5. Genetische und kausale Interpretation.

    Ich bin nicht sicher, ob die Gedanken, die ich oben aus dem Nebeneinander phänomenologischer und kausaler Gesichtspunkte abzuleiten versucht habe, die Motive erschöpfen, die bei der Entstehung des Begriffs einer "Entwicklungspsychologie", zum Teil vielleicht unbewußt, wirksam gewesen sind. Aber es kam hier vor allem darauf an, den Zusammenhang dieser Bestrebungen mit den gegenwärtigen Strömungen der Naturwissenschaft und Philosophie aufzuzeigen. Denn nur wenn man sich diesen Zusammenhang vergegenwärtigt, wird sich auch der geeignete Standpunkt unbefangener Beurteilung gewinnen lassen. Dabei fällt nun vor allem die Analogie mit der Biologie ins Gewicht. Läßt sich doch nicht verkennen, daß sich die Biologie gegenwärtig einer doppelten Bedeutung bewußt geworden ist, die der Entwicklungsbegriff selbst und noch in höherem Grade der in Anlehnung an ihn gebrauchte eine "genetischen Betrachtung" besitzen kann. "Genetisch" kann eine Interpretation in dem Sinne sein, daß sie rein phänomenologisch die empirisch gegebenen Entwicklungsstufen an einander reiht. "Genetisch" pflegt man aber auch bisweilen jede kausale Interpretation zu nennen, selbst wenn sie sich nur auf ein einzelnes, gar nicht in eine eigentliche Entwicklungsreihe gebrachtes Phänomen bezieht, insofern die Entstehung des Phänomens aus seinen Ursachen eine "Genese" genannt wird. In der Biologie haben sich diese beiden Begriffe der Genese seit langer Zeit äußerlich dadurch geschieden, daß die erste Form, die der phänomenologischen Genese, der Entwicklungsgeschichte zugewiesen wurde, während der Physiologie die kausale Erklärung der einzelnen Lebenserscheinungen zufiel, die man nun im Sinne jenes Sprachgebrauchs, nach der jeder Vorgang, bei dem aus irgend einer vorangegangenen Ursache eine ihr folgende Wirkung entspringt, als eine Genese bezeichnet wird, ebenfalls eine "genetische" Betrachtung nannte. Es ist aber klar, daß dieser Fall von dem der eigentlichen Genese, bei der ein einzelner Zustand als Glied in einer Reihe zusammengehöriger Zustände betrachtet wird, wesentlich abweicht, und daß hier in Wahrheit dem Begriff der Entwicklung der der Entstehung substituiert ist. Die Vermengung dieser beiden Bedeutungen ist also zunächst sprachlichen Ursprungs. Das Wort "Genesis" ist eben zweideutig: es umfaßt die beiden Begriffe der Entwicklung und der Entstehung. Aber wesentlich begünstigt wird die daraus entspringende gelegentliche Vertauschung der Begriffe durch die gleichzeitige Vermengung der phänomenologischen und der kausalen Betrachtung. Hier hat die Biologie, die ja in dieser Beziehung das Vorbild der Psychologie gewesen ist, bereits einen wichtigen Schritt zur Beseitigung solcher Irrungen getan. Sie hat der Entwicklungsgeschichte mit ihrer morphologischen, rein phänomenologischen Betrachtung der Erscheinungen die sogenannte "Entwicklungsmechanik" gegenübergestellt, der sie die kausale Ableitung einer jeden Stufe der Entwicklung aus der vorangegangenen als Aufgabe zuweist, und die demnach, wenn man sie sich über alle Stufen ausgedehnt denkt, zur kausalen Deutung der ganzen Entwicklung führen müßte. Der Ausdruck "Mechanik" ist dabei wohl heute schon als unzulänglich erkannt. Der allgemeinere einer physikalisch-chemischen Analyse der Prozesse würde zutreffender und weniger mißverständlich sein. Doch das Wesentliche liegt nicht in diesem Namen, sondern in der durch die kausale Betrachtung geforderten Ableitung eines jeden Zustandes innerhalb der Reihe aus dem unmittelbar vorausgegangenen mit Hilfe der kausalen Analyse der zwischen beiden vermittelnden Vorgänge.

    In der "Entwicklungspsychologie" laufen nun diese von der Physiologie im allgemeinen streng auseinander gehaltenen und dadurch schließlich auch in der physiologischen Entwicklungsgeschichte sorgfältig unterschiedenen Begriffe des eigentlich Genetischen oder der Genese als Entwicklung und des uneigentlich Genetischen oder der Genese als Entstehung völlig unterschiedslos durcheinander. Es ist aber keine Frage, daß diese zu einem guten Teil durch den laxen Sprachgebrauch verschuldete Unklarheit auf die ganze Auffassung der psychologischen Aufgaben trübend gewirkt hat. Und noch ein anderer Umstand spielt dabei eine verhängnisvolle Rolle: bei diesem gemischten Gebrauch des Begriffs drängt sich doch immer wieder die phänomenologische Bedeutung in den Vordergrund. Das hat seinen leicht verständlichen Grund darin, daß zwar sehr viel von "Gesetzen der Psychologie" und sogar von "genetischen Gesetzen" geredet wird, daß man sich aber nicht im geringsten über die Prinzipien Rechenschaft gibt, die für die psychologischen Gesetze ebensogut wie für die Naturgesetze gelten müssen. In Ermangelung dessen werden dann begreiflicherweise die Naturgesetze stillschweigend auf die seelischen Zusammenhänge übertragbar gedacht, sofern man sich nicht etwa überhaupt unter diesen psychischen Gesetzen völlig unbestimmte Möglichkeiten denkt, mit denen sich eine ferne Zukunft vielleicht einmal zu befassen habe. In beiden Fällen bleibt natürlich nichts anderes übrig, als daß man überhaupt auf eine kausale Analyse verzichtet. Wird sie doch bisweilen – so auch von Krueger – für unerlaubt erklärt, falls sie versuchen sollte bis auf die letzten nicht weiter zerlegbaren Ursachen zurückzugehen, obgleich dies eigentlich eine Forderung ist, die jeder kausalen Analyse als eine selbstverständliche zugrunde liegt. Dies führt dann wieder allen den psychologischen Aufgaben gegenüber, die nicht dem Gebiet der "eigentlichen Genese" zufallen, zu jenem Phänomenologismus, der bei den einzelnen Problemen mit Notwendigkeit zum Nativismus wird, und dessen Wahlspruch sich im Hinblick auf die oben erwähnte Bedeutung der Begriffe der Entstehung und der Entwicklung in die Formel fassen ließe: es gibt keine Entstehung, es gibt nur eine Entwicklung, worauf zu erwidern wäre: eine Entwicklung ohne Entstehung dreht sich entweder im Kreise wie Nietzsches "ewige Wiederkehr", oder sie führt auf ein Schöpfungswunder zurück, das, wie die Animalkulisten unter den Biologen des 17. Jahrhunderts meinten, im Samen Adams die ganze künftige Menschheit in sich schloß.