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Herbert Spencer. Spencers utilitarischer Evolutionismus. Einfluß des Entwicklungsgedankens auf den egoistischen Utilitarismus.
 
 

Hier hat nun die neuere Entwicklungstheorie, wie sie sich bekanntlich von der Naturwissenschaft aus allmählich über alle Gebiete und insbesondere durch die moderne Soziologie verbreitete, eine folgenreiche Wendung in den Grundlagen und Folgerungen auch des egoistischen Utilitarismus hervorgebracht. Von dem Augenblick an, wo man eine Stufenfolge der Völker in der Ausbildung ihrer Zivilisationen anerkannte, konnte natürlich von einer Gleichheit derselben in den Ansprüchen an die Güter des Lebens im Sinne der Bentham’schen Moral nicht mehr die Rede sein, sondern es war eine notwendige Folgerung, daß auch jene Ansprüche sich abstufen sollten nach der erreichten Höhe der Kultur, und die letzte Konsequenz war es, daß das in seiner Zivilisation bei einem Maximum angelangte Volk über allen anderen den Vorzug behaupte. Hier ist nun nicht mehr Stuart Mill, der sich noch nicht zu diesem Gedanken erhoben hat, sondern der Hauptvertreter des Evolutionsprinzips in der neueren Philosophie, Herbert Spencer, der Führer des Utilitarismus in dieser neuen Form geworden. Er ist vielleicht nicht der hervorragendste, aber jedenfalls der einflußreichste und berühmteste Führer des neueren utilitarischen Evolutionismus. Ihm aber gilt es als selbstverständlich, daß die englische Nation die Repräsentantin dieser höchsten bis dahin erreichten Zivilisation sei, und daß sich nach ihrem Vorbild mit innerer Notwendigkeit alle anderen Völker in der Zukunft entwickeln werden. Daß er hierbei dieses Vorbild nach seiner eigenen Auffassung englischer Verhältnisse schildert, ist naheliegend, und ebenso, daß, wenn man sich diesen Standpunkt in eine andere Kultur übertragen denkt, derselbe wahrscheinlich ein anderer sein würde. Wir besitzen in der Tat ein Beispiel solcher Verschiedenheit in der Art, wie sich dieser Einfluß bei verschiedenen Völkern gestalten kann in den Äußerungen zweier Philosophen über eine und dieselbe Frage. Es handelt sich um das Problem der Erziehung. In einer der Altersschriften Kant’s, in denen bei ihm noch so manche Züge des banalen Rationalismus des 18. Jahrhunderts wiederkehren, meint er, da die Eltern ihre Kinder ohne deren Willen in die Welt gesetzt haben, so sei es auch ihre Pflicht, ihnen durch eine gute Erziehung ein möglichst glückliches Dasein zu verschaffen. Mit diesem Ausspruch möchte ich sicherlich nicht die von dem hohen Ernst sittlicher und zugleich religiöser Pflicht getragene Ethik Kant’s belasten; um so mehr bleibt sie ein Zeugnis der schädlichen Wirkungen eines egoistischen Utilitarismus, zu dem ja schon jener veraltete Rationalismus hingeneigt hatte. Ganz anders noch steht aber doch Herbert Spencer in seiner Soziologie dem gleichen Problem gegenüber. In einer seiner kleineren soziologischen Schriften meint er, die Kinder seien durch den Willen ihrer Eltern in die Welt gesetzt, folglich sei es dem Willen dieser Eltern anheimgegeben, wie und ob sie ihnen überhaupt eine Erziehung erteilen lassen, jedenfalls aber habe die Gemeinschaft oder der Staat dabei nicht drein zu reden. Vielleicht gibt es auch in England nicht viele, die diese Ansicht teilen. In den allgemeineren politischen Fragen ist die Meinung noch nicht verschwunden, daß die englischen Sitten und Institutionen maßgebend für alle Völker seien, gleichgültig wie sonst deren eigene Kultur beschaffen ist; ja noch mehr: bei diesen anderen Völkern und unter ihnen namentlich bei uns Deutschen hat die gleiche Überzeugung noch immer ihre Vertreter. Hier aber liegt dann die weitere Folgerung nicht mehr allzu fern, daß, wenn diese Völker die Initiative zur Nachahmung dieses Vorbildes nicht ergreifen sollten, schließlich der Nation, der nun einmal durch den Gang der Geschichte die Führerstellung angewiesen sei, das Recht zustehe, den erforderlichen Zwang auszuüben. Dann unterscheidet sich also dieser Einfluß des Entwicklungsgedankens auf den egoistischen Utilitarismus von den alten psychologischen und religiösen Beschwichtigungsmitteln wesentlich dadurch, daß er überhaupt nicht mehr auf sittlichem Gebiete liegt, sondern daß es sich bei ihm lediglich um eine Machtfrage oder bestenfalls um eine Nützlichkeitsfrage handelt. Doch muß anerkannt werden, daß auch diese philosophischen Beeinflussungen in dem praktischen Leben nicht wesentlich in Betracht kommen, sondern daß hier eigentlich immer noch die ursprüngliche Form, die ihnen Bentham gegeben hat, vielleicht mit dem vollen Bewußtsein ihrer Bedeutung, aber jedenfalls in ihrer instinktiven Befolgung die maßgebende geblieben ist. Hier gibt es zwei Wege, auf denen wir uns über die Folgen Rechenschaft geben können, die diese zunehmende Herrschaft des egoistischen Utilitarismus herbeigeführt hat. Den einen dieser Wege zeigen uns die Beispiele im großen, die uns hier vornehmlich in der Wirtschaftsgeschichte der Völker entgegentreten; der andere besteht in der Geschichte gewisser politischer Anschauungen im einzelnen, die die eigene nationale Kultur der Völker in den Hintergrund zu drängen und die allgemeine Kultur zu uniformieren bestrebt sind.