Sprachfunktion siehe im folgenden Kap.