33.
 
 
Das Titelwesen in der Schweiz. Der gesellige Verkehr der Schweizer und der Deutschen. Die wechselnde Herrschaft der Parteien. Der Strauß-Putsch und seine Folgen. Der Einfluß der Volksschullehrer. Der Volksschullehrer als Erziehungsdirektor. Die Macht der Tradition und die Anpassung an neue Bedürfnisse. Das schweizerische Erziehungswesen und die deutschen pädagogischen Zukunftsprogramme. Pädagogische und wissenschaftliche Begabung. Das pädagogische Studium. Das Frauenstudium in Zürich. Allgemeiner Charakter der schweizerischen Studierenden.
 
 

Die Universität Zürich glich zu meiner Zeit in ihren wesentlichen Einrichtungen unseren deutschen Hochschulen, aber es gab doch einige charakteristische Unterschiede. Ein solcher bestand hauptsächlich in der Stellung der Extraordinarien. Diese waren nicht, wie bei uns, ein im ganzen außerhalb der Fakultät stehender Teil der Lehrerschaft, sondern sie waren im Grunde bevorrechtete Mitglieder der Fakultät, hatten in ihr Sitz und Stimme und wechselten mit den Ordinarien im Dekanat. Sie bezogen allerdings einen geringeren Gehalt, hatten aber dafür auch weniger Vorlesungen zu halten. Dies erklärt sich daraus, daß sie meist Eingeborene waren, die neben ihrem Lehrberuf noch andere bürgerliche Stellungen, namentlich die von Erziehungsräten einnehmen konnten und als solche natürlich den zum Teil aus dem Ausland berufenen Ordinarien überlegen waren. So beantragte einer dieser Extraordinarien während meiner Anwesenheit für mehrere angesehene Bürger der Stadt die Doktorwürde honoris causa, obgleich er selbst nicht einmal den Doktortitel hatte. Letzteres konnte um so leichter vorkommen, als der Schweizer auf Titel, die, wie es doch auch in vielen Fällen von dem Doktortitel gilt, eine reale Bedeutung im Grunde nicht besitzen, keinen Wert legt. Doch unterscheidet sich gerade hierin Zürich von andern Schweizer Universitäten, namentlich von Basel, wo der Doktortitel ebenso wie bei uns die Vorbedingung jeder akademischen Würde ist. Auch würde man irren, wenn man etwa glauben wollte, der Schweizer lege überhaupt wenig Wert auf Titel. Wo dieser irgend eine bürgerliche Stellung bezeichnet, da schätzt er ihn mindestens ebenso hoch, als dies bei uns zu geschehen pflegt, und der Titel bleibt ihm, auch wenn er das Amt längst nicht mehr hat. Titel wie Nationalrat, Erziehungsrat, Professor bilden einen Charakter indelebilis. Wo ein anderes Amt nicht zur Verfügung steht, tritt die militärische Stellung dafür ein. Der Wirt auf Rigi-Scheidegg, mit dem ich infolge meiner häufigen Besuche auf dieser Höhe befreundet war, würde es wahrscheinlich übel genommen haben, wenn man ihn "Herr Müller" genannt hätte, er hieß der "Herr Oberst", obgleich die Jahre längst vorbei waren, wo er als Oberst bei der Miliz tätig gewesen. Daneben gibt es freilich Hofräte und Geheimräte in der Schweiz ebensowenig wie Orden, wenn man nicht die Auszeichnungen, die jemand als Schützenkönig empfangen, hierher rechnen will. Ein gewisser Zwiespalt der Sitten war nun allerdings schon durch die Einwanderung fremdländischer Elemente namentlich an der Universität eingetreten, wo die aus Deutschland Berufenen damals bereits eine nicht geringe Zahl ausmachten.

Besonders beeinflußte dies auch die Formen des geselligen Verkehrs. Einen solchen nach dem Vorbild des in unseren akademischen Kreisen üblichen pflegten fast nur die eingewanderten Deutschen untereinander. Der Schweizer kannte in den aristokratischen Kreisen, die im übrigen zu meiner Zeit als die Beherrscher einer vergangenen Generation meist ein verborgenes Dasein führten, nur den engeren Familienverkehr. Dieser vereinigte in regelmäßigen Zusammenkünften die Mitglieder der Familie, bei welchen Zusammenkünften es ungemein langweilig herging, an denen aber mit der Treue festgehalten wurde, mit der der Schweizer die Tradition pflegt. Zu meiner Zeit hatten freilich die politischen Wandlungen hierin wie in manchem andern vieles verändert. Die Herrschaft bestimmter Geschlechter hatte infolge der Demokratisierung völlig aufgehört. Es gab nur noch eine wechselnde Herrschaft der Parteien, nicht der Stände. Das hatte auch im Verhältnis der Universität zum Staat manches verändert. Die ganze Verwaltung lag in den Händen der Bürger als solcher, nicht bestimmter Berufe, zu denen die Universität vorbereitet hatte. Die leitende Stellung in irgendeinem Gebiet konnte ebensogut jemand einnehmen, der niemals eine Universität gesehen hatte, wie der eigens zu ihr vorbereitete, und aus einem beliebigen politischen Amt konnte der einzelne in ein anderes übergehen. So habe ich es erlebt, daß einmal der Erziehungsdirektor bei einer nächsten Wahlverteilung zum Chef der Polizei wurde. Daß danach ein bei uns an eine juristische Vorbildung gebundenes Beamtentum völlig zurücktrat, versteht sich von selbst. Jeder konnte alles werden. Es kam nur auf das Vertrauen der Mitbürger oder des engeren Kreises an, die durch die Wahl über das Amt verfügten. Unter diesen Umständen war es begreiflich, daß ein in abgemessenen Kreisen sich bewegender geselliger Verkehr, wie ihn die alte aristokratische Gesellschaft gekannt hatte und noch in spärlichen Trümmern weiter pflegte, in dieser neuen Gesellschaft nicht mehr existierte. Man traf sich im Wirtshaus, am Stammtisch mit Gleichgesinnten, bei Volksfesten, besonders aber auch in Vereinen, unter denen die wissenschaftlichen keine geringe Rolle spielten. Am bemerkenswertesten war unter diesen die antiquarische Gesellschaft, in der ich ein häufiger Gast war. Hier lernte ich Gottfried Keller kennen, der freilich damals gerade jene Ruhepause zwischen seinen literarischen Schöpfungen erlebte, in der er seinem Amt als Staatsschreiber des Kantons Zürich mit bewundernswerter Pflichttreue oblag. Ebenso traf ich hier noch den bereits hochbetagten Ferdinand Keller, den Entdecker der Pfahlbauten.

Diese Verhältnisse brachten es mit sich, daß jeweils die herrschende Partei vermöge der ihr eigenen Lebensgewohnheiten der Gesellschaft ihre Physiognomie gab. Aber latent bestanden daneben immer zugleich die andern Parteien weiter, die dereinst einmal geherrscht hatten und möglicherweise in der Zukunft wieder einmal zur Herrschaft gelangen konnten. Ich selbst wurde unter der Herrschaft der Sozialdemokratie berufen, und der Erziehungsdirektor, der mich berief, war ein ehemaliger Volksschullehrer, der dieser Partei angehörte. Unter ihrer Herrschaft waren freilich infolge der Steuerschraube, die sie an die größeren Vermögen anlegte, einzelne alte Patrizierfamilien nach dem benachbarten Zug ausgewandert; aber es gab noch immer Mitglieder aller Parteien, die einen künftigen Wechsel in rückläufiger Richtung nicht unmöglich erscheinen ließen. Wie auch die Universität an diesem Wandel der Parteiherrschaft beteiligt war, zeigt das Schicksal von David Friedrich Strauß. In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts war eine kirchlich liberale Richtung zur Herrschaft gelangt, die Strauß als den berühmtesten der liberalen deutschen Theologen nach Zürich berief. Da zeigte sich aber, daß trotz des in der Stadt herrschenden Liberalismus die Zahl der in ihr und im ganzen Kanton verbreiteten streng kirchlich gesinnten Einwohner zu groß war, um diese Berufung eines Mannes hinzunehmen, der durch sein Buch über das Leben Jesu die ganze orthodoxe Welt gegen sich empört hatte. Dies benutzte die aristokratische Partei, die vor der liberalen regiert hatte, und sie veranstaltete unter der Mitwirkung jener religiösen Volkspartei einen Putsch, der nicht nur Strauß verhinderte, seinen Lehrberuf anzutreten, sondern auch die Regierung stürzte, die ihn berufen hatte. Gemäß der Treue, mit der man in der Schweiz eingegangene Verpflichtungen zu halten pflegt, bezog daher David Strauß bis zu seinem Tod eine ansehnliche Pension für ein Amt, das er niemals bekleidet hatte. Die Folge war dann freilich die Abschaffung der Pensionen, die schon vorher zumeist für die bürgerlichen Ämter nicht bestanden, auch für die Professoren und in weiterer Folge die Beschränkung der Anstellung auf sechs Jahre. Eine Wirkung solcher Vorkommnisse ist denn auch später die Einführung des Referendum gewesen, durch welches auf friedlichem Wege eine irgendwie der Gesamtbevölkerung mißfallende Maßregel der Regierung beseitigt werden kann. Es bedeutet viel weniger eine Vergewaltigung durch den Volkswillen als umgekehrt, wie das Beispiel von Strauß zeigt, eine Schutzeinrichtung, durch die der Volkswille die ihm widerstrebenden Maßregeln der Regierung unmöglich macht.

So frei nun übrigens, und nicht von irgendeiner speziellen Vorbildung bestimmt, die Besetzung der in die Regierung eingreifenden Stellen zu meiner Zeit in Zürich war, so konnte es doch nicht fehlen, daß der bisherige Beruf eines Mannes für seine Verwendung in der Staatsmaschine eine gewisse Bedeutung besaß. Eine besonders wichtige Folge dieses Verhältnisses war es, daß die Klasse der Volksschullehrer und neben ihr in einem freilich etwas zurücktretenden Grade die der emeritierten reformierten Geistlichen in dem Departement der Erziehung und Volksbildung eine hervorragende Rolle spielten. Einem dieser Berufe gehörte besonders der Erziehungsdirektor an, der ganz die Stellung eines deutschen Unterrichtsministers einnahm. Er beherrschte das gesamte Unterrichtswesen, abgesehen von dem Polytechnikum, das bekanntlich als eidgenössisches Institut unter einer eigenen Behörde und deren Kurator steht. Ich war noch nach meinem Weggang von Zürich aus Anlaß von Neuberufungen in verschiedenen Fächern mit einigen der folgenden Erziehungsräte in Beziehung und habe dabei den Eindruck empfangen, daß die amtierenden vormaligen Geistlichen die Universität im ganzen ihre eigenen Wege gehen ließen, während die ehemaligen Volksschullehrer in ähnlicher Stellung eher geneigt waren, sich in die Universitätsverwaltung einzumischen. Der Lehrer fühlt sich eben nach einer Erfahrung, die man überall machen kann, als ein Sachverständiger, wo immer es sich um irgendeine Unterrichtsfrage handelt, und gerade deshalb, weil er das ganze Erziehungswesen von der Volksschule bis zur Universität von unten her zu überblicken glaubt, ist er geneigt, sich für alle Stufen für besonders sachverständig zu halten,

Auch in Zürich hat es daher an gelegentlichen Einmischungen des aus der Volksschule hervorgegangenen Leiters der öffentlichen Erziehung in den Universitätsunterricht nicht gefehlt. Aber hier übte doch die Stetigkeit des Wechsels der Regierung und der große Respekt, den infolgedessen die Tradition genoß, eine moderierende Wirkung aus, so daß es der zu meiner Zeit amtierende Gewalthaber mit der Zeit nützlich fand, sich allzu bedenklicher Eingriffe zu enthalten. So hörte ich von einem Konflikt, der einige Zeit vor meiner Ankunft in Zürich gespielt hatte, aber schließlich zu allgemeiner Zufriedenheit vorübergegangen war. Der neu in das Amt eingetretene Erziehungsdirektor hatte einen Ukas erlassen, in welchem die sämtlichen Hochschullehrer streng dazu angehalten waren, ihre Vorlesungen pünktlich am offiziellen Semestertermin zu eröffnen. Am festgesetzten Tag begab er sich daher nach der Universität, um nachzusehen, ob die Professoren auch wirklich dieser Weisung nachgekommen seien. Da ergab sich, daß die einzelnen, wie bisher, so auch im neuen Semester einige Tage später ihre Vorlesungen eröffneten, als er befohlen hatte. Ärgerlich über diese Undisziplin riß er die sämtlichen Anschlagzettel herunter. Was war die Folge? Als die Studenten kamen, um sich nach dem Beginn ihrer Vorlesungen umzusehen, fanden sie, daß dieser Beginn überhaupt nicht angemeldet war, und infolgedessen verzögerte sich der wirkliche Anfang noch um mehrere Tage. Seitdem ließ unser Oberhaupt die Dinge gehen, wie sie bisher gegangen waren, und war von nun an sogar geneigt, besonderen Wünschen der Professoren nachzugeben. Ich selbst erlebte ein Beispiel dieser Art. Ich hatte bereits für das nächste Semester zwei größere Vorlesungen angekündigt, die voraussichtlich meine Zeit vollauf in Anspruch nahmen. Da erhielt ich von dem Erziehungsdirektor eine Zuschrift, in der er mich aufforderte, auch noch über Pädagogik zu lesen, eine Vorlesung, auf die er natürlich den größten Wert legte, zu der ich aber weder Neigung noch Zeit hatte. Als ich ihm das meldete, erhielt ich eine zweite Zuschrift, in der er mir mitteilte, er habe nun die Studierenden der Pädagogik, die unter seiner besonderen Obhut standen, angewiesen, das von mir angekündigte Kolleg über Völkerpsychologie zu hören, obgleich es mir selbst sehr zweifelhaft war, ob dies ein geeigneter Gegenstand für diese Klasse der Studierenden sei. So gingen derartige kleine Konflikte hier durchgängig ohne Störung vorüber. Ein großer Unterschied gegenüber den Verhältnissen, die eine plötzliche, mit allen bisherigen Traditionen brechende Revolution herbeiführt, bei der die neuen Machthaber immer geneigt sind, alles neu zu organisieren und dann selbstverständlich auch durchzusetzen, was sie in ihrem Organisationseifer beschlossen haben! Wo die Demokratie, wie in der Schweiz, seit vielen Generationen eingewurzelt ist, da verbietet die Macht der Tradition jede derartige Neuerung, und es macht nicht einmal einen großen Unterschied, ob die bestehende Regierung etwas mehr demokratisch oder aristokratisch gesinnt ist. Vielleicht würde es darum unseren neuen Machthabern in Deutschland zu empfehlen gewesen sein, wenn sie sich zu einem Lehrkursus nach der demokratischen Schweiz begeben hätten, um der Überstürzung zu begegnen, der wir im Lauf des letzten Jahres durch die Überfülle von Gesetzgebungen und Verordnungen ausgesetzt gewesen sind, und bei denen manchmal nicht sowohl die bisherige Erfahrung als die Neigung, etwas ganz Neues zu erproben, eine Rolle gespielt zu haben scheint.

In der Schweiz folgt man, wie ich beobachtet habe, durchaus dem Grundsatz, sich in der Schaffung neuer Einrichtungen durch neu entstandene Bedürfnisse leiten zu lassen, während man bei uns gegenwärtig nur zu oft geneigt ist, zunächst einmal neue Organisationen zu schaffen, wobei manchmal der Zweck, dem Sie dienen sollen, dahingestellt bleibt. So ist gegenwärtig in unserer Lehrerschaft die Überzeugung weit verbreitet, die Erweiterung der Universitäten zu allgemeinen Lehranstalten, die mindestens die sämtlichen Volksschullehrer Deutschlands in sich aufnehmen sollen, sei ein dringendes Bedürfnis, und bei dem Einfluß, den die Lehrer auf die Leitung des Unterrichtswesens ausüben, ist es nicht einmal ausgeschlossen, daß dieses Projekt irgendwie der Verwirklichung entgegengeht. Es steht mir aber, wie ich bekennen muß, außer Zweifel, daß damit nicht nur aus den Universitäten etwas ganz anderes würde, als was sie bisher gewesen sind, sondern daß auch die Bildung der Volksschullehrer in der ihr durch unsere großen Pädagogen gegebenen Richtung eine schwere Schädigung erleiden würde. Ich habe gerade in dieser Beziehung in der Schweiz belehrende Beobachtungen gesammelt. In Zürich war es nur eine Elite der Seminaristen, die zum Universitätsstudium zugelassen war. Ich wurde aber auch zu der Schlußprüfung derjenigen Lehramtskandidaten zugezogen, die direkt vom Seminar aus in den Lehrdienst eintraten. Dabei drängte sich mir nun die Beobachtung auf, daß gerade diese nicht auf der Universität weiter gebildeten Lehrer eine nicht selten staunenswerte pädagogische Virtuosität dokumentierten, wie denn überhaupt die Volkserziehung in den protestantischen Kantonen eine hohe Stufe erreicht hat. Dagegen hatte ich nicht selten den Eindruck, daß die auf der Universität weiter gebildeten Lehrer in dieser Beziehung eher eine minderwertigere Stellung einnahmen. Ich finde das auch psychologisch begreiflich. Ist doch gerade für den Lehrer die Konzentration der Interessen ein Faktor von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Das pädagogische und das wissenschaftliche Interesse sind aber zwei wesentlich verschiedene Dinge, und ich kann mir wohl denken, daß die gewiß nicht zu unterschätzende höhere wissenschaftliche Vorbildung einer Elite des Lehrerstandes nur durch eine gewisse Benachteiligung des eigentlich pädagogischen und als solchen für die Anfänge der Erziehung besonders schwerwiegenden Faktors erkauft werden könne. Ich glaubte diese psychologisch begreifliche, wenn nicht selbstverständliche Beobachtung auch späterhin noch in Leipzig wenigstens indirekt insofern bestätigt zu finden, als mir hier nicht selten die auf den ersten Blick vielleicht frappierende Tatsache entgegentrat, daß Kandidaten von höchst minderwertigen wissenschaftlichen Leistungen in der an das Examen sich anschließenden Lehrprobe ein glänzendes pädagogisches Talent entfalteten, während mindestens ebensooft wissenschaftlich anerkannt tüchtige Kandidaten in der Lehrprobe gänzlich versagten. Die Versenkung in die Seele des Schülers und besonders des Kindes, die das pädagogische Talent ausmacht und auf die Übung dieses Talentes einen Haupteinfluß ausübt, und die Fähigkeit, einen Wissensstoff sich anzueignen und zu verarbeiten, sind eben zwei verschiedene Aufgaben. Wenn jemand diese beiden Eigenschaften besitzt, so ist das natürlich als ein besonderer Glücksfall anzusehen, man kann aber eine solche Vereinigung höchstens ausnahmsweise erwarten.

Der berühmte Mathematiker Lagrange hat in seinen älteren Jahren das Bedürfnis empfunden, sich wieder einmal in die seinem Gedächtnis längst entschwundene Elementarmathematik zu vertiefen. Es ist so ein zweifellos originelles Büchlein entstanden; aber wenn jemand dasselbe für ein zweckmäßiges Lehrbuch für Anfänger halten sollte, so würde er sich darin gewaltig irren. Daß der Mathematiker, der sich sein Leben lang mit Problemen der höheren Mathematik befaßt hat, dadurch einigermaßen die Fähigkeit verliert, sich überhaupt auf den Standpunkt des Anfängers zurückzuversetzen, ist eine bekannte Tatsache. Der Fall ist vielleicht ein extremer, aber er wiederholt sich uns täglich auf allen Gebieten der Wissenschaft. Dem Kinde gegenüber tritt er uns am augenfälligsten entgegen, und er äußert sich auch darin, daß es eine nicht geringe Anzahl von Menschen gibt, die überhaupt mit Kindern nicht zu verkehren wissen. Was von Kindern gilt, das gilt aber bis zu einem gewissen Grade von dem naiven Menschen im allgemeinen. Unsere Volksschulpflege würde daher die nötige Anzahl geeigneter Kräfte schwerlich besitzen, wenn nicht unsere Volksschulseminare im Lauf der Zeit eine Methodik ausgebildet hätten, durch deren Anwendung der Mehrzahl ihrer Zöglinge gegenüber der Mangel der ursprünglichen Anlage durch eine geistige Dressur ausgeglichen würde, die in diesem besonderen Falle oft Bewundernswertes zu leisten vermag. Nun pflegen die Vertreter einer vom Kindergarten bis zur Universität reichenden Universalschule auf die Zukunft hinzuweisen, in der alles dies infolge der wachsenden Verbreitung allgemeiner Bildung völlig sich ändern werde, weil auf dem dann für jeden einzelnen sich eröffnenden, alles Wissen und Können umfassenden Weg die gerade für ihn geeignete Stelle unabhängig von der Gunst äußerer Glücksverhältnisse sich finden werde. Aber es pflegt dabei eben jenes psychologische Moment ganz übersehen zu werden, daß der Weg der geistigen Entwicklung nicht eine innerlich gleichartige und nur an Umfang verschiedene Mannigfaltigkeit ist, sondern daß es gerade die inneren Wesensunterschiede der Formen geistiger Bildung sind, wodurch diese sich scheiden und in vielen Fällen dank der ungeheuren Vielgestaltigkeit der menschlichen Anlagen wie der menschlichen Lebensschicksale einander ausschließen. Darum würde die geistige Kultur selbst am schwersten geschädigt sein, wenn sie sich in ein solches Chaos uniformer Lebensinhalte zurückverwandeln ließe, wie es die Phantasie mancher utopistischer Zukunftsschwärmer sich vorgaukelt. Diese utopistische Zukunft würde, wenn irgendwo in der Geschichte, so am ehesten in dem allerersten Anfang dieser, in der Kultur des primitiven, ihre Analogie finden.

Die Studierenden der Universität Zürich bildeten zu meiner Zeit eine sehr gemischte Gesellschaft. Es war die Zeit der Hochflut der russischen Einwanderung, in der es an nihilistischen Elementen nicht fehlte, deren sich die Züricher Regierung freilich bald zu entledigen suchte. Sie wanderten dann nach Bern, wo sie aber infolge der bedrohlichen Haltung und der veränderten politischen Verhältnisse Rußlands mehr ein verborgenes Dasein führten. Das Frauenstudium hatte schon zuvor an der Züricher Universität Eingang gefunden, und man führte sogar die männlichen und die weiblichen Studierenden in den Studentenverzeichnissen gesondert auf. In der medizinischen Fakultät waren beide Kategorien nahezu numerisch gleich geworden, und ein medizinischer Kollege erklärte mir eines Tages, er werde demnächst, wenn die Frauen die Majorität gewonnen hätten, seine Kollegienhefte umarbeiten, weil manche medizinische Fächer für Frauen anders als für Männer gelesen werden müßten. Durch den Abzug der Russen und der Balkanstudenten hat dann dieses Übergewicht allerdings beträchtlich abgenommen, aber es blieb doch immer noch eine ziemliche Zahl einheimischer Frauen, die sich teils zur Medizin, teils zu dem Volksschullehrerberuf vorbereiteten. Im Verhältnis zur großen Zahl der Volksschullehrer bildeten übrigens die zum Studium auserlesenen Männer und Frauen nur eine kleine Zahl, so daß hier die Verhältnisse der studierenden Pädagogen, die künftig zu Seminardirektoren oder städtischen Lehrern bestimmt waren, denen glichen, die ich nachher in Leipzig vorfand. Den eigentlichen Stamm der Züricher Studenten bildeten aber die von den Gymnasien zum Studium übergegangenen eingeborenen Schweizer. Das hat sich seitdem, so viel ich weiß, geändert. Der Austausch zwischen Deutschland und der Schweiz ist ein lebhafterer geworden, so daß wohl auch der spezifische Typus des Schweizer Studenten heute nicht mehr so ausgeprägt sich findet wie damals. Ein Vorzug des Schweizer Studenten war, ganz im Sinne des allgemeinen Charakters der Bevölkerung, der regelmäßige Fleiß, der besonders auch in dem Kollegienbesuch wohltuend hervortrat, der oder auch zumeist die großen Verschiedenheiten ausschloß, die in dieser Beziehung zwischen den deutschen Studenten der gleichen Universität zu bestehen pflegen. Daneben hinderte das frühe Interesse des Schweizers am politischen Leben den Einfluß der spezifisch studentischen Korporationen, wie er in Deutschland besteht und manchmal über das ganze Leben sich ausdehnt. Der Schweizer will unter allen Umständen auf der Universität etwas lernen, und es würde schon seiner ererbten Sparsamkeit widerstreiten, wenn er einmal eine belegte Vorlesung ungenützt vorübergehen ließe. Dazu kommt noch ein anderes Moment, welches den Typus des Schweizer Studenten dem des höheren Schülers ungleich mehr als bei uns annähert. In vielen Fächern, namentlich in den philologischen, nützt die Unterrichtsbehörde die an der Universität angestellten Professoren auch bei den Gymnasien aus, wo sie in den höheren Klassen Unterrichtsstunden zu übernehmen haben. So kommt es, daß es in dem Bewußtsein des Studenten eine so scharfe Grenze zwischen ihm und dem Schüler wie bei uns nicht gibt und so auch der Ton des Verkehrs zwischen Schüler und Lehrer ein ähnlicher bleibt. Das spezifisch studentische Leben ist deshalb in der Schweiz nicht so zur Ausbildung gelangt wie auf unseren deutschen Universitäten. Auch dies entspricht dem schweizerischen Volkscharakter. Der deutsche Student fühlt sich vermöge der Freiheit, die er genießt, leicht als Mitglied eines privilegierten Standes. Der Schweizer Student bildet ein Glied der allgemeinen bürgerlichen Gesellschaft, und indem er die akademische Zeit immer noch als eine fortgesetzte Schule betrachtet, fühlt er sich eher hinter den anderen Klassen der Gesellschaft noch einigermaßen zurückstehend.