V.

    Wenn Leben und Bewußtsein niemals entstanden, sondern ursprüngliche Tätigkeiten des Universums sind, so wird nun dadurch auch unmittelbar der Gedanke nahegelegt, beide seien in Wahrheit nur verschiedene Äußerungen eines und desselben Geschehens. In der Tat ist das Fechner's Auffassung. Was uns äußerlich als eine zusammenhängende, aber in eine extensive Ordnung räumlicher und zeitlicher Vorgänge auseinander tretende Lebensbewegung gegeben ist, das erfassen wir innerlich als die intensive Einheit unseres Bewußtseins. Wie ein Kreis, den wir zuerst von einem Punkte jenseits seiner Peripherie und dann von seinem Mittelpunkt aus betrachten, verschieden erscheint und doch derselbe Kreis ist, so sind Lebensvorgänge und Bewußtseinsvorgänge das nämliche leiblich-geistige Geschehen, jedesmal nur von einem verschiedenen Standpunkte aus angesehen. Dabei zerlegt sich für den äußeren Standpunkt das Ganze in eine Mannigfaltigkeit einzelner Teile, für den inneren Standpunkt schließt es sich in die Einheit des Bewußtseins zusammen. Beide Standpunkte ergänzen sich daher, aber beide erfassen die ganze Wirklichkeit. Es gibt für Fechner kein unerkennbares "Ding an sich", dessen bloße Erscheinungsweisen etwa jene beiden Auffassungen wären, sondern die Welt ist jenes leiblich-geistige Sein selbst, als das wir sie unmittelbar an unserem eigenen Leibe und in unserer eigenen Seele erkennen. Demnach ist auch die Seele kein besonderes, unausgedehntes Wesen, das in einem bestimmten Punkte des Gehirns seinen Sitz hätte. Fechner stellt dieser monadologischen oder atomistischen seine synechologische Ansicht gegenüber. Nach ihr ist der ganze lebende Körper beseelt, wie ja auch das seelische Leben auf dem Zusammenwirken aller Organe beruht. Diejenigen Bewegungen, an die unmittelbar die einzelnen Bewußtseinserscheinungen gebunden sind, nennt Fechner in seinen späteren Schriften "psychophysische Bewegungen". Wie Leben und Beseelung nicht erst entstanden, sondern ursprünglich sind, so ist auch die psychophysische Bewegung die ursprüngliche. Die kosmorganischen Prozesse sind samt und sonders psychophysische Bewegungen. Mit der Differenzierung des Kosmorganischen zum Molekularorganischen haben sich dann aber die einzelnen psychophysischen Bewegungen ausgebildet, die den individuellen Bewußtseinsformen der lebenden Wesen zugrunde liegen. Demnach entsprechen sich fortan psychophysische Bewegung und Bewußtsein. Jeder einzelne Bewußtseinsvorgang ist an eine besondere psychophysische Bewegung gebunden; und wie sich eine Vorstellung als Erinnerungsbild nur wieder erneuern kann, weil sie unter der Schwelle des individuellen Bewußtseins in einem zugehörigen Gesamtbewußtsein als wirkliche Vorstellung weiter existiert, so kann sich auch die zugehörige Bewegung nur wiederholen, weil sie, einmal entstanden, nie wieder untergeht, sondern nur vorübergehend zurückgedrängt werden kann. Fechner veranschaulicht diese unbegrenzte Dauer der psychophysischen Bewegungen durch das Bild der Welle, die, wenn sie sich auf einem Wasserspiegel mit anderen Weilen kreuzt, für das Auge verschwindet, in Wirklichkeit aber in der Zusammensetzung der Bewegungen fortdauert.

    Dieses Bild legt nun freilich die Frage nahe, ob nicht schließlich doch eine psychophysische Bewegung derart transformiert werden könne, daß sie als die gleiche nicht wieder zum Vorschein komme; und diese Frage erweckt unvermeidlich die andere: Wie stellt es mit der Fortdauer unseres Bewußtseins, wenn das Leben aufhört?

    Fechner erkennt an, daß eine Beantwortung dieser Frage auf Grund der Betrachtung der psychophysischen Bewegungen als solcher unmöglich sei. Aber er meint, daß sich wegen unserer Unkenntnis dieser Bewegungen die physikalische Analyse nicht anheischig machen könne, deren Schicksale zu vorfolgen. Demnach bleibe nichts anderes übrig, als die psychische Seite der Vorgänge ins Auge zu fassen, woraus sich dann der Rückschluß auf die zugehörige physische Seite aus dem Zusammenhang beider von selbst ergebe. Hier liegt ihm nun der unweigerliche Beweis für die über die weitesten Zeitstrecken sich ausdehnende Fortdauer der Bewußtseinsvorgänge in der Ausdehnung des menschlichen Bewußtseins über ein ganzes, langes menschliches Leben. Während sich der Körper des Menschen infolge der Vorgänge des Stoffwechsels fortwährend erneuert, so daß schließlich kein Atom mehr dasselbe geblieben ist, reicht die Erinnerung des Greises bis in die früheste Kindheit zurück. Das wird, wie er meint, nur begreiflich, wenn sich auch die einmal entstandenen psychophysischen Bewegungen auf neue und neue Körperelemente übertragen können.

    Wenn aber, in dieser Weise die Fortdauer unserer psychischen Erlebnisse und ihrer psychophysischen Substrate nicht an bestimmte beharrende Substanzen gebunden ist, so haben wir auch keinen Grund, anzunehmen, daß sie an die Erhaltung unseres Leibes gebunden sei. Freilich ist der tote Körper nicht mehr der psychophysischen Bewegungen fähig, die zur Entstehung von Empfindungen und Vorstellungen erforderlich sind. Aber warum sollen nicht diese Bewegungen irgendwie in der uns umgebenden Welt fortdauern? In der Tat sieht sich Fechner zu dieser Annahme durch seine ganze Auffassung des individuellen Bewußtseins als einer "Oberwelle" über einer unter seiner Schwelle liegenden "Unterwelle" eines umfassenderen Bewußtseins gezwungen. Dieses wäre ja kein Bewußtsein mehr, wenn nicht die Erlebnisse des individuellen Geistes in ihm fortexistierten; und zu diesen Erlebnissen gehört doch auch als das allerwesentlichste das Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit. Ein Verschwinden des Selbstbewußtseins in einem Allgemeinbewußtsein erscheint ihm daher undenkbar. Gehöre doch jedes zur Entwicklung gelangte individuelle Bewußtsein wesentlich mit zu den Erlebnissen dieses Allgemeinbewußtseins. Wohl aber glaubt er annehmen zu dürfen, daß durch die Vereinigung mit dem letzteren die Schranken hinwegfallen werden, die dem seelischen Leben durch die Gebundenheit an eine begrenzte körperliche Organisation gesetzt sind. Das jenseitige Leben ist ihm daher in Wahrheit ein diesseitiges Leben. Es ist jedoch in analoger Weise eine höhere Stufe unseres gegenwärtigen Daseins, wie dieses selbst eine höhere Stufe zu dem ihm vorausgehenden traumhaften Zustand vor der Geburt ist. Der Mensch lebt nicht einmal, sondern dreimal auf Erden. Die erste Lebensstufe ist ein steter Schlaf, die zweite ein Wechsel zwischen Schlaf und Wachen, die dritte ein ewiges Wachen. Nicht in fernen, unzugänglichen Räumen über dem Himmel oder unter der Erde leben unsere Abgeschiedenen, sondern mitten unter uns. Wir können, an die Schranken unseres Leibes gebunden, nur in Gedanken, in Erinnerungen mit ihnen verkehren. Sie aber leben mit klarem Bewußtsein um uns und in uns. Denn manche unserer Gedanken mögen wohl durch ihre unmittelbare Teilnahme an unserem geistigen Leben entstehen. Und das ist "die große Gerechtigkeit der Schöpfung, daß jeder sich die Bedingungen seines zukünftigen Seins selbst schafft. Die Handlungen werden dem Menschen nicht durch äußerliche Belohnungen oder Strafen vergolten; es gibt keinen Himmel und keine Hölle im gewöhnlichen Sinne der Christen, Juden und Heiden, wohin die Seele nach dem Tode käme, - sondern, nachdem sie die große Stufenkrankheit, den Tod, überstanden, entwickelt sie sich nach der unwandelbaren, jede spätere Stufe über dem Grunde der früheren aufbauenden Folgerichtigkeit der Natur auf der Erde ruhig weiter fort in einem und zu einem höheren Sein; und, je nachdem der Mensch gut oder schlecht, edel oder gemein gehandelt, fleißig oder müßig gewesen, wird er im folgenden Leben einen gesunden oder kranken, einen starken oder schwachen Organismus als sein Eigentum finden. . . . Wie lange aber auch das Unwahre, Böse und Gemeine noch fortwirken und um seinen Bestand mit dem Wahren, Schönen, Rechten ringen möge, es wird zuletzt durch dessen immer wachsende Macht bezwungen, durch seine eigenen mit wachsender Kraft zurückgeschlagenen Folgen vernichtet werden." Darum wohl dem, der hiernieden einen Schatz von Liebe, Achtung, Verehrung, Bewunderung im Andenken der Menschen hinter sich gelassen. Was er für's diesseitige Leben hinter sich gelassen, gewinnt er mit dem Tode, indem er das zusammenfassende Bewußtsein für alles gewinnt, was die Nachgelassenen von ihm denken; er hebt damit den Scheffel, von dem er im Leben bloß einzelne Körner zählte. Das gehört zu den Schätzen, die wir für den Himmel sammeln sollen."

    Indem so Diesseits und Jenseits in ein einziges immerwährendes Leben zusammenfließen, dessen Stätte für den Menschen die Erde ist, an deren geistigem Wesen er teilnimmt, und die für ihn die Vermittlung mit dem allumfassenden göttlichen Sein bildet, widerlegt sich damit von selbst jene Nachtansicht der herrschenden Wissenschaft, die in der leuchtenden und tönenden Natur nur eine vorübergehende Illusion erblickt. Wohl muß es, damit das Licht gesehen, der Schall gehört werde, ein sehendes und hörendes Wesen geben. Aber ist nicht die ganze uns umgebende Natur ein solches Wesen, das sich in den einzelnen Geschöpfen, die sie hervorgebracht hat, und deren Leben für sie unverlierbar ist, nur in seine einzelnen Teile gliedert? Darum ist es die natürliche Ansicht, die jener trostlosen Naturanschauung der heutigen Wissenschaft vorausging, und die bestehen bleiben wird, wenn diese wieder untergegangen ist, daß der Lichtstrahl, die Tonwelle sich selbst empfinden, weil die ganze Welt von dem gleichen Sehen durchleuchtet, von dem gleichen Hören durchtönt ist, das den Menschen an der ihn umgebenden Natur sich erfreuen läßt. Das ist die Tagesansicht, die Fechner der Nachtansicht gegenüberstellt, und die er nicht bloß für vereinbar mit den Ergebnissen der Naturwissenschaft hält, sondern von der er auch überzeugt ist, daß sie allein das Rätsel des Jenseits in einer mit dem Zusammenhang unserer Erfahrungen und Erkenntnisse übereinstimmenden Weise gelöst habe. Beweisen freilich läßt sich diese Tagesansicht, wie er zugesteht, ebensowenig, wie sich die Nachtansicht beweisen läßt. Aber wenn einmal der Glaube zu Hilfe gerufen worden muß, um die Lücken des Wissens auszufüllen, so duldet es ihm keinen Zweifel, daß die Tagesansicht der trostreichere Glaube ist. Und wie man auch darüber denken möge, ihn selbst hat jedenfalls der unerschütterliche Glaube an seine Weltanschauung mit einem Glücksgefühl erfüllt, das ihn bei allem Schweren, was ihm das Dasein brachte, wohl zu einem der glücklichsten Menschen machte, die jemals gelebt haben. Er hat selbst von sich gesagt: "Wäre nicht der finstersten und scheinbar hoffnungslosesten Zeit meines Lebens der erste Anbruch der Tagesansicht in den Ideen des »Büchleins vom Leben nach dem Tode« schon vorausgegangen, ich würde jene Zeit nicht ertragen haben." Ergreifend spricht sich dies aus in einzelnen der Gedichte, die gerade in diesen trübsten Tagen entstanden sind. So in jenem "Lied in Trübsal":

Wenn alles sich verdunkelt,
Erloschen ist der Schein,
Der einsam noch gefunkelt
Vom letzten Sternelein;
0 denk', daß eine Sonne
Lebendig doch noch geht,
Ein neuer Tag der Wonne
Dereinst bevor dir steht;
oder in den Schlußversen zu dem Büchlein "über die drei Motive und Gründe des Glaubens": In Gott ruht melne Seele;
Der Engel ganze Schar
In seinen reichen Höhen
Lichtstrahlend seh' ich gehen,
Und einer trägt mich gar.
 
 
    Der Gedanke der Allbelebung der Natur und der Allgegenwart Gottes in ihr durchzieht alle diese Lieder. Den poetisch schönsten Ausdruck hat wohl dieser Gedanke in einem "Morgen und Frühling" benannten Gedicht gefunden: Gott, ich möchte wohl zu dir beten,
Es betet alles um mich;
Doch find' ich die Worte nicht, die es täten,
Dich selber, wie find ich dich?
Wie fragend so mein Herz erbanget,
Gings heimlich durch die Flur:
Was in uns nach dir liebend langet,
Ist Gott ja selber nur.
In dir auch regt er seine Hände,
Die strecken nach uns sich aus,
Nicht such' ihn, wo die Welt zu Ende,
Bei dir ist Gott im Haus.