17.
 
Habilitation in Heidelberg. Im Zustand des Sterbens. Der Tod als Erlösung. Die Furcht vor dem Tode.
 
 

In Heidelberg waren es zwei Aufgaben, denen ich nach meiner Rückkehr von Berlin entgegensah. Die eine war eine äußere, verhältnismäßig leichte: die Habilitation in der medizinischen Fakultät für das Fach der Physiologie. Die andere war eine schwierige und langwierige: Sie bestand zunächst in der Fortführung der in Berlin angefangenen muskelphysiologischen Arbeiten und dann in der Rückkehr zu den sinnesphysiologischen Studien, die ich als klinischer Assistent begonnen hatte. Die Habilitation erfreute sich besonderer Erleichterungen für diejenigen, die sich den Doktortitel mit Auszeichnung erworben hatten. Bei ihnen fiel das sonst geforderte Habilitationsexamen, sowohl das schriftliche wie das mündliche, überhaupt hinweg, und ebenso wurde die Promotionsarbeit gleichzeitig als Habilitationsschrift angenommen. So blieb nur die öffentliche Disputation als Bedingung für die Zulassung als Privatdozent übrig, und diese Disputation, offenbar der letzte Rest des mittelalterlichen Antritts des Baccalaureats, trug fast mehr den Charakter einer öffentlichen Schaustellung als den einer Prüfung an sich. Der Kandidat für die Privatdozentenwürde verabredete sich mit dreien seiner Freunde über die Themata, über die sie disputieren wollten, und nicht selten wurde der ganze Verlauf einer solchen Disputation vorher eingeübt, um ihr einen möglichst dramatischen Abschluß in dem Sieg des Kandidaten über seine Gegner und in seiner Beglückwünschung durch diese zu verleihen. Diese Themata ließ man mit noch einigen anderen, die bei der Disputation außer Betracht blieben, drucken und verteilen, mußte sich dann aber auch darauf gefaßt machen, daß irgendeiner aus der Zuhörerschaft unerwarteterweise ein Thema aufgriff, um es zu bestreiten. Doch waren solche Zwischenfälle seit Menschengedenken kaum mehr vorgekommen. Die gedruckten Themata erstreckten sich jedoch über alle Fächer, über die der künftige Dozent etwa einmal zu lesen beabsichtigte. Nach der Disputation vereinigten sich dann die Disputierenden zu einem feierlichen Schmause mit dem Habilitanten, und dieser pflegte nun sofort eine Vorlesung für das nächste Semester am schwarzen Brett anzukündigen.

Es war ein etwas kühnes Unternehmen, das ich wagte, als ich für dieses mein erstes Semester bereits die gesamte Physiologie in 6 wöchentlichen Stunden in meiner eigenen Wohnung mit Begleitung von Demonstrationen und Experimenten zu lesen begann. In der Tat zeigte es sich. bald, daß es ein allzu kühnes gewesen war. Ich hatte soeben den allgemeinen Teil der Physiologie glücklich vor meinen vier Zuhörern beendet und war im Begriff, zu einem speziellen Kapitel überzugehen, als ich von einem jähen Blutsturz überrascht wurde, der sich am selben Tag, immer heftiger werdend, wiederholte und mich auf viele Wochen an das Krankenlager fesselte. Auf die geplanten Vorlesungen mußte ich ebenso wie auf die Arbeiten, die ich mir für die nächsten Semester vorgenommen hatte, verzichten. Eine stille Leidenszeit begann, die erst nach reichlich Jahresfrist einer allmählichen Wiederaufnahme der nach der Rückkehr von Berlin begonnenen Arbeiten Platz machte.

Den Einfluß, den dieser, wie ich bekennen muß, durch die Überhastung und Überlastung der letzten Jahre selbstverschuldete Zusammenbruch hatte, war in der Verzögerung, die er auf meine weiteren Unternehmungen ausübte, von geringer Bedeutung, wenn ich ihn mit der tiefgreifenden Wirkung vergleiche, die er auf mein gesamtes Leben gehabt hat. Da war es freilich nicht diese ganze Leidenszeit, sondern es waren ihre ersten Stunden und Tage, von denen ich sagen darf, daß sie eine völlige Umkehrung meiner Lebensanschauung hervorgebracht haben. Die Ärzte hatten mich aufgegeben, wie ich an ihrem Verkehr mit mir bemerken konnte. Ich selbst hatte meinen auswärts bei einem Amtsgericht tätigen Bruder kommen lassen, um von ihm Abschied zu nehmen. Niemals wieder in meinem Leben habe ich aber später den Eindruck einer so vollkommenen Ruhe empfunden wie in diesen Stunden. Das Gefühl abgeschlossen zu haben mit allem was das Gemüt beunruhigen kann, mit allem Streben und Wollen, dieses Gefühl das Leben vollendet zu haben ist vielleicht dem anderen des reinsten, vollkommensten Lebensgenusses am nächsten verwandt. Es setzt allerdings voraus, daß das Ende zugleich ein schmerzloses sei, und es mag sein, daß es eben darum vielen, wenn nicht den meisten Menschen in Wirklichkeit versagt ist, wie man wohl daraus schließen darf, daß so viel vom Todeskampf, aber kaum jemals von der Ruhe des Sterbens die Rede ist. Diese Ruhe des Sterbens einmal erlebt zu haben schätze ich für einen Gewinn, dem nichts anderes gleich kommt. An ihn ist eben jenes Gefühl der Unvergleichbarkeit dieses Erlebnisses, der Unmöglichkeit, daß es sich jemals wiederholen könne, untrennbar gebunden. Eben darum mag es denen versagt sein, für die der Abschied vom Leben von Schmerzen begleitet ist. Gegen diese gibt es nur eine Hilfe, die vielleicht selten einmal einem Menschen erreichbar, den meisten aber versagt ist: diese Hilfe besteht darin, die körperliche Gebundenheit trotz der Macht, die sie ausübt, ganz zu vergessen und sich so durch Selbstüberwindung zu jener Seelenruhe durchzuringen, die dem schmerzlos Sterbenden von selbst beschieden ist. Mir ist dieser Gegensatz vor nicht langer Zeit noch einmal entgegengetreten in dem Abschied, den ich von einem mit dem Tode ringenden Freunde nahm. Er wünschte mir, dereinst einmal völlig bewußtlos aus dem Leben zu gehen, ohne von dem Augenblick des Scheidens eine Ahnung zu haben.

Bei diesem Wunsche erneute sich in mir momentan die Erinnerung an jenes Erlebnis meiner Jugend, und ich sagte mir: ich wünsche das Gegenteil, um keinen Preis möchte ich dieses Leben verlassen, außer mit vollem Bewußtsein diesen Akt selber erlebt zu haben.