39.
Studierende als Teilnehmer und Mitarbeiter des Instituts. Emil Kraeplin, Alfred Lehmann und Mackeen Cattell. Die "Philosophischen Studien". Die "Psychologischen Studien".

Mit der räumlichen Erweiterung des Instituts hat selbstverständlich auch die Teilnahme der Studierenden sowie der älteren Mitarbeiter gleichen Schritt gehalten, oder, wie man es wohl zutreffender ausdrücken müßte, diese weitere äußere Ausgestaltung ist den Bedürfnissen gefolgt, die durch die Zunahme der Teilnehmer an seinen Übungen und Arbeiten entstanden. Von den drei bis vier Arbeitsgenossen der ersten Semester ist Sie allmählich auf 30 bis 40 angewachsen, von denen freilich nur eine kleinere Zahl selbständige Arbeiten ausführte, während die meisten nur durch Teilnahme an den von den Assistenten geleiteten Einführungskursen und als Versuchspersonen bei den solche fordernden Arbeiten einen genaueren Einblick in die Psychologie zu gewinnen suchten, als ihn die theoretische Vorlesung trotz der begleitenden Demonstrationen und Experimente zu gewähren vermochte. Die Mehrzahl der so Teilnehmenden gehörte von Anfang an zu dem Kreise der Studierenden der Mathematik und Naturwissenschaften, zu denen dann noch einzelne der an der Leipziger Universität ziemlich zahlreichen Pädagogen hinzukamen. Daneben bildeten besonders in den beiden ersten Jahrzehnten eine wachsende Zahl von Ausländern einen erheblichen Bestandteil meist bereits fortgeschrittener junger Gelehrter, die, nachdem sie an einer ihrer heimischen Hochschulen ihre Studien beendet, sich die experimentelle Psychologie zu eigen machen wollten. In erster Linie hat hier Amerika, wo das neue Gebiet einen besonders fruchtbaren Boden fand, wie sich dies in der Gründung der dort entstehenden zahlreichen Institute zeigte, in zweiter haben die Balkanländer und Rußland ein erhebliches Kontingent zu den Mitgliedern geliefert. Es würde zu weit führen, hier auch nur diejenigen unter meinen Mitarbeitern zu nennen, die sich durch besonders wertvolle Arbeiten ausgezeichnet haben. Allein die drei frühesten dieser meiner Arbeitsgenossen möchte ich anführen, die der experimentellen Psychologie auch in ihrem späteren Beruf, direkt oder in ihren Anwendungen, treu geblieben sind, und deren Teilnahme in eine Zeit zurückreicht, in der das Institut noch auf zwei bis drei kleine Zimmer beschränkt war und als mein Privatunternehmen der offiziellen Anerkennung von seiten der Universität entbehrte. Sie sind: Emil Kraepelin, der berühmte Münchener Psychiater, der in den letzten Jahren die Gründung eines umfassenden deutschen psychiatrischen Forschungsinstituts in die Wege geleitet hat, Alfred Lehmann, der Vertreter der experimentellen Psychologie an der dänischen Universität in Kopenhagen, und James Mackeen Cattell, Professor der experimentellen Psychologie an der Columbia-Universität in Amerika. Kraepelin hat bis zum heutigen Tage an der psychiatrischen Klinik eine psychologische Abteilung beibehalten und in dieser eine Reihe experimenteller Methoden zur Anwendung gebracht, in denen er die für die praktische Anwendung des psychologischen Experiments unerläßlichen Vereinfachungen und spezifischen Ausgestaltungen einführte, Vorbilder, wie sie in den in neuester Zeit vielfach geübten Arbeiten zur Erforschung der individuellen Begabung und Leistungsfähigkeit teils befolgt teils nach verschiedenen Richtungen ausgestaltet worden sind. Alfred Lehmann hat sich eine besondere Domäne experimenteller Forschung in seinen umfassenden Untersuchungen über die Veränderungen der Herz-, Atmungs- und Blutgefäßinnervation in den mannigfaltigsten Gefühls- und Affektzuständen geschaffen, die für die gesamte Gefühlspsychologie von epochemachender Bedeutung sind. Cattell hat von Anfang an den zeitlichen Verlauf der psychischen Funktionen zu seinem Hauptthema gewählt; er hat ebenfalls schon in seiner Leipziger Zeit eine Fülle von Material in dieser Richtung gesammelt, das die ersten Grundlagen für alle späteren Arbeiten aus dem Gebiet der chronometrischen Psychologie gebildet. Cattell ist zugleich mein erster Assistent gewesen. In den ersten Jahren entbehrte ich eines solchen überhaupt, und selbst mit einem Institutsdiener, mit dessen Pflichten einer der Universitätsaufwärter betraut wurde, war es nur kümmerlich bestellt. Da trat eines Tages Cattell an mich heran und erklärte mit bekannter amerikanischer Entschlossenheit: "Herr Professor, Sie bedürfen eines Assistenten, und ich werde Ihr Assistent sein!" Er versah dieses Amt in der Tat, natürlich unentgeltlich, bis die Universität durch die offizielle Anstellung eines besoldeten Assistenten helfend eingriff.

Als ich mich in der Zeit, in der das psychologische Institut festere Wurzeln zu fassen begann, nach einer Zeitschrift umsah, die zur Veröffentlichung der in demselben entstandenen Arbeiten geeignet sei, war ich zunächst in einiger Verlegenheit. In einem der physiologischen Organe würden diese Arbeiten des zwischen ihnen bestehenden Zusammenhangs durch die Fülle des andersartigen physiologischen Inhalts verlustig gegangen, und noch mehr würde das bei der Einsendung an eine der namentlich in jener Zeit den verschiedensten Richtungen der Philosophie ihre Spalten öffnenden philosophischen Zeitschriften geschehen sein. Ich entschloß mich daher, die Arbeiten des Instituts in besonderen Heften herauszugeben und wählte für diese den Titel "Philosophische Studien". Philosophische, nicht psychologische nannte ich sie, weil es nötig schien, auch einzelne, namentlich von mir selbst geschriebene Abhandlungen aufzunehmen, die teils der theoretischen Begründung des Standpunktes dieser Arbeiten teils der zusammenfassenden Übersicht bestimmt waren. Zugleich war aber dieser Titel ein Kampftitel. Denn die experimentelle Psychologie begegnete in den ersten Jahren des bestehens unseres Instituts lebhaften Angriffen von seiten mancher Philosophen, denen freilich das damals noch verbreitete Mißverständnis zugrunde lag, diese neue Psychologie wolle auf einem Umwege den alten, durch das epochemachende Werk Albert Lange’s gründlich abgefertigten Materialismus wieder einführen, jedenfalls aber handle es sich hier um physiologische, nicht um eigentlich psychologische Studien. Mit dem Titel "Philosophische Studien" sollte daher unzweideutig ausgedrückt werden, daß diese neue Psychologie den Anspruch erhebe, ein Teilgebiet der Philosophie zu sein. So sind denn vom Jahre 1883 an bis 1902 20 Bände dieser Veröffentlichungen erschienen. Sie würden natürlich mit demselben Recht "Psychologische Studien" genannt worden sein, um so mehr, da die andersartigen Inhalte, die, soweit sie von mir selbst herrührten, später in dem 2. Band meiner "Kleinen Schriften" abgedruckt worden sind, nur einen wenig umfangreichen Teil des Gesamtinhalts ausmachten. Als daher die Absicht, von nun an die Arbeiten des Instituts in einer der inzwischen ins Leben getretenen psychologischen Zeitschriften zu veröffentlichen, aus ähnlichen Gründen wie die frühere, eine der älteren philosophischen Zeitschriften zu wählen, sich als unzweckmäßig erwies, wurde für die Fortsetzung dieser Veröffentlichungen der veränderte Titel gewählt. Vom Jahre 1906 an bis zu ihrem Abschluß im Jahre 1917, der Zeit meines Rücktritts vom Lehramt, sind von diesen "Psychologischen Studien" 10 Bände erschienen.