I.

    In der ersten Hälfte seines Lebens ist Fechner so gut wie ausschließlich Naturforscher gewesen. Beobachtungen über die galvanischen Erscheinungen, später solche über die Phänomene des subjektiven Sehens, die Nachbilder, die Kontrastempfindungen, beschäftigten ihn neben einer reichen literarischen Tätigkeit, die vornehmlich teils dem naturwissenschaftlichen Unterricht, teils der Zusammenfassung der physikalischen und chemischen Einzelforschungen der Zeit in umfangreichen Repertorien gewidmet war. Jene heiteren Kinder seiner Laune, die er gleichzeitig pseudonym als Dr. Mises veröffentlichte, so charakteristisch sich in ihnen diese reich begabte Persönlichkeit spiegeln mag, sie sind doch nur Erholungen von ernsterer, mühevoller Arbeit. Großenteils in Verspottungen der Schellingschen Naturphilosophie und der damals stark in Universalmitteln und Mixturen schwelgenden Medizin bestehend, geben sie ziemlich treu die Gesinnungen wieder, mit denen zu jener Zeit schon die strengere Wissenschaft auf die phantastischen Hypothesen der Naturphilosophie und der nicht selten mit ihr verschwisterten Medizin herabsah.

    Wäre Fechner in der Mitte seiner Laufbahn von dem schweren Leiden erlöst worden, das den noch nicht Vierzigjährigen in jahrelangem Siechtum heimsuchte, er würde uns heute als ein ganz anderer vor Augen stehen. Soweit man überhaupt seiner gedächte, was freilich wohl nur noch in den engsten Kreisen der Fachgelehrten geschehen dürfte, würde man wahrscheinlich von ihm sagen: Er war ein fleißiger und umsichtiger Forscher, dessen Arbeiten über den Galvanismus durch den Scharfsinn, mit dem er die Fehler der damals wenig ausgebildeten Versuchstechnik zu eliminieren suchte, noch heute in gewissem Grade als Muster der Methodik gelten könnten. Auch hat er zusammenfassende Darstellungen der Fortschritte auf dem Gebiete der Physik und Chemie geliefert, die für ihre Zeit verdienstvoll waren. Alles das sind aber Leistungen, wie sie noch zahlreiche andere Gelehrte jener Tage aufzuweisen haben, deren Namen heute sogar innerhalb ihrer Spezialgebiete wenig mehr genannt werden. Immerhin würde der Geschichtsschreiber der Wissenschaft nicht umhin können, über eine Eigenschaft des jugendlichen Fechner ein gerechtes Erstaunen zu empfinden, in der es keiner seiner Zeitgenossen mit ihm aufnahm, das ist die ungeheure Arbeitskraft, die er betätigte. Erschien doch in den Jahren 1824 bis 1830 von ihm, neben der Übersetzung eines Werkes über die Krankheiten des Gehirns, eine Bearbeitung von Thénard's Lehrbuch der theoretischen und praktischen Chemie in 6 Bänden, eine solche von Biot's Lehrbuch der Physik in 4 Bänden, das gleiche Werk in zweiter, völlig umgearbeiteter Auflage in 5 Bänden, woran 2 Bände eines Repertoriums der Chemie, einen Bericht über alle wesentlichen neuen Forschungen enthaltend, und in den nächsten Jahren, bis 1832, noch 3 Bände eines ebensolchen Repertoriums der Experimentalphysik sich anschlossen. Dazu kam neben einer Anzahl kleinerer chemischer und physikalischer Arbeiten eine größere Untersuchung über die "Maßbestimmungen der galvanischen Kette", ein "Elementarlehrbuch des Elektromagnetismus", endlich seit 1830 die Redaktion eines pharmazeutischen Zentralblattes; dazwischen liefen her ein "Katechismus oder Examinatorium über die Physiologie des Menschen", ein "Katechismus der Logik oder Denklehre", die er für eine Sammlung von Schulbüchern übernommen hatte, und endlich der größte Teil jener unter dem Namen des Dr. Mises erschienenen Humoresken.

    Das sind mäßig gerechnet jährlich 3 bis 4 Bände. Wären diese Bände bloß oder doch, wie es nach den Titeln der Hauptwerke den Anschein hat, zum größten Teil Übersetzerarbeit, so würde das schon eine erhebliche Leistung sein. Aber ein Mann wie Fechner war zum bloßen Übersetzer nicht geschaffen. Wo ihm das Original nicht genügte, da schritt er zur selbständigen Arbeit, oder er verbesserte und ergänzte, bis vom Original nichts mehr übrig blieb. So mußte er schon im Vorwort zum 3. Bande von Thénard's Chemie erklären, von nun an, im Gebiete der organischen Chemie, könne er das Werk des französischen Autors nur noch wie andere vorangegangene Lehrbücher benutzen; der Hauptsache nach sei er genötigt, selbständig nach den Quellen zu arbeiten. Demnach sind vier der sechs Bände des Werkes durchaus Fechners eigene Arbeit. Ähnlich erging es ihm mit Biot's Physik. In der Optik hatte dieser noch an der Emanationslehre festgehalten; Fechner verhalf der Undulationstheorie, die eben erst durch Fresnel's Interferenzversuche zum Sieg gelangt war, zu ihrem Rechte, ergänzte und verbesserte auch sonst überall das Originalwerk nach den neuesten Forschungen und ersetzte, als ihm das nicht mehr genügte, in der zweiten Auflage den den Galvanismus und die Elektrochemie behandelnden Band durch ein vollständig neues, für seine Zeit vorzügliches Werk. In Wahrheit waren also diese großen Lehrbücher zu einem wesentlichen Teil geistiges Eigentum des deutschen Bearbeiters. Sie gingen unter den Namen der berühmten französischen Autoren, weil diese einen besseren buchhändlerischen Erfolg versprachen als der des bescheidenen deutschen Dozenten. Nicht minder sind die Repertorien, die sich an diese großen Lehrbücher anschlossen, Zeugnisse einer erstaunlichen Arbeitskraft und zugleich einer Stoffbeherrschung auf ganz verschiedenen Gebieten der exakten Naturwissenschaft, wie sie sich seither kaum mehr in einer Persönlichkeit vereinigt gefunden haben. Nicht bloß über die in zahlreichen Zeit- und Akademieschriften niedergelegten experimentellen Einzelarbeiten wird hier gewissenhaft und übersichtlich Bericht erstattet, auch in die zum Teil schwierigen Gedankengänge der rein theoretischen, mathematisch-physikalischen Untersuchungen weiß der Verfasser durch lichtvolle Darlegung der allgemeinen Voraussetzungen und Ergebnisse vortrefflich einzuführen. Die damals eben an das Licht getretenen Abhandlungen von Poisson, Navier, Cauchy über die Molekularstruktur der Körper, über die Elastizität und andere Erscheinungen der Molekularkräfte, sie werden von ihm in ihren Hauptgedanken mit unübertrefflicher Klarheit auseinandergesetzt, so daß man diese Erörterungen noch heute mit Nutzen lesen kann. Man sieht, diese Lehrbücher und Repertorien sind keineswegs literarische Handwerkerarbeit; sie sind naturgemäß der Hauptsache nach reproduktive Leistungen, aber sie verraten doch in der Art, wie sich der Verfasser die wissenschaftlichen Ergebnisse angeeignet hat und sie zu verwerten weiß, einen hohen Grad produktiver Leistungsfähigkeit. Wenn man nicht wüßte, daß wirklich Fechner allein und oft unter erschwerenden äußeren Umständen alles das vollbracht hat, man könnte meinen, daß sich hinter dem einen Namen eine ganze Gesellschaft von Gelehrten verberge.

    Nicht freiwillig hatte Fechner diese ungeheure Last auf sich genommen. Sicherlich wäre es ihm lieber gewesen, seine Zeit ausschließlich selbständigen Untersuchungen zu widmen. Aber der mittellose Privatdozent, der hier in Leipzig eine treue, seinem Wesen verständnisvoll entgegenkommende Lebensgefährtin gefunden hatte, war auf die Arbeit seiner Feder angewiesen. Früh hatte der Pastorssohn aus Großsärchen erkannt, daß die Medizin, deren Studium er sich erkoren und deren Baccalaureat er sich erworben hatte, sein innerer Beruf nicht sei. Er, der zeitlebens ein unpraktischer Gelehrter geblieben ist, paßte nicht zur ärztlichen Praxis, und diese, vornehmlich in der Verfassung, in der sie sich damals befand, paßte nicht zu dem für die exakten Naturwissenschaften begeisterten Jüngling, der sich schon als Zwanzigjähriger in seinem "Beweis, daß der Mond aus Jodine besteht" - Jod war das damals gebrauchte Allerweltsmittel - und ein Jahr später in seinem "Panegyrikus der jetzigen Medizin" weidlich über sie lustig gemacht hatte. Als Physiker war er auf die akademische Laufbahn angewiesen. Diese war aber damals wohl mehr noch als heute eine unsichere und dornenvolle. Er verließ sich auf seine Arbeitskraft. In der Stadt des Buchhandels konnte es ihm an literarischen Aufträgen nicht fehlen. In der Tat, sie strömten ihm zu, mehr als ihm gut war; und er bewies, daß selbst ein Gelehrter, der im wesentlichen bloß wissenschaftliche Werke schrieb, in dem damaligen Leipzig von dem Ertrag seiner Feder leben konnte, leben allerdings nicht im Überfluß, ja kaum auskömmlich, aber doch, wenn er in seinen Ansprüchen bescheiden war, eben zureichend, und unter der Voraussetzung, daß er, wie Fechner, mindestens für drei arbeiten konnte.

    Darum, als die Arbeit an den großen Lehrbüchern und Repertorien zu Ende ging, nahm er bereitwillig einen neuen buchhändlerischen Auftrag an, von dem er hoffte, daß er ihm für eine längere Zukunft sein äußeres Leben sichern sollte. Es war die Redaktion des "Hauslexikon", eines "vollständigen Handbuchs praktischer Lebenskenntnisse für alle Stände", das in den Jahren 1834-1838 in acht umfangreichen Bänden erschien. Ein großer Teil der Artikel, wie sein Biograph Kuntze versichert, ungefähr ein Drittel des Ganzen und über die verschiedensten Fächer sich verbreitend, rührt von Fechner selbst her. Hatte er es in dem physikalischen Repertorium verstanden, den Physiker vom Fach über die Resultate der schwierigsten mathematischen Untersuchungen zu orientieren, so wußte er in dem Hauslexikon seine Darstellung auf den tiefsten Baßton der Popularität herabzustimmen, wenn er dem Bürger und Landmann mit guten Ratschlägen zur Hand ging, wie man seine Taschenuhr zu behandeln habe, damit nicht allzu oft kostspielige Reparaturen erforderlich seien u. dgl.

    Doch über den literarischen Unternehmungen Fechners, durch die er sein äußeres Leben zu sichern hoffte, schwebte ein Unstern. Zu der Zeit, da er seine großen Lehrbücher und Repertorien der Chemie und Physik schrieb, waren diese Wissenschaften selbst in großen inneren Umwälzungen begriffen. In den nämlichen Jahren, wo er die organische Chemie für das Thénard'sche Werk in umfassendster Weise nach den vorhandenen Quellen bearbeitete, hatte Justus Liebig in Gießen jenes Laboratorium gegründet, mit dem eine neue Ära dieses Zweigs der chemischen Wissenschaft begann. In der Physik erfuhren die Optik, die Wärmelehre und vor allem die Elektrizitätslehre teils völlige Umgestaltungen, teils wesentliche Bereicherungen. Faraday's glänzendes Gestirn erschien eben erst am Horizont der experimentellen Physik, als Fechner's Lehrbuch des Galvanismus und sein physikalisches Ropertorium herauskamen. So fügte es sich, daß jene Arbeiten, in denen er den besten Teil seiner jugendlichen Kraft erschöpft hatte, veralteten, als sie kaum erschienen waren. Noch schlimmer erging es ihm mit dem Hauslexikon. Die Hoffnung, mit Hilfe desselben auf eine Reihe von Jahren der äußeren Lebenssorgen ledig zu sein, erfüllte sich nicht. Das Werk hatte sich von vornherein ein falsches Ziel gesteckt. Es wollte dasselbe, was das Brockhaus'sche Konversationslexikon für die höher Gebildeten war, für weitere Volkskreise leisten. Das war vielleicht ein schönes, aber, zu jener Zeit wenigstens, ein illusorisches Ziel, weil in den Kreisen, für die das Werk bestimmt war, das Bedürfnis nach einem solchen Bildungsmittel kaum empfunden wurde. Fechner hatte seine Zeit und Arbeit umsonst geopfert. Obgleich dies sehr bald ersichtlich war, so führte er doch mit unentwegter Pflichttreue das Unternehmen zu Ende. Als bei dem Weggang W. Webers nach Göttingen im Sommer 1834 eine Deputation der philosophischen Fakultät bei ihm erschien und ihm mitteilte, die Zeit seines mühevollen Kampfes um die Existenz solle nun ein Ende nehmen, die Fakultät habe sich entschlossen, ihn zum ordentlichen Professor der Physik zu wählen, da erklärte er zunächst, wie mir ein Mitglied dieser Deputation, unser verstorbener Senior Drobisch, dereinst erzählte, er könne diese Wahl nicht annehmen, weil er sich durch die für das Hauslexikon übernommene Pflicht gebunden fühle. Erst auf dringendes Zureden seiner Freunde, zu denen ohne Zweifel auch der Verleger des Lexikons selbst, sein Freund Härtel, gehörte, entschloß er sich, der damals üblichen Form einer Meldung um die Stelle zu genügen, die er denn auch sofort erhielt.

    Aber von dem Augenblick an, wo er erreicht, was er erstrebt, eine unabhängige Stellung, die ihm zu eigener, selbständiger Arbeit freie Bewegung ließ, von diesem Augenblick an war seine Kraft gebrochen. Das Übermaß der Arbeit hatte sie erschöpft. Mit Mühe nur vermochte er seinen Vorlesungspflichten nachzukommen. Jahrelang zog sich dieser Zustand hin. In dieser Zeit war es, wo er, nach einer Aufgabe sich umsehend, die seinen Forschungstrieb befriedigen sollte, ohne ihm doch größere geistige Anstrengungen zuzumuten, zu denen er sich unfähig fühlte, auf das Gebiet der subjektiven Lichterscheinungen verfiel. So entstanden seine schönen Untersuchungen über die subjektiven Komplementärfarben, über das oszillierende und das farbige Abklingen der Nachbilder, über die Kontrastempfindungen, Arbeiten, auf denen heute noch die Forschung in diesen Gebieten weiterbaut. Für ihn selbst wurden aber diese Beobachtungen unheilvoll. Die allgemeine Erschöpfung seines Nervensystems hatte nun das dem beobachtenden Naturforscher unentbehrlichste Organ für ihre Symptome gefunden, das Sehorgan. Jetzt beginnt für ihn jene dreijährige Leidenszeit, wo er monatelang im finsteren, Zimmer zubringt, das er sich zuweilen durch einen geschwärzten Raum, in den er hineinblickt, noch mehr zu verdunkeln sucht, um dann um so mehr durch subjektive Lichterscheinungen gequält zu werden, vor denen kein Entfliehen möglich ist. Dazu macht ihn sein Zustand gegen jede äußere Einwirkung übererregbar. Tage hindurch lebt er einsam, abgeschieden selbst von seinen Nächsten. Die Ärzte wußten keinen Rat. Aber die Natur half sich selbst. Das erschöpfte Nervensystem ruhte sich aus, und als allmählich durch Einflüsse, die wir heute unbedenklich einer heilsamen Autosuggestion zuschreiben werden, auch das Sehorgan wieder dem Lichte sich öffnete, da fühlte sich Fechner wie neugeboren. Jenes erhöhte Lebensgefühl, das zumeist die Genesung nach schwerer Krankheit begleitet, bemächtigte sich auch seines geistigen Schaffens.

    Doch dieses Schaffen war nun ein anderes geworden. Der Naturforscher, der in müßigen Stunden zuweilen philosophischen Träumen nachhing, hatte sich in einen Philosophen vorwandelt. Die Ideen seiner neuen Philosophie hatten sich freilich längst in ihm geregt. Schon eine der frühesten seiner Mises-Schriften, die "vergleichende Anatomie der Engel" vom Jahre 1825, spielte mit ihnen in scherzhafter Form, die aber doch, wie er später selbst sagte, keineswegs überall bloß scherzhaft gemeint war. Zehn Jahre darauf hatte er dann in dem "Büchlein vom Leben nach dem Tode", künstlerisch vielleicht der vollendetsten unter allen seinen Arbeiten, die Anschauungen, die später der Zendavesta ausführte, in wesentlichen Punkten bereits vorausgenommen. Aber nun erst, in jener gehobenen Stimmung nach der schweren Krankheit, gestalteten sich seine Ansichten über Gott und Welt, über Diesseits und Jenseits zu einem zusammenhängenden Ganzen. In einer seiner letzten Schriften hat er, auf sein Leben zurückschauend, von sich gesagt: "Ich gehöre nicht zu der Zahl derer, denen der Lebensweg leicht gemacht war, finde aber, indem ich dessen ganzen Zusammenhang überblicke und überdenke, daß durch das Schlimmste für mich teils noch Schlimmeres in den Folgen erspart, teils Besseres in den Folgen vermittelt worden ist, und daß, hätte ich alles Gewünschte, was mir versagt war, erlangt, ich ärmer in wichtigeren Beziehungen geblieben wäre." Ich glaube, wir können noch mehr sagen: Wäre jene Katastrophe nicht eingetreten, die sein Leben gewaltsam in zwei Hälften schied, so würde er vielleicht seine physikalischen Arbeiten um einige weitere tüchtige Forschungen vermehrt haben. Aber was er heute für uns ist, würde er schwerlich geworden sein.