3. Die psychologische Analyse.

    Wenn die Herrschaft des Entwicklungsgedankens einen wichtigen Charakterzug der modernen Biologie bildet, der von ihr aus, wie Krueger in seiner Programmschrift mit Recht hervorhebt, auch in der Psychologie der genetischen Betrachtungsweise die Wege bereitet habe, so liegt nach allem dem, wie ich glaube, das Verdienst dieses Hinweises weniger darin, daß der genetische Gesichtspunkt speziell für die Völkerpsychologie nicht bereits anerkannt wäre, als vielmehr darin, daß er von ihm der allgemeinen Psychologie gegenüber zur Geltung gebracht wird, wo ihm die noch immer nicht ganz überwundene Nachwirkung der Herbartschen Vorstellungsmechanik im Wege steht. So mag es denn dieses energische Eintreten für den Entwicklungsgedanken entschuldigen, wenn er in seiner Beurteilung der gegenwärtigen Psychologie Herbartsche Atomistik gelegentlich auch da sieht, wo sie doch wohl nur in seiner eigenen Vorstellung existiert.

    Der Schwerpunkt der hier obwaltenden Mißverständnisse liegt augenscheinlich auf dem Begriff der einfachen Empfindung als des psychischen Elementes, auf das wir alle im weitesten Sinne objektivierten Inhalte unseres Bewußtseins zurückführen können, und dem das einfache Gefühl als das subjektive, auf das Bewußtsein selbst bezogene Element gegenüber zu stellen ist. Man kann sich hier des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß Krueger in seiner Kritik die Begriffe Element und Atom mit einander verwechselt, wodurch dann die Assoziation mit dem Seelenatom einerseits und mit den unvergänglichen Vorstellungen Herbarts andererseits nahegelegt wird. Nun sind aber Element und Atom wesentlich verschiedene Begriffe. Elemente sind letzte, nicht weiter zerlegbare Bestandteile des Gegebenen; Atome sind beharrende einfache Substanzen, die als letzte metaphysische Einheiten zum Zweck der Interpretation des Gegebenen vorausgesetzt werden. Demnach kann es empirische Elemente, aber keine empirischen Atome geben. Empirische Elemente werden wir aber solche nennen, die unmittelbar in der Wahrnehmung aufgezeigt werden können. Als solche können sie ebensowohl fließende Vorgänge wie beharrende Dinge sein. Damit, daß sie empirisch aufgezeigt werden können, ist freilich nicht gesagt, daß sie jemals isoliert wahrzunehmen sind. Vielmehr wird dies durch Anerkennung der zusammengesetzten Natur aller Erscheinungen ohne weiteres ausgeschlossen. Wohl aber müssen sie als Inhalte der Erfahrung aufzuzeigen sein. In diesem Sinne und in keinem anderen ist z. B. die Empfindung Rot als nicht weiter zerlegbare Qualität Element irgend einer gegenständlichen Vorstellung. Ferner sind die Empfindungen, da alle psychischen Inhalte fließende Vorgänge sind, selbstverständlich nicht anders denn als elementare Vorgänge zu denken. Nun nimmt Krueger offenbar an dem Ausdruck "unmittelbar" Anstoß. Da die Empfindungselemente eingestandenermaßen immer nur in den aus ihnen und begleitenden Gefühlen resultierenden komplexen Bewußtseinsvorgängen gegeben sind, so sind sie, wie er schließt, überhaupt nicht unmittelbar gegeben, folglich sind auch sie Atome. Er übersieht dabei, daß die Atome beharrende metaphysische Substanzen und als solche hypothetische Begriffe sind, die jederzeit durch ein anderes Begriffssystem, wenn es dasselbe leistet, ersetzt werden können, während die einfachen Empfindungen die letzten durch eine rein empirische Analyse des Gegebenen gewonnenen Komponenten der Erscheinungen und daher wie diese selbst fließende Vorgänge sind. Natürlich schließt das nicht aus, daß wir uns hier wie dort den Vorgang in einem bestimmten Moment zum Zweck der Untersuchung seiner Entstehung und seiner Beziehung zu anderen Inhalten fixiert denken können. Das geschieht in der Tat bei der Empfindung Rot nicht anders als bei irgend einer zusammengesetzten Gesichtsvorstellung, einem Zusammenklang usw. Diese zum Zweck der psychologischen Analyse unentbehrliche, im übrigen aber rein willkürliche Fixierung der Begriffe überträgt nun offenbar Krueger auf die elementaren Empfindungsvorgänge selbst und behauptet auf Grund dieser Übertragung, die einfache Empfindung sei nichts anderes als der Begriff eines psychischen Atoms, also einer metaphysischen Substanz.

    Was setzt er nun aber an die Stelle dieser von ihm verworfenen psychischen Elemente? Die Antwort lautet: die Psychologie kennt überhaupt keine Elemente, sondern nur zusammengesetzte Erscheinungen, Komplexe. Jede Empfindung ist verbunden mit anderen Empfindungen und mit Gefühlen, jedes Gefühl mit Empfindungen. Die reine Empfindung und das reine Gefühl als Element eines seelischen Inhaltes gedacht ist also etwas Irreales. Die Psychologie hat es aber nur mit realen psychischen Vorgängen zu tun, also mit komplexen Vorgängen, denen man nötigenfalls gewisse einheitliche "Komplexqualitäten" zuschreiben, die man aber unter keinen Umständen in ihre Elemente zerlegen darf. Wenn jedoch eine Analyse des psychischen Geschehens unzulässig ist, wie kommt dann Krueger dazu, überhaupt Empfindungen und Gefühle als Inhalte irgend welcher psychischer Komplexe zu unterscheiden? Und wie anders soll das möglich sein, als indem man sich über ihre unterscheidenden Merkmale Rechenschaft gibt? Wie endlich sollte das anders als eben durch eine Analyse der komplexen Inhalte möglich sein? Hier ist nur zweierlei denkbar: entweder muß man diese Begriffe als irreführende Fiktionen gänzlich verwerfen, oder man muß sie in der unbestimmten, verschwommenen Form stehen lassen, in der sie uns in der Sprache überliefert sind, und in der die Vulgärpsychologie alles, was klar und deutlich im Bewußtsein vorhanden ist, der Empfindung zuschiebt, alles dagegen, was mehr oder weniger dunkel und unbestimmt ist, Gefühl nennt. Den ersteren Weg hat bekanntlich W. James eingeschlagen, ohne ihn freilich zu Ende gehen zu können; den zweiten haben zumeist die "Phänomenologen" in ihrem Bemühen, an die Stelle der psychologischen Analyse die logische der Begriffe oder, was zumeist die Begriffe vertritt, der Wörter zu setzen, eingeschlagen. Unverkennbar nähert sich hier Krueger bedenklich diesen beiden Richtungen logizistischer Pseudopsychologie.

    Den überzeugenden Beleg für diese Vermengung von Logischem und Psychologischem erblicke ich in der Unterscheidung zweier Arten von Analyse, auf die Krueger großen Wert legt: einer Analyse von Bestandteilen und einer Analyse von Bedingungen. Diese Unterscheidung ist mindestens auf psychologischem Gebiet (wie übrigens in den meisten Fällen auch anderwärts) hinfällig, weil überall, wo es sich um eine Interpretation von Erscheinungen handelt, die Analyse von Bestandteilen zugleich eine Analyse von Bedingungen sein muß und daher insbesondere eine Analyse innerhalb der exakten Wissenschaften, deren Vorbild für jede psychologische Interpretation maßgebend ist, überhaupt nur im Sinne einer Analyse der Bedingungen, d. h. einer kausalen Analyse auf diesen Namen Anspruch erheben darf. In der Psychologie hat man so wenig wie in der Physik oder Physiologie etwas begreiflich gemacht, wenn man seine Teile aufzeigt. Nur der Logiker, der gelegentlich Begriffe spaltet, ohne zuzusehen, was dabei herauskommt, steht der Sache insofern anders gegenüber, als er dies nicht bloß auf reale Zusammenhänge, die eben allerwärts Kausalzusammenhänge sind, sondern auch auf beliebige Gesamtheiten, deren Teile er sich eventuell völlig unabhängig von einander denken kann, nach Willkür anwendet. Das ist denn nun auch der Standpunkt, den der psychologische Logiker, der sich selbst einen Phänomenologen schlechthin oder auch einen phänomenologischen Psychologen nennt, den seelischen Vorgängen gegenüber einnimmt. Er verwandelt die Produkte des psychischen Geschehens in Summen, und wo er dennoch über die Tatsache, daß es Resultanten dieses Geschehens gibt, die nicht in ihren Komponenten enthalten sind, Rechenschaft geben soll, da hilft er sich mit unbestimmten und an sich nichtssagenden Allgemeinbegriffen, wie "Bewußtseinslage", "Gestaltqualität", "Komplexqualität", wobei sich bei dem ersteren dieser Ausdrücke der Einheitsbegriff hinter dem freilich gänzlich im Dunkeln gelassenen Begriff der "Lage" verbirgt, in den beiden letzteren Fällen aber der zunächst der Empfindung entlehnte Begriff der Qualität andeuten soll, daß der betreffende Komplex ein ganz bestimmter sei, über dessen Charakter man aber doch nur durch Aufzählung der Teile eines solchen Komplexes Rechenschaft zu geben weiß.

    Nun gibt es freilich auch in jenen auf eine kausale "Erklärung" der Erscheinungen ausgehenden Gebieten, zu denen die Psychologie gehört, eine reine Beschreibung der komplexen Tatsachen selbst, die an sich eine notwendige Vorbereitung einer jeden kausalen Analyse ist, die aber von den Phänomenologen fortwährend mit dieser selbst vermengt oder verwechselt wird. Ein aus einer solchen Mischung hervorgegangener Begriff ist die "Komplexqualität". Sie will erklären, daß ein gegebener, aus vielen Teilen bestehender Tatbestand von uns als etwas aufgefaßt wird, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Man begnügt sich aber damit, zu dem empirisch Gegebenen den Begriff der Qualität hinzuzufügen, der aus der empirischen Unterscheidung der Empfindungen hervorgegangen ist, und der, obgleich er an sich gar keinen erklärenden Wert hat, hier dennoch auf einen solchen Anspruch macht. Demnach wird die kausale Analyse durch einen inhaltleeren Kollektivbegriff ersetzt. Infolgedessen geschieht es dann aber auch, daß wirkliche Versuche einer kausalen Analyse psychischer Vorgänge mißverständlich in aufzählende Beschreibungen oder in eine sogenannte "Analyse von Bestandteilen" umgedeutet werden. Hierfür liefert, wie mir scheint, Kruegers Besprechung gewisser psychologischer Theorien einen treffenden Beleg. So behauptet er, nach meiner Auffassung setze sich das Harmoniegefühl, das den Eindruck eines Dreiklangs ceg begleite, lediglich aus den "Partialgefühlen" der Töne ceg, also aus einer Summe von Einzelgefühlen zusammen. Das ist unrichtig: ich behaupte, aus diesen Partialgefühlen entstehe als Resultante ein dem Akkord eigenes "Totalgefühl". Das ist immerhin der Versuch einer Interpretation, ein Versuch, der allerdings insofern noch der Ergänzung bedarf, als bis jetzt die zureichenden experimentellen Grundlagen für die Feststellung der kausalen Beziehungen der Komponenten zu ihren Resultanten noch mangelhaft sind. Gleichwohl ist wenigstens der Weg, den die kausale Analyse im einzelnen zu gehen hat, deutlich vorgezeichnet, und ich darf wohl darauf hinweisen, daß hier, wie in anderen Fällen der Gefühlsanalyse, die Ausdrucksmethode, insbesondere die Untersuchung der Atmungsinnervationen als eine wichtige Ergänzung der subjektiven Analyse zu Hilfe gekommen ist. Sie hat bestätigt, daß es sich auch hier nirgends um eine bloße Addition von Gefühlen, sondern um kausale Beziehungen handelt, bei denen die Tonkomponenten das resultierende Harmoniegefühl bestimmen, das diesen Komponenten als ein neuer psychischer Inhalt gegenübertritt1). Krueger wandelt nun diese kausale Interpretation in eine bloße Beschreibung oder in eine "Analyse von Bestandteilen" um, indem er die Resultante hinwegläßt, wo dann freilich nur die Summe der Komponenten übrig bleibt (S. 76).

1) Vgl. Physiologische Psychologie, III6, S. 203 ff. und die experimentelle Arbeit von H. Sartorius, Psychol. Studien, Bd. 8, S. 1 ff.
 
 
    Wie in diesem Fall der – wenn auch angesichts des Umfangs der Probleme noch unvollkommene – Versuch einer kausalen Analyse von ihm in eine bloße Addition von Bestandteilen umgewandelt wird, so substituiert er aber nicht minder gelegentlich da, wo es sich um eine reine Beschreibung handelt und der Natur der Aufgabe nach nur handeln kann, dieser eine hypothetische Kausalerklärung. Ein augenfälliges Beispiel bieten hier die "Erinnerungsvorstellungen", fälschlich auch "Reproduktionen" genannt. Ich habe mich bemüht, auf Grund sorgfältiger experimenteller Beobachtungen die wesentlichen Unterschiede der sogenannten Erinnerungsbilder von den direkten Sinnesvorstellungen zu schildern. Ich habe ausgeführt, wie sie vor allem durch ihre überaus flüchtige, wechselnde und fragmentarische Beschaffenheit neben geringer Intensität der Empfindungs- und dabei manchmal stark ausgeprägter der Gefühlsinhalte gekennzeichnet sind, daß die an sie gebundenen Gefühle sehr oft der etwas deutlicheren Ausprägung ihrer Inhalte vorausgehen usw.2). Trotzdem zählt mich Krueger zu den Psychologen, die beide das Erinnerungsbild und die Sinneswahrnehmung "für ganz dasselbe" halten (S. 72). Es mag sein, daß die Bemerkung, die "Reproduktionen" seien nicht durch spezifische Elemente von den Sinneswahrnehmungen verschieden, dieses Mißverständnis veranlaßt hat, das ja übrigens um so merkwürdiger ist, als ich auch hinsichtlich des bei allen Sinneswahrnehmungen stattfindenden Zusammenwirkens direkter Sinneseindrücke mit reproduktiven Motiven bei Krueger Ausführungen begegne, die mit Anschauungen übereinstimmen, welche auf Grund im Leipziger Institut in mannigfachen Variationen ausgeführter tachistoskopischer Versuche gewonnen wurden3). Ich darf wohl hierzu bemerken, daß Krueger vielleicht allzu sehr geneigt ist, solche aus Beobachtung und Experiment gewonnene Anschauungen als Ergebnisse theoretischer Konstruktionen anzusehen oder auch auf philosophische Einflüsse zurückzuführen. So nimmt er als feststehend an, meine psychologischen Anschauungen seien am stärksten von Schopenhauer, sodann aber auch von Feuerbach beeinflußt worden (S. 20). So naheliegend diese Vermutung erscheinen mag, so ist sie doch falsch; denn ich muß zu meiner Beschämung gestehen, daß ich zur Zeit meiner ersten Arbeiten über die Theorie der Sinneswahrnehmung, in denen – neben manchem Unhaltbaren, wie z. B. der vielleicht an Schopenhauer erinnernden Hypothese der "unbewußten Schlüsse" – die später von mir verfochtenen Prinzipien in nuce bereits enthalten waren, weder Schopenhauer noch Feuerbach kannte – ein Vergehen, das man im Hinblick auf die damalige philosophiefeindliche Zeit einem jungen Physiologen vielleicht verzeihen wird. Auch darf man nicht vergessen, daß Schopenhauers Gestirn erst etwa ein Jahrzehnt nach der Mitte des Jahrhunderts zu strahlen begann. Vollends habe ich Feuerbach erst in viel späterer Zeit kennen gelernt. 2) Physiol. Psychologie, III6, S. 103 f. Zu beachten ist, daß die hier, wo es sich um eine einfache Quaestio facti handelt, so auffallenden Unterschiede in den Angaben der Psychologen zu einem wesentlichen Teil jedenfalls davon herrühren, daß man es versäumt hat, die notwendigen experimentellen Bedingungen, namentlich auch wegen der Verdrängung durch das Tageslicht die Beobachtung im Dunkeln anzuwenden.

3) Ich verweise insbesondere auf die Arbeiten von Scripture, Phil. Stud. Bd. 7, 72 ff, Cordes ebend. Bd. 17, S. 30 ff., Zeitler, Bd. 16, S. 380 ff. Außerdem schlagen hier ein die Beobachtungen über Assimilationswirkun-gen bei den sogen. geometrisch-optischen Täuschungen, ebend. Bd. 14, S. 32 ff.
 
 

    Nicht minder ist es freilich ein tatsächlicher Irrtum, wenn Krueger es als eine ausgemachte Sache betrachtet, daß ich von der Analyse der Gehörsempfindungen ausgegangen sei. Es ist die Untersuchung der Gesichtswahrnehmungen gewesen, die mich zuerst der Psychologie zugeführt hat, und der ich an allgemeinen psychologischen Erkenntnissen am meisten zu verdanken glaube. Ja ich kann nicht leugnen, daß meine Anschauungen über die Natur der Gehörsvorstellungen erst durch die dort gewonnenen Überzeugungen ihre Richtung empfingen, um dann allerdings für das Gebiet der emotionalen Funktionen zu selbständigen Grundlagen meiner psychologischen Studien zu werden. Für diese psychologische Verwertung der Klanganalyse ist für mich später neben Helmholtz’ bekanntem Werk das Arthur von Oettingen’s über das "Harmoniesystem in dualer Entwicklung" von entscheidender Bedeutung geworden4). 4) Arth. von Oettingen, Das Harmoniesystem in dualer Entwicklung, 1866. Neue umgearbeitete Auflage u. d. T. Das duale Harmoniesystem, 1913. Dankenswerte Ergänzungen bieten hier Kruegers Arbeiten über Zweiklänge und Differenztöne, Psychol. Stud. Bd. 1, 2 und 4.
 
 
    Was ich gegenüber diesen späteren Einflüssen den Studien über den Gesichtssinn verdanke, das ist aber vor allem die Erkenntnis der durchgreifenden Bedeutung, die das Prinzip der schöpferischen Resultanten für das gesamte Seelenleben und damit für die Erkenntnis der Eigenart der psychischen Kausalität besitzt. Bringt es doch diejenige Kausalität zum Ausdruck, die das geistige Leben überhaupt beherrscht, daher es denn auch in ihm stillschweigend überall, vor allem aber in den Gebieten vorausgesetzt wird, die es mit irgend welchen Seiten der geistigen Entwicklung zu tun haben. Der eminente Wert des Prinzips gerade für die Psychologie besteht daher darin, daß diese es als das Fundamentalprinzip geistiger Kausalität für die einfachsten Zusammenhänge des Geschehens aufzeigt, wo es den Charakter einer exakten Geltung gewinnt, insofern sich mit dem Ausdruck "exakt" die Forderungen der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit verbinden. Denn die kausale Analyse einer Wahrnehmung besteht in der Tat nicht bloß darin, daß man die elementaren Vorgänge aufzeigt, die auf ihre Entstehung einwirken, sondern daß man nachweist, wie diese Elemente mit Notwendigkeit jene Resultante erzeugen, so daß man bei diesen einfachen Vorgängen psychischer Synthese, sobald das Resultat erst einmal gegeben ist, nun auch den Prozeß umkehren kann, indem für einen künftigen Fall aus den gegebenen Bedingungen die Folge vorauszusagen ist. Darin besteht eben der eminente und zugleich vorbildliche Wert der psychologischen Analyse, daß bei ihr die regressive Kausalerklärung, sobald sie nur vollständig ist, in eine progressive umgekehrt werden kann, was bei den verwickelteren Vorgängen des geistigen Lebens im allgemeinen unmöglich ist, wenn es auch als ideales Ziel jeder vollständigen Interpretation angesehen werden muß.

    Nun versteht es sich von selbst, daß diese psychologische Analyse so wenig wie die physikalische ohne hypothetische Zwischenglieder auskommen kann. Beide unterscheiden sich aber dadurch, daß die psychischen Zwischenglieder unmittelbar gegebene oder durch hinzutretende Hilfsanalysen nachzuweisende Inhalte des Bewußtseins sein müssen. Dabei ist der Begriff des "Unmittelbaren" selbstverständlich in dem oben gekennzeichneten analytischen Sinne zu verstehen, nämlich als ein gegebener, nicht als metaphysisch hinzugedachter, nicht weiter zerlegbarer Inhalt der gegebenen komplexen Erfahrung.

    Durch diese Forderung einer regressiven kausalen Interpretation mit dem idealen Ziel ihrer deduktiven Umkehrbarkeit unterscheidet sich zugleich das Resultantenprinzip von zwei anderen Begriffen, mit denen es gelegentlich verwechselt worden ist: von dem Begriff der reinen schöpferischen Neubildung, bei dem auf eine solche regressive Kausalanalyse verzichtet wird, und von dem Prinzip der Zweckerklärung. Die Annahme reiner Neuschöpfung beherrscht die vulgäre Auffassung des geistigen Lebens. Natürlich nicht ausschließlich, – dem Eindruck, daß auch hier die Dinge vielfach nach Grund und Folge verknüpft sind, kann sich niemand entziehen. Aber man begnügt sich mit partiellen Zugeständnissen, um wenigstens für den Gesamteffekt dem Eindruck des Neuen, Eigenartigen, das eben als eine in seiner Totalität unerklärliche Schöpfung gilt, sein Recht zu wahren. Diesen Standpunkt hat John Stuart Mill in eine naturwissenschaftliche Analogie gekleidet, indem er von einer "psychischen Chemie" redete. Zur Zeit, als Mill dieses Bild gebrauchte, pflegten sich die Chemiker mit der Auskunft zu begnügen, daß die Eigenschaften chemischer Verbindungen wohl zum Teil, aber niemals vollständig aus denen ihrer Elemente abzuleiten seien. In diesem Sinne war die Analogie eine vollkommen zutreffende. Mittlerweile ist jedoch dieser Standpunkt auch in der Chemie ein anderer, aber damit ist auch die Analogie selber hinfällig geworden. Die Chemie löst ihre Aufgaben praktisch mit Hilfe der chemischen Synthese und theoretisch unter der Voraussetzung der Prinzipien der Konstanz der Massen und der Energien, sowie der Gesetze der von diesen Prinzipien beherrschten Transformationen der Naturkräfte. Für die Psychologie, die es weder mit Massen noch mit Energien zu tun hat, existieren jene Vorraussetzungen nicht. Darum ist die psychische Resultante eine wirkliche Neubildung, nicht bloß eine scheinbare oder zufällige, wie die chemische Verbindung, die auch da, wo sie in dieser Form zum erstenmal entstehen sollte, doch nur aus einer veränderten Kombination der gleichen allgemeinen Naturgesetze hervorgegangen ist. Die von jenen Konstanzprinzipien des Naturgeschehens unabhängige psychische Kausalität dagegen bringt mit den neuen Resultanten immer zugleich neue Gesetze des Geschehens hervor. Dem Bild der "psychischen Chemie" fehlt also gerade das Merkmal, das alle seelische Entwicklung auszeichnet und das die ausschließlich regressive Richtung ihrer Interpretationen begründet. Hier sind die Begriffe "Prinzip" und "Gesetz", die häufig zusammengeworfen werden, streng auseinander zu halten. Das Energieprinzip ist ein physikalisches Prinzip, kein Gesetz. Erst indem zu diesem Prinzip konkrete Bedingungen hinzutreten, entstehen die einzelnen Energiegesetze. Ebenso ist das Prinzip der psychischen Resultanten ein Prinzip, kein Gesetz. Es lassen sich ihm eine Fülle psychischer Vorgänge unterordnen; aber auch hier müssen konkrete Bedingungen hinzukommen, wenn bestimmte, zur Interpretation des Einzelnen dienende Gesetze entstehen sollen. Und hier liegt nun eben eine wichtige Eigenschaft des psychischen Geschehens darin, daß die Prinzipien der Psychologie gerade so allgemeingültig sind wie die der Naturwissenschaft, daß aber, wie dies das Prinzip der schöpferischen Resultanten in sich schließt, hier zwar die unter einem bestimmten Komplex von Bedingungen geltenden psychischen Gesetze selbstverständlich bei der Wiederkehr der gleichen Bedingungen dieselben bleiben, daß aber, da innerhalb der geistigen Entwicklungen solche Bedingungen fortan neu entstehen, auch immer wieder neue Gesetze des psychischen Geschehens hervortreten können. Im übrigen scheiden sich Prinzip und Gesetz an dem leicht erkennbaren Merkmal, daß das Gesetz allezeit entweder direkt in der Erfahrung nachweisbar oder durch eine Verallgemeinerung aus der Erfahrung abzuleiten sein muß, während das Prinzip eine Voraussetzung ist, die nie an sich selbst, sondern immer nur durch ihre Übereinstimmung mit den Gesetzen, in die es als idealer Faktor mit eingeht, nachzuweisen ist, eben darum aber auch niemals dazu dienen kann, irgend etwas direkt aus ihm allein abzuleiten. In diesem Sinne ist das Gravitationsgesetz ein wirkliches Gesetz, das Prinzip der Trägheit, das als Voraussetzung in dasselbe eingeht, ist dagegen ein Prinzip. Analog ist, das Gesetz, daß die zwei zusammengehörigen Bilder eines nahen Objekts in beiden Augen unter den peripheren und zentralen Bedingungen des normalen Sehens in eine körperliche Vorstellung verschmelzen, ein Gesetz, das Prinzip der schöpferischen Resultanten aber, das dazu die notwendige Voraussetzung bildet, ist ein Prinzip, ohne das die durch die psychologische Analyse ermittelten Bedingungen für sich allein die Gesetze der stereoskopischen Vorstellungsbildung nicht erklären würden5).

5) Hinsichtlich der näheren Erörterung des Resultantenprinzips und seines systematischen Zusammenhangs mit den anderen Prinzipien der Psychologie sowie des ergänzenden Verhältnisses, in welchem diese zu den Prinzipien der erklärenden Naturforschung stehen, verweise ich hier vornehmlich auf mein Buch: Sinnliche und übersinnliche Welt, 1914, S. 91 ff.
 
 
    Wie die "psychische Chemie" eine falsche naturwissenschaftliche Analogie, so ist nun die teleologische Umdeutung des Resultantenprinzips nichts anderes als ein spezieller Fall der bekannten Vermengungen von Teleologie und Kausalität, die auf einer unzulässigen nochmaligen Umkehrung des Satzes beruhen, daß jede Teleologie als die Umkehrung einer kausalen Betrachtung angesehen werden kann. Daraus, daß jede objektiv gültige Kausalität eine teleologische Umkehrung möglich macht, folgt nämlich noch lange nicht, daß auch jede wirkende Ursache in einen objektiv gültigen Zweck umgedeutet werden darf. Die Umwandlung eines formalen in ein reales Verhältnis, das in der Naturwissenschaft zu dem falschen Begriff der Zweckursache geführt hat, tritt hier aber auf geisteswissenschaftlichem Gebiet darin zutage, daß die psychische Kausalität zahllose Erscheinungen hervorbringt, die gänzlich außerhalb des Umkreises der Erscheinungen liegen, die zu einer regressiven Kausalerklärung herausfordern, daher sie auch bei dieser keine Verwendung finden können. Oder anders ausgedrückt: der Zweck, den wir auf das Zusammenwirken bestimmter kausaler Motive zurückführen, ist nicht nur selbst, wie es das Prinzip der psychischen Resultanten ausspricht, gegenüber jenen Motiven ein Neues, keine bloße Addition der Motive, sondern auch diese Motive sind in einer Mannigfaltigkeit wirkender Ursachen nur als ein Teil ihrer Inhalte gegeben.

    Indem daher die Resultante neben den aus den Motiven resultierenden Wirkungen noch weitere, in den Motiven nicht vorgebildete enthält, erscheinen diese vom Standpunkt der Zweckbetrachtung aus als nicht bezweckte Nebenerscheinungen, die nun im Zusammenhang der psychischen Kausalität Ausgangspunkte für die Bildung neuer Zweckmotive sein können. So entsteht eine "Heterogonie der Zwecke": die Wirkung, als Zweck betrachtet, enthält mehr als die resultierende Wirkung der Motive, denn sie enthält zugleich die sie begleitenden Nebenwirkungen der Bedingungen, von denen die Motive begleitet sind. Demnach bildet das in den hierher gehörigen Erscheinungen zum Ausdruck kommende "Prinzip der Heterogonie der Zwecke" eine wichtige Anwendung und zugleich Ergänzung des Prinzips der schöpferischen Resultanten, das besonders für das Gebiet des zwecktätigen Handelns und der nach seinem Vorbild interpretierten Erscheinungen der geistigen Entwicklung bedeutsam ist. Deutlich erhellt hieraus die grundsätzliche Verschiedenheit des Prinzips der Resultanten von der teleologischen Interpretation, die, indem sie die Motive als die vollgültigen Ursachen des Handelns ansieht, auf eine im eigentlichen Sinne kausale Betrachtung von vornherein verzichtet. So steht denn auch die teleologische Interpretation mit ihrer starren Einkreisung der Erscheinungen in fest gegebene Zuordnungen von Motiven und Zwecken dem wesentlichsten Problem der objektiven Teleologie, dem der Entstehung und Entwicklung der Zweck- und Wertbegriffe, hilflos gegenüber. Das haben wohl jene Metaphysiker dunkel empfunden, die, um diese Lücke auszufüllen, den Zweck oder, durch eine naheliegende Übertragung auf ein zwecktätiges Agens, den nach Zwecken handelnden Willen auf ein "Unbewußtes" zurückführten und ihn damit der psychologischen Betrachtung überhaupt entzogen.