4. Der Begriff des Gesetzes in der Psychologie.

    An vielen Stellen seiner Schrift redet Krueger von "psychologischen Gesetzen", insonderheit von "Entwicklungsgesetzen". Was er aber unter solchen Gesetzen versteht, wie er sich insonderheit ihr Verhältnis zu den Naturgesetzen denkt, darüber hat er sich leider nicht ausgesprochen. Man muß wohl annehmen, daß er diese geistigen Gesetze, ganz analog etwa wie die empirischen Naturgesetze, als Verallgemeinerungen aus der Erfahrung ansieht. Aber ein in der Naturwissenschaft so trefflich bewanderter Psychologe sollte sich doch sagen, daß es zur Aufstellung von Naturgesetzen im strengeren Sinne des Wortes vor allem bestimmter Prinzipien bedarf, die nicht sowohl Gesetze als vielmehr allgemeine Grundsätze für die Feststellung von Gesetzen sind, und über die man sich Rechenschaft geben muß, wenn das Reden von Gesetzen nicht im ganzen ein zielloses bleiben soll, weil ein Gesetz, das solcher prinzipieller Grundlagen entbehrt, kaum etwas anderes als eine Konstatierung von Tatsachen sein kann, auf eine kausale Erklärung der Erscheinungen aber, wie sie die fundamentalen Naturgesetze zu geben suchen, verzichten muß. So gibt es ohne das Trägheitsprinzip keine Gesetze der Mechanik, ohne das Prinzip der Energie kein im weiteren Sinne physikalisches Gesetz. Zu diesen kommen noch andere, zum Teil verborgenere. Boltzmann hat eine ganze Anzahl solcher als maßgebend für die Gesetze der klassischen Mechanik in der Einleitung seines Werkes über diese aufgestellt. Nun klagt Krueger, die seitherige Psychologie habe sich immer nur die Mechanik zum Muster genommen; aber er sagt nicht, von welcher Art er sich die Prinzipien denkt, auf die die Psychologie gegründet werden soll. Sie soll nach ihm "Entwicklungspsychologie" werden, und er weist in diesem Sinne auf die Biologie als ihr Vorbild hin. Also werden es auch hier Entwicklungsprinzipien sein, nach denen wir zu suchen haben. Doch ob er sich diese Prinzipien identisch mit denen der Biologie denkt oder wesentlich anders, sagt er nicht. Wohl wird auf die Bedeutung der Wertbegriffe für das gesamte geistige Leben eindringlich hingewiesen (S. 221 ff.). Über die Entstehung dieser Begriffe, die gewiß auch ein in eminentem Sinne psychologisches Problem ist, und darüber, wie sie sich zu den zu suchenden Entwicklungsgesetzen verhalten, erfahren wir aber nichts.

    So berechtigt nun die Forderung einer Philosophie der Werte sein mag, sie ist vorläufig ein Zukunftsprogramm, das uns in der Psychologie nicht weiter hilft, wenn wir nicht in dieser selbst schon einen einigermaßen festen Grund unter den Füßen haben. Sonst kann es sich ereignen, daß in die Psychologie, die dieser künftigen Philosophie der Werte als Grundlage dienen soll, Voraussetzungen eingehen, die diesem Zweck widerstreiten, weil sie einem außerhalb der Psychologie und darum außerhalb der Entstehung der Wertbegriffe liegenden Vorbilde entlehnt sind. In der Tat kann man sich, wenn in der Psychologie die Formulierung allgemeingültiger Gesetze gefordert wird, die als "Entwicklungsgesetze" zu einer "Entwicklungstheorie" zu verbinden seien, kaum des Eindrucks erwehren, daß hier dem Psychologen ein doppeltes Vorbild vor Augen steht: einerseits die exakte Naturwissenschaft überhaupt, deren (freilich manchmal überschätzte) systematische Geschlossenheit man auf die Psychologie übertragen möchte, andererseits die Biologie, die sich ja, besonders wenn man von gewissen speziell der Physiologie im engeren Sinne zugezählten Gebieten absieht, wesentlich mit Entwicklungsproblemen beschäftigt, und in der bekanntlich "Entwicklungstheorien" eine überwiegende Rolle spielen. In der Tat, sucht man nach den Vorbildern, die in den letzten Jahrzehnten vielfach, und leider muß man sagen auch vielfach irreführend, auf die psychologische Forschung gewirkt haben, so ist es, wie mir scheint, viel weniger die Mechanik, die in dieser Beziehung kaum in Betracht kommt, als vielmehr gerade die Biologie, was ja bei dem engen Zusammenhang der seelischen und der physischen Lebensvorgänge begreiflich genug ist, aber doch leicht dazu führen kann, daß man Prinzipien, die für den physikalischen Chemismus der Lebensvorgänge oder für die physiologische Entwicklungsgeschichte eine große Bedeutung besitzen, unbesehen auf die Psychologie überträgt: ich erinnere hier nur an den Mißbrauch, der mit dem Energieprinzip auf psychologischem Gebiet getrieben worden ist, sowie an die in der Regel ohne einen weiteren Anhalt als etwa den eines metaphysischen "Paralellismus" unternommene Übertragung des biologischen Prinzips der Wiederholung der Phylogenese in der Ontogenese auf die psychologische Entwicklung des Kindes und die des Naturmenschen. Nicht eine psychische Mechanik, von der höchstens noch bei einigen alten Herbartianern, die noch dazu, wie Herm. Paul, meist außerhalb der aktuellen Psychologie stehen, sondern die Physiologie oder, soweit es sich um die Entwicklungsprobleme handelt, die Biologie scheint mir vielfach die gegenwärtigen Strömungen der Psychologie derart zu beherrschen, daß diese ihres eigenen Inhaltes verlustig geht. Vor solchen Fehlgriffen wird Krueger natürlich bewahrt. Die Psychologie gilt ihm nicht, wie manchen anderen Zeitgenossen, als eine angewandte Physiologie. Aber sie wird ihm zu einer Zukunftswissenschaft, die in der Biologie ihr Vorbild zu sehen hat. Wie die Biologie Gesetze des physischen, so soll die künftige Entwicklungspsychologie Gesetze des geistigen Lebens auffinden, und wie dort, so soll hier schließlich eine "Entwicklungstheorie" dieses Werk krönen. Mit einem Wort: Krueger denkt sich die "Gesetze" der geistigen Entwicklung durchaus analog den Naturgesetzen, als feste Formen, in die sich alles seelische Geschehen einordnen und auf Grund deren es sich zu einer Theorie zusammenfassen läßt. Nun hat die Naturwissenschaft für die Errichtung einer solchen Theorie ihr Vorbild in der Mechanik. Unausbleiblich führt daher dieses neue Ideal wieder auf das gleiche Vorbild zurück. Die Mechanik, zur Vordertür hinausgeworfen, tritt durch die Hinterpforte wieder ein.

    Ist nun aber dieses ideale Zukunftsbild einer auf unabänderliche Gesetze gegründeten Psychologie wirklich ein Ideal, und nicht vielmehr ein Idol, ein Trugbild, das nie Wirklichkeit werden kann, weil die Möglichkeit seiner Existenz auf falschen Voraussetzungen ruht? Krueger wendet sich, wie ich meine, mit Recht gegen den einseitig geprägten Begriff der "Gesetzeswissenschaften" für die Naturwissenschaften. Gesetzlos kann keine Wissenschaft sein, die sich überhaupt die Interpretation irgend welcher Erscheinungen zur Aufgabe nimmt, und gewiß ist die Aufgabe der Psychologie und, vermöge des psychologischen Einschlags, der das wesentliche Merkmal der Geisteswissenschaften ist, auch dieser letzteren die Feststellung der Gesetzmäßigkeit des geistigen Lebens. Aber der Begriff des Gesetzes wird, wie oben bemerkt, überall von den Prinzipien bestimmt, die als notwendige Voraussetzungen in die Gesetze eingehen. Wenn man daher die Psychologie eine Gesetzeswissenschaft nennt, es aber versäumt sich nach den Prinzipien umzusehen, die die Voraussetzungen ihrer Gesetze bilden, so schiebt sich, auch wo dies nicht beabsichtigt wird, von selbst diesen Gesetzen der naturwissenschaftliche oder, was noch heute im wesentlichen damit zusammenfällt, der mechanische Gesetzesbegriff unter, dessen Voraussetzungen für die Psychologie deshalb nicht gelten, weil die physikalische und die psychologische Betrachtung der Wirklichkeit verschiedene, nicht entgegengesetzte, wohl aber einander ergänzende Seiten dieser Wirklichkeit zum Inhalt haben. Wie nun das Energieprinzip auf physischer Seite die Folgerung mit sich führt, daß die fundamentalen Naturgesetze, auf die alle konkreten empirischen Gesetze, bei denen selbstverständlich veränderte Kombinationen möglich sind, zurückgehen, allezeit unverändert bleiben, oder, mit anderen Worten, wie sie als ein in sich geschlossenes System von Gesetzen vorauszusetzen sind, auch falls uns einzelne Glieder dieses Systems derzeit und vielleicht noch für unbegrenzte Zeit unbekannt sein sollten, so schließt auf psychischer Seite das Prinzip der schöpferischen Resultanten die fortwährende Neuentstehung von Gesetzen nicht aus, sondern ein, insofern in den neu entstandenen Erzeugnissen zuvor nicht vorhandene Bedingungen hinzutreten, die aus der vorangegangenen Entwicklung entsprungen sind. Darum beobachten wir überall neben einzelnen sich regelmäßig wiederholenden einfacheren Zusammenhängen, die relativ gleichförmig wiederkehren können, vor allem in den Gebieten der geistigen Entwicklung, da eben diese es ist, in der vornehmlich das Prinzip der psychischen Resultanten zur Geltung kommt, Veränderungen, die neben den veränderten Bedingungen für die fortgesetzte Wirkung der vorhandenen Gesetze auf die Bildung neuer gesetzmäßiger Verknüpfungen zurückschließen lassen. Darin liegt der Grund, weshalb wir zwar überall auf geistigem Gebiet eine Gesetzmäßigkeit vorfinden, während doch von einzelnen, bestimmt gegen andere abzugrenzenden Gesetzen nur innerhalb beschränkter Zusammenhänge die Rede sein kann. So kommt es schließlich, daß der Begriff eines "geistigen Entwicklungsgesetzes" eigentlich eine Contradictio in adjecto ist. Das Gesetz sagt aus, daß sich unter den gleichen Bedingungen die gleichen Erscheinungen wiederholen. Die geistige Entwicklung schließt aber ein, daß sich genau die gleichen Bedingungen nie wiederholen. Darum ist die geistige Entwicklung durch und durch gesetzmäßig, aber sie ist nicht in dem Sinne gesetzlich, daß sie sich auf eine bestimmte Gesetzesformulierung und damit auf eine "Entwicklungstheorie" zurückführen ließe. Deshalb pflegen dann bei den Geschichtsphilosophen jene teleologischen Nothilfen einzutreten, wie sie die Begriffe der Vernunftfreiheit, der Vollkommenheit u. a. darbieten, hinter denen eigentlich immer noch der die Anfänge der Gesellschaftsphilosophie beherrschende Gedanke einer planmäßigen Erziehung verborgen ist. Die unbegrenzte Fülle gesetzmäßiger Wirkungen wird hierbei unter Zuhilfenahme der bekannten teleologischen Umkehrung vollendet gedacht, indem man ihr einen zunächst naiv religiösen Anschauungen entlehnten letzten Zweck hinzufügt und dann die ganze Reihe in eine Kausalreihe umkehrt. Dieser Weg einer transzendenten Teleologie ist natürlich der empirischen Psychologie verschlossen. Sie muß auch da, wo es sich um Phänomene der Entwicklung handelt, bei dem Begriff der allgemeinen Gesetzmäßigkeit dieser Entwicklungen, zugleich aber bei der Forderung stehen bleiben, daß diese Gesetze der geistigen Entwicklung selbst imanent sind. Gerade dies führt nun nach dem allgemeinen Charakter der geistigen Entwicklung zu der Folgerung, daß wir, abgesehen von gewissen Erscheinungen einfachster Art, wie sie uns bei den elementaren Prozessen der Sinneswahrnehmung begegnen, auf bestimmt formulierbare Gesetze nicht etwa bloß infolge unserer zeitweiligen unvollkommenen Kenntnis der Tatsachen, sondern grundsätzlich verzichten müssen. Darum ist nun aber auch für die Gesamtauffassung des geistigen Lebens die Erkenntnis der Prinzipien wichtiger als die Feststellung von Gesetzen. Denn es ist sehr viel wichtiger, den geeigneten Standpunkt zur Beurteilung geistiger Entwicklungen überhaupt zu gewinnen, als einen einzelnen Zusammenhang zu erkennen, der doch in einem anderen, ihm äußerlich ähnlichen Fall niemals der nämliche ist.

    Diese für die gegenwärtige Lage der Psychologie bedeutsame Stellung der die Gesetzmäßigkeit des geistigen Geschehens beherrschenden Prinzipien bestätigt sich nun auch darin, daß die beiden Richtungen, deren eine die Psychologie als ein abhängiges Teilgebiet der Biologie, und deren andere die Biologie als ein Vorbild der Psychologie ansieht, so weit sie in ihrer Tendenz von einander entfernt sind, doch in den Voraussetzungen zusammentreffen, die sie der Interpretation der seelischen Vorgänge zugrunde legen. Diese Voraussetzungen können beidemal keine anderen sein, als die für die physiologische Forschung maßgebenden, die an die Vorstellungen von der objektiv gegebenen Außenwelt gebunden sind. Die Entstehung dieser Vorstellungen zu erklären ist eben die Aufgabe der Psychologie. Eine Psychologie, die am Leitfaden physiologischer Anschauungen die Entwicklung des Seelenlebens begreifen will, nimmt damit auch die Voraussetzung einer dem Subjekt gegenüberstehenden Außenwelt notwendig mit in ihre eigenen Voraussetzungen auf. Alles was die Beziehungen des Seelenlebens zu dieser Außenwelt angeht, ist daher für sie im wesentlichen überhaupt kein Problem. In nichts bewährt sich das augenfälliger als in der Theorie der Sinneswahrnehmung. Hier hat der Nativismus, der die psychischen Produkte der Wahrnehmungsprozesse als angeborene Eigenschaften der Sinnesorgane betrachtet, mit deren objektiver Existenz auch ihre Beziehung auf äußere Objekte gegeben sei, selbstverständlich den Ausgangspunkt aller sinnesphysiologischen Forschungen gebildet. Schon die Physiologie ist freilich nicht überall hierbei stehen geblieben. Aber in dem Moment, wo sie erkannte, daß sie mit jenen auf ihrem eigenen Gebiet liegenden Voraussetzungen nicht auskam, mußte sie sich entweder, wie in den sogenannten "empiristischen" Wahrnehmungstheorien, mit unzulänglichen Entlehnungen aus der Vulgärpsychologie begnügen oder die Lösung der Probleme der wissenschaftlichen Psychologie überlassen. Da standen nun den Psychologen, die sich ausschließlich der Leitung der Biologie überließen, zwei Wege offen. Sie konnten entweder mit vollen Segeln in die Bahnen des Nativimuss einlenken: das geschah durchweg von Seiten der "angewandten Physiologen", wie wir vielleicht der Kürze wegen die Vertreter der ersten der beiden oben gekennzeichneten Richtungen nennen können; und da ereignete sich bisweilen das Merkwürdige, daß gerade diese psychologischen Nativisten, unterstützt durch Reminiszenzen aus Kants transzendentaler Ästhetik, zu der naivsten Form des Nativismus zurückkehrten, die von den Physiologen selbst preisgegeben war: das Bild auf der Netzhaut z. B. wird nach ihnen als ein räumliches aufgefaßt, weil es objektiv einen Raum einnimmt. Den anderen Weg eröffnete das biologische Entwicklungsprinzip. Wozu brauchte man das individuelle Bewußtsein mit dem schwierigen Wahrnehmungsproblem zu belasten, da doch eine unendliche Reihe vorangegangener Generationen zur Verfügung stand, die dem Individuum die Anschauung dieser Außenwelt, nicht in allen einzelnen Teilen – hier konnte die einzelne Erfahrung nachhelfen – aber in der Hauptsache als Erbschaft hinterlassen habe. Daß man sich damit um das Problem herumdrückt, statt es zu lösen, ja auch nur den Versuch einer Lösung zu machen, ist einleuchtend; nicht minder, daß diese Auffassung faktisch zu einer Erneuerung der "Ideae innatae" führt. Mag nun auch eine solche Entgleisung dem Biologen verziehen werden, der sich über die psychologischen Schwierigkeiten seiner Hypothesen keine Rechenschaft gibt, der Psychologe müßte sich sagen, daß ihm unter allen Umständen die Pflicht obliegen würde, im individuellen Bewußtsein die Vorgänge nachzuweisen, in denen solche überkommene Anlagen aktuell werden, statt sich mit dem Allgemeinbegriff der "Vererbung" zu begnügen, der für sich allein ebenso viel und ebenso wenig leistet wie die Allgemeinbegriffe der alten Vermögenspsychologie.

    Ein Psychologe wie Krueger, der sich aus eigenen, wenn auch zum Teil einem hier etwas abliegenden Gebiet angehörigen Arbeiten der Forderungen bewußt ist, die an eine exakte psychologische Analyse zu stellen sind, kann natürlich auf solche Abwege nicht geraten, und er würde auf die Haltlosigkeit dieser mit einem schemenhaften Entwicklungsbegriff arbeitenden Konstruktionen vielleicht noch aufmerksamer geworden sein, wenn seinen eigenen Forschungen nicht gerade dasjenige Gebiet verhältnismäßig ferne läge, dem hier eine entscheidende Bedeutung zukommt: das der Gesichtswahrnehmungen. Hieraus allein ist es mir auch verständlich, daß er sich von der Bedeutung der Prinzipien, ohne die man in der Interpretation der Vorgänge, die zur Vorstellung äußerer Objekte und damit zugleich zur Unterscheidung von Subjekt und Objekt überhaupt führen, keinen Schritt tun kann, offenbar nur eine unzulängliche Vorstellung macht. So verfällt er denn hier notgedrungen gerade in diesen fundamentalen Gebieten einem Nativismus, der eigentlich alle Psychologie überflüssig macht. Wo die Fundamente fehlen, da kann aber ein haltbarer Bau nicht entstehen. Auch ist daran festzuhalten, daß diese psychogenetischen Probleme gänzlich außerhalb der zu beider Schaden mit ihnen vermengten erkenntnistheoretischen Fragen liegen. Ob die Anschauungsformen transzendentale apriorische Formen sind oder nicht, hat schlechterdings nichts damit zu tun, daß die Psychologie unter allen Umständen darüber Rechenschaft zu geben hat, wie eine bestimmte räumliche Vorstellung, die Auffassung einer Zeitreihe oder wie endlich die Unterscheidung mannigfaltiger Gegenstände und eines sie vorstellenden Subjekts zustande kommen.

    Kaum ein anderer Begriff ist wohl unter diesem Einfluß der aus der Physiologie überkommenen und womöglich noch vergröberten nativistischen Strömungen in der gegenwärtigen Psychologie so wechselvollen Schicksalen ausgesetzte gewesen wie der der Empfindung. Daß man den Begriff eines "Reizes", also einen rein physiologischen Hilfsbegriff, und damit dann natürlich auch den eines äußeren Objektes ohne weiteres in den der Empfindung als einen ursprünglich gegebenen und gar nicht weiter abzuleitenden Bestandteil herübernimmt, ist bekanntlich eine verbreitete Voraussetzung. Unter der Wirkung dieses Nativismus steht nun offenbar auch Krueger, wenn er in die von mir gegebene und meinen Arbeiten über die Theorie der Sinneswahrnehmung zugrunde gelegte Definition der Empfindung als des psychischen Elementes der objektiven Bewußtseinsinhalte ohne weiteres die Eigenschaft hineindeutet, Objekt zu sein. Das psychische Element einer in den Raum außer uns verlegten Vorstellung soll also eine in diesen Raum außer uns verlegte Vorstellung selbst sein. Dieses Mißverständnis, nach welchem ich die einfache Empfindung gleichzeitig als elementare Qualität und als etwas unendlich Zusammengesetztes auffassen soll – denn als äußeres Objekt würde sie doch den Raum und mit ihm eigentlich die ganze objektive Welt voraussetzen – das ist allerdings schwer begreiflich. Aber ein so erstaunliches Mißverständnis wird in der Tat erst dadurch einigermaßen verständlich, daß Krueger von dem Prinzip der psychischen Resultanten offenbar völlig unberührt geblieben ist, und daß er demnach auch von den Versuchen, die Wirksamkeit dieses Prinzips in den einzelnen Wahrnehmungsvorgängen, namentlich bei den Gesichtswahrnehmungen, nachzuweisen, keine nähere Kenntnis genommen hat. Und in der Tat war ja auch das letztere überflüssig, da er, in dem überlieferten Nativismus befangen, von vornherein die Empfindungen für äußere Objekte hielt, und also alle jene Theorien für überflüssige Bemühungen halten mußte, etwas auf mühselige Weise zu erklären, was doch eigentlich schon in den einfachen Empfindungen als ursprünglich gegeben vorausgesetzt sei. Aus diesem Mißverständnis erklärt sich denn auch, daß er auf der einen Seite die psychologische Analyse fordert, auf der anderen aber ihre Durchführung für unmöglich erklärt. So beruht sein Vorwurf, daß die Psychologie die "Analyse von Bestandteilen", welche natürlich nicht kausaler Natur sein soll, mit der kausalen "Analyse von Bedingungen" verwechsle, sichtlich darauf, daß er vermöge seines Nativismus eine Analyse in ein Nebeneinander von Teilen annimmt, wo in Wirklichkeit nur an eine kausale Analyse gedacht werden kann. So nennt er es eine bloße Teilanalyse, wenn man die Empfindungen Rot und Gelb neben einander unterscheidet. Ein solches Nebeneinandersehen ist aber überhaupt keine Analyse, sondern eine komplexe Wahrnehmung, welche neben den beiden Empfindungen den Raum und die Objektivierung der Eindrücke voraussetzt, lauter Bedingungen, die eine kausale Analyse fordern, wenn die Wahrnehmung psychologisch interpretiert und nicht einfach als gegeben hingenommen werden soll. Auch hier schiebt sich also dem psychologischen jener "phänomenologische" Standpunkt unter, der die Erklärung durch eine reine Beschreibung ersetzen will. Der hierbei stattfindende Wechsel der Standpunkte läßt sich demnach kurz folgendermaßen kennzeichnen: der Psychologe verwandelt sich zunächst den komplexen Erscheinungen gegenüber in den Phänomenologen, der der kausalen Analyse die reine Beschreibung, gelehrt ausgedrückt die "Analyse von Bestandteilen", substituiert. Dieser Phänomenologe tritt dann aber wieder als Psychologe in der Gestalt des "Nativisten" auf. Und damit würde die Reihe zu Ende sein, wenn sich nicht doch bei dem letzteren das Bedenken regte, daß er als Psychologe eigentlich zu einer kausalen Interpretation verpflichtet wäre. So schiebt er denn diese auf eine vorangegangene generelle Entwicklung zurück und wandelt damit schließlich den nativistischen in den genetischen Standpunkt um: der Nativist wird zum "Entwicklungspsychologen". Um den Forderungen der Psychologie Genüge zu leisten, müßte nun freilich das Wie dieser Entwicklung durch eine hier einsetzende kausale Analyse nachgewiesen werden. Aber davon schweigt die Geschichte: eine Entwicklungspsychologie in diesem Sinne ist im Hinblick auf die unbegrenzte Menge der Einzelprobleme, die sie in sich schließt, eine vielleicht niemals ganz zu bewältigende Aufgabe. Darum muß nun noch einmal die "Phänomenologie", die reine Beschreibung zu Hilfe kommen. Die genetische Erklärung eines gegenwärtigen Zustandes wird dadurch als vollendet angesehen, daß man sich ihre Entstehung aus den vorangegangenen Zuständen vor Augen führt. Hiermit würde eine rein phänomenologische Interpretation der psychischen Entwicklungen erreicht sein, die in der bekannten morphologischen Interpretation der biologischen Entwicklungen nach dem Prinzip der Wiederkehr der Phylogenese in der Ontogenese ihr genaues Vorbild hätte. Auch die Biologie betrachtet ja, so lange sie den rein morphologischen Standpunkt innehält, das Stadium der Phylogenese, das sich auf einer bestimmten Stufe der Ontogenese wiederholt, als die zureichende Ursache der letzteren. Hält man sich an dieses Vorbild, so eröffnet sich von hier aus die Perspektive auf eine in analogem Sinne genetische und zugleich phänomenologische Auffassung der Aufgaben der Psychologie, wenn diese auch selbstverständlich auf einem weit schwankenderen Boden steht als die über eine feste empirisch gegebene Formenreihe verfügende biologische Morphologie. Unter diesem Gesichtspunkte gewinnt zugleich die Umtaufe der Völkerpsychologie in eine "Entwicklungspsychologie" ihre tiefere Bedeutung. Als solche soll sie offenbar, ähnlich wie die morphologische Entwicklungsgeschichte den Aufbau des physischen Organismus phänomenologisch auf seine genetischen Vorstufen zurückführt, so die Bewußtseinsvorgänge des gegenwärtigen Kulturmenschen aus der vorangegangenen Entwicklung der Menschheit ableiten, in welcher der den Gegenstand der sogenannten allgemeinen Psychologie bildende heutige Kulturmensch das letzte Glied ist.