31.


Veränderungen in der Heidelberger akademischen Gesellschaft. Der Heidelberger historisch-philosophische Verein. Henriette Feuerbach. Das Haus Cornill. Wilhelm Wattenbach und seine Schwestern. Neue Freunde und Kollegen. Die Schicksale der Philosophie, Heidelberger Philosophen. Reichlin-Meldegg, Eduard Zeller, Kuno Fischer.
 
 

Fast genau in dem Augenblick, als ich die Schrift über die physikalischen Axiome beendet hatte, wurde ich durch die Wahl in den badischen Landtag zu einer Tätigkeit abgerufen, die für konzentrierte Arbeiten wie diese keinen Raum ließ. Das vom September 1866 datierte Vorwort zu jener Schrift ist, wie ich mich genau erinnere, schon in dem Ständesaal zu Karlsruhe geschrieben. Nach meinem Austritt aus dem Landtag hatte mich dann die Ausarbeitung der physiologischen Psychologie so sehr in Anspruch genommen, daß die geplante weitere Beschäftigung mit der Logik zunächst zurücktrat. Außerdem hatte für mich noch in anderer Beziehung eine neue Lebensordnung begonnen. Wenn die meisten noch nicht durch eine feste Professur gebundenen Dozenten an unseren Hochschulen begreiflicherweise bemüht sind, eine solche durch die Berufung an eine auswärtige Universität zu gewinnen, so waren solche Sorgen mir jahrelang fern gelegen, derart, daß selbst entferntere Bekannte sich darüber wunderten und meine näheren Freunde es allmählich mißbilligten. Aber es mag sein, daß diese Sorglosigkeit um das was wir Deutsche ja in der Tat vollkommen zutreffend eigentlich nur mit dem französischen Wort der Carrière zu bezeichnen wissen, in den mannigfachen sozialen und politischen Interessen, die mich an Heidelberg fesselten, ihre Quelle hatte. Immerhin veränderten sich hier die Verhältnisse dadurch, daß von nun an die Vorlesungen eine viel wichtigere Stellung in meinem Leben einnahmen. Ich hatte ein physiologisches Privatlaboratorium und hielt nicht nur in diesem praktische Übungen ab, sondern pflegte auch im Sommer in sechs bis sieben wöchentlichen Stunden ein Kolleg über Physiologie zu lesen, um dann im Winter ein freilich meist nur zweistündiges über Anthropologie oder über ein allgemeineres naturwissenschaftliches Thema zu halten. Einmal habe ich auch über Psychologie gelesen, bin aber in diesem ersten Kolleg nicht über eine Einleitung in die Physiologie der Zentralorgane, ein Kapitel, das in meinen späteren Vorlesungen über diesen Gegenstand ganz hinwegfiel, hinausgekommen. Außerdem erneuerte sich der Verkehr mit alten Freunden. Zusammen mit Holtzmann und Hausrath gründete ich den allwöchentlich seine Sitzungen haltenden historisch-philosophischen Verein, dessen Statuten wohl die zwanglosesten gewesen sind, die sich denken lassen. Dieser Verein hatte keinen Vorsitzenden, sondern das Präsidium wechselte alphabetisch. Nur ein ständiger Sekretär war vorhanden, der kurze Protokolle verfaßte und für die sonstigen notwendigsten Geschäfte sorgte. Als solcher fungierte jahrelang Wilhelm Oncken, der spätere Gießener Historiker. Anfänglich gehörte nur ein Teil der jüngeren Dozentenschaft dem Verein an. Nachdem Bluntschli von München nach Heidelberg berufen war, trat aber dieser, der von Anfang an mit Vorliebe Beziehungen zu der jüngeren Generation aufsuchte, dem Verein bei, und seinem Beispiel folgten bald auch andere ältere Mitglieder besonders der geisteswissenschaftlichen Abteilung der philosophischen Fakultät: so Eduard Zeller, der aus Marburg berufene PhiIosoph, Wilhelm Wattenbach der Historiker, Goldschmidt der Jurist, zuweilen auch Helmholtz u. a.. Es wurde jedesmal ein Vortrag aus dem Fachgebiet des Redners gehalten, an den sich dann meist eine kürzere oder längere Diskussion anschloß. So entwickelte dieser Verein allmählich eine rege wissenschaftliche Tätigkeit. Er hat noch lange nach meinem Weggang von Heidelberg bestanden. Ein letztes Lebenszeichen von ihm erhielt ich bei Gelegenheit des 500jährigen Jubiläums der Universität im Jahre 1886, zu welchem er eine Festschrift herausgab, zu der ich selbst noch von Leipzig aus einen kleinen Beitrag geliefert habe. Außerdem bestand der schon aus früherer Zeit überkommene naturwissenschaftlich-medizinische Verein, in welchem Helmholtz den Vorsitz führte, und wo neben den Medizinern unter den Naturforschern namentlich Bunsen ein oft gesehener Gast war.

Neben diesen weiteren wissenschaftlichen Beziehungen hatten sich noch mannigfache persönliche Freundschaften geknüpft. So mit Henriette Feuerbach, die gerade in jenen Tagen in hingebender Treue um den Vertrieb der Werke ihres Sohnes Anselm bemüht war. Mir ist Frau Feuerbach noch durch eine andere persönliche Beziehung nahegetreten. Als mein Freund Eduard Pickford, der als Privatdozent der Nationalökonomie in Heidelberg lebte und zugleich mein Vorgänger im badischen Landtag war, in Karlsruhe schwer erkrankte, da war es die auch ihm befreundete Frau Feuerbach, die alsbald nach Karlsruhe eilte und ihn bis zu seinem Tode pflegte. Enger noch und bisweilen in beinahe täglichem Verkehr war ich mit dem Ehepaar Cornill verbunden. Adolph Cornill, der sich durch mehrere philosophische Arbeiten, namentlich durch eine Schrift über den Materialismus bekannt gemacht hat, lebte in jenen Tagen als Privatgelehrter in Heidelberg. Ich habe mit ihm manche der unser gemeinsames Interesse fesselnden philosophischen Werke gelesen oder besprochen, namentlich Hegel’s, mit dem er sich eifrig beschäftigte, und der philosophierenden Naturforscher der Zeit. Frau Cornill war, wie man wohl sagen darf, die gebildetste Frau des damaligen Heidelberg. Zu ihrem Kreise gehörten außer Frau Feuerbach auch Rosalie Artaria und ihr damaliger Bräutigam, der Kunsthistoriker und Ägyptenreisende Julius Braun, endlich der durch seinen Geburtsort Frankfurt a. M. der Familie Cornill nahestehende Jurist Heinrich Strauch, mit dem auch mich eine bis zu seinem Tode dauernde Freundschaft verband.

Näher bin ich unter diesen späteren Freunden namentlich Wilhelm Wattenbach getreten. Er war aus Breslau, wo er als Archivar lebte, für die Professur der mittelalterlichen Geschichte nach Heidelberg berufen worden und hatte sich mit besonderem Interesse an den Bemühungen um den Arbeiterbildungsverein beteiligt. Das Haus Wattenbach mit den Schwestern Sophie und Cäcilie, von denen, nachdem Sophie gestorben war, Cäcilie fernerhin meine treue Freundin geblieben ist, war es, in dem ich in der letzten Heidelberger Zeit besonders verkehrte. In ihm habe ich meine spätere Lebensgefährtin und in ihr das Glück meines Lebens gefunden. So ist es denn auch der Verkehr mit dem Hause Wattenbach gewesen, der alle diese Heidelberger Beziehungen überdauert und sich in die Zeit, da Wattenbach nach Berlin und ich selbst nach Leipzig übergesiedelt waren, fortgesetzt hat. Damit schließt sich hieran ein für mein weiteres Leben bedeutsames Ereignis: das war die Beziehung zu Schleswig-Holstein, der Heimat meiner Gattin. Bis dahin war Berlin für mich die äußerste Station gewesen, bis zu der ich deutsches Wesen und deutsche Sitte kennen gelernt hatte; jetzt wurde Kiel und in mehrfachen Ausflügen der weitere Umkreis der Provinz ein oft in den Ferien gesuchter Aufenthalt. Die Insel Sylt ist mir während einer längeren Zeit eine Lieblingsstätte namentlich in den späteren Monaten, in denen der Fremdenstrom nachgelassen, für stille, einer strengen geistigen Konzentration bedürftige Arbeiten geworden. So habe ich hier noch die Vorarbeiten zu dem zweiten Band meiner Psychologie der Sprache beendet. Vor allem aber ist es mir in hohem Grade wertvoll gewesen, in den Familien meiner schleswig-holsteinischen Freunde eine noch verhältnismäßig urwüchsige Eigenart deutschen Familienlebens kennen zu lernen, das mir bis dahin fremd gewesen war, und das mich doch in vieler Beziehung namentlich in seiner mit echtem deutschem Geiste verbundenen Stammestreue sympatisch anmutete.

In meiner letzten Heidelberger Zeit hatte die Universität durch verschiedene Neuberufungen ein mannigfach verändertes Aussehen gewonnen, und auch das dortige Leben hatte sich durch die persönlichen Beziehungen zu manchen der Neuberufenen verändert. So trat ich hier zum ersten Male Ribbeck dem Philologen, Windisch dem Indologen nahe, Männern, mit denen und ihren Familien sich die hier begründeten Freundschaften später in Leipzig erneuerten. Dagegen war Holtzmann durch die Berufung nach der neugegründeten Straßburger Universität ausgeschieden. Treitschke war an die Stelle des verstorbenen Ludwig Häußer, Windscheid an die des langjährigen Pandektisten Vangerow getreten, und diese Männer in den seit langer Zeit hier dominierenden Stellungen hatten der Universität ein wesentlich verändertes Aussehen gegeben.

Dazu kam noch ein anderes Moment, das speziell für meine nächsten Interessen von großer Bedeutung geworden ist: es bestand in den Schicksalen, welche die Universität durch die Persönlichkeiten, die zu Vertretern der Philosophie berufen wurden, in den letzten Jahren erlebt hatte. Sie sind um so bemerkenswerter, als man wohl sagen kann. Sie seien für die Entwicklung der Philosophie als akademischen Lehrfachs überhaupt von typischer Bedeutung gewesen. Während meiner Studien- und noch lange nachher während meiner eigenen Dozentenzeit gab es nur einen einzigen Ordinarius der Philosophie, der daher diese in ihrem ganzen Umfang vertrat. Es war Alexander Freiherr von Reichlin-Meldegg. Er war dereinst katholischer Theologe gewesen, dann zum Protestantismus übergetreten und hatte sich der Protektion des bekannten rationalistischen Theologen Paulus zu erfreuen, der zu meiner Zeit noch in hohem Alter in Heidelberg lebte, aber längst keine Vorlesungen mehr hielt. Meldegg trug vorzugsweise systematische Fächer vor, wobei er nach Möglichkeit mehrere in eine einzige Vorlesung zusammenfaßte. Eine derselben hatte z. B. den Titel: Psychologie mit Einschluß der Somatologie und der Lehre von den Geisteskrankheiten. Es fehlte ihm trotz der Oberflächlichkeit dieser Vorlesungen nicht an Zuhörern, da für viele Studierende die Verpflichtung bestand, mindestens vier Philosophica während ihrer Studienzeit zu belegen. Sie wurden freilich meistens nur belegt, nicht gehört. Eines reicheren Zuspruchs hatte sich ein berühmtes Faustkolleg Meldeggs zu erfreuen, bei dem umgekehrt die Hörerzahl sehr groß, dafür aber die der Belegenden sehr klein war. Es existierte damals, in dem Zeitalter, da es weder Gas- noch Elektrizitätsbeleuchtung gab, die Sitte, daß der Dozent jedem seiner belegenden Zuhörer eine Unschlittkerze stiftete, die an dessen Platz aufgepflanzt wurde. Da bot nun dieses Faustkolleg einen höchst merkwürdigen Anblick. Vorn in der ersten Bank leuchteten z. B. vier Unschlittlichter, dahinter in den weiteren Bänken des geräumigen Hörsaales wogte aber im Dunkel eine viele Dutzende übersteigende Menge von Hospitanten, die sich besonders durch ihre den Vortrag begleitenden Äußerungen des Gefallens und Mißfallens bemerkbar machten. Meldegg gehörte daher, abgesehen von seinem philosophischen Lehrberuf, zugleich zu jenen auf den älteren deutschen Universitäten selten fehlenden Dozenten, die das Bedürfnis der akademischen Jugend nach dem, was man damals ein "Schindluderkolleg" nannte, befriedigten. Daß er trotzdem gelegentlich vom Senat der Universität mit einer Festrede in der Aula beauftragt wurde, brachte seine Eigenschaft als einziger offizieller Philosoph mit sich. Noch erinnere ich mich, am 19. Mai 1862 seine Festrede zur Feier von Fichte’s hundertjährigem Geburtstag gehört zu haben, die mit ihren gehäuften Exklamationen und Apostrophen an die Manen des großen Denkers wohl unter allen minderwertigen Festreden, die an diesem Tage gehalten wurden, die allerminderwertigste gewesen ist.

Nach seinem Abgang trat an die Stelle Reichlin-Meldegg’s Eduard Zeller, aus Marburg berufen, als sein Nachfolger. Ein Gefühl der Befriedigung bemächtigte sich aller, die an der Philosophie Interesse nahmen. Mit Zeller war ein Mann gewonnen, der in jener Zeit als der hervorragendste Vertreter des Faches in Deutschland galt. Daß Zeller’s Lehrweise die an ihn geknüpften Erwartungen vollauf befriedigt habe, läßt sich freilich nicht sagen. Sein Vortrag war trocken und entbehrte, schon weil er von Anfang bis zu Ende diktierte, jeder anregenden Wirkung auf die Zuhörer. Dazu kam, daß eine solche schon durch die knappe Form, in der er den Gegenstand vortrug, kaum möglich war. So las er sein Hauptkolleg, die Geschichte der Philosophie von Thales bis Hegel einschließlich, in einem einzigen Semester in sechs wöchentlichen Stunden. Aber der Student trug immerhin ein brauchbares Heft von dannen, und die Philologen der Universität wußten Zeller’s Gelehrsamkeit auf ihrem eigenen Gebiet zu schätzen. Zeller’s philosophischer Standpunkt, wie er sich in seinen in größeren Abständen gehaltenen Vorlesungen über Erkenntnistheorie, Rechtsphilosophie u. dgl. offenbarte, entsprach, wie ein Kollege wohl ziemlich treffend sich äußerte, etwa den Anschauungen Christian Wolffs, wenn man sich dessen populären Rationalismus aus dem 18. in das 19. Jahrhundert übertragen und mit etwas Hegel’scher Dialektik verbrämt denkt.

Als bei dem Weggang Zeller’s nach Berlin Kuno Fischer aus Jena berufen wurde, änderte sich nun aber völlig die Stellung der Philosophie an der Universität. In ihm hatte diese einen Mann gewonnen, der durch seine glänzende Lehr- und Rednergabe die akademische Jugend zu fesseln und über diese hinaus der Philosophie durch seine schriftstellerische und mehr noch durch seine rednerische Begabung in weiten Kreisen ein neu erwachendes Interesse zu schaffen vermochte. Kuno Fischer war selbst kein hervorragender Philosoph, aber er war ein unübertrefflicher Interpret der Philosophen, namentlich der deutschen idealistischen Philosophie von Kant an, und er war dies nicht zum wenigsten, weil er durch seinen Verzicht auf ein festliegendes eigenes philosophisches System sich jeweils so in die Gedankenwelt des von ihm behandelten Philosophen zu versetzen wußte, daß er sich mit diesem vorübergehend völlig eins fühlen konnte, um dann schließlich doch in seinen kritischen Rückblicken den Übergang zu der folgenden Zeit in künstlerischer Vollendung vorzubereiten. Das ist die Stellung, die Kuno Fischer in der deutschen Philosophie überhaupt eingenommen hat. Für Heidelberg hatte er durch diese Richtung seiner Lehrbegabung noch die besondere Bedeutung, daß er in einer Zeit, in welcher die Geschichtswissenschaft in ihrer bisherigen Stellung durch den Wandel der nationalen Ereignisse mehr in den Hintergrund zu treten begann, der Philosophie eine Geltung verschaffte, durch die sie geeignet wurde, jene zu ersetzen. Von Reichlin-Meldegg’s Faustkolleg zu Kuno Fischer’s Vorträgen über das gleiche Thema, das war ein Wandel, wie er schroffer kaum gedacht werden kann. Dennoch spiegelt sich in ihm die Lage der Philosophie selbst im Wandel der Zeiten. Von ihrem Niedergang nach Hegel’s Tode ist sie durch ein Zwischenstadium respektvoller Duldung zu demjenigen Lehrgegenstand der Hochschulen geworden, der den allgemeinsten Bildungswert für sich in Anspruch nimmt.

Kuno Fischer hatte in Heidelberg manche persönliche Gegner. Man beschuldigte ihn der Überhebung und rücksichtslosen Behandlung namentlich der jüngeren Kollegen. Ich kann in dieser Beziehung durchaus nicht über ihn klagen. Er kam mir von Anfang an mit großer Freundlichkeit entgegen, und er versicherte mir später, es sei seine Absicht gewesen, mich zu einer Professur in der philosophischen Fakultät zu empfehlen. Aus dieser Empfehlung ist freilich nichts geworden. Eines Morgens trat Salomon Vögelin, Extraordinarius für Kunstgeschichte in Zürich und im Nebenamt Mitglied des dortigen Erziehungsrats, in meine Stube mit der Anfrage, ob ich geneigt sei, die durch Albert Lange’s Weggang aus Zürich frei gewordene Lehrstelle zu übernehmen. Obgleich ich mich dazu bereit erklärte, dauerte es noch etwa ein Jahr, bis weiteres erfolgte. Da erhielt ich eines Tags ein Schreiben mit der wirklichen Berufung zum ordentlichen Professor für "induktive Philosophie" an der Züricher Hochschule. Es war ein bescheidener Gehalt, der mir geboten wurde, und die Anstellung erfolgte zunächst nach der in Zürich üblich gewordenen Sitte nur auf sechs Jahre. Aber der Erziehungsdirektor versicherte mir in seinem Begleitschreiben, daß es ein besonderer Vorzug sei, in einer Republik zu leben.