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Die Grundprobleme der Ethik. Individualismus und Kollektivismus. Hauptrichtungen der Ethik. Egoismus und Idealismus. Kampf des Egoismus mit dem Idealismus. Das demokratische System. Das System des Epikurs.
 
 

Die Frage, ob die Gemeinschaft früher als der einzelne sei und darum diesem die Normen vorzuschreiben habe, die für die Zwecke des Einzellebens maßgebend sind, oder ob der einzelne früher als die Gemeinschaft und darum diese sich nach den Zwecken zu richten habe, die für die Erhaltung und Förderung des Einzellebens nötig sind, steht am Anfang der Philosophie. Sie wird von der Sitte, die ursprünglich im Leben selbst aller Philosophie vorausgeht, im Sinne der unbedingten Überordnung der Gemeinschaft über den einzelnen und zugleich in dem der Übereinstimmung beider, der individuellen und der gemeinschaftlichen Lebenszwecke entschieden. Mit dem Zweifel an der Gebundenheit des individuellen Handelns an die Normen der Gemeinschaft und mit dem auf die Wiederherstellung der ursprünglichen Unterordnung des einzelnen unter den Gesamtwillen gerichteten Streben beginnt daher alle Philosophie als ein Streit dieser beiden Anschauungen, und um die Entscheidung dieses Streites bewegt sich im tiefsten Grunde die ganze Entwicklung derselben. Aber auf lange hinaus tritt dieses früheste Problem in den Hintergrund, indem die wechselnden Einflüsse der Kultur selbst zu den das menschliche Denken beherrschenden Problemen werden und die nach ihnen orientierten Anschauungen des Laufs der Dinge jenes Problem aller Probleme zurückdrängen, um dabei zugleich Motive hervorzubringen, die der subjektiven Überordnung des einzelnen über die Gemeinschaft derart das Übergewicht verschaffen, daß der letzteren höchstens ein beschränkter Umfang von Normen übrigbleibt, die der einzelne als objektiv maßgebend und darum als zwingend für ihn selbst anerkennt. Diese Anerkennung bewegt sich aber wieder bei den verschiedenen Individuen, da die Philosophie ein Ausdruck individueller Überzeugungen bleibt, innerhalb eines weiten Spielraums. Doch ist es eine Richtung, die in dem Fortschritt der Kultur unverkennbar infolge der Macht, welche die äußere, materielle Kultur gegenüber dem inneren Wert der Kulturgüter ausübt, die herrschende Bedeutung gewonnen und schließlich in der Gegenwart den das praktische Leben bestimmenden Weltanschauungen ihr Gepräge gegeben hat, dergestalt, daß man die Geschichte der Ethik nahezu als eine Geschichte der allmählichen Umwandlung des ursprünglich durch die Sitte die menschliche Gemeinschaft beherrschenden Gesamtwillens in eine ebenso unbedingte oder nur dürftige Reste des ursprünglichen Zustandes zurücklassende Herrschaft des Individualwillens bezeichnen kann.

Diese einseitige Richtung, welche die Ethik überhaupt, namentlich aber in den praktischen Fragen des Lebens durch Jahrhunderte hindurch einschlug, hat nicht zum wenigsten ihre Quelle darin, daß in der Wissenschaft wie im Leben die äußeren, auf die Beherrschung der Natur gerichteten Fortschritte der Kultur in dieser wieder die überwiegenden gewesen sind. Demzufolge hat auch die dem materiellen Fortschritt in erster Linie dienende Wissenschaft, die Naturwissenschaft, die philosophischen und mit ihnen die ethischen Richtungen bestimmt, während die daneben vorhandenen Interessen an den geistigen Gütern als für sich bestehende, darum aber auch im Grunde ethisch gleichgültige Werte betrachtet wurden. In nichts spricht sich wohl diese unabwendbare Macht, mit der sich im Lauf der Geschichte der Individualismus gegenüber der Anerkennung der notwendigen Überordnung der Gemeinschaft durchgesetzt hat, deutlicher aus als in der Verlegenheit, die es uns bereitet, wenn wir gegenüber der Selbstverständlichkeit, mit der heute der Individualismus seine Stellung errungen hat und fortan behauptet, einen entsprechenden allgemeingültigen Ausdruck für jene Überordnung der Gemeinschaft finden sollen. Würde doch für diesen Gegensatz der Begriff des Sozialismus an sich vielleicht der angemessenste sein. Aber wie schon Karl Marx und Friedrich Engels für die spezifische Richtung, die bei ihnen die sozialistische Tendenz gewonnen, diesen Ausdruck verwarfen, um in ihrem Manifest von 1848 dem Wort Kommunismus den Vorzug zu geben, so ist in der kurzen Zeit der Verkündung dieses Manifests verflossenen Zeit das Wort Kommunismus womöglich noch unhaltbarer geworden, weil es durch seine ausschließlich gegen den Kapitalismus oder die Vorherrschaft des Besitzes gerichtete Spitze einen zwischen den verschiedensten Bedeutungen schwankenden Inhalt gewonnen hat. So bliebe allenfalls noch das Wort Kollektivismus übrig, weil es in Wahrheit unter den zur Wahl gestellten Begriffen vielleicht am wenigsten verbraucht ist. Gleichwohl besteht die Gefahr, daß auch ihm dieses Schicksal in der Zukunft bevorstünde. Darum hat die Philosophie für den gleichen Gegensatz mit einem sicheren Instinkt die Bezeichnung herausgegriffen, welche nach derjenigen philosophischen Weltanschauung benannt ist, die zum erstenmal in der Geschichte diese unbedingte Überordnung der Gemeinschaft über die Einzelpersönlichkeit zum entscheidenden Ausdruck gehracht hat; das ist die platonische Ideenlehre, aus der in diesem wesentlichen Punkte der Idealismus in seinen Hauptgestaltungen hervorging und bis zum heutigen Tage diese Bedeutung bewahrt hat. Wohl hat es auch in der Geschichte des Idealismus nicht an Abweichungen gefehlt, die bestrebt waren, diese ursprüngliche Wurzel desselben in den Hintergrund zu drängen oder ganz zu beseitigen: so in dem ausschließlich nach seiner psychologischen Bedeutung orientierten Idealismus eines Berkeley oder in dem nach seiner transzendenten Metaphysik sogenannten transzendentalen Idealismus eines Kant. Aber durch diese vereinzelten Abweichungen konnte doch die Hauptbedeutung der platonischen Ideen, die eben in jener Überordnung besteht, wie sie eindringlich Plato’s Werk über den Staat verkündet, niemals aufgehoben werden. Darum sind für uns Individualismus und Idealismus die wahren Gegensätze geworden, um die sich heute noch der alte, dereinst zwischen der Sophistik und dem ursprünglichen Bekenntnis der sokratischen Schule entstandene Kampf bewegt. Denn dieser Kampf hatte in dem Streben dieser Schule nach der die ursprüngliche Sitte der Völker wieder belebenden Weltanschauung seine ursprüngliche und in den späteren Wiederholungen dieses Kampfes gegen den sophistischen Idealismus seine immer wieder sich erneuernde Quelle.

Der erste Schritt zu dem Siege, den der Individualismus über den Idealismus in der Weiterentwicklung der griechischen Philosophie gewonnen hatte, bestand in dem Übergewicht, das der Realismus der aristotelischen Ethik namentlich in der zur Herrschaft gelangten nikomachischen Ethik in der Folgezeit errang. Denn die Tendenz dieser Ethik liegt in der völligen Indifferenz gegenüber jenem Hauptmotiv des platonischen Idealismus. Mit Recht ist diese Tendenz eine rein empirische genannt worden, und in diesem Sinne kann wohl von ihr gesagt werden, daß sie den Staat zu den selbstverständlichen, von außen gegebenen, durch die Bedingungen des politischen Lebens entstandenen Gütern zählt, und daß daher Aristoteles, wenn er die eigene Arbeit des Menschen neben der Gunst der äußeren Bedingungen als ein wesentliches Hilfsmittel betrachtet, das zur Verwirklichung der Glückseligkeit diene, damit auch den platonischen Idealismus als eine letzte, aber jenseits der Ethik liegende metaphysische Voraussetzung festhält. Dagegen ist dem Wandel der Kultur, wie er vornehmlich auch in der Entwicklung der politischen Ordnungen zutage tritt, die Sittlichkeit selbst unterworfen, und es kann daher nicht davon die Rede sein, daß sie an sich bestimmte Normen enthalte, nach denen sich das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft dauernd zu richten habe. Greifen doch bei Aristoteles die ethischen Gegensätze des Guten und Schlechten auch in ihre Erscheinungen, wie die Herrschaft der Tyrannis und der Ochlokratie zeigen, überaus bedeutsam ein, so daß hier ein normativer Wert solcher Formen gegenüber der individuellen Ethik, in der für ihn der Wert der Ethik überhaupt besteht, nicht in Betracht kommen kann. Schritt für Schritt weiter rücken in der Geltendmachung dieses Standpunktes der Indifferenz des Sittlichen gegenüber den Zwecken der Gemeinschaft die späteren Schulen der griechischen Philosophie. So zunächst der Kynismus in dem rein negativen Verhältnis, das er der Ethik gegenüber dem gemeinsamen Leben durch den Standpunkt der relativen Gleichgültigkeit des politischen für den einzelnen anweist. Ihm folgt in der Erweiterung der Begriffe der Stoizismus, indem er zwei Begriffe als die Grenzpunkte der sittlichen Stufenreihe ansieht, in der sich das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, zu dem er gehört, ausprägt: die individuelle Persönlichkeit als Naturwesen auf der einen und die Gemeinschaft in ihrem allgemeinsten, die ganze Menschheit umfassenden Sinne auf der andern Seite. Wie daher nach ihm logisch der Einzelbegriff und der allgemeine Begriff des Seins einander fordern, so ethisch das Individuum und die Menschheit, in der sich das Ganze der Natur und mit ihm die Gottheit zur Einheit verbinden.

Erweitert sich so die aristotelische Auffassung in der Lehre des Stoizismus derart ins Unbegrenzte, daß damit zugleich die Forderung der Glückseligkeit als ein ganz den zufälligen schwankungen des Naturlaufs überlassender Bestandteil verschwindet, so wird vollends der Staat zu einem zufälligen Gebilde, und die Gemeinschaft bleibt nur in jenem höchsten Sinne bestehen, in welchem sie für die Beziehung des Menschen zum Menschen oder für die des einzelnen zur Menschheit ihre letzte Grundlage hat, die auch hier wieder eine metaphysische ist. Hat sich in dem Stoizismus das Sittliche selbst zu einem unbestimmten Begriff verflüchtigt, in welchem als der feste Punkt, der dem individuellen Handeln seine Ziele anweist, nur die Beziehungen der einzelnen zu einander übrig geblieben sind, so bringt nun demgegenüber das System Epikurs diesen als unvertilgbaren Rest zurückgebliebenen Individualismus unmittelbar und, darin dem Kynismus verwandt, als positive Forderung zur Geltung, indem es zu der Idee der individuellen Glückseligkeit als dem entscheidenden ethischen Grundbegriff zurückkehrt. In diesem Sinne greift es aus den Beziehungen, in denen im Zusammenleben der Menschen der einzelne zum einzelnen stehen kann, diejenige heraus, die in den Traditionen der griechischen Sitte sich allen Gemeinschaftsbegriffen gegenüber als eine dauernde und der Freiheit des einzelnen den unbeschränktesten Spielraum gewährende erhalten hat: die der Freundschaft des Menschen zum Menschen. Nicht mit der unbegrenzten Gesamtheit der Menschen, sondern mit der eng begrenzten, ihm gleich gesinnter in beglückender Übereinstimmung zu leben, ist ihm das Ziel menschlichen Strebens, und hier trifft ihm dieses Streben mit den Naturgesetzen zusammen, die sich in den konkreten Erscheinungen der Natur als die wirksamen Naturkräfte erweisen. So wird für Epikur die Naturphilosophie Demokrit’s zu der seine ethische Lebensanschauung ergänzenden und, wie man auch aus Demokrit’s uns erhaltenen ethischen Aussprüchen schließen darf, innerlich mit seiner hedonistischen zusammenhängenden Lebensauffassung. Denn unter diesem Gesichtspunkt ist nicht etwa, wie die überlieferte Geschichte der Philosophie anzunehmen pflegt, die Glückseligkeitslehre Demokrit’s eine zufällige Begleiterscheinung seiner Atomistik, sondern eine notwendige Anwendung der in dieser zum erstenmal zur Durchführung gelangten unbeschränkten Geltung des Naturbegriffs für das menschliche Leben.