IV.

    Wie der Frage noch dem Ursprung des Lebens, so stellt nach Fechner's Meinung die gewöhnliche Weltansicht auch der zweiten nach der Entstehung des Bewußtseins ratlos gegenüber. Sie läßt das Bewußtsein aus dem Bewußtlosen hervorgehen, ohne darüber Rechenschaft zu geben, wie das möglich sei. Natürlich sind wir aber bei dieser Frage noch weit mehr als bei der vorigen auf Analogien angewiesen. Denn in das Bewußtsein eines anderen Wesens können wir nicht hineinblicken, da eigentlich jeder nur seines eigenen Bewußtseins unmittelbar gewiß ist. Der Fehler und das Unbefriedigende der gewöhnlichen Weltansicht liegt nun darin, daß sie hier bei den nächsten und äußerlichsten Analogien stellen bleibt. Den Tieren schreibt man eine Seele und also ein Bewußtsein zu; weil sie ein dem unseren ähnliches Nervensystem besitzen, während man doch nicht im geringsten weiß, wie dieses Nervensystem in den Besitz von Bewußtsein gelangen, und warum es sich in dieser Eigenschaft von sonstigen Stoffverbindungen unterscheiden soll. Mit demselben Rechte, mit dem man schließt: Die Tiere brauchen Nerven zur Empfindung, also werden auch die Pflanzen solche nötig haben, mit demselben Rechte könnte man sagen: Die Violinen brauchen Saiten zum Tönen, also werden auch die Flöten Saiten zum Tönen brauchen. Statt die Bedingungen, unter denen das Bewußtsein eines Wesens zustande kommt, nach den ihm selbst eigentümlichen Verhältnissen zu bestimmen, beruft man sich auf die für ein völlig anders geartetes Wesen geltenden Bedingungen. Wenn die Pflanze Empfindung hat, so kann diese freilich nicht durch Nerven zustande kommen; aber wer hat denn je bewiesen, daß es ohne Nerven überhaupt keine Empfindung gebe? Ist man doch meist bereit, den Protozoen, die ebenfalls keine Nerven besitzen, wegen gewisser Lebensäußerungen Empfindung zuzuschreiben. Nun sind allerdings auch die Lebensäußerungen der Pflanzen in mancher Beziehung anders geartet als die dieser einfachsten Tiere. Doch wer sagt uns, daß sich Empfindungen schlechthin nur durch tierische Lebensäußerungen verraten können? Vollends zu verlangen, daß die Erde, die Planeten Gehirn und Nervensystem besitzen müßten, ist ein völlig unzulässiger Schluß vom Teil auf das Ganze. In den Gehirnen der Menschen und Tiere, die zu ihr gehören, besitzt die Erde schon eine Menge von Bewußtseinsorganen der verlangten Art. Wenn sie als Ganzes alle ihre Geschöpfe umschließt, so wird sich die Organisation dieser Geschöpfe und demnach auch ein dem ihrigen gleichendes Substrat des Bewußtseins nicht noch einmal in diesem Ganzen wiederholen können.

    Stützt sich so die geläufige Annahme nur auf unzulängliche äußere Analogien, so bleibt sie aber nicht bloß auf die Frage nach der Entstehung des Bewußtseins überhaupt, sondern auch auf die andere nach den Ursachen des Wechsels der Bewußtseinserscheinungen die Antwort schuldig. In uns kommen und gehen die Vorstellungen. In einem gegebenen Moment umfaßt unser Bewußtsein immer nur einen sehr begrenzten Inhalt. Dabei kann dieser bald aus Erinnerungen an längst vergangene Wahrnehmungen bestehen, bald kann umgekehrt ein direkter Sinneseindruck, wenn sich ihm unsere Aufmerksamkeit nicht zuwendet, zunächst unbewußt bleiben, um dann später im Bewußtsein aufzutauchen. Wo kommen nun die Vorstellungen her, die, nachdem sie aus dem Bewußtsein verschwunden waren, wieder in dasselbe eintreten? Und wo gehen diejenigen hin, die aus ihm verschwinden? Fechner antwortet: Wie das Einzelleben nur als Abzweigung aus einem umfassenderen Lebensvorgang, so kann Bewußtsein, mag es sich nun um die erste Entstehung desselben in einem Individuum oder um das Bewußtwerden einer einzelnen Vorstellung handeln, nur daraus begriffen werden, daß jedes einzelne Bewußtsein auf einem allgemeineren Bewußtsein ruht, in das seine Erlebnisse untertauchen, und aus dem sie sich wieder erheben können. Jenes allgemeine Bewußtsein, auf dem sich jedes individuelle Bewußtsein irdischer Wesen erhebt, können wir uns aber nur an das Gesamtleben unserer Erde gebunden denken. Die erste Entstehung unseres Bewußtseins ist demnach dem Erwachen aus dem Schlafe verwandt. In der Tat bringt ja der Mensch bei der Geburt eine Menge geistiger Anlagen zur Welt mit, die als ein dunkles Erinnern gedeutet werden können. Wie sich nun bei dem Erwachen aus dem Schlaf in gewissem Sinne die Entstehung des einzelnen Bewußtseins wiederholt, so sind das Gehen und Kommen der Vorstellungen und schließlich selbst die Zustände der wechselnden Richtung der Aufmerksamkeit Vorgänge, in denen der Wechsel von Schlafen und Wachen abermals an den einzelnen Bewußtseinsinhalten sich abspielt. Alle diese inneren Erlebnisse ordnen sich dem Bilde der Schwelle des Bewußtseins unter. Über dieser Schwelle erhebt sich zunächst als eine Hauptwelle von längerer Periode das wache Bewußtsein in seinem ganzen Zusammenhange; und dann erheben sich über dieser Hauptwelle noch wechselnde Oberwellen von kürzerer Periode, die einzelnen Empfindungen und Vorstellungen, welche die besonderen Inhalte des Bewußtseins ausmachen, und denen so eine über der Hauptschwelle liegende "Oberschwelle" entspricht. Demnach ist jene Hauptschwelle, ebenso wie diese Oberschwelle, nicht als eine Grenze anzusehen, die das Bewußtsein vom Bewußtlosen, sondern nur als eine solche, die ein beschränkteres von einem umfassenderen Bewußtsein scheidet. Da aber auch das umfassendere Bewußtsein seine Schwelle haben wird, so können wir, wo immer ein neues individuelles Bewußtsein entsteht, dies als einen Vorgang der Erhebung über eine Schwelle deuten. Das Bewußtsein der Erde umfaßt so in ähnlicher Weise die Bewußtseinseinheiten der zu ihr gehörenden lebenden Geschöpfe, wie unser eigenes Bewußtsein seine augenblicklichen Erlebnisse; und jenes gesamte Bewußtsein verfügt über einen Schatz von Erinnerungen, der die ganze Geschichte der Erde und ihrer lebenden Wesen in sich schließt, ähnlich wie unser eigenes Bewußtsein auf den Zusammenhang unseres Einzellebens zurückblickt. Die Erde selbst aber, wie sie als kosmorganisches Glied dem Sonnensystem und dann mit diesem dem Universum sich eingliedert, bildet als Bewußtseinseinheit wiederum nur ein Glied in einer Reihe weiter aufsteigender Bewußtseinsformen, deren höchste das allumfassende Gesamtbewußtsein des Universums selbst, das göttliche Bewußtsein ist.

    Auch auf dieses göttliche Bewußtsein, in welchem alle anderen Bewußtseinseinheiten von den höchsten bis zu den niedersten, als seine einzelnen Erlebnisse, enthalten sind, wendet nun aber Fechner, wenn auch nirgends ausdrücklich, so doch tatsächlich das Prinzip der Schwelle an, und es bildet dies zugleich einen sehr bedeutsamen Zug seines Gottesbegriffs, durch den sich dieser von den meisten ähnlichen philosophischen Begriffsbildungen unterscheidet. Zwar soll alles, was für die niedrigeren Bewußtseinseinheiten unter der Schwelle liegt, für jenes höchste Bewußtsein über der Schwelle sein, da ja nur so eine Forterhaltung und Wiedererneuerung solcher Inhalte auch für das niedrigere Bewußtsein gesichert ist. Aber Fechner ist nicht der Meinung, daß das göttliche Bewußtsein auch die ganze Zukunft des Universums in sich trage. Vielmehr drängt ihn der Gedanke der Entwicklung, von dem seine Auffassung der Entstehung des Lebens wie des Bewußtseins getragen ist, dazu, diesen Gedanken nun auch auf Gott selbst anzuwenden. Dies geschieht, indem er dem göttlichen Bewußtsein zwar von Anfang an einen allgemeinen, in den kosmischen Gesetzen der Kausalität und Finalität sich betätigenden Weltplan zuschreibt, die äußere Ausgestaltung dieses Weltplans im Laufe des kosmischen Geschehens aber als eine Reihe neuer Erlebnisse innerhalb des göttlichen Bewußtseins ansieht. Er vergleicht Gott einem Künstler, dem sein Werk zwar von Anfang an in seinen allgemeinen Umrissen vor Augen schwebt, der aber darum keineswegs jede einzelne Stufe dieser Ausführung voraussieht. In diesem Sinn entwickelt sich nach ihm das göttliche Bewußtsein ähnlich wie das menschliche, nur freilich von Anfang an einheitlicher, planvoller, gesetzmäßiger; und Gott ist ihm schließlich ebenso gut das Erzeugnis seiner eigenen Erlebnisse, die zugleich die Erlebnisse des Universums sind, wie der einzelne Mensch das Produkt seiner Lebensschicksale ist. Dieser Gedanke erscheint ihm um so anmutender, da er es ihm zugleich möglich macht, sich den Menschen selbst als den Mithelfer und Vollbringer der Werke Gottes zu denken, und das Übel in der Welt und die Sünde als einen zwar dem ursprünglichen Wesen Gottes fremden, aber doch zur Vollendung der Schöpfung und zur Erzeugung des Guten und Schönen unerläßlichen Bestandteil der Weltordnung anzusehen. Dies sind Gedanken, in denen er an die beiden großen deutschen Theosophen des 16. und 17. Jahrhunderts erinnert, mit denen auch sonst seine Weltanschauung manche Züge gemein hat, an Paracelsus und Jakob Böhme. Aber auch mit den Philosophen seiner eigenen Zeit, denen er sonst wegen ihrer Versündigung an der Naturwissenschaft abhold war, mit Schelling und sogar mit Hegel berührt er sich hier, ohne daß freilich diese Beziehungen ihm selbst über die Schwelle des Bewußtseins getreten sind.