Unter den Naturforschern, die den Glanz der Heidelberger Hochschule nach der Mitte des Jahrhunderts ausmachten, war Hermann Helmholtz ohne Frage der hervorragendste. Seine Laufbahn vom Regimentsarzt zum Anatomen in Königsberg und Bonn, von da zum Physiologen in Bonn und Heidelberg, zum Berliner Physiker und endlich zum Präsidenten der technischen Reichsanstalt legt davon schon ein äußeres Zeugnis ab. Noch mehr tun dies seine wissenschaftlichen Arbeiten, die sich von früher Zeit an über alle jene Gebiete gleichzeitig erstrecken, und mit denen er sich vor allem durch zwei Leistungen, die in seine früheste Zeit fallen, durch die epochemachende physikalische Abhandlung über die Erhaltung der Kraft und durch die der Heilkunde ein neues Gebiet schaffende Erfindung des Augenspiegels unsterblichen Ruhm bereitet hat. Mit einem Manne von dieser vielseitigen Genialität mehrere Jahre lang beinahe täglich verkehren zu dürfen, ist ein Vorzug, der sicherlich nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Aber in diesem besonderen Fall besteht dieser Vorzug vielleicht weniger in dem Gewinn, der aus dem unmittelbaren wissenschaftlichen Verkehr mit diesem großen Naturforscher und Mathematiker geschöpft werden konnte, als in dem Licht, das derselbe auf den eigenartigen und, wie alles was er tat, bewundernswerten Charakter dieses seltenen Mannes fallen ließ. Helmholtz sprach einmal in meiner Anwesenheit über sein Verhältnis zu Johannes Müller, dem großen Lehrer der modernen exakten Physiologie. Müller hatte ihn zuerst zu seinem anatomischen Assistenten gewählt, dann hatte er ihn zur Professur der Anatomie nach Königsberg und wenige Jahre später nach Bonn empfohlen, von wo er seine folgende glänzende Laufbahn über Heidelberg angetreten. Der Empfehlung Johannes Müllers verdanke er daher, wie er selbst meinte, alle seine Stellungen; aber nie habe er mit Müller ein anderes Wort geredet als was der notwendigste geschäftliche Verkehr mit sich gebracht. Dieser Zug ist wohl für Helmholtz selbst nicht minder bezeichnend wie für Johannes Müller, ja vielleicht für jenen mehr als für diesen. Ich selbst habe ja wenige Jahre nacheinander das Glück gehabt, zuerst Müller und dann Helmholtz kennen zu lernen; aber ich müßte lügen, wenn ich leugnen wollte, daß mir von beiden Helmholtz im ganzen als der schweigsamere erschienen ist. Die Ursache wird wohl auf beiden Seiten liegen. Bei jedem von ihnen kam es darauf an, mit wem er verkehrte, und am schweigsamsten wird dieser Verkehr natürlich da abgelaufen sein, wo die zwei Schweigsamen zusammentrafen. In der Tat habe ich beide Männer in angeregtem Verkehr beobachtet und mich sogar selbst gelegentlich eines solchen erfreut, nur waren dies Ausnahmefälle, nicht, wie bei den mitteilsamen Charakteren, die ihr Herz und ihren Verstand auf der Zunge tragen, das gewöhnliche Verhalten. Von Helmholtz kann man vielleicht sagen, für ihn habe die Lebensregel gegolten, im Reden wie Handeln alles Überflüssige zu vermeiden. Da es nun im gewöhnlichen Tagesverkehr eine überaus große Zahl überflüssiger Gesprächsstoffe gibt, so fiel damit für ihn sehr vieles hinweg, was bei andern Menschen eine beträchtliche Zeit in Anspruch nimmt. Zu dem Überflüssigen gehörten dann bei ihm auch Mitteilungen über Gegenstände, die für andere zwar nicht ohne Nutzen gewesen wären, die er selbst aber doch für überflüssig hielt. So erinnere ich mich, daß Assistenten und ältere Mitarbeiter des Instituts wochenlang darüber berieten, was für einen Zweck wohl ein großer neu angeschaffter Apparat habe, dessen Bestimmung wir uns nicht zu enträtseln vermochten; Helmholtz selbst darüber zu befragen, wagte aber niemand. Daß diese Schweigsamkeit nicht Absicht, sondern natürliche Anlage war, das ließ sich jedoch aus anderen Fällen schließen, wo der Zusammenhang eine Mitteilung eigentlich gefördert hätte. So beschrieb er in einer seiner physiologischen Vorlesungen das sogenannte "Ophthalmometer", einen Apparat, der zur Messung der Krümmungsradien der brechenden Medien des Auges, Hornhaut und Kristallinse, dient; aber er versäumte es, diesen Zweck mitzuteilen, so daß die Zuhörer den Assistenten nach Schluß der Vorlesung mit der Frage bestürmten, wozu denn eigentlich der Apparat bestimmt sei. Vor allem vermied er es, über seine eigenen Arbeiten zu reden. Sie blieben, wie man vermuten darf, auch für die ihm näher stehenden Kollegen bis zu ihrer Veröffentlichung ein Geheimnis. Zu der Ausführung einzelner Teile der größeren Werke, wie z. B. der physiologischen Optik, entschloß er sich offenbar auch erst im Laufe der Arbeit. So hatte er mir eines Tages gesagt, er werde vielleicht die Ausarbeitung der Lehre von den Gesichtswahrnehmungen ganz unterlassen; schließlich stellte sich aber heraus, daß dieser Teil der umfangreichste des Werkes wurde. Auch war nachträglich leicht zu bemerken, daß ihn gerade hier allmählich eine Frage zu der andern geführt hatte.
Höchst bemerkenswert waren übrigens in dem Verkehr, den Helmholtz mit Kollegen wie Schülern pflegte, die Unterschiede, die er zwischen verschiedenen Nationen machte. Im Vordergrund seiner Schätzung standen sichtlich die Engländer. Wie er unter den damals lebenden Naturforschern Clerk Maxwell und William Thomson besonders hochschätzte. So war es schon der englische Student, den er rücksichtsvoller als andere seiner Schüler behandelte. Er sprach selbst ein tadelloses Englisch. Eine Probe seiner Virtuosität in der Handhabung desselben habe ich bei einer in seinem Hause stattfindenden Aufführung einer Posse mit angesehen, bei der er einen das Deutsche radebrechenden Engländer darstellte. Er spielte die Rolle mit so überwältigender Komik, daß ihn schwerlich ein Komiker von Beruf übertroffen hätte. So schmolz überhaupt das Eis seiner Schweigsamkeit in dem ganz außerhalb der fachmäßigen Gelehrsamkeit liegenden geselligen Verkehr. Darum war es ihm aber auch wenig sympathisch, in solchem Verkehr, wie es der deutsche Gelehrte zu tun pflegt, wissenschaftliche oder künstlerische Fragen zu berühren. Der beliebteste Gegenstand im Helmholtz’schen Kreise war vielmehr das Lesen klassischer Dramen mit verteilten Rollen, das überhaupt damals in der älteren Heidelberger Professorengesellschaft eine große Rolle spielte. Es kam vor, daß ein Stück wie Don Carlos, das kaum Zeit genug übrig ließ, um im Zwischenakt eine Tasse Tee zu bewältigen, lückenlos vorgelesen einen langen Abend füllte. Dabei sagte man diesen Lesezirkeln nach, bei der Verteilung der Rollen werde in erster Linie die soziale Stellung berücksichtigt. Während also der Hausherr, der die Regie zu besorgen hatte, einem Geheimen Rat erster Klasse womöglich den Hamlet anbot, mußten sich einige als Lückenbüßer eingeladene Privatdozenten damit begnügen, etwa den Rosenkranz und Guildenstern zu übernehmen.
Nicht so unbedingt wie der Angehörige der englischen Nation, sondern mit Auswahl waren der Amerikaner und der Russe geschätzt. Hier war es nur jene Elite, die namentlich unter den Russen durch französische Bildung sich auszeichnete, welche in der Gesellschaft mindestens den Abkömmlingen deutscher Adelsgeschlechter gleichgestellt wurde.
Sind das alles charakteristische Züge, so würde man nun aber diese, wie ich glaube, gründlich mißverstehen, wenn man sie als absichtliche Bevorzugungen der Ausländer als solcher deuten wollte. Daß es Deutsche gibt, denen die englische Sitte mehr zusagt als die unsere, ist begreiflich. Diese Erscheinung hängt mit Gemüts- und Charaktereigenschaften zusammen, die sich der einzelne nicht willkürlich wählen kann, sondern die in ihn gelegt sind, und deren Betätigung dann weiterhin durch äußere Umstände begünstigt zu werden pflegt. Sie ist durch Unterschiede des nationalen Charakters bedingt, die jedem, der mit Angehörigen verschiedener Nationen verkehrt, entgegentreten, und die sich besonders innerhalb sonst übereinstimmender Lebenslagen geltend machen. So liebt der Engländer die Gastfreundschaft in möglichst zwangloser Form zu üben. Er läßt den Gast frei seiner Wege gehen, ohne ihm vorzuschreiben, womit er sich zu beschäftigen habe. Der Deutsche entwirft ihm womöglich einen Stundenplan und fühlt sich verpflichtet, ihm seine eigene Zeit zu opfern. Lebensfreundschaften zwischen Männern des gelehrten Berufs oder Künstlern gibt es eigentlich bloß in Deutschland. Sie setzen eine Gemeinsamkeit der Interessen und eine Anteilnahme an den persönlichen Erlebnissen und Schicksalen des Freundes voraus, wie sie nur zwischen ganz wenigen Individuen möglich ist. Bei dem Engländer tritt an die Stelle des persönlichen Freundes der Klub, dessen Mitglieder durch ganz allgemeine Neigungen zusammengehalten werden, von denen aber doch jedes eine gegen die andern streng abgegrenzte Persönlichkeit bleibt. Wie alle solche Charakteristiken, so hat natürlich auch diese nur einen durchschnittlichen, keinen allgemeingültigen Wert; mit diesem Vorbehalt kann man aber sagen: der Deutsche der höher gebildeten Stände hat wenige, aber innige Freunde, der Franzose viele, aber oberflächliche, der Engländer keine. Daneben ist jedoch die Freundschaft stets zugleich ein Erzeugnis des individuellen Affektes, und dieser ist es, der die nationalen Eigenschaften aufheben kann oder sich kreuzen läßt, so daß der Deutsche die fremde oder – und das ist vermöge unserer Anpassungsfähigkeit wohl das Seltenere – der Engländer die deutsche Sitte vorzieht.
Es war ein seltsames Geschick oder, vielleicht sollte ich sagen, ein Mißgeschick, daß, als ich in dem unter Helmholtz neu gegründeten physiologischen Institut als Assistent eintrat, beide, der Leiter des Instituts und sein Assistent, ein Interesse miteinander gemein hatten: das Interesse an dem Problem der Sinneswahrnehmung. Der Beginn seiner Heidelberger Wirksamkeit fiel für Helmholtz mit seiner vielleicht bedeutendsten, jedenfalls aber fruchtbarsten Zeit zusammen, in der er die beiden großen Werke über physiologische Optik und über die Lehre von den Tonempfindungen geschaffen hat. Mir lag noch aus meiner Zeit als klinischer Assistent die Untersuchung des Tastsinnes und im Anschluß an diese die Beschäftigung mit der Sinneswahrnehmung überhaupt vor allem anderen am Herzen. Doch so verwandt diese Interessen, so verschieden waren im Grunde die Motive, von denen sie geleitet wurden. Helmholtz hat es klar ausgesprochen, die Tendenz seiner Arbeiten, namentlich der zuerst unternommenen zur physiologischen Optik, sei neben der physiologischen Untersuchung des Sehprozesses insbesondere auch dies gewesen, die Theorie der Sinneswahrnehmung aus der Beschäftigung der Psychologen in eine Aufgabe der Naturwissenschaft umzuwandeln. Mir schwebte von Anfang an die Sinneswahrnehmung als ein psychologisches Problem vor Augen, und dieses Problem erweiterte sich bald zu einer die gesamte Psychologie umfassenden Aufgabe.