III.

    Wie entsteht das Leben? Nach der herrschenden Ansicht sind irgendwo und irgendwann unter uns unbekannten Bedingungen aus den unorganischen Stoffen der Natur organische Verbindungen hervorgegangen. Die Organismen sind also Erzeugnisse der toten, leblosen Natur. Man hat sich, wie Fechner bemerkt, infolgedessen alle erdenkliche Mühe gegeben, auf irgend eine Weise wenigstens Organismen einfachster Art aus unorganischen Stoffen zu erzeugen. Aber diese Mühe ist noch immer vergeblich gewesen. Statt hieraus zu schließen, daß überhaupt das Lebendige niemals aus dem Leblosen entstehe, begnügt man sich jedoch mit der Annahme, es seien in früheren Perioden unserer Erde Bedingungen für die Bildung des Organischen vorhanden gewesen, die heute nicht mehr existieren, und die wir auch nicht einmal in unseren Laboratorien künstlich herstellen können; unerachtet doch frühere Zustande unserer Erde, soweit wir auf sie zurückschließen dürfen, keineswegs dem Leben der Organismen günstiger als die heutigen waren. Dagegen geht man an der Tatsache, daß umgekehrt überall die Organismen es sind, die zuerst durch ihren Stoffwechsel und dann durch ihren Untergang unorganische Stoffe entstehen lassen, nichtachtend vorüber. Und doch macht diese Erfahrung von vornherein die Annahme wahrscheinlich, daß die gewöhnliche Ansicht in ihr Gegenteil umzukehren sei: Nicht das Lebendige ist aus dem Leblosen, sondern das Leblose ist aus dem Lebendigen hervorgegangen.

    Nehmen wir diesen Satz an, so werden wir nun unvermeidlich zu dem Schlusse gedrängt, daß jenes Lebendige, aus dem dereinst alle lebenden Wesen unserer Erde entsprungen sind, die Erde selbst ist: Die Erde, die wir darum nicht bloß im poetischen Bilde, sondern im wirklichen und eigentlichen Sinne unsere Mutter nennen sollten. Wir belächeln mitleidig den Glauben wilder Völker, die da meinen, die Menschen seien aus Steinen entstanden. Und was tun wir Besseres, wenn wir nicht bloß die Menschen, sondern auch die Tiere und Pflanzen, das ganze Leben auf der Erde als einen Niederschlag ansehen, der sich zufällig auf einer toten Gesteinsmasse abgelagert habe? Wir haben uns in das Studium der Erdgloben in unseren Schulstuben so lange vertieft, bis wir die Erde selbst für einen Globus halten, auf dem die Berge, Flüsse, Meere mit ihrer lebenden Bevölkerung bloß äußerlich aufgemalt sind. Fechner veranschaulicht das Widersinnige dieser Meinung durch den Traum eines Naturforschers. Dieser sieht sich am Ufer eines klaren Wassers, in dem eine grüne, an zwei einander entgegengesetzten Stellen weiße Kugel herumschwimmt. Ei, denkt der Naturforscher, was kann das sein? Gewiß ein ungewöhnlich großes Infusorium! Und er freut sich schon des Berges von Ehren, der ihm als einem neuen Ehrenberg zuteil werden wird, wenn er diese neue Spezies beschreibt. Er bringt die Kugel unter das Mikroskop. Da entdeckt er einen Besatz von grünen Fransen und Wimpern in allerlei Tinten. Aber als er stärkere Vergrößerungen anwendet, zeigt es sich, daß das neue Infusor nicht aus Zellen zusammengesetzt ist, wie er erwartet hatte, sondern daß als Elementarteile auf seiner Oberfläche Bäume, Blumen, Schafe, Pferde, Hunde, Menschen herumwimmeln, - und plötzlich entdeckt er in einem der beweglichen Pünktchen sich selber. Da ging dem Naturforscher ein Licht auf. Ein Geschöpf, so dachte er, zu dem ich selbst mit allen Pflanzen und Tieren gehöre, ein solches Geschöpf kann unmöglich etwas anderes als ein lebendes Wesen sein. Die anderen Naturforscher, denen er das sagte, lachten ihn natürlich aus. Wer aber hatte recht?

    Der hauptsächlichste Einwand, den man gegen das Leben der Erde ins Feld führt, besteht darin, daß man auf den Mangel aller der morphologischen und chemischen Bestandteile hinweist, die wir als erforderlich für den Lebensprozeß ansehen. Die Gesteinsmassen der Erde zeigen keine Zellen, keine Gewebe und Organe, keine Eiweißstoffe. Aber, fragt Fechner, ist es denn nötig, daß die Erde als Ganzes noch einmal alle die organischen Erzeugnisse aufweise, die sie ohnehin schon oben in den Organismen, die sie hervorbringt, besitzt? Gewiß, wenn wir die Erde organisch nennen, so werden wir sie in anderem Sinne so nennen müssen als die einzelnen organischen Individuen, die ihre Bestandteile sind. Wir haben sie dann als ein Individuum höherer Ordnung anzusehen, dem als gleichgeartete Wesen die anderen ähnlichen Weltkörper, nicht die ihr untergeordneten irdischen Organismen gegenüberstehen. Unter diesem Gesichtspunkt werden wir aber überhaupt das Merkmal für die Unterscheidung des Lebendigen und des Leblosen nicht in irgend welche Struktur- und Stoffunterschiede, sondern nur in die allgemeinen Eigenschaften der Bewegungsvorgänge verlegen dürfen, aus denen die an den verschiedenen Körpern zu beobachtenden Erscheinungen hervorgehen. Nun sind alle Bewegungen der organischen wie der unorganischen Natur zwei großen Prinzipien unterworfen, von denen das erste ziemlich allgemein anerkannt, das zweite aber oft übersehen oder mindestens nicht richtig, gewürdigt wird: dem Prinzip der Kausalität und dem der Finalität oder Zweckmäßigkeit. Nach dem Prinzip der Kausalität kehren überall und zu allen Zeiten, insoweit dieselben Umstände wieder eintreten, auch dieselben Erfolge wieder. Dieses Prinzip beherrscht zwar die ganze Natur, die lebende wie die leblose, und innerhalb der ersteren auch die geistige Welt; aber es ist für sich allein betrachtet zu unbestimmt, als daß man mit seiner Hilfe den Charakter der einzelnen Erscheinungsgebiete und demnach auch die eigentümlichen Unterschiede des Unorganischen und des Organischen näher feststellen könnte. Anders verhält es sich mit dem Prinzip der Finalität. Es ergibt sich gerade so wie das der Kausalität aus der allgemeinen Betrachtung des Ganges der Naturerscheinungen. Aber während dieses nur die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen hervorhebt, bezeichnet jenes die Richtung, in der die Gesetzmäßigkeit verläuft. Demnach stehen Kausalität und Finalität durchaus nicht im Widerspruch, sondern sie ergänzen sich, und es muß notwendig vorausgesetzt werden, daß die einzelnen Gesetze, die nach dem Kausalprinzip den Verlauf der Erscheinungen bestimmen, zugleich jene Richtung enthalten, die das Finalprinzip ihrem Verlaufe vorzeichnet. Die widerspruchslose Koexistenz beider Prinzipien besteht also wesentlich darin, daß das Finalprinzip selbst eine Folge der Bedingungen ist, die für die Geltung des Kausalprinzips in der Welt bestehen. Dieses allgemeinste Finalprinzip hat Fechner später, im Anschluß an eine von Zöllner in seinem Buch "Über die Natur der Kometen" ausgeführte Betrachtung, als "Prinzip der Tendenz zur Stabilität" bezeichnet. Doch ist der Gedanke selbst Fechner's Eigentum. Er ist deutlich im "Zendavesta" ausgesprochen und schon früher, in einer 1849 in unserer Gesellschaft gehaltenen Festrede "Über das Kausalgesetz", angedeutet. Das Finalprinzip äußert sich hiernach darin, daß in der Natur jedes irgendwie nach außen begrenzte und daher relativ abgeschlossene System sowie jeder relativ selbständige Teil eines solchen nach kürzerer oder längerer Zeit wieder in denselben Zustand zurückzukehren strebt, den er zuvor besaß. So schwingen innerhalb eines Salzkristalls die einzelnen Salzteilchen infolge ihres Wärmezustandes regelmäßig um dieselben Gleichgewichtslagen. So nehmen die Planeten in ihrem Umlauf um die Sonne immer wieder die gleichen Stellungen ein. Und so erneuern sich in den Organismen die nämlichen Lebensvorgänge periodisch teils innerhalb eines und desselben Wesens, teils im Wechsel der Generationen. In keinem der uns in der Natur entgegentretenden Systeme oder ihrer Teile ist aber die Gültigkeit dieses Prinzips eine absolute, sondern überall nur eine approximative. Die regelmäßigen Schwingungen der Moleküle ändern sich, wenn sich ihr Wärmezustand ändert. Die Planetenbewegungen erfahren Störungen und infolgedessen sehr langsame Abweichungen von ihrer Stabilität. Der Lebensprozoß der Organismen erschöpft allmählich ihren Gleichgewichtszustand und bewirkt bei ihrem Ende dessen völlige Aufhebung. Je umfassender ein System ist, um so mehr muß sich jedoch seine approximative einer absoluten Gleichförmigkeit in der Wiederkehr der nämlichen Zustände nähern, weil im selben Maße die Störungen abnehmen, die in äußeren Einwirkungen ihren Ursprung haben. Für das Universum als Ganzes muß daher schließlich das Prinzip der Stabilität im absoluten Sinne gültig sein.

    Nun lassen sich jedoch zwei Formen einer solchen Tendenz zur Stabilität unterscheiden, eine einfachere und eine verwickeltere. Ein Beispiel einfacher Stabilität bietet jedes beliebige unorganische Molekül: Die Teilchen des Kristalls, die um ihre Gleichgewichtslagen schwingen, kehren sofort wieder in die nämlichen Zustände zurück. Beispiele verwickelter Stabilität bieten die Organismen und ihre Elementarteile. Jede Zelle erhält sich durch die Vorgänge der Stoffaufnahme und Stoffabgabe in einem annähernd stabilen Zustand, und dasselbe gilt von dem ganzen zusammengesetzten Organismus und schließlich von einer Generationenfolge von Organismen, bei der sich im Wechsel von Geburt und Tod die gleichen organischen Formen neu erzeugen. Aber die Tendenz zur Stabilität kommt hier erst zum Vorschein, wenn wir größere Reihen wechselnder Zustände vergleichen; auch erhält sich der Organismus immer nur in der Weise, daß aus den minder stabilen organischen Verbindungen stabilere unorganische hervorgehen. Mit der allgemeinen Tendenz zur Stabilität verbindet sich daher eine Tendenz des Übergangs in stabilere Zustände, organischer in unorganische Verbindungen.

    Welcher dieser Formen ordnen sich nun die kosmischen Systeme unter? Unsere Erde gleicht, indem sie bei ihrer Bewegung um die Sonne mit sehr großer Annäherung in die nämlichen Stellungen zurückkehrt, einerseits der vollkommenen Stabilität der unorganischen Körper. Anderseits entspricht sie in dem verwickelten Verlauf der Vorgänge der Periodizität der Lebenserscheinungen. Wie unser eigener Leib, so ist die Erde ein durch bestimmte Gestalt äußerlich abgeschlossenes, durch das Walten von Kräften und Zweckbeziehungen innerlich verknüpftes Ganzes, dem ähnliche selbständige und in sich geschlossene Ganze in den anderen Weltkörpern gegenüberstehen. Ebenso ist das Spiel der Prozesse auf ihr räumlich und zeitlich in größere und kleinere, regelmäßig wiederkehrende Perioden gegliedert. Erblickt man daher das wesentliche Kriterium des Organischen in dieser regelmäßigen Gliederung und Wiedererneuerung der Bewegungsvorgänge, so kann nach Fechner's Meinung kein Zweifel obwalten, daß der Wechsel der kosmischen Bewegungen das vollkommenste Beispiel für den Begriff der organischen Bewegung überhaupt ist. Diese Vollkommenheit der organischen Periodizität der kosmischen Prozesse beruht aber gerade darauf, daß sich bei ihnen mit der verwickelten Zusammensetzung ineinander greifender Perioden eine nahezu vollkommene Stabilität derselben, wie sie auf unserer Erde nur den unorganischen Molekülen zukommt, verbindet. Daraus ergibt sich dann allerdings die Nötigung, dieses organische Leben der kosmischen Systeme als ein eigenartiges von dem der einzelnen Organismen und ihrer Elementarteile zu unterscheiden. Fechner nennt jenes das kosmorganische, dieses das molekularorganische. Nach dem kausalen Verhältnis, in welchem das Leben auf der Erde zur Erde selbst stellt, müssen aber, wie er meint, die molekularorganischen notwendig aus den kosmorganischen Bewegungen hervorgegangen sein; und nach der überall bei den Lebensvorgängen zu beobachtenden Tendenz des Übergangs der minder stabilen in stabilere Verbindungen ist anzunehmen, daß mit der Entstehung molekularorganischer aus kosmorganischen Bewegungen zugleich die erste Bildung unorganischer Stoffe zusammenfiel. So erscheint die Erde nicht mehr als ein äußerer Wohnplatz, sondern im buchstäblichen Sinne als die Mutter der lebenden Wesen auf ihr. Und die Erde ist ihrerseits nur ein Glied in den großen kosmorganischen Grenzen unseres Sonnensystems, das sich wiederum dem Gesamtleben des Universums als der letzten allumfassenden Einheit unterordnet.