18.

Die Ruhe des Sterbens als religiöse Stimmung. Die zwei Formen der Unsterblichkeitsidee. Religiöser Optimismus und Pessimismus. Unsterblichkeitsidee und Gottesidee. Der religiöse Unsterblichkeitsglaube. Religion und Sittlichkeit. Die selbständige Bedeutung des Sittlichen. Stellung der Philosophie zum Sittlichkeitsproblem. Rückkehr zu physiologischen Aufgaben.

Noch ein anderer Zusammenhang ist mir aber klar geworden, wenn ich mir in späteren Zeiten meines Lebens diese Momente der letzten Ruhe des Daseins zu vergegenwärtigen suchte. Das war die Verwandtschaft oder, wie ich wohl besser sagen würde, die Einheit dieser Ruhe vom Leben mit dem religiösen Gefühl. Als ich viele Jahre später zum ersten Male die Schriften des Meister Eckehart zu Gesicht bekam, da fiel mir der Gedanke dieser Einheit wie eine plötzliche Erleuchtung in die Seele. Es gibt viele dem fremd gegenüberstehende Predigten und Aussprüche dieses gewaltigen Mannes. Aber es gibt einzelne, die alle diese fremdartigen Bestandteile zurückdrängen, weil sie mit sieghafter Kraft den unzerstörbaren Gedanken zum Ausdruck bringen, daß die menschliche Seele in ihrer vollkommenen Reinheit von allem, woran sie im Leben mit innerer Notwendigkeit als ihrer sinnlichen Verkörperung gebunden ist, losgelöst gedacht vollkommen eins mit der Gottheit selbst ist, und daß es außer dieser innerlich erlebten keine andere Gottheit und noch weniger eine Unsterblichkeit gibt, die den Widersinn in sich schließen würde, dem wirklichen Leben zu entsagen und gleichzeitig das nämliche wirkliche Leben in irgendeiner von ihm verschiedenen Form noch einmal zu beginnen. Wer sich je diesen Gedanken zu eigen gemacht hat, dem wird eben gerade die Einmaligkeit und Einzigartigkeit dieses Lebens oder, was ja dasselbe bedeutet, die Einzigartigkeit des persönlichen Daseins als die wahre Unsterblichkeit sich aufdrängen, die in dieser Einheit den vollen Gegensatz zu jener vulgären Unsterblichkeit bildet, die sich für ihn nunmehr in eine täuschende Illusion verwandelt.

Wird für den irgendeinmal der unzerstörbaren Ruhe des reinen seelischen Seins teilhaft Gewordenen das eigene innere Erlebnis zum unmittelbaren Gottesbewußtsein, so führt nun aber umgekehrt der Zwiespalt beider ebenso notwendig zur Sehnsucht nach einer übersinnlichen Welt, die mit diesem Leben den Zwiespalt aufhebt und damit einer andern, zwar an sich völlig jenseits einer irgendwie vorstellbaren Wirklichkeit liegenden, jedoch um so dringender begehrten Welt Platz macht. Darum fällt für das Christentum der überlieferte Unsterblichkeitsglaube zusammen mit dem Erlösungsgedanken, der das sinnliche Leben in einen dem Untergang bestimmten Schein verwandelt. Hier eröffnet sich nun aber auch eben jener Weg zur Beseitigung dieses Zwiespalts in dem Gefühl des Erlebens der Gottheit in der eigenen Seele, das ebenso unmittelbar den Gedanken der äußeren in den der inneren, der Selbsterlösung verwandelt. Ihm gegenüber bleibt dann der Gegensatz der beiden Unsterblichkeitsgedanken, des einen als einer optimistischen, des anderen als einer pessimistischen Auffassung des wirklichen Lebens, zurück. Der Optimist in diesem durch die religiöse Nebenbedeutung ergänzten Sinne des Wortes hat das äußere Erlösungsbedürfnis überwunden, weil er der Selbsterlösung gewiß geworden ist, die ihn in dem sinnlichen Leben eine Aufgabe erblicken läßt, die er zu lösen hat, um in sich selbst die Einheit seiner eigenen Seele mit der Gottheit und mit ihr die Einheit von Gott und Welt wiederzufinden. Dem in analogem Sinne verstandenen Pessimisten bleibt dagegen das sinnliche Leben ein unüberbrückbarer Gegensatz zum göttlichen Sein, und die Einheit des göttlichen und des sinnlichen Lebens wird zu einem in dieser Wirklichkeit niemals erfüllbaren Wunsch. Damit enthüllen sich aber jene Gegensätze der Gottesidee, der unserer Seele immanenten und der ihr transzendenten, als Gegensätze zweier Weltanschauungen, die einander widerstreiten und zugleich ergänzen, weil jede eine für sich bestehende und als solche durch die andere unersetzbare Weltbetrachtung darstellt. Zwischen ihnen zu wählen, steht dem einzelnen nicht frei. Sie wird ihm durch den Inhalt seines eigenen Erlebens gegeben, denn er wählt mit innerer Notwendigkeit diejenige, in der er seine Befriedigung findet, oder, wie der Ausdruck treffender lautet, diejenige, die ihn beglückt; und hier liegt eben ihr Gegensatz darin, daß zwar möglicherweise beide nacheinander, in verschiedenen Perioden des Lebens, niemals aber beide zumal diese beglückende Macht auf ihn ausüben.

Bei diesem Verhältnis der beiden religiösen Weltanschauungen, der transzendenten und der immanenten, zu den beiden empirischen Weltbetrachtungen, der pessimistischen und der optimistischen, muß man sich freilich gegenwärtig halten, daß der Pessimismus im vulgären empirischen Sinne und der religiöse Pessimismus zwei verschiedene Dinge sind. Der empirische Pessimismus sieht seine Stärke darin, daß er nicht bloß die sinnliche Welt wie sich Schopenhauer ausdrückte, für die schlechteste aller Welten, sondern auch ihre Aufbebung durch den transzendenten Optimismus einer absolut vollkommenen jenseitigen Welt für eine Täuschung hält. Sich also zum Atheismus bekennt. So kommt es, daß innerhalb der christlichen Gemeinschaft der Optimismus, dem das sinnliche Leben eine sittliche Aufgabe ist, an deren Lösung jeder innerhalb seines eigenen Lebens zu arbeiten und damit innerhalb der allgemeinen menschlichen Aufgaben zu wirken berufen ist, dieser Aufgabe gegenüber den Standpunkt des Pessimisten zwar nicht als den seinigen, immerhin aber nicht als einen falschen, sondern höchstens als einen einseitigen und nicht als den sittlich vollkommenen ansieht. Wohl ist es noch heute eine besonders in der christlichen Gemeinschaft und noch über diese hinaus innerhalb der gesamten christlichen Kultur verbreitete Anschauung, jener religiöse Optimismus, wie ihn teilweise schon die platonische Schule, dann nach ihrem Vorbild die mittelalterliche religiöse Mystik und endlich die ihre Spuren wandelnde neuere Philosophie vertritt, sei im letzten Grunde eine naturalistische und darum atheistische Weltanschauung. In nichts spricht sich dies klarer aus als in der Tatsache, daß die große Mehrzahl der äußerlich zur christlichen Gemeinschaft zählenden und daneben von der philosophischen Kultur unserer Zeit berührten Menschen sich scheut, eben zu jener religiösen Anschauung sich zu bekennen, die für sie in Wahrheit die einzig mögliche ist. So kommt es, daß der religiöse Optimist auch den Pessimisten für einen Mitchristen gelten läßt, daß aber der religiöse Pessimist den Optimisten für einen Abtrünnigen, und daß sich dieser dies ungerechte Urteil stillschweigend gefallen läßt, wenn er es nicht vorzieht, öffentlich aus der Kultusgemeinschaft auszutreten, die sich die christliche nennt. Für diese führt das aber die Folge mit sich, daß nicht selten der vulgäre Unsterblichkeitsglaube an die Stelle des religiösen Glaubens überhaupt tritt. Das ist, wie ich glaube, ein auf die Dauer unhaltbarer Zustand. Es muß eine Zeit kommen, in der niemand einem Menschen die transzendente Gottesidee und die übersinnliche Welt streitig macht, wenn er ihrer nicht anraten kann, in der aber auch offen jeder zu einer Gottesidee sich bekennen darf, die der menschlichen Seele immanent ist.

Ich habe mich manchmal gefragt, wie es doch komme, daß zwei Menschen, die in ihren sonstigen Lebensanschauungen übereinstimmender Überzeugung sind oder, wenn sie es nicht sind, dies offen gegeneinander aussprechen, in dieser letzten Lebensfrage, die doch, wie man denken sollte, die wichtigste unter allen ist, sich wechselseitig ein Geheimnis bleiben. Das Bekenntnis eines Freundes, mit dem ich mich in Fragen der Wissenschaft wie der Kunst einer weitgehenden Übereinstimmung erfreute, hat mich endlich hierüber aufgeklärt. Er meinte, in seiner Jugend habe er, wie die meisten seines Alters und Berufs, in religiöser Beziehung an nichts geglaubt. Da sei plötzlich eines Tages ihm die unwiderstehliche Überzeugung gekommen, ein solches Leben ohne Gott und Unsterblichkeit sei auf die Dauer ein unerträgliches, und da habe er sich, nicht aus innerer Überzeugung, aber aus einem unüberwindlichen Glücksbedürfnis dazu entschlossen, den Gedanken an ein Leben nach dem Tode als eine Forderung festzuhalten, die in diesem Entschlusse ihren zureichenden Grund habe und zugleich für jeden Menschen, der seinen Aufgaben innerhalb der sinnlichen Welt gerecht werden wolle, eine bindende Kraft besitze. In diesem Bekenntnis ist das Motiv des Geheimnisses, das den transzendenten Unsterblichkeitsglauben begleitet, offen ausgesprochen. Es besteht in einem Willensentschluß, über den niemand einem anderen Rechenschaft schuldig, über den aber auch niemand einen anderen zur Rechenschaft zu ziehen befugt ist.

Hier sieht man nun aber auch deutlich, daß jene Vertauschung der Unsterblichkeitsidee mit der Gottesidee in Wahrheit diese letztere beseitigt, ohne für die erstere das geringste zu leisten. Dies beruht darauf, daß zwar die Immanenz des göttlichen Seins in der menschlichen Seele den Gedanken einer Transzendenz der Seele ausschließt, daß sie jedoch die Transzendenz Gottes keineswegs ausschließt, sondern vielmehr die einzige feste Grundlage dieser Transzendenz bleibt, nachdem sich die Gottesbeweise, die eine solche erzwingen wollten, als täuschende Trugbilder der Vernunft herausgestellt haben. Wo soll in der Tat das menschliche Bewußtsein die Gewißheit eines göttlichen Seins hernehmen, wenn nicht aus seinem eigenen Sein oder, anders ausgedrückt, woher die Gewißheit einer Transzendenz Gottes jenseits der wirklichen Welt außer aus der Immanenz Gottes in dieser Welt? wozu aber könnte umgekehrt die Immanenz Gottes in unserer Seele anders führen als zur Aufhebung des Gedankens eines erst in einer transzendenten Welt sich verwirklichenden Seins dieser Seele? Darum beruht jene Vermengung der Begriffe schließlich darauf, daß sie die Übertragung der Gottesidee in uns auf ein göttliches Sein außer uns in einen Übergang unseres inneren seelischen Lebens in ein äußeres jenseits der Wirklichkeit umwandelt, für die genau die Umkehrung dieses Verhältnisses gilt. Das göttliche Sein in uns ist das einzige lebendige Zeugnis für ein das Universum erfüllendes göttliches Sein außer uns, dagegen gibt uns die Gottesidee nur die Gewißheit einer in uns, nicht einer außer uns lebenden Wirklichkeit unseres persönlichen Daseins. Der überlieferte Unsterblichkeitsglaube, der die Transzendenz der Seele der Transzendenz der Gottheit substituiert, vertauscht also die beiden Verhältnisse miteinander: den positiven Zusammenhang der religiösen Ideen macht er zu einem negativen, den negativen zu einem positiven, um die individuelle Unsterblichkeit als die dominierende religiöse Idee zurückzubehalten, neben der die Gottheit nur die Bedeutung eines Hilfsbegriffs bewahrt. Mit diesem quid pro quo verbindet sich dann die entsprechende Umkehrung der Stellung, die man dem Verhältnis des sittlichen Lebens zu den religiösen Ideen anweist. Das Sittliche hat im Sinne der Vertauschung jener religiösen Wertbegriffe mit dem Sinnlichen Leben überhaupt nichts zu tun, sondern es stammt aus der übersinnlichen Welt, während doch alle sittlichen Handlungen dieser sinnlichen Welt angehören und außerhalb derselben ebenso unvorstellbar sind wie der Begriff eines übersinnlichen Lebens, so daß sich nun die sittlichen Ideen in die konkreten Inhalte der dem gleichen sinnlichen Bewußtsein angehörenden religiösen Ideen verwandeln sollen, eine Behauptung, die offenkundig der Erfahrung widerstreitet. Darum gibt es zwar keine Sittlichkeit ohne Religion. Ihr Zusammenhang besteht aber nicht darin, daß die sittlichen Normen uns in der Form religiöser Gebote überliefert werden, sondern darin, daß die sittliche Welt die Form ist, in die sich die Gottesidee in dem Bewußtsein der einzelnen Menschen und der Gemeinschaft, in der sie leben, offenbart. In diesem Sinne sind die sittlichen Ideen nicht deshalb zugleich religiöse Ideen, weil sie uns als göttliche Gebote erscheinen, wie Kant sich ausdrückte, sondern sie sind Lebensformen des Menschen, insofern in ihm selber die Gottheit lebendig ist.

Das klare Bewußtsein dieser Einheit lag in jenem Augenblick, in welchem ich für eine lange Zeit von allen den Aufgaben Abschied nahm, die ich meinem Leben gestellt, noch ferne, aber es hat mir zu tagen begonnen, indem ich von diesem Moment an für alle Zukunft den Ausgangspunkt gefunden hatte, nach welchem sich die äußeren Erlebnisse und die sich ihnen anreihenden Erkenntnisse zu einem innerlichen Zusammenhang ordneten. Denn von nun an begann ich zugleich meine Erlebnisse und Erkenntnisse als zugehörig zu einer in sich mehr und mehr einheitlichen Weltanschauung zu betrachten, die in der sinnlichen Welt ihr notwendiges Substrat und in der geistigen Welt die dem menschlichen Bewußtsein gegebene lebendige Form dieses Substrats finde. Von diesem Augenblick an ist es mir in fortschreitendem Maße klarer und klarer geworden, daß es keine wissenschaftliche Erkenntnis gibt, die nicht zugleich in irgendeinem Maße philosophische Erkenntnis wäre, und ebenso umgekehrt keine philosophische Erkenntnis, die nicht mit der Gesamtheit der einzelnen wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammenfiele. Von da an hat sich mir daher in fortschreitendem Maße die Nötigung aufgedrängt, die einzelne Arbeit jedesmal gleichzeitig der tatsächlichen Wirklichkeit und einer das Ganze dieser Wirklichkeit umfassenden Weltanschauung einzuordnen, und ich konnte mich endlich der Überzeugung nicht verschließen, daß die Aufgabe der Philosophie wesentlich darin bestehe, jenen Zusammenhang zwischen der empirisch-sinnlichen Wirklichkeit und ihrer geistigen Wiedererzeugung in dem menschlichen Bewußtsein wiederzugeben. Eben das schien mir in der Geschichte der Philosophie zum ersten Male in der Sprache seiner Zeit deutlich ausgesprochen zu sein in der platonischen Ideenlehre, insofern sie die Ideen als die geistigen Urbilder der Dinge auffaßte, dann in der Leibnizschen Umformung der Ideenwelt in ein den logischen Forderungen seines Zeitalters angepaßtes System seelischer Einheiten, das Monaden-System, und endlich in der kühnen, aber in seiner Durchführung einseitig logizistisch und darum in seiner Anwendung scheiternden dialektischen Methode Hegels.

Unter diesem Gesichtspunkt drängte sich mir aber je mehr ich mir dieses Zusammenhangs zwischen Welterkenntnis und Weltanschauung oder, wie man es zu nennen pflegt, zwischen empirischer Wissenschaft und philosophischer Gesamtbetrachtung bewußt zu werden begann, zugleich die Zerfahrenheit gewisser zwischen den Hauptepochen der Philosophie liegender und teilweise auf sie zurückwirkender Etappen ihrer Entwicklung auf. Keine Epoche der Philosophie des 19. Jahrhunderts hat in dieser Beziehung eine bezeichnendere Rolle gespielt als der sogenannte Neukantianismus. Er läßt sich nach seiner positiven Tendenz wie nach der Leerheit seines Inhalts durch nichts charakteristischer ausdrücken als durch das Schlagwort: "Zurück zu Kant!" Das Wort erhob sich als ein lauter Schlachtruf, indem sich um die Mitte des Jahrhunderts die Überzeugung verbreitete, daß die vorangegangenen idealistischen Systeme unhaltbar geworben seien. Da nirgends ein Antrieb sich regte, der auf eine wirkliche Weiterbildung der Philosophie von dem in diesen Systemen erreichten Punkte aus gerichtet gewesen wäre, so stellte sich die neue Philosophie auf den Standpunkt, es handle sich nun lediglich darum, unter den vorangegangenen älteren Systemen dasjenige für die neue Zeit zu wählen, das eine solche anscheinend endgültige Beseitigung noch nicht erfahren habe, ein Standpunkt, der eigentlich die Voraussetzung in sich schloß, die Weltanschauungen der verschiedenen Zeitalter seien nicht an die gesamte geistige Verfassung der jeweiligen Seiten geknüpft, sondern sie seien beliebige individuell erfundene Betrachtungsweisen, die man wählen könne, welcher Zeit auch die Philosophen, die sie erfanden, angehören mochten. Unter ihnen war dann allerdings Kant der nächstliegende. Für diese Zufallswahl, wie man sie nennen könnte, ist es kennzeichnend, daß immerhin einzelne irgendeinen älteren Philosophen, z. B. den Aristoteles oder auch Plato, vorzogen. So ist es denn höchst merkwürdig, daß diese Neukantianer, die doch durchweg zugleich Historiker der Philosophie waren, nicht einmal das aus der Geschichte gelernt hatten, daß die Philosophie einer Zeit ein Spiegelbild des Geistes der Zeit selbst ist. Gerade das hatte aber Hegel klar erkannt, und diese Erkenntnis fand ihren charakteristischen Ausdruck darin, daß er den Begriff der Moral, den Kant aus der älteren individualistischen Ethik, der er selbst noch zugetan war, entnommen hatte, dem der Sittlichkeit unterordnete, unter welchem er die gesamte empirische Welt verstand, von der die geistige Welt beherrscht wird. Daß man diesen engen Zusammenhang zwischen der neuen ethischen Weltanschauung mit dem Geist der Zeit übersah und statt dessen die wesentlich als eine Vorstufe derselben anzusehende Kantische Moral als eine jetzt wieder brauchbar gewordene wählte, ist für die philosophische Geistesarmut des Zeitalters kennzeichnend. Sie schließt die Meinung ein, in philosophischen Dingen könne man, wenn ein Fortschritt nicht zu Gebote stehe, gelegentlich einmal zu einem Rückschritt seine Zuflucht nehmen, unbekümmert darum, daß dieser zurückliegende Standpunkt schon einmal überwunden worden war.

Alle diese der Zukunft vorauseilenden Gedanken und auch manche andere, die erst in viel späterer Zeit wirksam geworden sind, traten jedoch für lange Zeit in den Hintergrund des Bewußtseins, als ich von der erzwungenen Pause wieder zur wissenschaftlichen Arbeit zurückkehren durfte. Diese setzte naturgemäß da wieder ein, wo ich sie unvollendet zuvor unterbrochen hatte. Hier waren es zwei Probleme, die zur Fortführung aufforderten. Das nächste bestand in den Fragen der Nerven- und Muskelphysiologie, mit denen ich in Berlin begonnen und die wenigstens nach einem relativen Abschlusse verlangten, der, wenn er zu günstigen Resultaten kam, eine festere Orientierung über das Verhältnis der physiologischen zur physikalischen Mechanik herbeiführen konnte. Weiter zurück lagen die Versuche über Sinneswahrnehmungen, die mich hauptsächlich während meiner Assistentenzeit in der Heidelberger Klinik beschäftigt hatten und die mein größeres Interesse in Anspruch nahmen, weil sich in ihnen bereits psychologische Fragen von allgemeinerer Bedeutung erhoben.