Beilagen.

l. Persönliche Erinnerungen.

    In Fechner's Persönlichkeit ragte eine jener stillen, anspruchslosen Gelehrtennaturen, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach noch die Physiognomien unserer Universitäten bestimmten, in die anspruchsvollere Gegenwart hinüber. Schon die kleine Wohnung in der Blumengasse zu Leipzig trug das Gepräge eines äußerlich überaus bescheidenen, aber innerlich zufriedenen Daseins. In der schmucklosen kleinen Studierstube stand ein einfacher viereckiger Tisch, der, wenn er je einen Anstrich gehabt, längst seiner Farbe verlustig gegangen war. An den Wänden des Zimmers und des noch kleineren alkovenartigen Nebenraumes standen ein paar Bücherregale, roh im Holze, auf denen nur sehr wenig Bücher, aber große Stöße von Manuskripten aufgestapelt lagen. Die eigene Lektüre war Fechner durch sein langjähriges Augenleiden fast ganz versagt, und wenn ihn auch teilnehmende Freunde und namentlich Freundinnen täglich einige Stunden durch Vorlesen unterstützten, so war ihm das doch nur ein kümmerlicher Ersatz. So war er, der sich in seiner Jugend durch eine staunenswerte Belesenheit auf den verschiedensten Gebieten hervorgetan hatte, in den späteren Jahren darauf angewiesen, zumeist aus sich selbst und aus dem, was ihm der Schatz seiner Erinnerungen bot, zu schöpfen. Das Buch, das er am meisten gebrauchte, war die Logarithmentafel, die fast immer auf seinem Tische lag; und die Lektüre, die ihn vorzugsweise beschäftigte, war die seiner eigenen Manuskripte, die er so lange immer wieder umarbeitete, bis sie die ihn befriedigende Form gewonnen hatten. Zuerst pflegte er, für andere ganz unleserlich, seine Gedanken auf losen Quartblättern niederzuschreiben. Dann wurde dieser Entwurf in zusammenhängender Form ausgearbeitet; und hieran schlossen sich endlich die letzten Reinschriften in Folio, deren oft noch zwei aufeinander folgten. Er schrieb, um sich das Lesen zu erleichtern, in großen Schriftzügen, deren Entzifferung für ihn selbst leicht, für den Setzer oft sehr schwer war. An Diktieren konnte er sich niemals gewöhnen.

    Wie ein peinlich sorgfältiger Schriftsteller, so war Fechner auch ein äußerst gewissenhafter Rechner. Die Menge der einzelnen Rechnungen, die er für die Psychophysik und für die Kollektivmaßlehre ausgeführt hat, ist unabsehbar, und er versäumte es kaum, sich durch wiederholtes Rechnen von der Richtigkeit eines Resultates zu überzeugen. Noch in den letzten Jahren pflegte er, wenn in das Gebiet der Psychophysik einschlagende Arbeiten jüngerer Forscher erschienen, fast jede einzelne ihrer Rechnungen nachzuprüfen.

    So war zwischen Nachdenken und Schreiben fast seine ganze Zeit geteilt. Da konnte es wohl vorkommen, daß er, wenn er den täglichen Spaziergang mit der treuen Lebensgefährtin, den er sich als einzige Erholung im Tage gönnte, eben angetreten hatte, noch einmal von der Straße in seine Studierstube zurückkehrte, um rasch einen Gedanken, der ihm gekommen war, zu Papier zu bringen. Trotzdem hatte man, wenn man ihn besuchte, niemals den Eindruck, ihn in einer Arbeit zu stören. Er liebte es offenbar, sich mit anderen über schwebende Fragen, die dann nach seiner Weise das Gespräch zu führen sofort zu Streitfragen wurden, zu unterhalten. Oft beschäftigte ihn der Gegenstand des Gesprächs sichtlich noch längere Zeit nachher. Denn es konnte vorkommen, daß er ein Argument, das ihm zu spät eingefallen war, am nächsten Tage brieflich nachholte, und daß sich auf diese Weise eine gelegentliche Diskussion in einer längeren Korrespondenz fortsetzte. Dabei liebte er es aber, die Unterredung auf positive Themata zu beschränken. Seine philosophischen und religiösen Überzeugungen, für die er in seinen Schriften so unermüdlich Propaganda machte, berührte er selten. Auch sonst war er hinsichtlich der Arbeiten, die ihn beschäftigten, keineswegs mitteilsam. Man erfuhr von ihnen in der Regel erst, wenn sie vollendet waren. Der auffallendste Beleg hierfür ist die "Kollektivmaßlehre". Als ich nach seinem Tode auf den Wunsch der Witwe seine Papiere ordnete, war ich im höchsten Maße überrascht, einen großen Teil dieses Werkes in den verschiedenen der oben geschilderten Stadien, die seine Manuskripte zu durchwandern pflegten, aufzufinden. Niemand hatte von der Existenz dieser Arbeit gewußt, weder Frau Fechner noch irgend einer seiner Freunde und Kollegen, obgleich er den Plan etwa zwanzig Jahre mit sich herumgetragen und sich mit der Ausarbeitung selbst wohl beinahe ein Jahrzehnt lang beschäftigt hatte. In der vorzüglichen Ausgabe und Ergänzung dieses Werkes, die G. F. Lipps im Auftrag der Königl. Gesellschaft der Wissenshaften besorgt hat, kann man das Stadium, in dem sich Fechner's Arbeit befand, als ihn der Tod überraschte, deutlich .erkennen, da der Herausgeber Sorge getragen hat, die beigefügten Ergänzungen im Unterschied von den eigenen Ausführungen des Verfassers kenntlich zu machen. Nur wer das Manuskript selbst gesehen hat, kann sich freilich eine zureichende Vorstellung von den großen Schwierigkeiten der Arbeit machen, durch die es dem Herausgeber gelungen ist, dieses letzte Werk Fechners für die Wissenschaft zu retten.