II.

    Um die philosophischen Gedanken Fechners richtig zu würdigen, muß man sie vor allem in ihrem Zusammenhang untereinander und in ihrer Beziehung zu gewissen noch ungelösten naturwissenschaftlichen Problemen ins Auge fassen. Wer sich damit begnügt, die Quintessenz dieser Philosophie darin zu sehen, daß nach ihr nicht nur die Menschen und die Tiere, sondern auch die Pflanzen, die Erde, die übrigen Planeten und die Fixsterne beseelte Wesen seien, und daß schließlich über allen diesen Seelen Gott als eine Weltseele throne, der wird freilich in ihr kaum mehr als eine phantastische Dichtung erblicken, die auf sonderliche Neuheit keinen Anspruch erheben könne. Denn solche Lehren von der Allbeseelung und Allbelebung der Natur sind ja immer dann und wann in der Philosophie wiedergekehrt. Mag aber auch die Weltanschauung Fechner's mit diesen uralten mythologischen Ideen in gewissen Ergebnissen übereinstimmen, die Verbindung und die Begründung ist bei ihm eine wesentlich andere geworden. Auch hat er sich seine Philosophie nicht aus irgend einer der älteren Quellen angeeignet, sondern er ist im wesentlichen ein aus sich selbst gewordener Philosoph. Wohl ist er in seiner Jugend mit der Schelling'schen Naturphilosophie in Berührung gekommen. Er hat die ersten Kapitel von Oken's Naturphilosophie gelesen und ist, wie er später berichtet, von der Großartigkeit mancher Gedanken überrascht worden. Im übrigen blieb ihm das Buch unverständlich, und als Dr. Mises stimmte er in den Spott der Naturforscher über diese Naturphilosophie lebhaft ein. Immerhin mag es sein, daß eine zunächst latent bleibende Hinneigung zu gewissen Gedanken, in denen der spätere Fechner an Oken erinnert, bei ihm zurückblieb. Vorläufig wurde aber dieses Motiv durch die naturwissenschaftlichen Studien verdrängt. Sie gaben seinem Denken Richtung und Methode, so daß jene willkürliche Mißhandlung der naturwissenschaftlichen Tatsachen und Begriffe, wie sie sich ein Schelling und Oken zuschulden kommen ließen, für ihn unmöglich wurde.

    Fechners naturwissenschaftliche Begabung, wie sie in seinen verschiedenen diesem Gebiet zugehörigen Arbeiten zum Ausdruck kommt, war eine höchst eigenartige. Sie bestand in einer Vereinigung von Anlagen, die in solcher Form sicherlich eine sehr seltene ist. Auf der einen Seite fesselte ihn die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Naturerscheinungen, und er war in hohem Grade mit der Gabe ausgerüstet, verwickelte Zusammenhänge durch methodische Analyse auf ihre einfacheren Beziehungen zurückzuführen. Er hat selbst von sich gesagt, er sei kein Mathematiker; und man wird diesem strengen Urteil nicht widersprechen können, wenn er auch vielleicht in seinem Leben mehr gerechnet hat als die meisten wirklichen Mathematiker. Über die von der Mathematik ihm dargebotenen Hilfsmittel wußte er vortrefflich zu verfügen, und er nützte sie gelegentlich weit über die Grenzen der Gebiete aus, für die sie ursprünglich bestimmt waren. Ja gerade in dieser Übertragung auf neue Probleme bekundete er zuweilen eine bewundernswerte Meisterschaft. Aber ein schöpferischer Mathematiker war er nicht. Wo ein solcher neue, unmittelbar den veränderten Aufgaben entsprechende Wege eingeschlagen hätte, da erschöpfte sich Fechner's Scharfsinn in der Anpassung der vorhandenen Hilfsmittel an die von Fall zu Fall sich darbietenden Bedingungen. Dagegen besaß er eine um so seltenere Erfindungsgabe im Gebiet der experimentellen Methodik. Die von früheren Beobachtern oft planlos geübten Verfahrungsweisen wußte er auf ihre Prinzipien zurückzuführen und aus diesen dann neue, vollkommenere Methoden zu entwickeln. Damit verband sich ein stark ausgeprägtes Streben nach Exaktheit, welches vor allem in den von ihm von früh an angewandten Methoden der Kombination zahlreicher Beobachtungen zum Zweck der planmäßigen Elimination von Nebeneinflüssen und von Beobachtungsfehlern zum Ausdruck kam. Von den "Maßbestimmungen der galvanischen Kette" an bis zur Ausbildung der "psycho-physischen Maßmethoden" und zu dem posthumen Werk über die "Kollektivmaßlehre" bilden die größeren experimentellen oder der Theorie der experimentellen Methodik gewidmeten Arbeiten Fechner's eine Reihe glänzender Zeugnisse für diese seltene und in der Art ihrer Betätigung höchst eigenartige Anlage.

    Dazu kam nun aber bei ihm noch eine andere Eigenschaft, die mit jener exakten Begabung gewiß nicht häufig verbunden ist. Das war sein lebendiges Interesse für die sinnliche Anschauungswelt, das ihm namentlich in der Zeit, da er sich noch eines ungetrübten Sehvermögens erfreute, für die Beobachtung alles Einzelnen, auch des Unerwarteten und Zufälligen, an dem die meisten achtlos vorübergehen; die Sinne schärfte. Vor allem an der Welt des Lichts und der Farben erfreute sich dabei zugleich sein ästhetischer Sinn. Diese Eigenschaft war es, die ihn frühe schon zu einem von jenen exakten Untersuchungen weit abliegenden, damals wegen seiner scheinbaren Regellosigkeit meist gemiedenen Erscheinungsgebiet hinzog: zu der wechselvollen und doch für den, der sich einmal ihr hingegeben hat, so überaus anziehenden Welt der subjektiven optischen Phänomene. Daß er hier nicht bloß zuvor Übersehenes entdeckt, sondern auch in das Chaos dieser Erscheinungen zuerst Ordnung und Regel gebracht hat, das verdankt er eben dieser Verbindung einer lebendigen Beobachtungsgabe und der Neigung zu exakter Analyse.

    Doch, wie immer diese Eigenschaften, die dem Naturforscher zu Gebote standen, auch dem Philosophen förderlich sein mochten, Werke wie das "Büchlein vom Leben nach dem Tode" oder den "Zendavesta" konnten sie nicht zustande bringen. Hier tritt daher eine sicherlich nicht minder ursprüngliche, wenn auch durch Lebensschicksale und Umgebung gesteigerte Anlage hinzu: jenes tiefe religiöse Gefühl, welches das ganze Wesen dieses Mannes erfüllte und wohl zuzeiten über der Beschäftigung mit wissenschaftlichen Problemen zurücktreten konnte, dann aber immer wieder sich als sein bleibendstes Lebensinteresse bewährte. Ganz gewiß ist es dieser religiöse Sinn, der aus dem Naturforscher erst den Philosophen gemacht hat. Dennoch würde seine Philosophie wiederum ihre eigenartige Gestalt nicht gewonnen haben, wenn sie nicht aus dem Geiste des Naturforschers geboren wäre.

    Wie nahe es nun aber auch liegen möchte, aus dem Gegeneinanderwirken solcher Eigenschaften des wissenschaftlichen Forschers und des religiösen Denkers den Philosophen begreifen zu wollen, so würde dabei immer noch eine dritte Bedingung fehlen. Sie liegt in einem Charakterzug dieser Persönlichkeit, der da und dort schon in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten, in seiner religiösen und kirchlichen Stellung hervortritt, der aber doch vor allem seiner Philosophie ihr Gepräge verliehen hat und vielleicht am eindrucksvollsten im persönlichen Verkehr mit ihm empfunden wurde. Ich wüßte für diesen Charakterzug kaum einen anderen allgemeinen Ausdruck zu finden als den der absoluten Vorurteilslosigkeit und Unerschrockenheit eigener Überzeugung. Ich erinnere mich nicht, diese Eigenschaft jemals bei einem anderen Menschen in ähnlichem Grade ausgebildet gesellen zu haben; eine Eigenschaft, der überhaupt begegnet zu sein, ich für einen unverlierbaren Gewinn meines Lebens halte. Leibniz hat einmal von sich gesagt, er fühle sich geneigt, jeder Ansicht, die ihm entgegentrete, unter gewissen Einschränkungen zuzustimmen. Fechner hätte vielleicht mit größerem Rechte von sich sagen können, er sei geneigt, zunächst jeder Ansicht und ohne alle Einschränkungen zu widersprechen. Wenn sich eine Meinung allgemeiner Anerkennung erfreute oder angesehene Autoritäten für sich hatte, so war das nur geeignet, um so mehr sein Mißtrauen wachzurufen. Denn er war überzeugt, daß die Gewöhnung an überlieferte Annahmen und der Autoritätsglaube die gefährlichsten und verbreitetsten Hindernisse einer vorurteilslosen Betrachtungsweise der Dinge seien. Andrerseits konnte man ihm aber auch durch die gewagteste Vermutung, durch eine allem bisher Geglaubten widersprechende Hypothese nicht imponieren. Er sah sie ebenso gut wie die landläufigen Ansichten als eine der Prüfung würdige Meinung an, die er darum freilich nicht minder wie jene zunächst mit allen ihm zu Gebote stehenden Gründen zu widerlegen suchte. "Ich bin vorsichtig im Glauben, aber auch vorsichtig im Unglauben", hat er einmal von sich selbst gesagt. Die Lust am Streite der Meinungen, die ihm eigen war, bestand darum keineswegs darin, daß er alles bezweifelte und an seinem Widerspruch auch dann noch festhielt, wenn er seine Gegengründe preisgeben mußte; sondern wo das geschah, was freilich selten vorkam, da war er vollkommen bereit, sich den vorgebrachten Argumenten zu fügen. Noch weniger verband sich jemals sein sachlicher Widerspruch mit der geringsten persönlichen Gereiztheit, sondern aus seiner Polemik leuchtete stets das reinste Wohlwollen. Einen ungeschlichtet bleibenden Streit konnte er wohl mit der Bemerkung abbrechen, die vorgebrachte Meinung möge ja manches für sich haben und ihre Anhänger finden, nur für sich selbst könne er sie nicht annehmen. Dies gestaltete den Streit mit ihm zu einem intellektuellen Genuß seltenster Art, und selbst aus einem ergebnislosen derartigen Redeturnier ging man nie ohne nachhaltigen Gewinn hinweg.

    Das einzige, was ihn bis zu einem gewissen Grade leidenschaftlich erregen konnte, war das Festhalten an Dogmen, wenn es nicht aus eigener innerer Überzeugung geschah. Religiöse und wissenschaftliche Dogmen galten ihm in dieser Beziehung gleich. Obwohl er sich mit voller Überzeugung einen Christen nannte, so erkannte er doch kein einziges kirchliches Dogma als bindend für seinen Glauben an. Und obwohl er von der strengen Gesetzmäßigkeit der Erscheinungswelt, als der Vorbedingung jeder wissenschaftlichen Erkenntnis, so fest überzeugt war, daß er auch den menschlichen Willen von dieser Gesetzmäßigkeit nicht ausnahm, so gab es doch kein einziges von der Naturforschung anerkanntes Naturgesetz, in dem er mehr als einen an den Standpunkt unserer jeweiligen Erkenntnis gebundenen und darum möglicherweise einer künftigen Verbesserung fähigen Ausdruck gesehen hätte.

    Dieser persönlichen Eigenart Fechner's muß man eingedenk bleiben; man muß, wie ich meine, etwas von der Vorurteilslosigkeit, die er selbst besaß, auch seiner Philosophie entgegenbringen, wenn man ihr gerecht werden will. Im Eingang zu seinem "Zendavesta" bemerkt er, er bediene sich grundsätzlich keiner anderen logischen Hilfsmittel als derjenigen, die auch die Naturwissenschaft verwende, und neben denen es überhaupt keine geben könne, solange man streng auf dem Boden der Erfahrung bleibe, von ihm aus aber eine zusammenhängende Weltansicht zu gewinnen suche. Diese beiden Hilfsmittel seien die Induktion und die Analogie: Die Induktion, die aus einzelnen Tatsachen allgemeine Gesetze ableite, und die Analogie, die nach den uns bekannten Gegenständen der Erfahrung andere, uns unbekannte beurteile. Auf Induktion und Analogie in diesem Sinne seien nicht bloß die einzelnen Erfahrungswissenschaften, sondern es sei auf sie auch die gewöhnliche Weltansicht gegründet, die in der Wissenschaft die hergebrachte und daher selbst in den weiteren Kreisen des gebildeten Publikums die allgemein verbreitete sei. In der letzten, in der Bestreitung der überlieferten Anschauungen vielleicht eindrucksvollsten seiner philosophischen Schriften hat Fechner diese gewöhnliche Weltallsicht die Nachtansicht genannt: Die Nachtansicht, weil sie diese ganze Welt der Farben und Töne, der Empfindungen und Gefühle, alles also, was uns das Glück dieses Lebens in der Anschauung der Natur und im Verkehr mit unseren Mitmenschen genießen läßt, als ein vorübergehendes subjektives Erlebnis, als eine sich immer wieder erneuernde Illusion ansieht, während die Welt an sich ein in undurchdringliches Dunkel und Totenstille gehülltes Chaos sein solle. Nichts als schwingende Atome und rastlose, einförmige Bewegungen, und in diesem Chaos nur vereinzelte lichte und tönende Punkte, die empfindenden Wesen, die eine Zeit lang erscheinen, um dann wieder in der umgebenden Nacht zu versinken! Das ist, wie Fechner meint, die Weltansicht der Naturforscher, die aber auch die Theologie widerstandslos sich angeeignet hat, ohne zu bemerken, daß damit Gottes schöne Welt in einen Hades verwandelt wird, und daß die Aussicht auf ein lichtes Jenseits, mit der man sich tröstet, um so unsicherer wird, je weniger begreiflich zu machen ist, wie aus jenem finsteren Diesseits ein solches Jenseits hervorgehen könne.

    Ist diese Nachtansicht im höchsten Grad unbefriedigend, so ist sie aber keineswegs, wie behauptet wird, das Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern sie ist in Wahrheit nur dadurch entstanden, daß die Wissenschaft in ihren Induktionen und Analogien auf halbem Wege stehen blieb, und daß sie daher ein unvollständiges Bild der Welt zustande brachte, das für die Ableitung gewisser Zusammenhänge tauglich sein mag, sich aber in ein falsches verwandelt, sobald man jene beschränkten Zusammenhänge für die volle Wirklichkeit der Dinge ansieht. Fechner sucht den Fehler dieser "Nachtansicht" vornehmlich an ihrem völligen Unvermögen zwei Problemen gegenüber nachzuweisen, Problemen, die zu jeder Zeit zu den tiefsten und schwierigsten der Philosophie gehört haben. Das eine ist das Problem des Lebens, das andere das des Bewußtseins.