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Max Heinze als philosophischer Kollege. Unbeschränkte Wahl der Vorlesungsthemata. Die Philosophiegeschichte als Einleitung in die Philosophie. Die Geschichte der Philosophie als Vorlesung. Allgemeine Bedeutung der Philosophiegeschichte. Die Geschichte der Philosophie und die Einzelwissenschaft. Bedeutung der griechischen Philosophie.


Am l. Oktober 1875 traten Max Heinze und ich als neu berufene Professoren der Philosophie bei der philosophischen Fakultät in Leipzig unser Amt an. Unsere philosophische Vergangenheit war eine sehr verschiedene. Heinze war ein Schüler Trendelenburgs und hatte sich von frühe an der Geschichte der Philosophie, insbesondere der antiken, gewidmet. Er hatte mit seltener Schnelligkeit die übliche Laufbahn des akademischen Dozenten zurückgelegt. Nachdem er sich in Leipzig habilitiert, war er innerhalb weniger Semester zuerst nach Basel, dann nach Königsberg berufen worden, um darauf endgültig dem Ruf nach Leipzig zu folgen. Daß Heinze in erster Linie die philologisch-historische Seite der Philosophie zu vertreten hatte, während mir die naturwissenschaftliche zugedacht war, lag schon in unseren wesentlich abweichenden Vorbereitungen zur akademischen Laufbahn begründet. Gleichwohl war es mir sehr willkommen, als mir mein neuer Kollege vorschlug, wir wollten uns durchaus nicht auf eine strenge Begrenzung der Fächer beschränken, sondern jeder solle nach freier Wohl die verschiedenen Gebiete in seinen Vorlesungen behandeln, so daß Heinze sowohl die Psychologie gelegentlich vortrage, wie es mir frei stehe, auch über Gegenstände zu lesen, für die er hauptsächlich berufen war. Mir war das namentlich deshalb willkommen, weil ich zwar eingehendere historisch-philologische Arbeiten in meinem Studienplan als zuweit abliegend von meinen sonstigen Lebensaufgaben nicht beabsichtigte, aber gleichwohl nur ungern darauf verzichtet hätte, die Geschichte der Philosophie in akademischen Vorlesungen zu behandeln. Bot sich doch auf diesem Wege, wie ich meinte, schon eine reiche Gelegenheit, in die geschichtliche Entwicklung der Philosophie einzudringen, ungleich mehr, als dies durch ein bloßes Privatstudium geschehen kann. Diese Vermutung hat sich mir im Lauf der Jahre vollauf bestätigt. Bereits in meinem 3. Leipziger Semester kündigte ich, dem Beispiel zahlreicher Dozenten folgend, die Geschichte der Philosophie in einer einzigen Vorlesung an, erkannte aber sofort, daß diese Stundenzahl unzulänglich sei, wenn man in freiem Vortrag die Aufgabe bewältigen und zugleich einen wünschenswerten Wechsel der Behandlung bei der Wiederholung des gleichen Themas eintreten lassen wollte. Bietet Sich doch dieser von selbst dar, da ein erneutes Studium immer auch Veränderungen der Darstellung mit sich führt. Ich empfand daher immer mehr, wie hier die Geschichte der Philosophie als Gegenstand akademischer Vorlesungen einen großen Vorzug gegenüber den andern sogenannten systematischen Fächern besitzt. Entbehren auch diese selbstverständlich einer solchen Modifikation infolge des Fortschritts der betreffenden Wissenschaft wie der eindringenderen Studien des Vortragenden niemals, so bleiben Sie doch weit mehr an einen endgültig bestehenden Stoff gebunden, weshalb selbst die Psychologie trotz der großen Veränderungen, die sie in ihrer heutigen Gestalt als eine verhältnismäßig neue Wissenschaft erfahren hat und noch fortwährend erfährt, davon kaum eine Ausnahme macht. Daran ist zugleich der weitere Vorteil gebunden, daß es in Anbetracht des ungeheuren Umfangs der Geschichte dem Dozenten hier in viel höherem Grade als bei andern Gebieten frei steht, in den verschiedenen der gleichen Periode gewidmeten Wiederholungen bald die eine bald die andere Seite der einzelnen Richtungen der philosophischen Entwicklung abwechselnd in den Vordergrund zu stellen. Das ist ein Vorzug, der dem Dozenten selbst ebenso wie den Zuhörern zustatten kommt, die darum, wie ich beobachtet habe, hier weit häufiger als bei andern Gegenständen die gleiche Vorlesung in deren Wiederholungen zu besuchen pflegen, ein Erfolg, der wiederum eine anregende Wirkung auf den Vortragenden ausübt. So kam es, daß im Laufe der Zeit die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, also über das Thema, das gerade den in meinen eigenen Werken behandelten Gegenständen am fernsten lag, mir die liebsten unter allen meinen akademischen Vorlesungen geworben sind.

Zu diesen mehr subjektiven Vorzügen, welche die Geschichte der Philosophie als akademischer Unterrichtsgegenstand mit sich führt, kommen nun aber objektive, die namentlich bei freiem Vortrag einem dem Fortschritt der Studien oder der Wahl des Vortragenden überlassenden Wechsel sich einstellen und die bei der Gebundenheit an ein ausgearbeitetes Heft mehr oder minder verloren gehen. Ein erster besteht darin, daß die Entwicklung des philosophischen Denkens allein in ihrer Geschichte mit voller Deutlichkeit hervortritt, indem diese die Abhängigkeit der späteren Gestaltungen von den vorangegangenen ebenso in den allgemeinen Richtungen wie in den Beziehungen der einzelnen bestimmte Weltanschauungen vertretenden Denker zu ihren Vorgängern zutage treten läßt. Dadurch bietet die Geschichte die wirksamste Berichtigung des aus den dogmatischen Gebieten leicht entspringenden Vorurteils, ein fest gegebener Zustand sei der einzig mögliche und endgültig erreichte, oder sie widerlegt mindestens jene weit verbreitete Bevorzugung der Gegenwart vor der Vergangenheit, die aus einer ungerechtfertigten Übertragung gewisser äußerer Fortschritte der Kultur, wie der technischen Hilf mittel, des wirtschaftlichen Verkehrs usw. auf die geistigen Werte des Lebens entspringt, während doch diese zwar mit jenen in einem gewissen Zusammenhang stehen, aber darum keineswegs mit ihnen unbedingt zusammengehen. Darum ist gerade dies ein besonderer Vorzug der Philosophiegeschichte, daß sie der durch andere Gebiete geschichtlicher Entwicklung allzu leicht erweckten Vorstellung eines unumschränkten Fortschritts der Kultur entgegenwirkt, eine Vorstellung, die an sich ebenso verkehrt ist wie die Hypothese eines Rückschritts derselben. Beide sind eben Erzeugnisse einer einseitigen Betrachtung der Dinge, die niemals einer allseitigen Würdigung der Kultur gerecht wird.

Ein zweiter Vorzug hängt mit diesem nahe zusammen. Er ist aber, wie dieser auf die Vergangenheit, so auf die Zukunft gerichtet. Zeigt jener, daß der Philosophie in allen Stadien, die sie bis dahin zurückgelegt, selbst in solchen, denen man, wie gewissen von der Beharrungstendenz religiöser Anschauungen beeinflußten Epochen, eine relative Stabilität zuzuschreiben pflegt, doch in Wahrheit nicht minder wie andern Gebieten eine innere, oft sehr bedeutsame Entwicklung nicht fehlt, so bildet ein augenfälliges Beispiel des hier durch die Vermengung der religiösen und anderer Kulturmotive mit den philosophischen Anschauungen verschuldeten falschen Gegensatzes das Verhältnis, das man der sogenannten scholastischen Philosophie gegenüber derjenigen der Renaissancezeit anweist, während doch die Motive, die diese letztere bestimmen, bereits nach allen ihren Richtungen in der Entwicklung jener sich vorbereiten. Gerade in der Philosophie ist aber, wie Leibniz sich ausdrückte, zu jeder Zeit die Gegenwart bereits erfüllt mit der Zukunft; doch gerade dadurch, daß diese Zukunft in ihr immerhin erst vorbereitet, noch nicht erreicht ist, empfängt sie ihr eigentümliches Gepräge. Daß dieses Motiv eines jeder endgültigen Abgeschlossenheit widerstrebenden Werdens in ihr weit mehr hervortritt als in irgendeiner andern Seite der geistigen wie der materiellen Kultur, dies hängt aber sichtlich mit der freien Bewegung des Geistes zusammen, die in ihr ungleich weniger durch äußere Bedingungen gehemmt ist als in andern Gebieten, während doch jeder Fortschritt innerhalb dieser letzteren auf die philosophischen Gedankenentwicklungen zurückwirkt und sie dann zumeist wiederum über die Schranken des Erreichten in den Vorausnahmen der Zukunft, die allezeit offen stehen, hinausreicht.

Damit hängt endlich ein drittes Moment zusammen, vielleicht das wichtigste, das der geschichtlichen Betrachtung gegenüber den in der Philosophie selbst niemals einer relativen Beharrungstendenz ganz entbehrenden systematischen Gebieten eigen ist. In diesen ist im allgemeinen das System ursprünglich das Werk eines einzelnen Denkers, in welchem, mag er auch noch so sehr von der philosophischen Vergangenheit und von den Kulturbedingungen der Zeit abhängig sein, doch eben jene Abgeschlossenheit fehlt, die dem System mehr oder minder eigen ist. Denn in der Philosophie wie in der Dichtung und in dem Kunstwerk ist es stets der einzelne, der, wenn er nicht unmittelbar der Schöpfer des Ganzen ist, doch mindestens die Teile, die er vorfindet, zu einem Ganzen zusammenfaßt, weil dieses ein individuelles Selbstbewußtsein als eine der Einheit jenes Ganzen entsprechende subjektive Einheit des Denkens voraussetzt. In diesem Sinne hat jedes philosophische System selbst den Charakter eines Kunstwerks, das allerdings mehr als andere Werke der Kunst die Spuren kollektiver Kräfte der nationalen Gemeinschaft, auf der es ruht, an sich zu tragen pflegt, aber zu seinem endgültigen Abschlusse der schöpferischen Tätigkeit der individuellen Persönlichkeit nicht entraten kann. Hier ist es eben die geschichtliche Entwicklung, in der sich mehr als in irgendeinem andern Erzeugnis des menschlichen Geistes jener Zusammenhang zwischen Gemeinschaft und Individuum, auf dem alles geistige Leben ruht, am deutlichsten ausprägt.

Zu diesen allgemeinen Bedingungen kommt schließlich noch ein besonderes Motiv, das die Geschichte der Philosophie mehr als die aller andern Gebiete in nähere Beziehungen zu der allgemeinen wissenschaftlichen Entwicklung bringt. Es besteht in ihrer spezifischen Affinität zu der Gesamtheit der einzelnen Wissenschaften, deren allgemeinster Ausdruck sie sein muß, wenn sie ihrem Beruf gerecht werden soll. Denn die Philosophie ist nicht bloß, wie etwa die Kunst im engeren Sinne dieses Worts oder das religiöse Bewußtsein, ein der Wissenschaft parallelgebendes Erzeugnis ihrer Zeit, sondern sie ist selbst eine Wissenschaft, in der sich, weil sie die allgemeinste ist, der gesamte wissenschaftliche Zustand eines Zeitalters spiegelt. In diesem Sinne ist sie die Vertreterin einer Geschichte der Wissenschaft überhaupt. Mag auch die besondere Geschichte einer Einzelwissenschaft eine dieser zufallende Aufgabe sein, so muß sich diese doch, abgesehen von einzelnen wichtigen Einflüssen speziellerer Art, ein Eingehen auf das allgemeine Problem des wissenschaftlichen Denkens in seinem ganzen Umfange versagen, da die volle Bewältigung dieses Problems eine Aufgabe ist, die schließlich auch die Philosophie immer nur teilweise zu leisten vermag. Denn eben darin ist auch sie ein Spiegelbild des Geistes der Zeit, daß in ihrer Geschichte naturgemäß jeweils diejenigen Wissenschaften im Vordergrund stehen, die für diesen Geist der Zeit besonders kennzeichnend und deshalb für die spezifische Gestaltung der anderen Einzelwissenschaften bestimmend sind. Diese Eigenschaft, Stellvertreterin einer allgemeinen Geschichte des wissenschaftlichen Denkens zu sein, tritt besonders deutlich dann zutage, wenn wir uns innerhalb der Hauptepochen dieser Geschichte die Richtungen des wissenschaftlichen Denkens vergegenwärtigen, die uns als die jeweils den Geist der Zeit beherrschenden entgegentreten. So bildet überall der Übergang des mythologischen in das begriffliche und damit in das wissenschaftliche Denken den Anfang der Philosophie, die auf dieser Stufe mit dem Anfang der Wissenschaft überhaupt zusammenfällt. Innerhalb der abendländischen Philosophie ist es die der Griechen, in der dieser gemeinsame Ursprung der Philosophie und der Einzelwissenschaften, begünstigt durch den raschen Übergang des mythologischen in das begriffliche Denken, besonders deutlich sich ausprägt. Vermittelnd zwischen Mythus und Wissenschaft steht die Kunst, die auf der einen Seite dem mythologischen Denken ihre Motive entnimmt, auf der andern als freie Schöpfung der Phantasie das wissenschaftliche Denken in den Formen anschaulicher Gestaltungen vorausnimmt, — eine vermittelnde Stellung, die deutlich darin zutage tritt, daß die beginnende Wissenschaft, wo sich ihr die Hilfe der Begriffe versagt, oder wo diese ihrerseits der Hilfe der Anschauung nicht entraten können, den künstlerisch gestalteten Mythus als Ergänzung und Stellvertretung verwendet. So bieten sich wieder in der griechischen, aber nicht minder in eigenartiger Form in der indischen Philosophie zuerst in enger Verbindung mythologisch-begrifflicher Gestaltungen, dann in einem Nebeneinander beider Bestandteile stetige Übergänge, die uns den Ursprung der Philosophie als Wissenschaft aus dem Mythus vor Augen führen. Hier vor allem ist für uns die Entwicklung des griechischen Denkens von seinen Kosmos-logischen Anfängen an über Platos Vermittlung zwischen Wissenschaft und künstlerischer Ergänzung durch mythologische Dichtung bis zur strengen wissenschaftlichen Form bei Aristoteles und seinen Nachfolgern ein typisches Beispiel und Vorbild der Entwicklung. Sie ist es auch insofern, als in ihr bereits die Hauptrichtungen zur Ausbildung gelangt sind, die die späteren Gestaltungen der Philosophie wie der hauptsächlichsten Einzelwissenschaften bestimmt haben.

Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, darüber eingehendere Rechenschaft zu geben, wie ich im Laufe einer langen Reihe von Jahren, in denen ich in Leipzig die Geschichte der Philosophie vortrug, diesen mir von Anfang an vorschwebenden Aufgaben nachzukommen versucht habe; aber ich darf wohl in einigen kurzen Umrissen die Gesichtspunkte hervorheben, nach denen ich schließlich in der letzten Gestalt, die diese Vorträge beim Abschluß meiner akademischen Tätigkeit gewonnen, den umfangreichen Stoff zu gliedern versuchte. Diese Übersicht wird zugleich deutlich machen, wie auf diese Darstellung in fortschreitendem Maße meine sonstigen mehr systematischen Arbeiten, insbesondere die historischen Studien zur Logik auf der einen und zur Völkerpsychologie auf der anderen Seite, von Einfluß gewesen sind. Dabei sind es hauptsächlich die Anfänge und das vorläufige Ende dieser Geschichte, auf die ich eingehen werde: die Anfänge, weil bei ihnen die Mannigfaltigkeit der Faktoren, aus denen sich in jedem Zeitalter der allgemeine Charakter der Philosophie als ihrer aller Resultante zusammensetzt, deutlich hervortritt; das bis dahin erreichte Ende der Philosophie, weil es am unmittelbarsten die Aufgaben der nächsten Zukunft erkennen läßt.