6. Das Assimilationsproblem und der Fluß des psychischen Geschehens.

    Es ist bezeichnend für die Zurückdrängung der kausalen Entstehungsprobleme durch das einseitige, rein phänomenologisch betrachtete Entwicklungsprinzip, daß es in dieser Einseitigkeit selbst eigentlich entwicklungslos ist, und daß hier als das Vorbild der Psychologie nicht die Physiologie, die doch mindestens zum Teil diese Beachtung verdiente, sondern die Biologie hingestellt wird, wobei man unter dieser von vornherein im wesentlichen die vergleichende Entwicklungsgeschichte zu verstehen pflegt. Daß die Physiologie noch andere Aufgaben hat, bei denen sie von der Entwicklungsgeschichte im wesentlichen abstrahieren kann, ja abstrahieren muß, wenn nicht die verschiedenen Probleme in Verwirrung geraten sollen, bleibt dabei unbeachtet. Der Chemismus der Stoffwechselvorgänge, der Mechanismus der Blutbewegungen, sie und alle anderen das Gleichgewicht der normalen Funktionen bewirkenden Vorgänge müssen notwendig zunächst in einem gegebenen, auf einer Fülle kausaler Entstehungs-, nicht Entwicklungsvorgänge beruhenden Zustande verstanden sein, ehe man sich mit irgend einer Aussicht auf Erfolg der Untersuchung der Entwicklung, also jenen genetischen Problemen im eigentlichen Sinne des Begriffs der Genese zuwenden kann. Nun besteht für die Physiologie, abgesehen von den Wahrnehmungsproblemen, die sie von Rechtswegen der Psychologie überlassen muß, keine Gefahr, die Aufgaben der Entwicklungsgeschichte und der kausalen Betrachtung der das Leben des entwickelten Organismus konstituierenden Funktionen mit einander zu vermengen. Um so mehr ist der Gefahr dieser Vermengung die Psychologie ausgesetzt, und bezeichnenderweise ist es gerade das Problem, das sie heute von der Physiologie übernommen hat, das Wahrnehmungsproblem, in dessen Behandlung jene Vermengung am klarsten zutage getreten ist. Es hängt dies aber wiederum mit jenen Eigenschaften des Bewußtseins zusammen, in denen der wesentliche Unterschied des unmittelbaren seelischen Erlebens, das man wohl auch fälschlicherweise die "innere Beobachtung" zu nennen pflegt, von der sogenannten äußeren Beobachtung beruht. Den unserer unmittelbaren Auffassung gegebenen Verlauf des objektiven Geschehens vermag die physikalische Betrachtung nur beschreibend zu verfolgen, indem sie die unmittelbare zeitliche Kontinuität des Geschehens schildert; falls sie nicht hypothetische Hilfsbegriffe herbeizieht, wie sie z. B. die Energieprinzipien oder gewisse andere teleologische Prinzipien der Mechanik zur Verfügung stellen. Unser Bewusstsein setzt dagegen in vielen Fällen neu in ihm entstehende Gebilde zu früheren, unter Umständen durch lange Intervalle von ihnen getrennten in Beziehung, und die psychologische Analyse gerade der Wahrnehmungsprozesse weist nach, daß solche Beziehungen in jede Wahrnehmung des entwickelten Bewußtseins eingehen. Wir bezeichnen diese Erscheinungen im allgemeinen als "reproduktive Assimilationen". Ihr Einfluß auf den Wahrnehmungsvorgang tritt uns am deutlichsten bei den Gesichtswahrnehmungen entgegen. Zugleich scheiden sich aber bei ihnen die direkten und die reproduktiven Faktoren des Vorgangs besonders deutlich, während sich außerdem unschwer die Motive erkennen lassen, die den experimentierenden Psychologen zur Scheidung derselben zwingen. Die direkten Faktoren einer Gesichtswahrnehmung sind in dem Zusammenwirken bestimmter durch äußere Reize erweckter Lichtempfindungen mit Bewegungen des Auges bzw. den diese begleitenden Spannungsempfindungen gegeben. Sucht man nun aus diesen direkten Faktoren nach den bekannten Methoden der Variation der Bedingungen und unter der Voraussetzung des Prinzips der psychischen Resultanten den Inhalt der Wahrnehmung abzuleiten, so bleibt im allgemeinen ein Rest, der aus diesen direkt gegebenen Bedingungen des Wahrnehmungsaktes nicht zu erklären ist, wohl aber aus einem früheren oder aus einer größeren Zahl früherer Akte, von denen man annehmen muß, daß sie auf den gegenwärtigen einwirken. Bei der Beurteilung dieser Erscheinungen der reproduktiven Assimilation, die allerseits anerkannt werden, setzt nun aber der Unterschied der kausalen und der phänomenologischen Betrachtungsweise ein. Für die erstere eröffnet sich hier eine Reihe schwieriger, zum Teil noch ungelöster Aufgaben. Sie bestehen in dem geforderten Nachweis, wie und durch welche Bedingungen die reproduktiven Elemente zu dieser Teilnahme an der Gesamtheit der das Endresultat bestimmenden Ursachen gelangt sind. In vielen Fällen lassen sich hier in begleitenden, die Assoziation unterstützenden Hilfsassoziationen Instanzen auffinden. In anderen Fällen wird man sich vielleicht endgültig mit der Tatsache begnügen müssen, daß reproduktive Motive überhaupt vorhanden waren. Jedenfalls muß der Psychologe, will er nicht der Aufgabe einer kausalen Interpretation gänzlich untreu werden, voraussetzen, daß frühere Wahrnehmungen in späteren als kausale Faktoren wirksam werden können, die aus der allgemeinen psychischen Kausalität der Wahrnehmungsvorgänge hervorgegangen sind. Dies führt aber auf den für alle Kausalität gültigen Grundsatz zurück: "ohne Entstehung keine Entwicklung".

    Auf einem wesentlich anderen Standpunkte steht der Phänomenologe. Er akzeptiert zunächst, wie wir sahen, den ihm von der Physiologie überkommenen Nativismus. Indem aber auch er sich der Anerkennung des Einflusses früherer psychischer Inhalte auf spätere Vorgänge nicht entziehen kann, sieht er gerade in diesen ein Mittel, auf der einen Seite einer kausalen Interpretation zu entgehen, auf der anderen Seite dem nun einmal nicht ganz zurückzudrängenden Kausalitätsbedürfnisse durch die Anwendung der "genetischen" Betrachtungsweise gerecht zu werden. Warum sollte auch nicht jeder psychische Vorgang nach dem Vorbild der reproduktiven Assimilation zu deuten, also auf früher vorhanden gewesene psychische Inhalte zurückzuführen sein? In der Tat würde nun dem nichts im Wege stehen, wenn es erlaubt wäre, eine "Entwicklung ohne Entstehung" anzunehmen. Im übrigen ist ersichtlich, daß hierbei die oben erwähnte Zweideutigkeit des Begriffs der "Genese" insofern eine verhängnisvolle Rolle spielt, als der Schein erweckt wird, es handle sich um eine wirkliche Kausalität. Eine solche steht aber eigentlich hier ebensowenig in Frage wie bei den "Zweckursachen" der alten Teleologie.