6. Fechners Verhältnis zum Spiritismus.

    Fechner's fester Glaube an ein Fortleben des Geistes in der Sphäre seines diesseitigen Lebens brachte ihn von selbst in unmittelbare Berührung mit den Vorstellungen über geistige Fernewirkungen, Hellsehen, Geistererscheinungen, wie sie jederzeit auf den philosophischen Mystizismus eingewirkt haben. Auch darin ist Fechner ein Nachfolger der Naturphilosophie aus dem Anfange des 19. Jahrhunderts, die ja in Männern wie Ennemoser, G. H. Schubert u. a. diese angeblich magische und mystische Seite des Seelenlebens eifrig kultivierte. Besonders im 3. Bande des "Zendavesta" bezieht er sich mehrfach auf die Schriften der Genannten, sowie auf Justinus Kerner's und anderer Mitteilungen über Somnambule, auf Swedenborg's "Himmel und Hölle" usw. Er führt freilich diese Zeugnisse nur als "Ansichten" an, die den seinigen ähnlich seien (Zendavesta III, S. 78ff.), ohne für die Tatsächlichkeit des in solchen mystischen Schriften Berichteten einzutreten. Aber da er sie mit als Argumente verwendet, so mußte er doch wohl irgend eine tatsächliche Grundlage für wahrscheinlich halten. Da konnte es denn nicht ausbleiben, daß in den späteren Jahren von den Anhängern neuer mystischer Richtungen und Lehren Fechner mit Vorliebe als Zeuge angerufen oder um eine Prüfung der vorgeblichen wunderbaren Tatsachen ersucht wurde. So hat sich ihm, wie er selber klagt, Reichenbach mit seiner Odlehre "an die Fersen geheftet" und ihn fast wider seinen Willen gezwungen, sich zu einer Beteiligung an seinen Versuchen herbeizulassen (Erinnerungen an die letzten Tage der Odlehre und ihres Urhebers, 1876). Ähnlich hat ihm später der Spiritismus manche unerfreuliche Stunde bereitet. Daß sich auch die Spiritisten an ihn wandten, darüber hat er sich freilich selbst nicht gewundert. Im Gegenteil, in seinem Tagebuch schreibt er einmal: "Einigermaßen wundert es mich, daß meine Ansichten vom Jenseits, wie ich sie im 'Büchlein vom Leben nach dem Tode' und ausführlicher im 3. Teile des 'Zendavesta' entwickelt habe, trotz ihrer Verwandtschaft mit den Ansichten der Spiritisten und Vereinbarkeit mit den spiritistischen Versuchen, im Kreise der Spiritisten selbst so gut. wie unbeachtet geblieben sind; was übrigens kein Anlaß für mich sein soll, mich in ihre Literatur zu mischen."

    So wenig aber auch Fechner's Schritten in spiritistischen Kreisen verbreitet sein mochten, an ihn selbst ergingen von den Anhängern dieser Bewegung, namentlich in den Jahren 1877-78, von verschiedenen Seiten her Einladungen, sich an spiritistischen Sitzungen zu beteiligen. Aber er war seit dem "Zendavesta" vorsichtiger geworden. Von den wissenschaftlichen Waffen der "Psychophysik" versprach er sich in dieser Zeit größeren Erfolg als von den zweifelhaften Erscheinungen des "magischen Geisteslebens"; und er lehnte daher solche Einladungen konsequent ab. Da überraschte eines Tages Fr. Zöllner, der bekannte Astrophysiker, ein Kränzchen, dem außer einigen anderen Kollegen auch Fechner und W. Weber angehörten, mit einem Gaste, - dieser Gast war das bekannte amerikanische Medium Slade. So wurde Fechner fast unfreiwillig Zeuge und Teilnehmer mehrerer spiritistischer Sitzungen. Ich besitze zwei Aktenstücke von Fechner's eigner Hand über diese Sitzungen, ein ausführliches von ihm geführtes Tagebuch vom November 1877 bis Januar 1878, in welchem er nach jeder Sitzung sorgfältig über das Gesehene und über den Eindruck, den es auf ihn machte, berichtet, und einen an mich gerichteten, zwölf eng geschriebene Bogen füllenden Brief vom Juni 1879, in welchem er endgültig seine Stellung zum Spiritismus darlegt. Da dieses Schreiben sachlich und zum Teil sogar wörtlich genau mit den später diesem Gegenstand in der "Tagesansicht" gewidmeten Bemerkungen übereinstimmt, so bietet dasselbe gegenwärtig kein besonderes Interesse mehr. Um so interessanter und charakteristischer für Fechner's "Vorsicht im Glauben wie im Unglauben" ist das Tagebuch. Zunächst sind die Eindrücke, die er von Slades Kunstleistungen empfängt, überwiegend ungünstige. Nachdem alle die bekannten Leistungen, die Schieferschriften unter dem Tisch, das Heben von Tischen und Stühlen usw., mehrfach vorgeführt worden waren, bemerkte er: "Soll ich nach dem allgemeinen Charakter der vorgeführten Produktionen gehen, so überwog für mich im ganzen der Eindruck einer geschickt ausgeführten, aus verschiedenen interessanten Kunststücken zusammengesetzten Taschenspielerei, wobei der Taschenspieler immer die Fäden in der Hand behält und keine Ausweichung aus dem Kreise, den er nun eben zu beherrschen weiß, gestattet. Von einer wissenschaftlichen Untersuchung der vorgeführten Phänomene war überhaupt nicht die Rede; es fehlten alle Bedingungen dazu. Wir hatten einfach das Zusehen, oder hatten, wenn selbst mit zugezogen, nur auszuführen, was Slade vorgeschlagen hatte. Auf unsererseits vorgeschlagene Abänderungen wurde nicht eingegangen, und doch wäre eine exakte Untersuchung nur so zu führen, daß die Umstände und Weisen der Versuche möglichst aus bestimmten Gesichtspunk-ten abgeändert und gerichtet würden."

    In diesen Sätzen ist wohl auch die Stellung bezeichnet, die mit Fechner W. Weber zunächst den Slade'schen Experimenten gegenüber einnahm. Da ereignete sich etwas, durch das, wie Fechner berichtet, Zöllner, der im stillen schon längst überzeugt war, zu Tränen bewegt wurde, das aber auch den Zweifel der bis dahin skeptisch gebliebenen Beobachter erschütterte: Zöllner hatte sich, um seine Hypothese der vierdimensionalen Geisterwelt zu prüfen, ausgesonnen, in eine an ihrem Ende zugesiegelte Schnur ohne Lösung des Siegels Knoten durch die Geister schürzen zu lassen. Und dies Experiment war anscheinend gelungen! Das hielten auch Weber und Fechner für ein "Experimentum crucis". Aber während Zöllner das Resultat mit Begeisterung begrüßte, fügte sich Fechner nur widerstrebend. Es überwog bei ihm der unbehagliche Eindruck, daß, wenn sich diese Erscheinungen als Wahrheit erweisen sollten, der alberne und läppische Charakter derselben eine unwürdige Vorstellung von dem Treiben der Geisterwelt erweckte, die zu seinen eigenen Ideen über das Fortleben nach dem Tode in einem unerfreulichen Gegensatze stand. So half er sich denn, da er jenem "Experimentum crucis" nichts entgegenzusetzen wußte, mit der Annahme, daß es sich hier wohl um abnorme, pathologische Vorkommnisse handle, durch die man sich die Aussichten in die jenseitige Welt nicht verkümmern lassen dürfe. Es ist die Stellung, die am Schluß der "Tagesansicht" zum Ausdruck kommt: "Die Tagesansicht kann mit und ohne den Spiritismus bestehen, bestände aber doch lieber ohne als mit demselben; denn wenn schon sie in wichtigen Punkten mit ihm zusammentrifft und hierin eine Stütze suchen könnte, ja, wie ich meine, bis zu gewissen Grenzen wirklich darin findet, stört er doch mit seinen Abnormitäten nicht nur in sie, sondern in das gesamte System unserer bisherigen Erkenntnis hinein."

    Bedenkt man, wie sehr sich Fechner sein ganzes Leben hindurch bemüht hatte, Zeugnisse für seine Weltanschauung aufzufinden, wo sie nur immer sich bieten mochten, so kann man nicht umhin, die Objektivität zu bewundern, mit der er den spiritistischen Vorführungen gegenübertritt, und mit der er, selbst nachdem er sich dem angeblichen Experimentum crucis glaubt fügen zu müssen, den Wert dieses Zeugnisses mehr negativ als positiv einschätzt: Er würde es lieber entbehren, als daß er sich nun in einem gewissen Grade darauf stützen kann. Wenn er sich schließlich durch jenes Experiment für überwunden erklärte und infolgedessen natürlich auch andere angebliche Geistermanifestationen als möglicherweise nicht auf Täuschung beruhend zugeben mußte, so war dabei übrigens, neben seinem Grundsatz absoluter Vorurteilslosigkeit, sichtlich auch der Umstand maßgebend, daß er sich schwer entschließen konnte, einen Menschen, der die Außenseite eines ehrlichen Mannes besaß, für einen gemeinen Betrüger zu halten. Hätte daher Fechner die Mitteilungen gelesen, die Jahre nachher die Witwe eines Dieners, der Slade auf seinen Reisen begleitet hatte (soviel ich mich erinnere in der "Gegenwart"), veröffentlicht hat, so würde er wohl bei seinem anfänglichen Urteil, daß es sich um Taschenspielerkunststücke handle, stehen geblieben sein. Nach diesen Mitteilungen war nämlich Slade "Kautschukmann" gewesen, hatte aber die Ausübung dieses Berufs wegen eines leichten Schlaganfalls aufgeben müssen. So war er denn zum "Medium" geworden. Während seine Hände auf dem Tisch ruhig mit denen der sogenannten "Beobachter" zusammen zur "Kette" geschlossen waren, führte er alle Kunststücke unter dem Tisch mit den Beinen und Füßen aus, welche letztere mit Schuhen ohne Sohlen und seidenen Strümpfen bekleidet waren, so daß er sich der Zehen als Finger bedienen konnte. Die Schieferschriften, das Heben von Tischen und Stühlen waren natürlich auf diese Weise leicht auszuführen, und andere Taschenspieler, die nicht zufällig die Vorschule des Kautschukmanns durchgemacht hatten, mochten immerhin mit gutem Gewissen erklären können, daß diese Leistungen auf dem Wege der gewöhnlichen Taschenspielerei unmöglich seien. Auch das Geheimnis, wie er das "Experirnentum crucis" mit den vier Knoten in der zugesiegelten Schnur zustande brachte, hat Slade schwerlich mit ins Grab genommen, da gerade diese Leistung mit bekannten und oft vorgeführten echten Taschenspielerkunststücken eine auffallende Familienähnlichkeit besitzt.