2. Der Entwicklungsgedanke und die Entwicklungspsychologie.

    Doch wie man auch über diese ästhetische Seite der Frage urteilen mag, jedenfalls kenne ich keine andere Bezeichnung, die vorzuziehen wäre. Das gilt auch für die "Entwicklungspsychologie" und vollends für die "soziale Entwicklungspsychologie": der erstere Ausdruck ist zu weit, der zweite verleitet zu der Vermengung mit dem bereits in wesentlich anderem Sinne verwendeten Begriff der Soziologie und widerspricht überdies allen Regeln der Sprachökonomie. Daß die "Entwicklungspsychologie", zu der man, um das schwerfällige Doppelwort zu vermeiden, seine Zuflucht nehmen muß, zu weit ist, hat Krueger selbst in seiner Schrift dargetan, indem er darauf hinweist, daß im letzten Grund jede Geisteswissenschaft, insbesondere aber die Psychologie mit ihren sämtlichen Zweiggebieten von dem Entwicklungsgedanken getragen sei. Schon die Behandlung der Probleme des individuellen Bewußtseins setze in jedem einzelnen Fall dieses Moment der Entwicklung voraus. Die Psychologie des Kindes pflege durchgehends unter diesem Gesichtspunkt behandelt zu werden. Dasselbe gelte von der Tierpsychologie. Es gelte aber auch von der Psychopathologie und von den in die sogenannte Völkerpsychologie herüberreichenden Einzelgebieten, wie der Sprachpsychologie, der Religionspsychologie und dgl. Allem dem wird man zustimmen können. Ist dies der Fall, so liegt darin aber auch der schlagendste Beweis dafür, daß das Wort "Entwicklungspsychologie" nicht auf die Völkerpsychologie allein angewandt werden kann. Pflegt man doch heute noch den Ausdruck speziell auf das Gebiet zu beziehen, das, ehe noch die Völkerpsychologie in den Gesichtskreis der Psychologen trat, als eine Art allgemeiner Psychologie der menschlichen Entwicklung galt: auf die Kinderpsychologie. In der Tat zweifle ich kaum, daß auf die Frage, was unter Entwicklungspsychologie zu verstehen sei, noch jetzt mindestens neun Zehntel aller deutschen Psychologen antworten würden: die Kinderpsychologie1). Es bleibt also nur zweierlei übrig: entweder muß man jedesmal hinzufügen, welche der vielen möglichen "Entwicklungspsychologien" gemeint sei, also allgemein die Ausdrücke Entwicklungspsychologie des Kindes, der Tiere, des menschlichen Individuums usw. einführen, oder aber, weil das Moment der Entwicklung ein gemeinsamer Faktor aller dieser Begriffe ist, ihn als einen selbstverständlichen überhaupt hinweglassen. Gegen das Wort "Soziale Entwicklungspsychologie" kommt aber dabei noch in Betracht, daß es diesen Begriff in bedenkliche Nähe zu der wesentlich andere Aufgaben verfolgenden Soziologie bringt. Nun ist freilich von manchen Seiten das Existenzrecht der letzteren bestritten worden. Immerhin hat vorläufig jedenfalls noch die soziologische Literatur gegenüber der völkerpsychologischen mindestens numerisch das Übergewicht, und ich bezweifle daher nicht, daß die Mehrzahl selbst der Psychologen und Soziologen annehmen würde, das Doppelwort solle eine psychologisch gerichtete Soziologie bedeuten, sich also im Sinne des verbreiteten Begriffs dieser Wissenschaft vornehmlich mit der Entwicklung der gegenwärtig bestehenden sozialen Verhältnisse beschäftigen. Ist der genetische Gesichtspunkt ein unveräußerlicher Faktor jeder psychologischen Betrachtung, so ist es eben eine notwendige Folge, daß man die einzelnen Gebiete der Psychologie nicht nach ihm, sondern nach den Gegenständen benennt, um deren Entwicklung es sich handelt. Daß die Kinder-, die Tier- und nicht minder die Völkerpsychologie im wesentlichen genetische Wissenschaften seien, ist ja auch allgemein anerkannt 2). Für die Psychologie des Individuums, bei der allein von seiten mancher Psychologen der genetische Gesichtspunkt unbillig vernachlässigt worden ist, einen anderen Namen als den allgemeinen der "Psychologie" einzuführen, wird aber schwerlich jemand befürworten wollen. In der Psychologie gibt es eben, wie in anderen Wissenschaften, verschiedene Richtungen. Jeder hat das Recht, eine nach seiner Meinung falsche oder einseitige zu bekämpfen, aber es würde zu einer unerträglichen Verwirrung führen, wenn man jede dieser Richtungen mit einem besonderen Namen belegen wollte.

1) Mit Rücksicht auf diese übertriebene Bewertung der Kinderpsychologie und im Gegensatz zu ihr habe ich in meinen "Elementen der Völkerpsychologie" bemerkt, die Völkerpsychologie sei "im eminenten Sinne des Wortes Entwicklungspsychologie" (S. 4). Ich habe damit weder gesagt, daß sie die einzige Entwicklungspsy-chologie sei, noch sagen wollen, daß ich den Ausdruck als einen brauchbaren Ersatz für Völkerpsychologie ansehe, wie Krueger (S. 208 Anm.) anzunehmen scheint.

2) Ich darf hier wohl darauf hinweisen, daß ich meinem eigenen größeren Werk über Völkerpsychologie den Untertitel einer "Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte" und meinen "Elementen der Völkerpsychologie" den einer "psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit" gegeben habe.
 
 

    Unverkennbar wirkt jedoch in diesem Streben, in der Bezeichnung einer Wissenschaft wo möglich alle wesentlichen Bestandteile ihres Inhalts zum Ausdruck zu bringen, eine Verwechslung zweier Aufgaben nach, die sich zwar unter Umständen berühren, prinzipiell aber doch wesentlich von einander verschieden sind: in dem Namen einer Wissenschaft will man eine kurz gefaßte, aber im ganzen vollständige Definition ihres Inhaltes geben. Man übersieht dabei, daß Benennung und Definition zwei durchaus verschiedene Aufgaben sind. Die Definition muß alles enthalten was zur Kenntnis des Inhalts wesentlich ist, die Benennung hat die Bedeutung eines Merkworts, durch das man den Begriff festzuhalten sucht. Darum ist es für die Fixierung eines solchen Begriffs wichtig, daß, namentlich da, wo es sich um umfassendere Wissensgebiete handelt, ein einziges Wort den Begriff fixiere. Unsere deutsche Sprache hat den Vorzug, dies vermöge der ihr erhalten gebliebenen Fähigkeit der Wortbildung in ungleich höherem Grade als andere moderne Sprachen tun zu können. Für die Wahl des Namens sind sodann zwei Momente maßgebend: erstens die überlieferte allgemeine Geltung, und zweitens, wo diese allein nicht entscheidet, die Wahl eines Zentralbegriffs, der auf die sonstigen Inhalte als Unter- oder Nebenbegriffe zurückschließen läßt. Bei den längst anerkannten Wissenschaften ist die erste dieser Bedingungen allein maßgebend. Bei ihnen haben sich die Namen entweder von ihrer ursprünglichen Bedeutung gänzlich losgelöst, oder diese ist für den Begriff gleichgültig geworden. Hier verhält sich also der Name der Wissenschaft zu dieser selbst im wesentlichen ganz so wie das Wort überhaupt zur Sache, die es bezeichnet. Anders steht es natürlich bei der Neubildung von Wissenschaftsgebieten und der durch sie geforderten Neubildung von Namen. Hier kommt zunächst das zweite der obigen Motive zur Geltung, daneben aber doch auch das erste, insofern man auch hier auf die allmähliche Befestigung des einmal eingeführten Wortes durch den Gebrauch zählen muß. In diesem Sinne hat sich nun, wie ich glaube, der Ausdruck ,,Völkerpsychologie" als ein zweckmäßiger bewährt. Erstens hebt er in einem einzigen leicht verständlichen Wort die ,,Völker" als das Grundthema dieses psychologischen Gebiets hervor, und zweitens hat das Wort mindestens in den beteiligten wissenschaftlichen Kreisen bereits eine ziemlich weite Verbreitung gefunden, so daß ein anderes schon sehr einleuchtende Vorzüge aufweisen müßte, wenn es Aussicht haben sollte, sich in einem anderen Sinne durchzusetzen als in dem von Krueger auf dem Gesamttitel der von ihm herausgegebenen ,,Arbeiten zur Entwicklungspsychologie" gebrauchten. Denn da das zweite seiner programmatischen Abhandlung folgende Heft dieser Arbeiten einen interessanten Beitrag Hans Volkelts zur Tierpsychologie enthält, so darf man wohl vermuten, der Plan dieser Sammlung gehe dahin, hauptsächlich Monographien aus den Gebieten der Völker-, der Tier-, der Kinderpsychologie, dazu vielleicht auch noch andere, wesentlich dem genetischen Gesichtspunkt Rechnung tragende Arbeiten zu veröffentlichen. Hier wird gewiß niemand bestreiten, daß der Titel zweckmäßig gewählt sei, und das Unternehmen selbst ist wegen der Beziehungen, in denen jene drei genetischen Sondergebiete der Psychologie zu einander stehen, als eine glückliche Bereicherung unserer periodischen Literatur zu begrüßen. Gerade im Hinblick darauf, daß die Völkerpsychologie in dieser Sammlung im Verein mit anderen anerkannt entwicklungspsychologischen Disziplinen auftritt, fällt aber, wie man meinen sollte, jeder Grund hinweg, dieses Merkmal der Entwicklung für sie noch einmal besonders hervorzuheben.

    Nun wird freilich eingewandt, der Begriff "Volk" sei in Wahrheit gar nicht der Zentralbegriff der Völkerpsychologie. Denn diese habe sich auch mit Vereinigungen von zwei, drei und mehr Individuen zu befassen, die doch bei weitem kein Volk sind. Ferner bilde die Familie einen wichtigen Bestandteil ihrer Untersuchungen, und endlich beschäftige sie sich mit allgemeinen Kulturerscheinungen, die über den Bereich des einzelnen Volkes hinausreichen. Diese Einwände scheinen mir jedoch sämtlich auf einer mißverständlichen Auffassung dessen zu beruhen, was man mit Fug und Recht einen "Zentralbegriff" im Sinne der oben erwähnten terminologischen Verwendung nennen kann. Zunächst ist zu bedenken, daß der Plural "Völker" in diesem Fall eine schwerwiegende Bedeutung hat. Die "Völkerpsychologie" unterscheidet sich hier von einer "Volkspsychologie", unter der man etwa die im Volk verbreiteten psychologischen Anschauungen verstehen könnte, ziemlich genau ebenso wie die Völkerkunde von der Volkskunde. Der Plural gibt dem Begriff Volk, das ja ohnehin in mannigfachen Bedeutungen vorkommt, einen wesentlich anderen Sinn, als ihn der Singular besitzt. Jener Plural schließt nicht bloß das Verhältnis der Völker zu einander und eben damit schon den Entwicklungsgedanken ein, sondern auch die Völker als Gesamtheit, als Inbegriff der Menschheit in ihrer vorgeschichtlichen wie geschichtlichen Entwicklung. Der Ausdruck "Kulturpsychologie", der gelegentlich im gleichen Sinne gebraucht wird, ist dafür kein Ersatz, da er vollends in Verbindung mit dem Begriff der Entwicklung, als "Entwicklungspsychologie der Kultur", nicht bloß alle die Teile der Menschheit ausschließt, die keinen nachweisbaren Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet haben, sondern da er außerdem noch für die sogenannten Kulturvölker bloß die Kultur hervorhebt, die, so bedeutsam sie sein mag, immerhin nicht das gesamte geistige Leben der Völker umfaßt. Hier verhält sich also die "Kulturpsychologie" zur "Völkerpsychologie" ungefähr ähnlich wie die Kulturgeschichte zur Geschichte. Die Geschichte behandelt selbstverständlich auch die Geschichte der Kultur; die Kulturgeschichte dagegen beschränkt sich geflissentlich auf die Kulturerscheinungen; sie schließt also z. B. die politische Geschichte im wesentlichen aus. Wo möglich noch unhaltbarer ist endlich der Einwand, die "Völkerpsychologie" enthalte in ihrem Namen keinen Hinweis auf andere menschliche Vereinigungen, wie die Familie, eine Gesellschaft von zwei oder mehr Personen usw. Was die Familie betrifft, so würde dieser Einwurf gerechtfertigt sein, wenn Volk und Familie von einander unabhängige Begriffe wären. Davon ist aber das Gegenteil zutreffend. Vielmehr bestätigt sich wohl auf keinem Gebiet der Zusammenhang der engeren Gesellschaftsverbände mit dem gesamten geistigen Leben eines Volkes auffallender wie auf dem der Ehe und Familie. Hier vor allem erweist sich daher das Volk als der Zentralbegriff, nicht die Gesellschaft, die zu den auf dem Verhältnis der Geschlechter beruhenden Verbindungen in gar keiner inneren Beziehung steht, wie die innerhalb der heutigen Kultur geläufigsten Anwendungen des Gesellschaftsbegriffs auf wirtschaftliche, politische und ähnliche Zweckvereinigungen schlagend beweisen. Wie die Familie, so bildet aber die Gruppe, die aus der Vereinigung einer beliebigen kleineren Anzahl von Individuen besteht, entweder in der Form von Vereinigungen von Individuen gleichen Geschlechts oder in der von Familienverbänden einen integrierenden Bestandteil der Volksgemeinschaft. Nur in dieser Beziehung zum Ganzen eines Volkes hat die Gruppe für die Völkerpsychologie überhaupt eine Bedeutung. Alle diese Einwände beruhen also auf einer unzulänglichen Auffassung der Begriffe Volk und Völker.

    Ist das Volk oder, mit Rücksicht auf die vergleichenden und genetischen Aufgaben genauer ausgedrückt, die Gesamtheit der Völker der wahre Zentralbegriff einer auf die Erscheinungen des gemeinsamen Lebens gerichteten Psychologie, so führt nun aber der Name "Soziale Entwicklungspsychologie" noch andere Übelstände mit sich. Ich will davon absehen, daß er die leider nicht geringe Zahl gelehrter Mißbildungen um das Beispiel einer barbarischen Sprachmengung ersten Ranges vermehren würde. Hat man sich an die "Soziologie" mit ihrem lateinischen Kopf und ihrem griechischen Schweif unter dem nun einmal eingerissenen Zwang der Verbreitung allmählich gewöhnt, so könnten wir uns zur Not auch noch die Einschaltung einer deutschen Mitte gefallen lassen. Aber ist es nicht zweckwidrig, den Namen einer Wissenschaft so zu wählen, daß er der grammatischen Verwendung überall Schwierigkeiten bereitet? Wir reden kurz von völkerpsychologischen Methoden, völkerpsychologischen Ergebnissen usw. Sollen wir dafür künftig sagen "soziologisch-entwicklungspsychologische Methoden" usw., oder statt dessen uns mit "entwicklungspsychologischen Methoden" begnügen, obgleich dieser Ausdruck tatsächlich falsch ist, da z. B. die Kinderpsychologie, die auch zur Entwicklungspsychologie gehört, in ihren spezifischen Methoden so gut wie nichts mit der Völkerpsychologie gemein hat?