5. Fechners Psychologie.

    Die Grundzüge von Fechner's Psychologie sind in seiner "inneren Psychophysik" enthalten. Damit ist schon gesagt, daß die empirische Analyse des seelischen Lebens, die wir heute der Psychologie als Aufgabe stellen, in ihr keine Rolle spielt, sondern daß sie wesentlich eine metaphysische Psychologie ist. Sie ist dies aber zugleich in dem Sinne, daß die Frage nach dem Verhältnis des Psychischen zum Physischen und die andere nach den künftigen Schicksalen der Seele, also nach der psychologischen Begründung der Glaubensaussichten, die ganze Darstellung beherrscht. Nachdem Fechner in den Erörterungen über den Sitz der Seele, gegenüber der monadologischen und der materialistischen Ansicht, die seiner Auffassung von Leben und Beseelung entsprechende "synechologische" begründet hat, ist es fast ausschließlich der Begriff der "Schwelle" in seinen verschiedenen Anwendungen, der ihn beschäftigt. Seine ganze Psychologie, so weit sie sich auf eine Interpretation empirischer Tatsachen einläßt, besteht in der Anwendung dieses Schwellenbegriffs auf die verschiedensten psychischen Vorgänge: auf die Entstehung des Bewußtseins im Kinde, auf den Wechsel von Schlaf und Wachen, auf das Gehen und Kommen der Vorstellungen, auf das Wandern der Aufmerksamkeit, auf die Vorgänge der Unterscheidung. Auch hier ist es demnach die Analogie, die die alleinherrschende Rolle spielt. Alles, was im menschlichen Bewußtsein geschieht, fällt für Fechner unter den Gesichtspunkt eines Schwellenphänomens; und da unsere Bewußtseinsvorgänge im allgemeinen wechselnde Vorgänge sind, so ist es ja klar, daß, wenn man jede Veränderung ein Steigen über eine Schwelle oder ein Sinken unter eine Schwelle nennt, dieses Bild niemals versagen kann. Das, was die eigentliche Aufgabe der psychologischen Analyse ist, die Aufzeigung der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der psychischen Vorgänge, bleibt jedoch völlig im Hintergrund: Es verbirgt sich hinter dem Schwellenbegriff und kommt höchstens in dem Bilde der Ober- und Unterwellen zu einem unzulänglichen Ausdruck. Das ganze Interesse Fechner's gehört eben nicht der Psychologie als solcher an, sondern diese ist für ihn nur ein Bestandteil der Natur- und Religionsphilosophie. Er will nicht wissen, wie das psychische Leben selbst sich verhält, sondern wie der "psychophysische Stufenbau der Welt" beschaffen ist, in den sich die individuelle Seele eingliedert. Darum interessierte ihn so sehr die Existenz der Schwelle, in der er den unmittelbaren Beweis für den Zusammenhang des individuellen Bewußtseins mit einem allgemeinen Bewußtseinsleben zu sehen glaubte. Deshalb meinte er aber auch, mit der Prüfung und Nachweisung des Weber'schen Gesetzes sei im Grunde die Aufgabe der experimentellen Psychologie erschöpft. So sorgfältig er bis an sein Lebensende die Arbeiten studierte, die sich auf dieses Thema bezogen, alles andere ließ er ungelesen. Von den chronometrischen Versuchen, den Beobachtungen über Assoziation, Gedächtnisvorgänge usw. Kenntnis zu nehmen, konnte er niemals bewogen werden.

    Hätte Fechner in seiner "inneren Psychophysik" erreicht, was er erstrebte, wäre es ihm gelungen, den Schwellenbegriff in dem von ihm aufgestellten Sinn als den beherrschenden und alles erklärenden der Psychologie nachzuweisen, so würde er seine Philosophie zu einem Ziele geführt haben, welches eigentlich nach seiner eigenen Erklärung die Aufgabe der Philosophie überschritt. Denn diese Philosophie wäre nun doch etwas mehr als ein bloßer Glaube gewesen, sie würde in der "inneren Psychophysik" eine wissenschaftliche Grundlage besessen haben, die vielleicht nicht alle auf ihr aufgebauten Folgerungen, aber doch die nächsten und namentlich diejenigen tragen konnte, die sich auf den Stufenbau der diesseitigen Welt bezogen. Wenn Fechner dieses Ziel nicht erreichte, weil sich die "innere Psychophysik" unzureichend erwies, die Probleme der Psychologie zu lösen, so gewann also damit seine Philosophie im Grunde nur jenen Charakter einer Glaubensanschauung wieder, den sie von Anfang an für sich in Anspruch genommen hatte. In dem Streben, seiner Überzeugung Geltung zu verschaffen, hatte aber Fechner in seinen späteren Schriften, vor allem in der Psychophysik, dieses ursprüngliche Glaubensprogramm tatsächlich aufgegeben. Er hatte den Versuch unternommen, seine Philosophie zur exakten Wissenschaft zu erheben.