1. Die Völkerpsychologie: Wort und Begriff.

    In seiner an Gedanken und Anregungen reichen Abhandlung "Über Entwicklungspsychologie", die Felix Krueger als erstes Heft einer Sammlung von "Arbeiten zur Entwicklungspsychologie" veröffentlicht hat, ist von ihm der Name "Völkerpsychologie" einer ausführlichen Kritik unterzogen worden 1). Diese Kritik kommt zu dem Ergebnis, der von Lazarus und Steinthal eingeführte Ausdruck sei im wesentlichen aus zwei Gründen zu verwerfen: erstens, weil die genannten Forscher selbst mit diesem Ausdruck einen sehr unbestimmten und zum Teil von dem heutigen abweichenden Begriff verbunden haben, und zweitens, weil der Name überhaupt seinem unmittelbaren Wortsinne nach unzutreffend sei. Krueger schlägt daher vor, ihn zu beseitigen, und statt seiner den der "Entwicklungspsychologie" oder, wenn man einer näheren Bezeichnung bedürfe, den der "sozialen Entwicklungspsychologie" einzuführen. Seine Begründung dieses Vorschlags enthält nun zweifellos manches Beachtenswerte. Gleichwohl kann ich dem Schlußergebnis nicht zustimmen. Vielmehr glaube ich, daß, wenn wir den vorgeschlagenen Namenwechsel vornehmen wollten, dies ein schönes und auch im wesentlichen zutreffendes Wort gegen ein minder schönes und in viel erheblicherem Grade kritischen Einwänden ausgesetztes eintauschen hieße. Je erfreulicher daher das rege Interesse ist, mit dem der Verf. für die völkerpsychologischen Probleme eintritt, Probleme, die gegenwärtig noch immer für die meisten Psychologen einer ihrer eigenen Wissenschaft fremden Welt anzugehören scheinen, um so mehr glaube ich meine Bedenken in diesem Punkte nicht verschweigen zu sollen. Ist doch auch in diesem Fall der Name keine bloß äußerliche Sache, da er, soweit dies in einem einzigen Wort möglich ist, auf die wesentlichen Aufgaben der Wissenschaft hinweisen soll. In der Tat wollen die beiden hier in Frage stehenden Ausdrücke dieser Forderung nachkommen, und auch darin stimmen sie überein, daß sie keine exakten Definitionen sein können. Sie weichen aber darin von einander ab, daß der Name "Völkerpsychologie" selbstverständlich zu eng, "Entwicklungspsychologie" dagegen zweifellos zu weit ist, denn dieser Begriff umfaßt außer den menschlichen Gesellschaften bis hinauf zur ganzen Menschheit auch die psychische Entwicklungsgeschichte des einzelnen Menschen, insbesondere also die Psychologie des Kindes sowie die Tierpsychologie. Die strittige Frage lautet demnach nicht, ob einer dieser Ausdrücke der allein zutreffende, sondern welcher der zweckmäßigere sei.

1) Felix Krueger, Arbeiten zur Entwicklungspsychologie, l. Heft: Über Entwicklungspsychologie, ihre Sachlichkeit und geschichtliche Notwendigkeit, Leipzig, 1915.
 
 
    Nun hat Krueger sicherlich recht, wenn er auf die unbestimmte, nirgends eine sichere Begrenzung gegenüber den historischen Geisteswissenschaften und der Geschichtsphilosophie bietende Formulierung des Programms hinweist, das Lazarus und Steinthal in der einleitenden Abhandlung zum ersten Bande ihrer "Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" vom Jahr 1860 entwickelt haben, und er bemerkt treffend, in dem inneren Widerspruch, in den sich dieses Programm mit der von beiden Forschern vertretenen Herbartschen Vorstellungsmechanik verwickelt, sei das unsichere Schwanken, in welchem sich ihre Darlegungen bewegen, wesentlich mit begründet 2). Gleichwohl kann ich Krueger nicht beistimmen, wenn er es den beiden Völkerpsychologen zum Vorwurf macht, daß sie auch "die unterscheidende Charakteristik einzelner Völker und ihrer besonderen Geistesart" der Völkerpsychologie als eine ihrer Aufgaben zuwiesen, und wenn er meint, damit sei ihnen "das eigentlich völkerpsychologische Problem", das an sich ein "entwicklungstheoretisches" sei, "unklar in historische Aufgaben hinübergeglitten". Ich meine im Gegenteil, die Aufgabe einer vergleichenden Charakterologie der Völker ist die einzige im vollen Sinne und ausschließlich völkerpsychologische, die von ihnen klar und deutlich als solche hingestellt worden ist, wie sie denn auch wohl am schnellsten in die allgemeine Literatur unter diesem Namen Eingang gefunden hat. Sie ist freilich keineswegs die fundamentale Aufgabe, sondern mehr ein Anwendungsgebiet, aber sicherlich ist sie eine psychologische und keine historische, wie dies schon das ihr mit gutem Recht beigelegte Prädikat einer "vergleichenden" Disziplin in sich schließt. Tritt doch die Charakteristik der geistigen Eigenart eines Volkes überall erst unter dem Gesichtspunkt einer vergleichenden Betrachtung der Charaktereigenschaften verschiedener Völker in die geeignete Beleuchtung. Die Geschichtswissenschaft als solche dagegen hat mit einer derartigen psychologischen Analyse an sich nichts zu tun, wenn sie auch selbstverständlich im Verein mit den die einzelnen Teile des geistigen Lebens umfassenden historischen Spezialgebieten der Geschichte, der Kunst, der Literatur, der Sitten usw., die Hilfsmittel zur Lösung dieser Aufgabe bietet. Freilich ist die letztere ebenso wenig eine entwicklungspsychologische im unmittelbaren Sinne des Wortes. Wohl aber ist sie eine völkerpsychologische. Wollte man daher die hierher gehörigen Fragen deshalb ausscheiden, weil sie sich nicht unter den Begriff einer Entwicklungspsychologie oder gar einer "Entwicklungstheorie" bringen lassen, so hieße dies fordern, der Inhalt einer Wissenschaft solle sich nach dem für sie gewählten Namen, nicht umgekehrt die Wahl des Namens nach ihrem Inhalte richten. Hier hat eben der Ausdruck Völkerpsychologie den Vorzug, daß er seinerseits die Probleme der geistigen Entwicklung einschließt, daß er darum aber wichtige psychologische Aufgaben, die nur hier ihre geeignete Stelle finden, keineswegs ausschließt. 2) Vgl. hierzu meine in den "Problemen der Völkerpsychologie" S. l ff. wieder abgedruckte Kritik des Lazarus-Steinthalschen Programms (Philos. Studien, Bd. 4). Der einzige etwas schmale Steg, der von der Herbartschen Psychologie zur "Völkerpsychologie" hinüberführte, bot sich in Herbarts "Statik und Mechanik des Staats", Psychologie als Wissenschaft, 2. Teil, Einleitung. Mehr als dieses wenig ergiebige Spiel mit Analogien, bei denen das Verhältnis der einzelnen zur Gemeinschaft mit den wechselseitigen Beziehungen der Vorstellungen im individuellen Bewußtsein verglichen wird, dürfte übrigens bei dieser ersten Konzeption einer Völkerpsychologie der Umstand wirksam gewesen sein, daß Steinthal von Wilhelm von Humboldt und Hegel herkam. Insbesondere die starke Tendenz des Programms zur Geschichtsphilosophie dürfte in diesen in dem bekehrten Herbatianer immer noch fortwirkenden Einflüssen der Hegelschen Geschichtsphilosophie ihre Quelle haben.
 
 
    Doch zu diesem Vorzug kommt noch ein anderer. Da es nun einmal unmöglich ist, in dem Namen einer Wissenschaft eine vollständige Definition ihres Inhalts zu geben, so wird die zweckmäßigste Namengebung diejenige sein, die einen Zentralbegriff herausgreift, der die wesentlichsten andern, dem gleichen Gebiet angehörenden Begriffe als seine Ergänzung fordert. Hier ist nun das "Volk" ohne Frage derjenige, der gegenüber allen den Gebieten, die eine Psychologie des gemeinsamen menschlichen Lebens umfaßt, auf eine solche zentrale Bedeutung Anspruch machen kann. Wenn Krueger einwendet, daß in diesem Zusammenleben doch auch Vereinigungen einzelner Individuen, die kein Volk seien, ferner die Familie, der Verein usw. ihren Wert besäßen, so könnte man mit demselben Rechte beanstanden, daß z. B. die "Staatswissenschaft" nicht auch die Gemeinde, die Polizei, die Strafgewalt und vieles andere in ihren Namen mit aufnehme. Das Volk schließt eben die verschiedenen Gliederungen der Volksgemeinschaft und die mannigfaltigen geistigen Erzeugnisse, die sie hervorbringen kann, in sich. Indem der Name unserer Wissenschaft diese ausdrücklich nicht "Volks-", sondern "Völkerpsychologie" nennt, weist aber dieser Plural deutlich genug darauf hin, daß sie die Vielheit, den Verkehr, die Wechselbeziehungen der Völker, und vor allem ihre Gesamtheit in sich einschließt. Höchstens daran könnte man etwa noch zweifeln, auf welche der vielen einzelnen Bedeutungen, die das Wort "Völker" besitzen kann. das Hauptgewicht falle. Aber auch dieser Zweifel wird im Grunde schon durch die plurale Form des Wortes gehoben: es ist in erster Linie das, was allen Völkern zukommt, also das allgemein menschliche was sich gemäß der allgemeinen Aufgabe der Psychologie in dem Leben der Völker als ein Objekt psychologischer Untersuchung bietet. Wer mit dieser Auskunft, die das Wort gibt, sobald wir nur dem Sinn, den es andeutet, näher nachgehen, nicht zufrieden ist, dem wird dann freilich nichts anderes übrig bleiben als das gleiche zu tun, was er bei jeder anderen, auch bei den längst gesicherten Disziplinen tun muß, bei denen niemand mehr an eine Umtaufe denkt: er muß sich mit den Problemen selbst beschäftigen und nicht glauben, der Name könne schließlich mehr sein als ein konventionelles Zeichen für einen Zusammenhang wissenschaftlicher Aufgaben. Auf diesen konventionellen Wert des Namens, den sie sich selbst beilegt, ebenso wie auf den zahlreicher einzelner Begriffe, die sie verwendet, muß jede Wissenschaft rechnen. Wen kümmert es, daß sich die Physiologie ihrem Namen nach mit der Physik decken könnte, oder daß die Chemie durch den ihren an die Zauberkünste mittelalterlicher Adepten erinnert? Noch vor einem halben Jahrhundert nannte Theodor Waitz sein großes, im wesentlichen völkerpsychologisches Werk eine "Anthropologie der Naturvölker". Gegenwärtig hat das Wort "Anthropologie" dagegen nach längerem Schwanken die Bedeutung einer den physischen Eigenschaften zugewandten Rassen- und Völkerkunde gewonnen. Die Anthropologie im heutigen Sinne steht daher mitten inne zwischen der Anatomie des Menschen und der Ethnologie, und insofern sie den Menschen der Vergangenheit umfaßt, berührt sie sich zugleich mit der Urgeschichte. Jedenfalls ist aber dadurch das Wort zur Bezeichnung psychologischer Aufgaben unbrauchbar geworden. Nach einer anderen Seite gilt dasselbe von dee "Soziologie". So weit auch die verschiedenen soziologischen Systeme von einander abweichen, sie kommen doch darin überein, daß sie sich wesentlich andere Aufgaben stellen als die Völkerpsychologie. Und wenn auch dieses Hindernis nicht vorhanden wäre, so würde gleichwohl das Bedenken im Wege stehen, daß der Begriff der Gesellschaft bereits lange bevor die moderne Soziologie existierte durch die Staatswissenschaft seine eigentliche Prägung empfangen hat, nach der er die Gesamtheit der Zusammenlebenden in ihren neben der staatlichen Ordnung bestehenden Beziehungen bedeutet. Auf diese Weise hat die "Gesellschaftslehre" der Nationalökonomen und Staatstheoretiker den Charakter einer systematischen Disziplin angenommen, die bei ihren Betrachtungen im allgemeinen den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft im Auge hat, während genetische Gesichtspunkte, wie durchgängig bei systematischen Disziplinen, nur beiläufig in Anwendung kommen. Unverkennbar wirkt aber diese Richtung auf die Probleme der Gegenwart auch noch in der neueren Soziologie nach, soweit diese nicht, dem Vorbild Auguste Comtes folgend, auf eine konstruktive Geschichtsphilosophie ausgeht. Das sind Gründe genug, die nicht nur den substantivischen Ausdruck, sondern auch die attributive Verwendung des Soziologischen in Ausdrücken wie "soziologische Entwicklungspsychologie" und dgl. wenig rätlich erscheinen lassen. Allen solchen durch den Konflikt mit geläufigen Begriffen ungeeigneten und nebenbei sprachlich unschönen Wortbildungen gegenüber zeichnet sich, wie ich meine, der Ausdruck "Völkerpsychologie" durch seine den grundlegenden Begriff in den Vordergrund stellende und dabei zugleich die unnütze Häufung von Fremdwörtern ebenso wie pedantische Weitschweifigkeit vermeidende Form aus. Wenn darum Krueger es als einen Akt "schöner Pietät" rühmt, daß ich für meine eigenen völkerpsychologischen Arbeiten das von Lazarus und Steinthal eingeführte Wort beibehalten habe, so muß ich dieses Lob ablehnen. Der Umstand, daß das Wort in einem mit der Sache wenigstens annähernd übereinstimmenden Sinne nun einmal existierte, wäre für mich allerdings schon ein zureichender Grund gewesen es zu bewahren. Aber mehr noch hat mich dazu doch das Wort selbst bestimmt, das ich für eine der treffendsten und schönsten Wortbildungen halte, die jemals für ein neues Gebiet von Untersuchungen eingeführt worden sind; ja ich gehe so weit, die Schaffung dieses Wortes, das die unserer deutschen Sprache eigene Kraft der Wortzusammensetzung so maßvoll und zugleich so beziehungsreich ausnützt, für ein Meisterstück der Sprachkunst zu halten.