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Der Utilitarismus und der Wirtschaftsverkehr. Das deutsche Parlament. Deutsche Verfassung und deutsche Kultur. Entartung des Volks- in ein Parteiparlament. Die Nachwirkungen des Weltkrieges. Die utilitaristische Ethik als neuerweckte Moral. Die Ursachen der Weltkatastrophe. Die Wiedergeburt des deutschen Idealismus. Die deutsche Revolution.
 
 

Wenn diese äußersten Auswüchse einer unbeschränkten egoistischen Moral, die sich daneben mit der Schaustellung einer durch besondere Glaubensreinheit sich auszeichnenden Religiosität verbindet, heute verschwunden sind, so sind nun die Wirkungen des egoistischen Utilitarismus im kleinen, wie ich sie oben genannt habe, und auch sie nicht ohne anderweitige sittliche oder religiöse Beruhigungsmittel, weit verbreitete Erscheinungen geblieben. Es mag hier genügen, auf einige hinzuweisen, die der neuesten politischen Entwicklung angehören: auf die Wirkungen, die das Dogma von der Uniformität des Parlamentarismus ausgeübt hat als einer Einrichtung, welche vermöge der allgemeinen Gleichheit der Zivilisation überall von wesentlich gleicher Beschaffenheit sein soll. Hier kann Herbert Spencer als der führende Philosoph gelten. Für ihn besteht kein Zweifel, daß der englische Parlamentarismus die einzig konsequente und darum für die Zukunft allgemeingültige Form sei, in welcher das Prinzip der Volkssouveränität in seiner notwendigen Verbindung mit dem der Vertretung des Volkes durch ein Wahlparlament zur Verwirklichung gelangen könne. Daß das englische Parlament eine Geschichte hinter sich hat, die innerhalb keiner Nation auch nur in ähnlicher Weise dieselbe ist, kümmert ihn nicht. Und doch haben die Erfahrungen der letzten Vergangenheit einleuchtend gezeigt, daß gerade auf diesem Gebiet eine solche Übertragung unvermeidlich Änderungen herbeiführt. So ist der französische Parlamentarismus ein wesentlich anderer geworden als der englische, der italienische bietet wiederum seine eigenartigen Züge usw.. Die schädlichen Wirkungen des Strebens nach Uniformität mögen wohl in allen diesen Staaten sich geltend gemacht haben. Das krasseste Beispiel liefert aber hier offenbar das deutsche Reich, und das ist unzweifelhaft die Wirkung der eigenartigen Kultur, die die Folge der deutschen Geschichte und ihres Einflusses auf die Gegenwart und damit auf den Charakter der deutschen Volksart ist. Von dem deutschen Parlament kann man wohl sagen, daß es vermöge dieser Geschichte notwendig ein völlig anderes werden mußte als das seines englischen oder überhaupt irgendeines sonstigen Vorbildes. Was die deutsche Eigenart vor allem kennzeichnet, ist die große Mannigfaltigkeit gewesen, die die verschiedenartige Kultur der deutschen Stämme und die spezifisch politische Vergangenheit der verschiedenen staatlichen Ordnungen erzeugt. Dies hat bis in die Gegenwart ein Übergewicht des Einzellebens der deutschen Stämme über die Einheit des deutschen Volkes mit sich geführt. Wohl haben die Tage des beginnenden großen Kriegs vom August 1914 vorübergehend ein Gemeinschaftsgefühl hervorgebracht, das selbst in den Tagen der Freiheitskriege nicht erlebt war, aber es ist rasch genug vorübergegangen, um die alte Vielgestaltigkeit wieder herzustellen. Sie trat leider bald genug darin hervor, daß sich in dem deutschen Parlament von Anfang an niemals das gemeinsame Interesse des deutschen Staates zur Vorherrschaft erhob, sondern daß die Parteien die eigentlichen Mächte geblieben sind, die das staatliche Leben beistimmten und das Parlament in eine bloße Vielheit überlieferter Parteien verwandelten. Es ist oft genug darüber verhandelt worden, was denn eigentlich der Grund der deutschen Niederlage in diesem Kriege gewesen sei. Man hat diese und jene äußere Ursache dafür verantwortlich gemacht: die unzulängliche Vorbereitung, die Fehler der Regierung, die schwankenden Entschlüsse und den Eigenwillen des Kaisers usw.. Aber der tiefste Grund lag doch darin, daß das deutsche Parlament zu einem Nebeneinander sich bekämpfender Parteien wurde, das es zu einer Überordnung des Gesamtwillens über die Parteigegensätze nicht kommen ließ. Dies war aber eine spezifische Eigenschaft des deutschen Parlaments, in der es hinter den Volksvertretungen der gegen uns verbündeten Völker zurückstand. War es doch der an Zahl überwiegenden demokratischen Arbeiterpartei und zumeist auch den konfessionellen und kirchlichen Strömungen weit weniger um das Gesamtinteresse des deutschen Staates als eben um die Herrschaft im Staate zu tun. Selbstverständlich sollen diese Bemerkungen nicht gegen den Parlamentarismus überhaupt gerichtet sein, sondern nur gegen die Uniformität eines solchen, die vornehmlich in Deutschland seine Entartung zu einer Vertretung nicht des Volks, sondern der Parteien herbeigeführt hat. In dem letzten, die Zukunft der Kultur behandelnden Kapitel meiner Völkerpsychologie habe ich mit besonderer Rücksicht auf das deutsche Reich auszuführen versucht, wie etwa eine parlamentarische Volksvertretung beschaffen sein könnte, wenn sie nicht dem Prinzip der Uniformität, sondern umgekehrt dem der Verschiedenheit der nationalen Kulturen Rechnung tragen würde. (Bd. 10, S. 452.) Dann würde man hier neben dem aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Volkshaus ein Staatenhaus nicht entbehren können, da selbst noch die heutige republikanische Verfassung des Reichs eine Mehrheit nach gewissen Richtungen namentlich des inneren Verfassungslebens relativ selbständiger Staaten bewahrt hat; und als ein dritter parlamentarischer Körper sollte eine Vertretung der Hauptberufe, bei der Zeit alter Zeit lebendig gebliebenen Eigenart des Zusammenschlusses zu Berufsverbänden, als eine wichtige Ergänzung des parlamentarischen Lebens nicht fehlen. Einen ähnlichen Vorschlag hat schon Karl Binding in seiner kleinen Schrift über "Die staatsrechtliche Verwandlung des deutschen Reichs" (1919) gemacht; doch wirkte offenbar auch bei ihm das englische Vorbild des Dualismus von Ober- und Unterhaus nach, indem er Staats- und Berufsverband zu einer einzigen Körperschaft verschmilzt, ein Vorschlag, der mir den wesentlich verschiedenen Aufgaben beider zu widerstreiten scheint. Das Volkshaus dagegen würde als eine Vertretung des ganzen Volks durch Männer des allgemeinen Vertrauens vielleicht zweckmäßig bei uns jenes Volksreferendum ersetzen, dessen bedenkliche Seiten sich in der Schweiz deutlich offenbart haben. Die Volksmajorität klebt in der Regel am Hergebrachten, alles Ungewohnte widerstrebt ihr, mag es auch noch so zweckmäßig sein. So ist denn auch die Wahl von Persönlichkeiten des allgemeinen Vertrauens die einzig angemessene, nicht das Listensystem, das an die Stelle von wahren Volksvertretern unbekannte Parteiführer setzt. Darum konnte es in diesem Widerstreit der Parteien nicht ausbleiben, daß schließlich diejenige zur Herrschaft gelangte, die nach ihrer Zahl und Organisation die erste Stelle einnahm und die alle anderen um so mehr in den Hintergrund drängte, als es die Regierung selbst an einem planmäßigen und energischen Handeln fehlen ließ, weil auch ihr das alte Vorbild des englischen Parlamentarismus und mit ihm in wachsendem Maße das Streben nach Versöhnung mit dem führenden der Ententestaaten im Vordergrund stand. Wie sehr alle diese Motive von Anfang des Krieges an, ja im Grunde schon vor dem Krieg eine schwere Gefahr für die Zukunft des deutschen Reiches bildeten, das war einzelnen, die den regierenden und parlamentarischen Parteien näherstanden, schon lange bewußt, wie wir aus den Erinnerungen des Schöpfers und Organisators der deutschen Flotte, Tirpitz (1919), sehen. Ein hervorragender deutscher Historiker der Vergangenheit pflegte solchen Erscheinungen gegenüber das Wort im Munde zu führen, "es mußte so kommen, und es kam so". Es läßt sich vollgültig auf die Geschichte dieses Kriegs anwenden. Sein Ausgang ist eine notwendige Folge der Unzulänglichkeit der Regierung, daneben aber nicht zum wenigsten der Umwandlung des Parlamentarismus in einen Kampf der Parteien um die Herrschaft gewesen, und diese Momente zusammen haben zu dem widerstreitenden Ergebnis geführt, daß derjenige Staat seinen Feinden unterlag, der militärisch den Sieg errungen hatte: der deutsche.

Man hat im Hinblick auf dieses Ergebnis gesagt, dieser Krieg sei überhaupt kein Krieg, sondern eine Völkerrevolution gewesen. Dieses Wort hat sich vor allem nach den weiteren Folgen, die dieser Kampf der Völker mit sich führte, als vollkommen zutreffend herausgestellt. Die Not dieses Krieges ist allen europäischen Völkern gemeinsam, und selbst Amerika ist nicht ganz von ihr unberührt geblieben. Die erste Überhebung, in der sich die Rachegefühle unserer Feinde ergingen, und in denen namentlich die Franzosen schwelgten, beginnt aber bereits der Erkenntnis Platz zu machen, daß die wahnsinnigen Forderungen, die sie an das deutsche Volk gestellt, unerfüllbar sind, und daß sie als schwere Folgen auf sie selber zurückwirken. In gleichem Maße beginnt aber ein Geist des Friedens und der allgemeinen Herstellung geordneter Zustände wiederzukehren, der gebieterisch einem Zusammenarbeiten der Völker bei der neuen Ordnung zustrebt. Darum ist diese große Völkerrevolution noch nicht vorüber. Wir leben noch mitten in ihr, und je gewaltiger sie ist, um so mehr ist zu erwarten, daß sie einer Neugestaltung des politischen Lebens entgegenführt, innerhalb deren auch das deutsche Volk berufen ist, sich eine ihm gebührende Stellung in der europäischen Völkergemeinschaft zu gewinnen. Deshalb ist es verkehrt, unsere Zukunft nur im Lichte der betrübenden Zustände der Gegenwart zu sehen. Im Gegenteil, je gewaltiger die Umwälzung ist, die diese Revolution in der europäischen Kultur herbeigeführt hat und weiterhin herbeiführen wird, um so hoffnungsreicher dürfen wir in die Zukunft blicken, und um so mehr muß die deutsche Nation bestrebt sein, die ihm eigenen Volkskräfte für die Wiedergeburt der europäischen und vor allem seiner eigenen Kultur einzusetzen.

Worin aber bestehen diese Volkskräfte? Wenn man die Äußerungen liest, die allverbreitet in den Tagesblättern, in den Wahlprogrammen der verschiedenen Parteien und schließlich in den Auseinandersetzungen der Nationalökonomen uns entgegentreten, so könnte man glauben, sie bestünden in der möglichsten Betätigung desselben egoistischen Utilitarismus, mit dem wir in diesen Kampf der Völker eingetreten sind und der bis dahin bei ihnen wie bei uns gewaltet hat. Wir sollen gleich ihnen möglichst unsere wirtschaftlichen Interessen verfolgen und dadurch mehr und mehr die eigene Macht, die uns noch geblieben, zu heben und so die verlorene Geltung im Rat der Nationen wieder zu gewinnen suchen. Wenn man diese Äußerungen liest, So könnte man die Vorstellung gewinnen, der Staat sei lediglich eine Gesellschaft zur wechselseitigen Hilfe in der Erwerbung äußerer Glücksgüter, ein Schutzverband, der nichts ist als die Summe der einzelnen Menschen, aus denen er sich zusammensetzt. Daß es Güter der gemeinsamen Kultur gibt, und daß ohne diese Güter das Leben und Streben der einzelnen keinen höheren Wert hat, davon ist kaum irgend einmal die Rede. Die gegenwärtig herrschende Wissenschaft bestätigt, wo sie nur immer kann, diesen noch immer allverbreiteten Grundsatz der Bentham’schen Moral. Wir sollen mit anderen Worten möglichst nach den Grundsätzen handeln, von denen unsere Gegner bis dahin geleitet waren. Wenn das richtig wäre, so würden wir in der Tat nur mit trüben Aussichten in die Zukunft blicken können, und die Pessimisten unter uns würden wohl recht behalten, wenn sie überzeugt sind, daß es Jahrhunderte dauern kann, bis wir bei dem in Aussicht gestellten Ziele angelangt sind, ja es würde überhaupt zweifelhaft sein, ob wir dazu jemals gelangen könnten. Würde doch die Parteiherrschaft, zu der uns der unserer Geschichte und Volksart widerstrebende, von außen importierte Parlamentarismus geführt hat, ein fortwährendes Hindernis auf dieser Bahn bleiben, da uns unter seiner Einwirkung gerade das abhanden gekommen ist, was unseren Gegnern in diesem Kampf die Konzentration ihrer politischen Macht bewahrt hat: ein alle Parteiinteressen überwiegendes nationales Einheitsbewußtsein. Keine Erscheinung liefert für diese betrübende Tatsache ein sprechenderes Zeugnis als gerade die Geschichte der numerisch stärksten und darum machtvollsten unserer politischen Parteien: der Sozialdemokratie. In den außerdeutschen Ländern hat sie jedesmal dann ihren Einfluß verloren, wenn der Gedanke an das Interesse der Erhaltung der Macht der Nation in Frage kam. Bei uns ist in ihr die alte Tradition ihrer internationalen Mission allezeit erhalten geblieben, und sie hat daher fortan während dieser Jahre die Tendenz verfolgt, unserem nationalen Interesse möglichst entgegenzuwirken, in der Meinung, dadurch um so mehr ihre internationalen Ziele zu fördern. Auf diese Weise ist sie zu einer internationalen Partei geworden, die eigentlich nur noch in unserer eigenen Nation existierte und sich so dieser gegenüber mit innerer Notwendigkeit in eine antinationale umwandelte. So sind wir schließlich unterlegen, nicht weil uns unsere Gegner besiegten – davon ist bekanntlich bis gegen Ende des Krieges, wo dieser zersetzende Einfluß unvermeidlich in die Armee selbst eindrang, nirgends die Rede gewesen –, sondern wir sind geschlagen worden, weil die bei uns herrschende Partei planmäßig unsere staatlichen Kräfte untergrub, um sich selbst zur Herrschaft zu verhelfen, und eine notwendige Konsequenz davon war es schließlich, daß sich diese Partei und das sich ihr anschließende machtlose Parlament den schmählichen Waffenstillstands- und Friedensbedingungen fügten, unter denen sie den erstrebten Frieden allein gewinnen konnten.

Aber die Bäume wachsen bekanntlich nicht in den Himmel. Die naturnotwendige Reaktion gegen diesen drohenden Untergang ist freilich nicht von uns, sondern von unseren Gegnern ausgegangen. Nachdem diese ihren anfänglichen Haß durch immer mehr sich übersteigende Forderungen einigermaßen abgekühlt, wurden sie zu ihrem Schrecken gewahr, daß die zerstörenden Kräfte eines jahrelangen Krieges auch an ihnen nicht ohne nachhaltige Wirkungen vorübergegangen waren. Sie wurden von der gleichen Not, wenn auch nicht überall in dem gleichen Grad, ergriffen, die sie anfänglich nur uns Deutschen zu bereiten gemeint hatten. So ist es denn heute, wie man wohl sagen darf, zur allgemeinen Weltüberzeugung geworden, daß nur eine Regeneration an Haupt und Gliedern, deren alle europäischen Völker bedürfen, dem Übel gründlich steuern könne, in das sie nicht durch die Schuld eines einzelnen und wohl am wenigsten durch die des deutschen Volkes geraten sind. Denn niemand zweifelt mehr daran, daß dieser Krieg aller gegen alle, wie ihn dereinst der englische Philosoph Thomas Hobbes als den schrecklichsten aller Schrecken ersonnen hatte, zuerst von den außerdeutschen Nationen und darunter in erster Linie von der englischen und ihren führenden Staatsmännern geplant worden ist. So dringt denn auch mit unwiderstehlicher Macht allmählich überall die Überzeugung durch, daß, wie auf allen Teilnehmern dieses Kampfes die Schuld an seiner Entstehung, so auf allen die gleiche Pflicht zur Wiederherstellung eines dauerhaften Friedens ruht. Nur ein sinnloses Festhalten in ausgetretenen Bahnen kann aber heute noch glauben, mit wirtschaftlichen Verträgen und mit der stumpfsinnigen Pflege des von England aus über die Welt verbreiteten egoistischen Utilitarismus könne eine endgültige Besserung geschaffen werden. Denn eben dieser einseitig gepflegte und zu wachsender Stärke entwickelte Utilitarismus ist es, der schließlich der europäischen Welt dieses tragische Schicksal bereitet hat; und nur die Verbreitung einer diesen Egoismus von Grund aus beseitigenden Weltanschauung kann endgültig Hilfe schaffen. Hier aber ist es der unmittelbar nach den schweren Schicksalen des auf deutschem Boden wütenden dreißigjährigen Krieges in Deutschland geborene Idealismus, den zuletzt das 19. Jahrhundert noch vergeblich zu erneuern bemüht war, der der Zukunft die Wege zu weisen hat, auf denen die Hilfe aus dieser Not zu suchen ist. Daß sich das geschichtliche Leben in Gegensätzen bewegt, ist eines der wenigen Gesetze, welche die philosophische Betrachtung der Geschichte uns lehrt. So dürfen wir denn wohl auch hoffen, daß jene Regeneration der europäischen Welt, die wir heute erhoffen, nicht erst in einer fernen Zukunft liegt, sondern daß sie uns, je unhaltbarer die heutigen Zustände sind, um so näher bevorsteht. Trägt doch eben in der allgemeinen Not, die sich im Gefolge dieses Völkerkampfes verbreitet hat, dieser den Charakter nicht eines Krieges, sondern einer Revolution an sich. Nun pflegen sich Revolutionen zwar langsam vorzubereiten, jedoch um so schneller zu endigen, um neuen Ordnungen entgegen zu führen. Und hier ist es nun vor andern das deutsche Volk, das berufen ist, den Weg zu zeigen, auf dem diese Neuordnung entstehen muß.