VII.

    Doch, mochte auch Fechner nicht müde werden, immer wieder von neuem seinen Weckruf ertönen zu lassen, er konnte sich allmählich der Wahrnehmung nicht verschließen, daß, abgesehen von der Teilnahme, die seine kleineren populären Schriften bei einzelnen religiös gestimmten Gemütern fanden, seine Philosophie keine in weitere Kreise dringende Kraft ausübte, ja daß sie, was für ihn das Schmerzlichste war, von der wissenschaftlichen Welt, von der offiziellen Philosophie so gut wie von der Naturwissenschaft, unbeachtet blieb. Ein anderer wurde vielleicht, über solchen Mißerfolg verstimmt, auf fernere Versuche, seiner Überzeugung Eingang zu verschaffen, verzichtet haben. Nicht so Fechner. In der Zuversicht, mit der ihn sein eigener fester Glaube erfüllte, hat er nicht abgelassen, sein Ziel zu verfolgen. Dennoch wandelte sich in den letzten dreißig Jahren seines Lebens zum Teil der Charakter seiner Arbeiten. In den Hauptwerken, die er in dieser Zeit veröffentlichte, änderte er, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, die Taktik seines Verfahrens; ja er änderte diese vornehmlich in dem bedeutendsten dieser Werke, in den "Elementen der Psychophysik", so sehr, daß für eine oberflächliche Betrachtung der Zweck selber als ein anderer erscheinen konnte.

    Nirgends tritt dies so deutlich hervor, als wenn man die Psychophysik mit dem zehn Jahre früher erschienenen Zendavesta vergleicht. Wo wir auch den Zendavesta aufschlagen mögen, wir fühlen uns in die Sphäre mystisch-theosophischer Spekulation versetzt, in eine nicht sowohl philosophische als poetische Weltanschauung. Wir bewegen uns ausschließlich im Himmel und im Jenseits. Auch die Erde mit allem, was auf ihr lebt, hat für dieses Buch nur eine Bedeutung, weil es zu den "Dingen des Himmels" gehört. In der Psychophysik wandeln wir den Weg nüchterner und exakter Untersuchungen. Rein empirische Betrachtungen, sorgfaltig ausgearbeitete Methoden der Versuchsanordnung und der Fehlerelimination, endlich mathematische Gesetzesformulierungen, die sich streng an die vorhandenen Versuchsergebnisse anschließen, folgen aufeinander. Sollte man da nicht. meinen, in den "Elementen" habe ein exakter Geist ersten Ranges mit aller dem geübten Naturforscher und Mathematiker zu Gebote stehenden Vorsicht ein neues Wissensgebiet systematisch auszubauen begonnen; in dem "Zendavesta" aber habe dieser selbe Geist eine Traumwelt poetisch gestaltet, die mit jenen exakten psychophysischen Arbeiten im Grunde ebenso wenig wie mit des gleichen Verfassers "Maßbestimmungen der galvanischen Kette" etwas zu tun habe? Aber wer die letzten Kapitel der Psychophysik und wer den Zendavesta ganz gelesen hat, muß von dieser Meinung zurückkommen. Da wird es unverkennbar, daß die Psychophysik für Fechner selbst nichts anderes gewesen ist als der umfassendste und gründlichste Versuch, den er unternommen, die in dem Zendaveata entworfene Weltanschauung nach der Seite der von ihr postulierten Beziehungen zwischen körperlicher und geistiger Welt exakt zu begründen und so mindestens innerhalb der durch die Erfahrung gezogenen Grenzen aus der Sphäre des bloßen Glaubens in die des Wissens zu erheben. Doch die Psychophysik beschränkt sich nicht auf diese Aufgabe, sondern sie klingt in der ganzen Weltanschauung aus, die im Zendavesta entwickelt worden war, in der Lehre von Gott und Welt ebenso wie in der Auffassung von Leib und Seele, da dieses beschränktere Verhältnis, wie die Psychophysik nachzuweisen sucht, unmittelbar auf jenes allumfassende zurückschießen lasse. So stellt es sich denn, je mehr man in diese Werke eindringt, immer klarer heraus, daß beide im Grunde einen und denselben Inhalt haben, wenn auch die einzelnen Teile dieses Inhalts in ihnen sehr verschieden angeordnet und behandelt sind. In Wahrheit kehren alle wesentlichen Ideen des Zendavesta in der Psychophysik wieder; es sind aber auch umgekehrt die Grundgedanken der Psychophysik schon im Zendavesta zu finden.

    Im Zusammenhang mit seiner Anschauung, daß Materielles und Geistiges aneinander gebundene, nur durch den Standpunkt der äußeren und der inneren Auffassung geschiedene Eigenschaften des Wirklichen seien, hatte Fechner im Zendavesta bereits die Frage erwogen, ob sich nicht zwischen den Erscheinungen unseres Bewußtseins und den ihnen entsprechenden physischen Bewegungsvorgängen eine mathematische Gesetzmäßigkeit feststellen lasse. Er hatte diese Frage ohne weiteres bejahend beantwortet. Durch die Allgemeingültigkeit des Kausalprinzips einerseits und durch die Gebundenheit des Bewußtseins an bestimmte physische Vorgänge andererseits wird eine solche gesetzmäßige Beziehung nach ihm gefordert, und er hält es zugleich für im höchsten Maße wahrscheinlich, daß sie in einem einheitlichen, für alle Wechselwirkungen zwischen Leib und Seele in gleicher Weise gültigen mathematischen Gesetz bestehe. Er geht die Verhältnisse mathematischer Abhängigkeit durch, die sich in diesem Fall a priori vermuten lassen. Die einfache Proportionalität erscheint ihm unannehmbar, weil sie der verschiedenen Beschaffenheit des Körperlichen als einer Mannigfaltigkeit vieler Bewegungen und des Geistigen als einer Zusammenfassung des Mannigfaltigen nicht gerecht werde. Er sucht sich dann das Verhältnis durch Zahlenreihen zu verdeutlichen, die nach einer verschiedenen Gesetzmäßigkeit fortschreiten. Hier drängt sich ihm schließlich eine Beziehung als die wahrscheinlichste auf: Die der einfachen arithmetischen Reihe l, 2, 3, 4, 5 .... zu der geometrischen l, 2, 4, 8, 16 .... In ihr scheint er zunächst ein anschauliches Bild für die intensiven, dem einfacheren Fortschritt der mathematischen Reihe parallel gehenden Änderungen des Psychischen, und für die extensive, den größeren Stufen der geometrischen entsprechende Mannigfaltigkeit des Physischen gesehen zu haben. Das Schema beider Reihen erweckte, wie er später mitteilt, plötzlich eines Morgens, am 22. Oktober 1850, in. ihm die Idee, es möge wohl einem gleichen verhältnismäßigen Zuwachs an lebendiger Kraft körperlicher Bewegung ein gleicher absoluter Zuwachs geistiger Intensität entsprechen. So entstand die erste Aufstellung des sogenannten psychophysischen Grundgesetzes in der Form der logarithmischen Funktion, wie sie im Anschluß an jene Reihenbetrachtungen der zweite Band des Zendavesta als "kurze Darlegung eines neuen Prinzips mathematischer Psychologie" enthält. Schon hier erblickt Fechner einen Hauptwert dieser Funktion darin, daß sie, da der Logarithmus bei einer bestimmten Größe des Argumentes null und dann negativ wird, über die Schwelle des Bewußtseins Rechenschaft gebe und es daher wahrscheinlich mache, daß die unter die Schwelle gesunkenen Vorstellungen in einem allgemeineren, Bewußtsein fortexistieren können. Auf einzelne empirische Bewährungen des Gesetzes, namentlich auf das Verhältnis der Tonintervalle zu den Schwingungszahlen und der subjektiven Lichtempfindungen zu den objektiven Lichtstärken, ist er erst nachträglich aufmerksam geworden.

    Wie sehr hat sich diese Darstellungsweise in den Elementen der Psychophysik geändert! Da wird, nachdem die Psychophysik allgemein als eine exakte Lehre von den Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Körper und Seele definiert ist, die so gestellte Aufgabe zunächst rein empirisch zu lösen unternommen. Unter jenen Abhängigkeitsbeziehungen wird die einfachste, die der Empfindung zu dem sie verursachenden äußeren Reize herausgegriffen. Dann werden die für eine solche Untersuchung erforderlichen Maßmethoden entwickelt. Dem folgen die von Physiologen und Physikern gefundenen, hierher gehörigen Ergebnisse, jetzt unter Voranstellung der klassischen Untersuchungen Ernst Heinrich Weber's über den Tastsinn. Indem er Weber als den bezeichnet, der zuerst eine allgemeine Gesetzmäßigkeit zwischen Reiz und Empfindung festzustellen versucht habe, bildet von nun an das von ihm nach jenem benannte "Webersche Gesetz" die Grundlage aller weiteren Erörterungen. Daran reihen sich die Betrachtungen über die Schwelle. Dem Begriff der Reizschwelle wird der der "Unterschiedsschwelle" gegenübergestellt. Es wird das Verhältnis der physischen Reizbewegung zu denjenigen Bewegungsvorgängen im Inneren des Nervensystems erörtert, die der Empfindung unmittelbar parallel gehen, und für die er jetzt den Ausdruck "psychophysischen Bewegungen" einführt. Ist das Weber'sche Gesetz Ausdruck einer Beziehung zwischen der äußeren physischen Bewegung und der psychophysischen Bewegung? Oder entspricht es der Beziehung zwischen psychophysischer Bewegung und Empfindung? Den Beweis für die letztere Annahme betrachtet Fechner dadurch für erbracht, daß die Tatsachen der Reizschwelle und der Unterschiedsschwelle eine übereinstimmende Erklärung fordern. Die Unterschiedsschwelle aber müsse auf den Übergang der psychophysischen Bewegung in die Empfindung bezogen werden, da die Konstanz der relativen Größe der Unterschiedsschwelle ihren unmittelbaren Zusammenhang mit dem Weber'schen Gesetz beweise. Dieses Gesetz selbst oder die ihm entsprechende logarithmische Funktion könne nun sehr wohl als eine fundamentale Abhängigkeitsbeziehung zwischen den beiden Gebieten des Physischen und des Psychischen, nimmermehr als eine solche zwischen verschiedenen Bestandteilen des Verlaufs der physischen Erregungen gedacht werden. Desgleichen sieht Fechner in dem von ihm entdeckten "Parallelgesetz", wonach der Unterschied zweier Reize als gleich groß empfunden wird, wenn die Reizbarkeit für beide gleichmäßig zu- oder abnimmt, eine Bestätigung dieser Auffassung. Überdies sieht er aber in dem gleichen Parallelgesetz eine Art Übertragung des Weber'schen Gesetzes von außen nach innen, die den Übergang aus der "äußeren", in die "innere Psychophysik" vermittelt. Denn dieser fallen alle die Veränderungen der Empfindungen und der psychophysischen Bewegungen zu, die nicht direkt durch äußere Reize veranlaßt sind. Demnach treten weiterhin auch der Wechsel von Schlaf und Wachen, die wandelbaren Zustände der Aufmerksamkeit, das Gehen und Kommen der Erinnerungsbilder unter den Gesichtspunkt der "inneren Psychophysik". Indem es nun Fechner durch das Parallelgesetz für erwiesen hält, daß für diese das Weber'sche Gesetz ebenfalls gelte, muß nach ihm auch die Tatsache der Schwelle in ihr wiederkehren. Dabei zeigt dann die unmittelbare Beobachtung, daß uns hier der Begriff der Schwelle sogar in mehrfachen Gestaltungen entgegentritt: So im Wechsel von Schlaf und Wachen als Gesamtschwelle des Bewußtseins, im Wechsel der Aufmerksamkeit als Partialschwelle für einzelne Vorstellungen. Auf diese Weise ergibt sich als allgemeines Bild der Bewußtseinsvorgänge jenes Wellenschema, das schon im Zendavesta angedeutet worden war. Mit dem Wellenschema wird aber auch die Übertragung des Bildes der Ober- und Unterwelle von dem individuellen Bewußtsein auf dessen weiter zurückgehende Bedingungen nahegelegt. Das Einzelbewußtsein fügt sich so in einen "psychophysischen Stufenbau der Welt" ein. Ohne jene Allbeseelung des Universums, zu der jedes Einzelbewußtsein als Teilbewußtsein gehört, würde nach Fechner das individuelle Seelenleben nicht zu erklären sein. So mündet die Psychophysik wiederum in der Naturphilosophie, und diese in jener religiösen Grundanschauung, die in der Welt eine Entfaltung des göttlichen Wesens, in dem menschlichen wie in jedem seelischen Sein einen Strahl aus der Lichtfülle des göttlichen Geistes sieht. Allmählich und unversehens ist der Leser aus den exakten und empirischen Betrachtungen der äußeren durch die innere Psychophysik zur Theosophie des Zendavesta zurückgeführt worden. So wird die Psychophysik für Fechner zu einem induktiven Beweissystem für seine Philosophie. War der Versuch, dieser um ihrer selbst willen Eingang zu verschaffen, gescheitert, so hoffte er nun ein zunächst vielleicht beschränkteres, aber um so höheres Ziel zu erreichen: Er hoffte, diese Weltanschauung zu einer, wenn nicht absolut bewiesenen zu machen, so doch jedenfalls als diejenige darzutun, die für den Standpunkt der exakten Wissenschaft die wahrscheinlichste sei. Zu diesem Zweck ließ er nicht nur seine subjektiven Überzeugungen zunächst zurücktreten, um die Tatsachen und die auf sie gegründeten Gesetzesformulierungen für sich selbst reden zu lassen, sondern selbstlos verleugnete er in den grundlegenden Teilen des Werkes sogar die Urheberschaft seiner eigensten Schöpfung, des psychophysischen Grundgesetzes, um es unter den schützenden Namen E. H. Weber's zu stellen, und, einigermaßen ungerecht gegen sich selbst, nannte er Weber den "Vater der Psychophysik", sicherlich nicht ohne die Absicht, dadurch dem neuen Gebiet eine günstige Aufnahme zu bereiten.