2. Fechners Verhältnis zur Philosophie seiner Zeit.

    Fechner selbst bemerkte, mit Schelling's Identitätsphilosophie vermöge er "keine klaren Berührungspunkte zu finden". Aber ein in Schellings Ansichten wurzelndes Werk, die Natur-philosophie Oken's, habe ihn "durch seine titanische Kühnheit zuerst über die gewöhnliche Ansicht der Natur hinaus und eine Zeitlang in seine Richtung gedrängt" (Zendavesta II, S. 351). In der Tat kann man bei Oken zahlreiche Stellen finden, an welche die Ideen Fechner's anklingen. Ich hebe die folgenden hervor: Oken, Lehrbuch der Naturphilosophie 1809-11, I, S. 24: "Ohne Leben gibt es kein Sein. Nichts ist bloß dadurch, daß es ist." "Es gibt keine neue Lebenskraft im Universum; das Leben ist nichts Neues, in die Welt Gekommenes, nachdem sie erschaffen war, sondern ein Ursprüngliches, eine Idee, ein Gedanke Gottes, die Entelechie selbst mit allen ihren Folgen." S. 25: "Jedes lebende Ding ist ein Doppeltes: Ein für sich Bestehendes und ein in das Absolute Eingetauchtes." S. 81: "Der Raum ist sphärisch und zwar eine unendliche Sphäre." "Die Sphäre ist daher die vollkommenste Form, die Urform." "Wenn Gott real werden will, so muß er unter der Form der Sphäre erscheinen, eine andere Form für Gott gibt es nicht. Der seiende Gott ist eine unendliche Kugel." "Das Universum ist eine Kugel, und alles, was im Universum ein Totales ist, ist eine Kugel." S. 86: "Je vollkommener die Bewegung eines Dinges kreisförmig ist, um so vollkommener ist es selbst." II, S. 15: Der Urschleim, aus dem alles Organische erschaffen worden, ist der Meerschleim." (Vgl. Fechner, Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte, S. 86.) S. 16: "Wo es dem sich erhebenden Meerorganismus gelingt, Gestalt zu gewinnen, da geht ein höherer Organismus aus ihm hervor." S. 17: Alle organischen Individuen müssen sterben. "Aber diese Zerstörung ist keine für die Natur. Es entstehen in demselben Moment wieder andere Organismen an anderen Stellen." "Auch der Weltorganismus ist ewig, ist ohne Wechsel." S. 18: "Das Sterben ist ein Zurückrufen in Gott, von dem alles ausgegangen ist." "Das Sterben ist kein Vernichten, sondern nur ein Wechseln." "Das Verschwinden und Erscheinen der Individuen ist nur eine Metamorphose des einen in das andere, eine Seelenwanderung, deren Weg durch Gott geht." S. 25: "Der Urorganismus ist das Ebenbild des Planeten. Er muß also die kugelförmige Form haben." S. 26: "Der Urorganismus ist infolge der Sollizitation der Luft eine Blase." "Die ersten organischen Punkte sind Bläschen. Die organische Welt hat zu ihrer Basis eine Unendlichkeit von Bläschen" (Infusorien). S. 27: "Besteht die organische Welt aus Infusorien, so muß die ganze organische Welt aus Infusorien sich entwickeln; Pflanzen und Tiere können nur Metamorphosen von Infusorien sein." (Einen Beweis hierfür sieht Oken darin, daß beim Absterben der Organismen wieder Infusorien entstehen.) S. 81: "Es ist mithin kein Organismus erschaffen, der größer als ein infusorischer Punkt ist. Es wird kein Organismus erschaffen und ist nie einer erschaffen worden, der nicht mikroskopisch ist." "Alles Größere ist nicht erschaffen, sondern entwickelt." "Der Mensch ist nicht erschaffen, sondern entwickelt."

    Neben solchen Stellen des Werkes, in denen sich Fechner mehr oder minder nahe mit ihm berührt, finden sich freilich noch viele andere, und es sind im allgemeinen gerade diejenigen, die in der Naturphilosophie Schelling's und seiner Schule eine besonders hervorragende Rolle spielen, denen Fechner niemals zugestimmt haben würde. Dahin gehören vornehmlich die immer wiederkehrenden Übertragungen der polaren Gegensätze des Galvanismus und Magnetismus auf die verschiedensten Natur- und wo möglich auch Geistesprozesse, und das Spiel mit Analogien überhaupt, das denn doch die ziemlich weiten Grenzen, die sich Fechner selbst gestattet hat, noch erheblich überschreitet. (Vgl. z. B. Oken, a. a. 0. III, S. 126, 130.) Immerhin muß anerkannt werden, daß gerade bei Oken die wirkliche Vertrautheit mit den Tatsachen der positiven Naturwissenschaft den spekulativen Phantasien eine Richtung gibt, durch die er gelegentlich neuere Anschauungen in freilich noch roher Gestalt vorausnimmt. Dies gilt besonders von seinen entwicklungsgeschichtlichen Sätzen, deren hauptsächlichste oben angeführt sind. Wenn in neuerer Zeit zuweilen von Schelling gerühmt wurde, daß er ein Vorläufer der Entwicklungstheorie sei, so ist diese Behauptung vollkommen irrig. Schelling hat den Begriff der Entwicklung nie anders als in jenem idealen Sinne verstanden, in welchem Goethes "Metamorphose der Pflanzen", die hier hauptsächlich auf ihn von Einfluß war, die Blüte als eine höhere Stufe des Blattes betrachtet hatte. Hierfür liegt ein deutliches Zeugnis darin, daß Schelling, nachdem er in den "Ideen zu einer Philosophie der Natur" und in der "Weltseele" die Entwicklung als eine aufsteigende konstruiert hatte, in dem "ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie" die Sache umkehrte, also die Stufenfolge in abwärtsgehender Richtung behandelte, um dann in der "Einleitung" zu diesem Entwurf wieder zur aufsteigenden Ordnung zurückzukehren. Oken ist, so viel ich finden kann, der einzige unter diesen Naturphilosophen, der die organische Entwicklung klar als eine reale aufgefaßt und diesen Gedanken auch auf den Menschen übertragen hat. Er war also in diesem Sinne ein wirklicher Vorläufer der Deszendenztheorie, während in seinen infusorienartigen "Bläschen" und seinem "Urschleim" zugleich gewisse Anschauungen der Zellen- und Protoplasmatheorie vorausgenommen sind.

    So unverkennbar nun Buch die geistige Verwandtschaft ist, die Fechner's Weltanschauung mit der Philosophie der Romantik verbindet, so ist er doch von dem aus dieser erwachsenen System Hegel's zeitlebens nur unsympathisch berührt worden. Bei seinem vorwaltenden Interesse für die Naturphilosophie und bei dem Mißbehagen, das ihm die Hegel'sehe Dialektik erregte, ist das begreiflich. Von dem "Weltgeist" Hegel's konnte er sich keine rechte Vorstellung machen. Er sah in ihm immer nur eine Summe individueller Menschengeister und meinte, eine reale Einheit der Menschheit könne doch nur durch ein allgemeines, an ein reales Substrat gebundenes seelisches Prinzip zustande kommen. Fechner ist und bleibt eben Naturphilosoph. Die geistige Welt hat für ihn in gewissem Sinne nur als Entwicklungsprodukt der Natur Interesse und Bedeutung, während ihm freilich umgekehrt auch die Natur nur als ein geistiges Wirken denkbar ist. Hier berühren sich, ohne direkt beeinflußt zu sein, Fechner's Ideen über Natur und Geist, über Diesseits und Jenseits wohl am nächsten mit denen des philosophisch und poetisch tiefsten der Romantiker, Novalis. (Vgl. Novalis' Schriften, herausgeg. von Ernst Heilborn, 2. Teil, I.Hälfte, S. 3, 4, 244 ff.)

    Aus allem dem erklärt sich zugleich Fechner's Stellung zu anderen Philosophen, vornehmlich zu Kant. Im "Zendavesta" wird Kant's Name kaum genannt; in der "Tagesansicht" kommt er mehrmals auf ihn zu sprechen, aber immer nur, um den Begriff des "Dinges an sich" zurückzuweisen, der ihm wie ein Versuch erschien, die Freude an der Welt zu zerstören. Am häufigsten beschäftigt er sich in seinen Schriften mit Herbart und Lotze. Herbart's mathematische Psychologie ist es wohl gewesen, die ihm zuerst den Gedanken eingab, nach einer exakten Funktionsbeziehung zwischen Physischem und Psychischem zu suchen (Zendavesta II, S. 373). Von Herbart hat er auch den Begriff der "Schwelle", übernommen, der dann freilich bei ihm eine weitreichende metaphysische Bedeutung gewann, die er bei jenem noch nicht besessen. In Herbart und Lotze bekämpfte er übrigens mit treffenden Gründen die monadologische Ansicht von der Seele, um ihr seine "synechologische" gegenüberzustellen.

    Wie Fechner seine Philosophie im wesentlichen aus sich selbst geschöpft hat, so wird man auch von ihm sagen können, daß er neueren philosophischen Systemen ein verhältnismäßig geringes Verständnis entgegenbrachte. Für erkenntnistheoretische Untersuchungen und für geschichtliche Betrachtungen fehlte ihm der Sinn. Natur und Religion - das waren die beiden Pole, um die sich sein philosophisches Denken bewegte. Wo er sich auf andere Gebiete begab, wie auf das der Ethik in der Schrift "Über das höchste Gut", oder selbst auf das der Psychologie, wie in den Schlußkapiteln der Psychophysik, da münden seine Betrachtungen immer wieder in seine Natur- und Religionsphilosophie aus.

    Diese Verbindung natur- und religionsphilosophischer Motive gibt zugleich der Philosophie Fechner's ihren pantheistischen Charakter. Er hat selbst, wenn man ihn einen "Pantheisten" nannte, dem nicht widersprochen. Aber er ist freilich zugleich der Meinung gewesen, daß mit diesem Ausdruck nicht sonderlich viel gesagt sei. In der Tat beruht die Eigenart seiner Gedanken mehr auf dem, worin sie von den sonst geläufigen Formen des Pantheismus abweichen, als auf dem, worin sie mit ihnen übereinstimmen. Denn diese Eigenart wird man vornehmlich in drei Merkmalen finden können. Das eine besteht in der Anpassung seiner Philosophie an die positiven Ergebnisse der Naturforschung. So weit auch Fechner über die letzteren hinausgeht, er gerät nirgends mit ihnen in einen direkten Widerspruch. Dies ist ein Zug, der seine Philosophie von den ihr sonst nächstverwandten Anschauungen der Schelling'schen Naturphilosophie wie der älteren mystischen Theosophie scheidet. Seine Philosophie ist Theosophie, ja in ihren Lehren über die jenseitige Welt wohl auch mystische Theosophie; aber sie ist die Theosophie eines Naturforschers der Gegenwart. Zweitens unterscheidet sie sich von den klassischen Entwicklungsformen des Pantheismus in der neueren Philosophie, wie vor allem von den Systemen Spinoza's und Hegel's und von der ihrem allgemeinen Charakter nach hierher zu stellenden Weltanschauung Schopenhauer's dadurch, daß die Lehre von dem "psychophysischen Stufenbau" des Universums einen persönlichen Gottesbegriff nicht nur möglich macht, sondern fordert. Denn nach ihr schließt das göttliche Bewußtsein zwar alle anderen Bewußtseinseinheiten in sich, aber es ist nicht mit der Summe derselben identisch; sondern es verhält sich nach einem von Fechner oft gebrauchten Vergleich ähnlich zu ihnen, wie ein umschließender Kreis zu den in ihm liegenden eingeschriebenen Kreisen. Diese Vereinigung von Theismus und Pantheismus bringt Fechner's Anschauungen in Berührung mit früheren und mit gleichzeitigen Formen mystischer Theosophie. Wie sein psychophysi-scher Stufenbau der Welt an uralte Emanationsideen anklingt, so enthalten Schelling's spätere, positive Philosophie, Franz Baader's Schöpfungs- und Erlösungslehre, Chr. Fr. Krause's Lebensphilosophie verwandte Vorstellungen. Doch ist Fechner's Philosophie von diesen vor-angegangenen und gleichzeitigen theosophischen Spekulationen unabhängig, und sie ist ihnen überlegen durch die in ihr herrschende naturwissenschaftliche Form der Problemstellungen.

    Ein drittes Merkmal der Philosophie Fechners ist endlich dies, daß sie alle transzendenten Begriffe ablehnt. Es gibt keine Welt der Dinge an sich hinter der Erscheinungswelt. Darin liegt ein wesentliches Motiv der "Tagesansicht", die eben in der Überzeugung besteht, daß die Natur, die wir sehen, hören, empfinden, die wirkliche Natur ist. Aber auch Gott und die Zwischenwesen zwischen ihm und den Menschen, Tieren und Pflanzen sind ganz so, wie sie uns in der Anschauung gegeben sind, wirklich. Das Universum, das wir freilich nur teilweise, aber in diesem Teil doch noch in seiner ganzen majestätischen Erhabenheit wahrnehmen, ist die wirkliche Welt; das Gottesbewußtsein, das wir in uns erleben, ist Gott selbst, keine bloße Wirkung Gottes, keine Erscheinungsweise einzelner seiner Attribute. In dieser Auffassung, daß Sein und Erscheinung eins seien, trifft Fechner, ohne es zu wissen, wohl am meisten mit der sonst freilich ganz anders gearteten Lehre Hegel's zusammen. Allerdings kommt, wie bei Hegel in der "absoluten Idee", so auch bei ihm in dem Dualismus von Körper und Seele das Transzendente wieder zum Vorschein. So richtig er hervorhebt, daß die Naturwissenschaft nur dadurch zu ihrer "Nachtansicht" gelange, daß sie ihre Abstraktionen der Wirklichkeit der Dinge gleichsetze, so ist er doch selbst in dieser Verwechslung befangen geblieben. Materielle und geistige Welt bleiben ihm stets, ganz im Sinne der Attributenlehre Spinoza's, zwei objektiv verschiedene Seiten des Seins, denen gegenüber wir zwar einen verschiedenen Standpunkt der Betrachtung einnehmen, wo aber doch dieser Standpunkt wieder nur deshalb den Inhalt der Wahrnehmung verändert, weil dieser selbst nach jeder der beiden Seiten ein anderer ist. Nur unter der Voraussetzung einer solchen realen Verschiedenheit des Physischen und Psychischen hatte ja seine Auffassung des Weber'schen Gesetzes als eines Prinzips der Wechselwirkung zwischen beiden Seiten des Seins einen Sinn. Wäre ihm jemals die Auffassung nahe getreten, daß Naturwissenschaft und Psychologie überhaupt nicht verschiedene Gegenstände zu ihrem Inhalte haben, sondern nur verschiedene Formen der Bearbeitung einer und derselben einheitlichen Erfahrung seien, so hätte er seine "Tagesansicht" dem naturwissenschaftlichen Dogmatismus gegenüber festhalten können; aber er hätte freilich auch auf alle die transzendenten Spekulationen verzichten müssen, die er auf den Begriff der "Schwelle" gegründet hatte.