VI.

Die Zeichnungen des Kindes und die zeichnende Kunst der Naturvölker.

Johannes Volkelt zum 70. Geburtstag dargebracht (1918.)

    In die Erörterungen über die Anfänge der Kunst, die bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts beinahe ausschließlich eine Domäne der sogenannten Prähistorie bildeten, haben in neuerer Zeit die Anthropologie und in einer von dieser ausgehenden natürlichen Rückwirkung die Biologie einzugreifen begonnen. Und nachdem die neuesten Entdeckungen und Forschungen von Otto Hauser und Hermann Klaatsch den Blick in eine Vorzeit eröffnet haben, bei der man nicht mehr mit Jahrhunderten, sondern mit Hunderttausenden von Jahren rechnet, wird voraussichtlich mit diesem Rückgang auf eine Zeit, bei der vielleicht zu hoffen ist, den lange vergeblich gesuchten Uranfängen des Menschen selbst nahe zu kommen, dieser Einfluß der naturwissenschaftlichen Disziplinen auch auf das Problem der Anfänge der Kunst herüberwirken1). Wie die Dinge heute, auch nach den überraschenden Ergebnissen der neuesten Ausgrabungen Hausers, liegen, kann man freilich nicht sagen, daß das Bild, das diese Forschungen uns von dem Zustand des Urmenschen und insbesondere auch von der primitivsten Kunst entworfen haben, wesentlich von dem abweicht, was sich bereits aus den früheren Funden des paläolithischen und teilweise des neolithischen Zeitalters entnehmen ließ. Trotz der ungeheuren Zeitperspektiven, in die wir nun blicken, hat sich zwar die Mannigfaltigkeit der menschlichen Rassen, die neben- und nacheinander gelebt haben, kaum aber das Bild der primitiven Kultur der verschiedenen Zeitalter wesentlich geändert, abgesehen von der erstaunlichen alle bisherigen Maßstäbe weit überschreitenden Stabilität, auf die sich aus diesen Funden zurückschließen läßt. Wenn aber das Bild, das die Kunsterzeugnisse dieser weit zurückliegenden Vorgeschichte sogar im Vergleich mit der Stufe der noch heute lebenden primitiven Stämme bieten, kein allzu abweichendes ist, so konnte es doch nicht ausbleiben, daß die Perspektive, die diese anthropologischen Arbeiten in eine unermeßliche Vorzeit eröffneten, zusammen mit der Umwälzung, die kurz zuvor die biologischen Anschauungen durch die Entwicklungstheorie erfahren hatten, die Gesichtspunkte wesentlich veränderten, von denen aus man die Ergebnisse beurteilte. Ganz besonders aber war es damit vermacht, daß Ergebnisse, die an und für sich nur biologischer Art waren, ohne weiteres auch auf das anthropologische und durch dieses wieder auf das psychologische Gebiet übertragen wurden. Diese Übertragungen haben nun auf die Frage nach dem Ursprung der Kunst einen Einfluß ausgeübt, der in zwei Hypothesen seinen Ausdruck gefunden hat, die zwar an sich von verschiedenen Prämissen ausgegangen sind, dabei aber doch beide darin übereinstimmen, daß sie im letzten Grunde biologische Analogiebildungen darstellen, die von der Voraussetzung ausgehen, die Gesetze, die die allgemeinsten Erscheinungen des Lebens beherrschen, müßten notwendig zugleich mit den durch die spezielle Natur der Gebiete bedingten Modifikationen auch Gesetze dieser einzelnen Gebiete sein. Es sind vor allem zwei solche Analogien, die in den Diskussionen über die Anfänge der Kunst in den letzten Jahren eine gewisse Rolle gespielt haben. Die eine lautet: wie nach dem bekannten Gesetze der Übereinstimmung der Ontogenie mit der Phylogenie die Entwicklungsgeschichte des Individuums eine abgekürzte Wiederholung der Entwicklungsgeschichte der Gattung ist, so wiederholen sich in der Kunst des Kindes oder, wie man sich in diesem Fall wegen der Beschränkung des uns vom Kinde zu Gebote stehenden Beobachtungsmaterials auf die Zeichnung ausdrücken muß, in den Kinderzeichnungen die allgemeinen Eigenschaften und die Entwicklungsstufen der Kunst des Naturmenschen. Dieser meist offen zugestandenen Analogie gegenüber lautet die zweite etwas unbestimmter, aber mit Rücksicht auf den im vorigen Satz angenommenen Parallelismus zwischen dem Primitiven und dem Kinde offenbar an diese sich anlehnend: da nach dem allgemeinen organischen Entwicklungsgesetz alle Entwicklung mit dem Einfachen beginnt und zum Zusammengesetzten fortschreitet, so bildet die einfachste Form der Kunst, die geometrische Ornamentik, ebenso beim primitiven Naturmenschen wie in den Zeichnungen des Kindes, den Ausgangspunkt ihrer Entwicklung.

            1) Vgl. die neueste zusammenfassende Schilderung bei O. Hauser, Der Mensch vor 100 000 Jahren, 1917.

    Das biogenetische Grundgesetz, nach welchem bekanntlich die Entwicklungsgeschichte des Individuums eine abgekürzte Wiederholung der Entwicklungsgeschichte der Gattung ist, bezeichnet als empirisches Gesetz zunächst eine Reihe rein morphologischer Erscheinungen. Wenn man ihm zugleich, wie das zuerst in der ihm von Ernst Haeckel gegebenen Formulierung geschah, eine kausale Bedeutung in dem Sinne beilegt, daß in der Entwicklung der Gattung die entscheidende Ursache für die Aufeinanderfolge der Entwicklungszustände des Einzelwesens gegeben sei, so ist das eine Hypothese, wenn sie auch als eine im allgemeinen wahrscheinliche angesehen werden mag. Denn es ist vorläufig und vielleicht für unabsehbar lange Zeit nicht daran zu denken, daß die Summe morphologischer Analogien, die man den "Parallelismus von Ontogenese und Phylogenese" zu nennen pflegt, auf allgemeingültige Naturgesetze zurückgeführt werden könnte. Darum setzen diejenigen Untersuchungen, die einem kausalen Verständnis der Entwicklungsphänomene näher zu kommen suchen, die der sogenannten "Entwicklungsmechanik", gerade da ihre Hebel an, wo die morphologischen Analogien aufhören, indem sie dem im unmittelbaren Kontakt der Teile entstehenden Formwandel der organischen Substrate nachzugehen suchen. Zwischen beiden weit voneinander abliegenden Problemen, dem der vorläufig nur teleologisch zu fassenden morphologischen Analogien und dem kausalen der mechanischen Entwicklungsbedingungen, liegt aber als eine nur durch provisorische Hypothesen auszufüllende Lücke das Problem der Vererbung, das in seiner vorerst noch ganz unbestimmten Fassung den Inhalt jenes morphologischen Grundgesetzes begreiflich machen soll und damit zugleich alles, was außerhalb des letzteren liegt, in ein weites Gebiet womöglich noch unbestimmterer interkurrierender Bedingungen verweist, auf die man vor allem auch die jenes Gesetz durchkreuzenden allmählichen Änderungen der Gattungscharaktere zurückführt. Indem nun aber diese ihrerseits wieder die Ausgangspunkte sekundärer Vererbungswirkungen bilden, sind es schließlich alle diese Momente in ihrer Gesamtheit, die den Inhalt der wirklichen Entwicklung darstellen. Greifen demnach in diese Entwicklung fortan erhaltende und abändernde Kräfte in dem Sinne ein, daß jede abändernde Wirkung alsbald selbst wieder zu einer erhaltenden Kraft wird, so macht sich endlich in diesem verwickelten Spiel konservierender und variierender Wirkungen weiterhin noch ein regulierendes Prinzip geltend, und in Wahrheit ist es erst dies, daß in dem sogenannten biogenetischen Grundgesetz seinen schematischen Ausdruck findet: das Prinzip der Stabilisierung gleich gerichteter Wirkungen durch ihre Wiederholung. Es ist das Bild des Tropfens, der den Stein höhlt, das hier auf beide Prozesse zugleich, die konservierenden und die variierenden, Anwendung findet. Denn auch die Vererbung können wir uns im Hinblick auf die Aktualität der Lebensvorgänge nicht als eine konstante, sondern nur als eine in den einzelnen Fortpflanzungsakten wirksame Kraft denken. Man mag sie sich etwa unter dem Bilde einer fortwährend in annähernd gleichförmigem Rhythmus sich wiederholenden Bewegung vorstellen, zu der dann die variierenden Bedingungen als einzelne, außerhalb dieses Rhythmus liegende Bewegungsimpulse hinzutreten, von denen aber jeder seinerseits wieder sich rhythmisch zu wiederholen strebt und daher, wenn er nicht durch entgegenwirkende Einflüsse gehemmt wird, vor allem aber, wenn der gleiche Impuls sich wiederholt, ebenfalls in rhythmischer Folge wiederkehrt. Um dem Bild eine anschaulichere Form zu geben: der Hauptwelle einer Entwicklungsphase folgt eine bei einem bestimmten Punkt beginnende Nebenwelle. Denkt man sich diesen Vorgang in einem unabsehbaren Nebeneinander und Nacheinander vervielfältigt, so kann dieses Bild, so fern es auch infolge dieser Übertragung der komplexen Prozesse in ein mechanisches Schema der Wirklichkeit sein mag, immerhin die einzelnen Faktoren des Entwicklungsproblems, über die das biogenetische Grundgesetz in seiner abstrakten Unbestimmtheit hinweggeht, verdeutlichen. Denn hier bringt das oben angedeutete Wellenschema zwei wesentliche Momente zur Geltung, die in der allgemeinen Formulierung des biogenetischen Grundgesetzes unberücksichtigt bleiben: nämlich erstens die entscheidende Bedeutung des Ausgangspunktes einer Vererbungswirkung, und zweitens den Einfluß der Wechselwirkungen in förderndem oder hemmendem Sinne, in die verschiedene Vererbungs- oder Entwicklungsimpulse zu einander treten.

    Nun ist klar, daß diese beiden Probleme um so bedeutsamer werden, aus einer je größeren Zahl in zeitlicher Folge eingetretener und in ihren Nachwirkungen fortdauernder Wirkungen sich ein konkreter Entwicklungsvorgang zusammensetzt, und dies trifft wiederum in hohem Maße da zu, wo das biogenetische zugleich zu einem psychogenetischen Gesetz wird. Zwar gibt es gewisse elementare Funktionen, wie Empfindungen infolge von Reizen, und daran geknüpfte Gefühle und Triebe, die sich als funktionelle Anlagen im weitesten und darum für uns nirgends näher zu begrenzenden Umfang vererben. Aber in der ferneren Entwicklung treten doch frühe schon so gewaltige Differenzierungen hervor, daß von einer psychogenetischen Gesetzmäßigkeit in einem umfassenderen Sinne nach dem heutigen Stand der Forschung überhaupt noch nicht geredet werden kann; daher denn z. B. die bekannten Versuche der Tierpsychologen, die Handlungen, namentlich der niederen Tiere, nach menschlichen Analogien zu interpretieren, zumeist durchaus fragwürdiger Natur sind. Auch ist ja nicht zu bezweifeln, daß gewisse psychische oder psychophysische Leistungen des Menschen selbst bei den anthropoiden Affen nicht fehlen oder, vorsichtiger ausgedrückt, in funktionell verwandten einfacheren Handlungen sich vorfinden. Dahin gehört in erster Linie die Sprache, die in Ausdrucksbewegungen und sie gelegentlich begleitenden, aber noch durchaus individuell variierenden Ausdruckslauten ihr Gegenbild findet. Ebenso gehört aber hierher die bildende Kunst. Hier sind besonders die Spiele der Tiere insofern Analoga der bildenden Kunst, als wir zu dieser auch die mimische Kunst zählen dürfen, und als das spielende Tier Handlungen ausführt, die, wie Angriff, Kampf, Verfolgung, ursprünglich dem ernsten Leben angehören, aber im Spiel offenbar durch die Milderung der Affekte, von denen sie begleitet werden, zu rein erfreuenden Lebensäußerungen geworden sind. Nach einer anderen Seite bildet sodann die Anwendung natürlicher Werkzeuge, wie sie z. B. bei dem Anthropoiden vorkommt, wenn er einen Stein ergreift, um damit die Nuß zu zerschlagen, deren Kern er essen will, eine Vorbereitung zu den zur Anwendung technischer Hilfsmittel fortschreitenden Kunstformen, die mit diesen Hilfsmitteln zugleich die Fähigkeit gewinnen, die mimische Bewegung vom eigenen Körper auf ein äußeres Material zu übertragen. Den Schritt zur Verbindung dieser beiden den menschenähnlichsten Tieren in ihrer Sonderung bereits eigenen Vorstufen der Kunst, der Erzeugung ausdrucksvoller Formen und der Verwendung äußerer Werkzeuge zur Übertragung der eigenen Bewegung auf ein vorgefundenes Material, hat, wie es scheint, nur der Mensch getan; aber er hat ihn auch, so weit unsere Beobachtung reicht, überall getan. Es ist nächst der Sprache, die in analoger Weise aus der Verbindung affektvoller mimischer Vorstellungsäußerungen mit ursprünglichen Gefühlslauten hervorgeht, eine der größten schöpferischen Synthesen, welche die geistige Entwicklung des Menschen erlebt hat.

    In dieser Entstehung der bildenden Kunst aus der Verschmelzung zweier in der allgemeinen seelischen Entwicklung vorangehender Funktionen liegen nun auch bereits die beiden Richtungen begründet, in die sie sich scheidet: die Graphik und die Plastik. Eine von ihnen der anderen voranzustellen, dazu liegt in den uns zugänglichen Beobachtungen kein zureichender Grund vor. Reichen doch Beispiele beider schon in die Frühzeiten prähistorischer Kunstübung zurück. Wenn an verschiedenen Fundorten bald der einen bald der anderen der Vorrang des höheren Alters zuzufallen scheint, so liegt dies möglicherweise in der Material und Werkzeug liefernden Naturumgebung begründet. Wo ein weiches und knetbares Material zu Gebote steht, wie der Ton oder beim Eskimo der Schnee, da ist diesem bildsamen Stoff gegenüber die eigene Hand das stets bereite natürliche Werkzeug. Wo umgekehrt Steine und Tierknochen das Material wie die Werkzeuge bieten, die zu dauernder Fixierung des der Phantasie vorschwebenden Bildes herausfordern, da steht die zeichnende Kunst zunächst im Vordergrund. Im ganzen aber läßt sich wohl sagen, daß die Zeichnung die verbreitetere Betätigung des künstlerischen Triebes ist, wenn wir in diesem Wort die Gesamtheit der hier wirksamen Motive zusammenfassen. Jedenfalls dürften die Zeugnisse, die uns für die Entwicklung der zeichnenden Kunst in prähistorischen Funden ebenso wie in der Kunst der heutigen Naturvölker zu Gebote stehen, an Zahl überwiegen. Ist es doch vornehmlich die Zeichnung, die nicht bloß auf einem an sich gleichgültigen, nur zur Fixierung der Zeichnung selbst dienenden Material als selbständige Kunstleistung vorkommt, sondern die auch in der mannigfachsten Weise zur Ausschmückung von Gegenständen der Technik oder auch der plastischen Kunst dient. Dazu kommt, daß die Graphik diejenige Kunst ist, die auch in der individuellen Entwicklung nicht nur jeder anderen zum Gebiet der bildenden Künste gehörenden vorausgeht, sondern die sogar für viele Menschen zeitlebens die einzige bleibt. Es würde übereilt sein, daraus zu schließen, die Zeichnung sei auch generell das Frühere. Dazu fehlt es sowohl bei den prähistorischen Denkmälern wie innerhalb der heutigen Kunstübungen primitiver Völker an den zureichenden Anhaltspunkten. Wohl aber folgt daraus, daß sich an eine Vergleichung der Anfänge bildender Kunst innerhalb der individuellen und generellen Entwicklung nur auf dem Gebiet der graphischen Kunst denken läßt. Diese in dem allgemeinen Charakter der Kunst des Kindes, namentlich auch des Kindes der Kulturvölker begründete Beschränkung hat wohl einen Hauptanlaß zu der Annahme gegeben, in der zeichnenden Kunst des Kindes wiederhole sich die allgemeine Entwicklung der bildenden Kunst überhaupt, und dieser Parallelismus bestätige daher auch für dieses Gebiet die Gültigkeit des biogenetischen Grundgesetzes. Kann hiervon im Hinblick auf die oben angedeuteten Bedingungen dieses Gesetzes keine Rede sein, so bleibt trotzdem die Vergleichung der individuellen mit der generellen Entwicklung ein bedeutsames Problem, ja vielleicht ein um so bedeutsameres, je weniger hier eine unmittelbare Zurückführung der kindlichen Kunstleistungen auf das allgemeine Vererbungsgesetz in Frage kommt, sondern vielmehr das Problem sich erhebt, in beiden Fällen aus den Erscheinungen auf ihre Bedingungen zurückzuschließen und daraus die Unterschiede wie die etwaigen Übereinstimmungen abzuleiten. Hier verhält es sich daher mit der Kunst nicht anders als mit den andern an die Gemeinschaft gebundenen seelischen Lebensäußerungen. Ohne Zweifel ist die Anlage zu ihr ebenso vererbt, wie die Anlage zur Sprache, zur Mythenbildung, zur Religion usw.; aber so wenig in diesen letzteren Fällen die Anlage mit der Funktion selbst zusammenfällt, ebensowenig würde uns die abstrakte Formel von der Wiederkehr der Phylogenese in der Ontogenese, auch wenn sie auf diesen Fall anwendbar sein sollte, mehr voraussetzen lassen als eben eine allgemeine psychophysische Disposition, welche bei der Zeichnung das Zusammenwirken der Funktionen erleichtert, wenn die konkreten Ursachen, die sie jeweils in ihrer besonderen Gestaltung hervorbringen, hinzutreten. Diese Ursachen zu ermitteln bleibt daher schließlich die Hauptaufgabe einer solchen vergleichenden Untersuchung.

    Nun begegnet aber diese Untersuchung von vornherein insofern einer nicht zu beseitigenden Schwierigkeit, als wir zwar die Entwicklung der zeichnenden Kunst beim Kinde von Stufe zu Stufe leicht verfolgen können, wie denn auch bekanntlich in zahlreichen Sammlungen von Kinderzeichnungen hierzu ein reiches Material vorliegt, daß wir dagegen über die ursprüngliche Entstehungsweise der Kunsterzeugnisse primitiver Völker und über die etwaigen, nicht erhalten gebliebenen Vorstadien dieser primitiven Kunst nichts wissen. Diesem Mangel wird auch dadurch nicht abgeholfen, daß man, wie es verschiedene Forschungsreisende getan haben, den Primitiven irgend einen Gegenstand abzeichnen oder eine Vorlage nachzeichnen läßt, so interessant im übrigen diese Versuche sind. Denn teils bringt der Primitive dazu seine bisher erworbene Fertigkeit mit, teils sieht er sich bei der ihm zugemuteten Leistung in einer ihm ungewohnten Situation und meist einer ihm völlig neuen Aufgabe gegenübergestellt. Die Bilder, die K. von den Steinen von seinen brasilianischen Waldindianern erhielt, als er sie aufforderte, ein Porträt des Reisenden selbst zu zeichnen, sind dazu ein treffender Beleg. Ich werde auf diese durchaus eine Ausnahmestellung einnehmenden Zeichnungen unten zurückkommen. So bleibt denn, da wir von derartigen Bildern, die ohnehin aus dem Charakter der sonstigen Kunstleistungen der Primitiven herausfallen, hier absehen müssen, nichts übrig, als die fertigen Leistungen für sich selbst reden zu lassen. So manches Wertvolle sich auf diesem Wege ergibt, so kann aber dadurch der Mangel der unmittelbaren Beobachtung der Entstehung, namentlich wo es sich um die Frage des Ursprungs handelt, unmöglich ersetzt werden. In dieser Beziehung sind wir natürlich gegenüber der zeichnenden Kunst des Kindes günstiger gestellt. Dennoch pflegt man in manchen Fällen, vielleicht durch die Vergleichung mit der Kunst des Primitiven veranlaßt, auch hier davon abzusehen, um lediglich die Zeichnung für sich selbst reden zu lassen.

    Erst einige neuere Forscher haben einen dankenswerten Anlauf gemacht, diese Lücke auszufüllen, indem sie die Kinderzeichnung unter dem Gesichtspunkt einer von dem Kinde ausgeführten Handlung betrachteten, die sie nach ihren physiologischen wie psychologischen Bedingungen zu zergliedern suchten. Dahin gehören besonders Karl Groos, der in seinem Buch über die "Spiele der Menschen" die Kinderzeichnung unter dem Gesichtspunkt einer spielenden, anderen Nachahmungsspielen verwandten Tätigkeit einer eingehenden Betrachtung unterzog, und Mark Baldwin, der Beobachtungen über die frühesten Zeichnungen des Kindes gemacht und einige interessante Nachbildungen solcher allmählich von ganz bedeutungslosen Kritzeleien zu ungefähren "Nachahmungen" der vorgezeichneten Bilder führender Kinderzeichnungen mitgeteilt hat 2). In psychologischer Beziehung gehen beide Forscher von einer Voraussetzung aus, die vornehmlich Ernst Grosse in seiner wertvollen Schrift "Über die Anfänge der Kunst" seiner Untersuchung des Ursprungs der bildenden Künste zugrunde gelegt hat und die seitdem die allgemein verbreitete geblieben ist: von der Voraussetzung nämlich, daß die erfreuende Wirkung der Kunst auch die Ursache ihrer Entstehung sei 3). Insbesondere ist es dieser Gedanke, der bekanntlich schon die ältere Ästhetik, besonders seit Schiller in der Verwandtschaft der Kunst mit dem Spiel einen Hinweis auf die gemeinsame Quelle des künstlerischen Schaffens wie Genießens erblicken ließ, den hier in weiterer Ausführung Groos auch auf die Zeichnungen des Kindes, bei denen die Begriffe des Spiels und der künstlerischen Tätigkeit zusammentreffen, anwendet. Dabei sieht er, wie überall so auch hier, die wesentliche Bedeutung des Spiels darin, daß es eine Vorübung für das spätere zwecktätige Handeln des Menschen sei. So erscheint ihm denn auch die Zeichnung in ihren ersten Anfängen als eine Art lusterregender "experimentierender Bewegung", bei der allmählich, mit ungeregelten Anfängen beginnend, die Bewegung mehr und mehr dem Objekt sich anpaßt. Da nun die Motive, aus denen die Kunst überhaupt hervorgeht, schon beim primitiven Menschen, wie man annimmt, die gleichen gewesen sind und die nachbildende Tätigkeit kaum auf einem anderen Wege als dem der allmählichen Anpassung der Bewegungen an die Eigenschaften des nachzubildenden Objekts entstehen konnte, so liegt der Schluß nahe, ein "Kritzelstadium" habe in übereinstimmender Weise beim Kinde wie beim Urmenschen den Anfang der graphischen Kunst gebildet. Können wir daher auch dieses Stadium selbst bei keinem der primitiven Stämme mehr als bleibende Stufe ästhetischer Kultur nachweisen, so mag man immerhin in der tatsächlichen Unvollkommenheit der Kunst des Primitiven eine Bestätigung dieser Theorie erblicken. In der Tat hat Vierkandt bemerkt, die Felszeichnungen, die Koch-Grünberg in verschiedenen Gebieten Südamerikas gesammelt und die, wie dieser Forscher vermutet, wahrscheinlich zwecklose, vielleicht im Laufe einer langen Zeit entstandene Produkte müßiger Stunden sind, könnten wohl nach ihrem Ursprung als analoge spielende "Kritzeleien" betrachtet werden, wie sie uns in den frühesten Zeichnungen des Kindes begegnen, so daß das "Kritzelstadium" hier wie dort den Anfang der graphischen Kunst bezeichne 4). Geht man jedoch dieser Analogiebildung, der übrigens Koch-Grünbergs an sich sehr wahrscheinliche Theorie des Ursprungs der Felszeichnungen durchaus ferne steht, näher nach, so gründet sie sich offenbar auf den, auf die Kinderzeichnung wie auf die Felszeichnung des Primitiven in gleicher Weise angewandten Begriff des "Kritzelns" oder, wie man diesen wohl näher definieren kann, der rein spielenden zeichnerischen Tätigkeit. Ob diese Tätigkeit den Anfängen der Kunstübung oder einer mehr oder minder fortgeschrittenen Stufe angehört, darüber sagt jedoch dieser Begriff nichts aus. Ein Meister der Graphik, der einer ihn langweilenden Beratung anwohnt, kritzelt auf das vor ihm liegende Papier ohne irgend eine künstlerische Absicht Figuren, die trotzdem einen künstlerischen Wert besitzen können und jedenfalls eine hohe Stufe der Kunstübung verraten. Die Kritzeleien, die gelegentlich unsere Hauswände und Türen an sich tragen und die der spielenden Tätigkeit von Hunderten vorüberkommender Müßiggänger ihr Dasein verdanken, sind in der Regel gering an Kunstwert, aber sie können die verschiedensten Grade der Kunstübung ihrer Urheber verraten. Es war nun zweifellos ein geistreicher Gedanke R. Andrees, auf diese uns aus der alltäglichen Erfahrung geläufigen Erscheinungen zur Erklärung des Ursprungs der sogenannten "hieroglyphischen Steinschriften" der Indianer und anderer Naturvölker hinzuweisen, und Koch-Grünberg hat das Verdienst, überzeugende Belege hierfür in den gerade durch das bunte Gemisch höchst primitiver und künstlerisch vollkommenerer Formen ausgezeichneten Felszeichnungen der südamerikanischen Indianer beigebracht zu haben. Abgesehen davon, daß diese Felszeichnungen, ganz so wie das auch von den heutigen Erzeugnissen spielender Kunst gilt, mancherlei Stufen künstlerischer Entwicklung darbieten, lehren sie jedoch über die mutmaßlichen Anfänge der bildenden Kunst nicht mehr, als was sich überhaupt der Beschaffenheit primitiver Kunsterzeugnisse entnehmen läßt. Hier zeigt aber die Vergleichung selbst der primitivsten unter diesen Gebilden mit den ursprünglichsten Kritzeleien des Kindes, daß beide beträchtlich voneinander abweichen, und daß sogar zwischen den Zeichnungen des späteren Kindesalters und diesen Steinzeichnungen der Naturvölker nur vereinzelte Ähnlichkeiten vorhanden sind 5).

2) K. Groos, Die Spiele der Menschen, 1899, S. 416 ff. J. Mark Baldwin, Die Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse, 1898, S. 78 ff.             3) E. Grosse, Die Anfänge der Kunst, 1894.

            4) A. Vierkandt, Das Problem der Felszeichnungen. Archiv für Anthropologie, N. F. Bd. 7, 1908.

5) R. Andree, Über den Ursprung der sogenannten hieroglyphischen Steinschriften, Globus Bd. 39, 1881, S. 247. Th. Koch-Grünberg, Südamerikanische Felszeichnungen, 1907, S. 68 ff. Eine lehrreiche Parallele zu dem letzteren Werk bietet die ältere Sammlung amerikanischer Bilderschriften von Garrick Mallery, Ethnol. Rep. X, 1893, p. 31 ff.
 
 
    Diese durchgängige Verschiedenheit hier und dort findet nun ihre Erklärung wohl weniger darin, daß wir die ursprünglichsten Kunstleistungen des Primitiven überhaupt in unserer Beobachtung nicht mehr erreichen können, als vielmehr in der aus der Entstehungsweise der ersten kindlichen Zeichnungen sich ergebenden Tatsache, daß diese letzteren in dem Kulturmedium, in welchem sich das Kind entwickelt, spezifische Bedingungen vorfinden, wogegen wir von dem Primitiven, so unzulänglich bei ihm unsere Kenntnis solcher Bedingungen sein mag, jedenfalls mit Sicherheit wissen, daß sie wesentlich andere waren als diejenigen, unter denen das Kind seine Kritzeleien auszuführen pflegt. Dafür bieten die von Baldwin mitgeteilten Kritzeleien des Kindes überzeugende Belege. Zuerst, etwa bis zum 27. Monat, war bei seinem Kind die Kritzelei, wie er selbst bemerkt, überhaupt nur eine Nachahmung der Bewegung, die der Erwachsene bei der Zeichnung der Vorlage ausführte. Diese Vorlage selbst blieb dabei ganz unberücksichtigt. Aber aus den Beispielen, die Baldwin aus diesem Vorstadium mitteilt, ergibt sich zugleich, daß diese Kritzeleien im wesentlichen getreue Projektionen der Arm- und Handbewegungen, die das Kind überhaupt ausführt, auf die Papierfläche sind. Zuerst sind diese meist von frühe an rhythmisch sich wiederholenden Bewegungen annähernd geradlinig gerichtet, meist horizontal oder vertikal, und fast immer bewegen sich beide Arme synchronisch und symmetrisch. Bewegungen in Kurven treten erst später gelegentlich hinzu. Daß dabei eine Nachahmung der Bewegungen des vorzeichnenden Lehrers stattfand, ist kaum wahrscheinlich. Zwischen dem 10. und 20 Monat traten dazu Zickzacklinien und gekrümmte Linien. Hier ist es dann wohl möglich und würde etwa der beginnenden Echosprache sowie andern nachahmenden Reaktionen entsprechen, daß auf diese verwickelter gestalteten Figuren bereits die von dem Lehrer bei der Zeichnung der Vorlage ausgeführten Bewegungen einen Einfluß ausübten. Jedenfalls aber war dieser Einfluß ein höchst unbestimmter, und von einer Berücksichtigung des vorgezeichneten Bildes konnte auch hier keine Rede sein. Letzteres gilt nicht minder von den in den folgenden Monaten hergestellten Kritzeleien, bei denen die Nachahmung der Bewegungen des Lehrers in dem häufigeren Vorkommen gekrümmter und sich kreuzender Linien deutlicher hervortritt, während die Zeichnungen mit und ohne Vorlage noch im ganzen einander ähnlich sind. Die erste Kritzelzeichnung, in der bei Baldwins offenbar ziemlich früh entwickelten Mädchen der Einfluß der Vorlage merkbar wurde, gehört der letzten Woche des 27. Monats an. Hier ist offenbar der entscheidende Schritt in das dritte Stadium dieser Entwicklung getan, deren erstes die gänzlich bedeutungslose, das zweite die von der Handbewegung des Lehrers beeinflußte Bewegung des Stifts gewesen waren. Baldwin meint, von nun an seien in der Zeichnung des Kindes bereits Kopf, Hals, Rumpf, Arme und Beine unterschieden worden. Mit Sicherheit läßt sich das aber nach den von ihm wiedergegebenen Zeichnungen höchstens von dem Kopf und den Armen sagen, nicht dem übrigen Körper, da, wenn man sich Kopf und Arme hinwegdenkt, die Figur kaum über das bloß unter dem Einfluß der zeichnenden Bewegungen des Lehrers stehende Stadium hinausgehen würde. Doch wie dem auch sei, einen plötzlichen Übergang zur "Nachahmung des geistigen Bildes im Kinde", wie Baldwin die hier erreichte Stufe nennt, wird man sicherlich nicht annehmen dürfen, sondern, wie im zweiten Stadium die Nachahmung der Handbewegungen des Lehrers durch die schon zuvor vorhandenen automatischen Armbewegungen mitbestimmt wird, so verbindet sich hier offenbar wieder jene Nachahmung der Handbewegungen mit der Vorlage, so daß sich diese drei sukzessiv wirksamen Motive zu einer stetigen Entwicklung zusammensetzen, die sich den in alle Entwicklungsvorgänge eingreifenden assimilativen Prosessen unterordnen lassen. Die anfänglich rein automatischen Bewegungen assimilieren, in der Regel wohl mit veranlaßt durch die die Aufmerksamkeit des Kindes herausfordernde Mimik des Lehrers, dessen zeichnende Bewegungen, und in das so entstandene Produkt gehen dann schließlich wieder assimilativ einzelne Züge des gezeichneten Bildes ein. Diese Kinderzeichnung ist also demnach eine Resultante verschiedener Prozesse, von denen jeder vorangehende neben dem nachfolgenden fortwirkt. Zu diesen Bedingungen kommt aber noch eine weitere, die, wie wir sehen werden, noch auf lange hinaus, auch nachdem jene automatischen und imitativen Bewegungsmotive zurückgetreten sind, dem Zeichnen des Kindes eigen ist. Was nämlich bei diesem dritten Stadium der Kritzelzeichnung zum erstenmal in Aktion tritt, ist das hier zunächst ebenfalls assimilativ zu den vorangegangenen Motiven hinzutretende Erinnerungsbild. Wenn man diesen Einfluß des Erinnerungsbildes eine "Nachahmung" desselben nennt, so ist jedoch dieser Ausdruck in doppelter Weise irreführend. Erstens verbindet er eine Wirkung, die das im Bewußtsein des Kindes gebliebene Bild der Vorlage ausübt, ohne weiteres mit der Vorstellung einer willkürlichen Tätigkeit, während doch diese sich erst allmählich aus jener zunächst offenbar rein passiv erlebten Assoziationswirkung entwickelt, wie ja auch die sogenannte Nachahmung der zeichnenden Handbewegungen des Lehrers ursprünglich eine automatische Mitbewegung oder, genauer ausgedrückt, eine Umwandlung der ursprünglich rein automatischen Bewegungen in Mitbewegungen ist, die unter dem assimilativ wirkenden Einfluß gesehener Bewegungen entstehen. Hier schließen sich die Anfänge des Zeichnens ganz und gar andern bekannten Formen imitativer Handlungen an, wie der Gehbewegungen, der Artikulationsbewegungen bei der "Echosprache" usw. Zweitens ist es zwar vollkommen zutreffend, wenn von der kindlichen Zeichnung gesagt wird, sie sei kein Abbild der Vorlage selbst, sondern sie sei ihre Reproduktion im Bewußtsein des Kindes. Doch dieser Vorgang rückt nun wieder infolge der noch in der heutigen Psychologie umgehenden Verdinglichung der Vorstellungen, die besonders auch auf die sogenannten "Erinnerungsbilder" übertragen wird, in eine falsche Beleuchtung, indem man das Erinnerungsbild zwar als ein etwas lückenhaftes und ungenaues, im ganzen aber doch dem gesehenen materiellen Bild ähnliches geistiges Objekt auffaßt. Wenn aber der Satz, daß die Vorstellungen überhaupt nicht relativ stabile Objekte, sondern Vorgänge sind, die sich von Moment zu Moment verändern, schon für die Sinneswahrnehmungen gilt, so gilt er natürlich noch in ungleich höherem Grade für die Erinnerungsbilder, bei denen die Einflüsse, welche die relative Konstanz der äußeren Gegenstände auf die Vorstellungsprozesse auszuüben pflegt, gänzlich hinwegfallen. Was daher die Erinnerungsvorgänge vor allem auszeichnet, das ist ihre unablässige Veränderlichkeit, die mehr noch als das Ganze dieser Gebilde ihre Teile trifft, und wodurch namentlich die Gesichts-, weniger – vielleicht infolge der begleitenden aktuellen Artikulationsreflexe – die Gehörserinnerungen in einem fortwährenden Wogen stetig veränderlicher Gebilde bestehen. Goethe hat diese Erscheinungen, soweit sie im Dunkeln und bei geschlossenem Auge zu beobachten sind, trefflich geschildert 6). Was sie bei verschiedenen Personen unterscheidet, das scheint nicht sowohl dieser nie rastende Wechsel als der allgemeine Charakter der Formen zu sein. Während z. B. Goethe Blumen und Ornamente erblickte, pflege ich unter den gleichen Bedingungen wechselnde Bilder menschlicher Gesichter zu sehen. von denen jeweils das folgende aus dem vorangegangenen durch einen stetigen Formwandel, besonders der mimisch charakteristischen Teile hervorgeht. Bei den gewöhnlichen im Tageslicht auftretenden Erinnerungsbildern kommt nun zu dieser bei den Beobachtungen im Dunkeln sich aufdrängenden Veränderlichkeit noch ein anderes Moment hinzu, das dort einigermaßen durch die dem subjektiven Phänomen zugewandte Aufmerksamkeit ausgeglichen wird: das ist die fragmentarische Beschaffenheit dieser Gebilde. Sie besteht darin, daß nur ganz wenige Teile des Erinnerungsbildes einigermaßen deutlicher hervortreten, wogegen die übrigen völlig verschwommen und undeutlich mehr hinzugedacht als wirklich wahrgenommen werden. Außerdem sind, wahrscheinlich unter der Mitwirkung des verdrängenden Tageslichts, die Bilder weit schwächer, was ihre Undeutlichkeit wesentlich unterstützt.

            6) Goethes Werke, Weimarer Ausg., 2. Abt. Bd. II, S. 282.

    Man kann sich diesen Charakter der Erinnerungsbilder teilweise durch die bekannten tachistoskopischen Versuche veranschaulichen, wenn diese bei sehr großer Geschwindigkeit ausgeführt werden, wo ebenfalls ein Ganzes in seinen Hauptumrissen verschwommen erscheint, ein einzelner Teil sich aber deutlicher hervorhebt. Nur pflegt sich dabei das tachistoskopische Objekt immerhin noch durch die genauere Abgrenzung des apperzipierten Teils von dem in allen seinen Teilen fluktuierenden Erinnerungsbild zu unterscheiden. Was beide Erscheinungen, die flüchtige Wahrnehmung und die schattenhafte Erinnerung, als Bedingung miteinander gemein haben, das ist jedoch die Enge der Apperzeption. Und sie muß sich nun naturgemäß bei dem Kinde in ungleich höherem Grade geltend machen als in einer späteren Lebenszeit, wo jeder Eindruck eine Fülle aus früheren Erlebnissen zurückgebliebener latenter Anlagen vorfindet, die von ihm assimiliert werden. Dadurch unterscheidet sich aber auch das Zeichnen aus der Erinnerung, das ja das Bild sukzessiv aus seinen Teilen zusammensetzt, und das daher beim Erwachsenen auf einer Reihe sukzessiver Erinnerungsbilder beruht, bei diesem wesentlich von dem Zeichnen des Kindes. Dieses pflegt zunächst überhaupt nur nach einer Vorlage zu zeichnen. Diese Vorlage wirkt aber in ihm, da ihm assimilative Hilfen nicht oder höchstens in geringem Umfang zu Gebote stehen, nur in einzelnen durch eine flüchtige Apperzeption festgehaltenen Teilen, hauptsächlich natürlich solchen, die sich durch auffallende Eigenschaften von ihrer Umgebung abheben. So enthält denn diese früheste Zeichnung im allgemeinen nur die momentan apperzipierten Teile, deren Zahl sehr beschränkt ist; und auch hier reproduziert das Kind zunächst die von ihm apperzipierten Teile der Vorlage nur, indem diese auf die automatischen Mitbewegungen einwirken, in denen es bei Versuchen wie denen Baldwins die zeichnenden Handbewegungen des Lehrers wiederholt. Dies bestätigt die genauere Beobachtung. Niemals wird das Kind – falls nicht schon eine längere Einübung vorangegangen ist – bloß dadurch, daß man ihm eine Zeichnung hinlegt, veranlaßt, sie nachzuzeichnen. Vielmehr muß man zunächst die Vorlage vor den Augen des Kindes entstehen lassen. Die Nachahmung der zeichnenden Handbewegung ist also das Primäre, das Nachzeichnen erscheint ursprünglich nur als ein ungewolltes Nebenprodukt der Mitbewegung. Erst der Eindruck, den weiterhin dieses Produkt auf das Kind macht, läßt dann die Aufmerksamkeit von der Bewegung auf die Zeichnung selbst übergehen, und der Eintritt dieses weiteren Stadiums kündet sich dadurch an, daß das Kind nun auch fertige Vorlagen nachzuzeichnen unternimmt. Eine Parallele hierzu bildet wiederum die Entstehung der "Echosprache", d. h. jenes Stadiums der Sprachbildung, wo das Kind zunächst noch ganz verständnislos gehörte Laute wiederholt. Auch hier ahmt es nicht die gehörten Laute, sondern die ihm sichtbaren Bewegungen der Artikulationsorgane nach, daher denn auch die bekannten Mängel dieser ersten Lautbildungen durchgängig dem Gebiet der von außen nicht sichtbaren Organe der Lautbildung zufallen. Indem sich nun aber mit der Nachahmungsbewegung von selbst der entsprechende Laut assoziiert, wird die Auffassung des Kindes auf diesen gelenkt, so daß er nun allmählich regulierend in die Sprachbildung eingreift. Das geschieht aber in einer Zeit, in welcher sich auch bereits andere, einen Bedeutungsinhalt konstituierende Vorstellungen mit den Lauten verbinden 7). Gleichwohl trifft diese Analogie in einem wichtigen Punkte nicht zu, und er ist es zugleich, der die Entwicklung der zeichnenden Kunst aus nachahmenden Ausdrucksbewegungen von vornherein in eine wesentlich spätere Lebensperiode als die der Lautsprache verweist. Bei dieser sind die die Mitbewegungen des Kindes auslösenden Sprachbewegungen samt den diese begleitenden Sprachlauten unmittelbar einwirkende Sinnesreize; dagegen wirkt die zeichnerische Vorlage in dem Bewußtsein des Kindes nur als flüchtiges Erinnerungsbild und in einzelnen, lose verbundenen Bruchstücken nach, die zufällig in den Blickpunkt des Bewußtseins fallen. So zerlegt sich der Schritt, der von der Echosprache bis zum sinngemäßen Sprachlaut durchmessen wird, bei der Zeichnung in eine große Reihe von Akten der Anschauung und Wiedererinnerung, aus der sich dann allmählich jene geordnete Reihe willkürlich wiederholter Akte der Beobachtung, der sofortigen Erinnerung an das Beobachtete und der nacherzeugenden Bewegung entwickelt, die samt der regulierend eingreifenden Vergleichung des Ganzen mit seinem Vorbild eine planmäßige Zeichnung entstehen läßt.

            7) Über die Echosprache vgl. meine Völkerpsychologie Bd. l3. S. 288 f.

    Daß die Entwicklung der Kinderzeichnung in ihren ersten Stadien mit der Kunst des Primitiven nichts gemein hat, ist hiernach augenfällig. Wo ist, selbst wenn man bei der oberflächlichsten Auffassung stehen bleiben wollte, bei dem primitiven Menschen die Vorlage, die beim Kinde bis zu einem noch weit vorgerückten Stadium selbst eine Zeichnung sein muß? Und wie lassen sich vollends die weiteren diese Entwicklung der kindlichen Kunst begleitenden Motive, die die ganze umgebende Kultur und insbesondere den Einfluß dieser Kultur auf die Erziehung voraussetzen, auf den primitiven Menschen übertragen? So wenig es möglich ist, über die Entstehung der frühesten menschlichen Kunsterzeugnisse ähnlich wie über die ersten Zeichnungen des Kindes aus der unmittelbaren Beobachtung etwas auszusagen, so ist doch das eine gewiß, daß sie eine wesentlich andere gewesen sein muß. Und wenn es etwas gibt, was diesen Schluß bestätigt, so ist es die totale Verschiedenheit der Objekte, die man dem sogenannten "Kritzelstadium" der Kunst des Primitiven zurechnet, von den frühesten Kritzeleien des Kindes. Von solchen Objekten wie den amerikanischen Felszeichnungen muß hier ganz abgesehen werden. Wenn wir annehmen dürfen, daß sie von Menschen herrühren, die einer relativ primitiven Kultur angehörten, so bewährt sich gerade an ihnen der im allgemeinen für derartige Objekte geltende Satz, daß die Kunst des Primitiven keine primitive Kunst ist. Von diesen Zeichnungen, wie sie z. B. die von Koch-Grünberg mitgeteilte Sammlung enthält, ist keine einzige in dem Sinne primitiv, wie man etwa die von Baldwin mitgeteilten Kritzeleien des Kindes samt den ihnen folgenden nächsten Stadien primitiv nennen könnte. Sondern die Figuren gleichen mit ihrer strengen Einhaltung der symmetrischen Wiederholung weit mehr einem Ornament als der Nachbildung einer Tier- oder Menschengestalt. Andere, und sie bilden in der Sammlung die Mehrheit, sind rein "ornamental", wenn wir diesen Ausdruck auf Gebilde übertragen dürfen, die nicht zur Ausschmückung irgendeines Gegenstandes, sei es auch nur des eigenen Körpers, wie bei der schmückenden Kleidung oder der Tätowierung. bestimmt sind, sondern die ihren Zweck lediglich in sich selbst tragen, bzw. in ihrer Wirkung auf den Beschauer, und die sie jedenfalls auch auf den ersten Beschauer, den "Künstler" selbst ausgeübt haben. In vielen der übrigen von Koch-Grünberg mitgeteilten, zumeist mit großer Präzision ausgeführten Zeichnungen steigern sich nun nicht bloß die ornamentalen Motive, sondern es kommen auch Assoziationen mit andern Objekten, z. B. mit solchen der Keramik oder mit den bei diesen Indianern verbreiteten Masken hinzu. Es gibt nur ein einziges unter diesen Zeugnissen menschlicher Tätigkeit, das allenfalls mit den ersten zeichnenden Bewegungen des Kindes, nämlich mit jenen geradlinigen Strichen verglichen werden könnte, in denen es meist die zeichnenden Handbewegungen des Lehrers nachahmt. Da sind die Schleifri1len, die sich meist in paralleler Anordnung an vielen der südamerikanischen Steine vorfinden 8). Aber gerade hier ist die Ähnlichkeit wahrscheinlich eine ganz zufällige. Koch-Grünberg führt diese Rillen auf das Schleifen der Steinbeile zurück, deren sich die Indianer bedienten. Immerhin könnte es sein, daß der parallele Verlauf und der ziemlich gleiche Abstand dieser Rillen auf die Mitwirkung des Symmetriemotivs zurückzuführen wäre. Gerade diese Symmetrie fehlt aber wieder den geradlinigen Kritzeleien des Kindes vollständig. Ähnliche Zufallsprodukte sind wohl die Ritzlinien paläolithischer Knochenfunde, die man zum Teil zusammen mit Pfeilspitzen und anderen Werkzeugen angetroffen hat, und die möglicherweise, wie andere Herstellungsmotive, Ausgangspunkte späterer willkürlicher Knochenzeichnungen sein mochten, in dieser künstlerischen Verwertung der Knochen aber wieder von den Produkten der Kinderkunst sehr weit sich entfernen 9).

            8) Koch-Grünberg a. a. O. S. 42.

            9) Max Verworn, Anfänge der Kunst, 1909.

    So löst sich das "Kritzelstadium der Kunst" in nichts auf. Es beruht auf einer völlig unberechtigten Übertragung des Motivs der planlosen Herstellung auf die Gesamtheit der Bedingungen, aus denen ein graphisches Gebilde entsteht. Objektiv können solche zwecklose Gebilde Erzeugnisse einer sehr unvollkommenen wie einer hoch ausgebildeten Kunst sein, und sie können, wie z. B. die Nachbildungen des Schmucks von Geräten oder von Masken in den Felszeichnungen, je nach dem Kulturmedium, in dem sie vorkommen, auf die mannigfaltigsten Zweckobjekte zurückweisen. Wie in ihren Anfängen, so trennen sich nun aber auch in ihrem weiteren Verlauf Kinderkunst und Kunst des Primitiven durchaus. Nur eine Eigenschaft gibt es, die das zeichnende Kind und der zeichnende Primitive miteinander gemein haben: die Kunst beider ist "Erinnerungskunst", insofern ausschließlich das Erinnerungsbild, nicht die fortwährend eingreifende Vergleichung und Nachahmung eines Gegenstandes oder einer Vorlage die Zeichnung bestimmt. Aber auch dies verbindet sich in beiden Fällen zumeist wieder mit abweichenden Motiven, so daß auch in der weiteren Entwicklung die durchgängige Verschiedenheit gewahrt bleibt. Dennoch gibt es gewisse Ausnahmefälle, in denen die Erzeugnisse des Kindes und des Naturmenschen einander ähnlich, wenn auch nie einander gleich werden. Diese Ausnahmefälle sind es denn auch, die der falschen Übertragung des Satzes von der Wiederholung der Phylogenese in der Ontogenese auf diese Erscheinungen eine Stütze geliehen haben. Wenn der Primitive Objekte zeichnen soll, die für ihn neu sind, die er vielleicht niemals zuvor wahrgenommen hat, so treten natürlich bei ihm jene Folgen, die an das ausschließliche Zeichnen aus der Erinnerung gebunden sind, nicht minder hervor als beim Kind. Sie bestehen erstens in der Unsicherheit der Linienführung, zweitens in mehr oder minder starken, durch die Flüchtigkeit des Eindrucks veranlaßten Abweichungen von der Wirklichkeit, drittens aber auch in Zugaben zu dieser Wirklichkeit, die früheren oder vermeintlichen Eindrücken entnommen sind. Diese drei Ursachen erklären es, daß in der Tat die Zeichnungen des Kindes und des Naturmenschen zuweilen einander zum Verwechseln ähnlich sehen. Die günstigste Gelegenheit hierzu bietet natürlich die Methode, die der Forschungsreisende, der die zeichnende Kunst des Eingeborenen zu prüfen wünscht, anwendet, indem er diesem sein Taschenbuch überreicht mit der Aufforderung, darin die Angehörigen der Expedition zu porträtieren. Natürlich würde er sich täuschen, wenn er sich einbilden wollte, der primitive Zeichner werde in diesem Fall seiner Gewohnheit, rein aus dem Gedächtnis zu zeichnen, nicht folgen. Es fällt ihm nicht ein, etwa Zug für Zug das Original mit seinem Bild zu vergleichen. Vielmehr begnügt er sich, sofort nach einem flüchtigen Eindruck die Zeichnung in das Buch einzutragen. Da erscheinen nun, ganz wie beim Kinde, unsichtbare, von der Kleidung verborgene Körperteile, wie der Nabel, oder das verdeckte Bein eines in der Profil-Stellung gezeichneten Reiters, ja bei K. von den Steinen zeichnete einer seiner Bakaïri den Schnurrbart nicht unter die Nase, sondern auf die Stirn. Da dieses Merkmal männlicher Kraft bei den Bakaïri nicht vorkommt, so übte hier offenbar die Augenbraue die überwiegende Anziehung aus, die diese Translokation bewirkte 10). Ganz anders, wenn man es dem Naturmenschen überläßt, sein Thema selbst zu wählen. In diesem Fall entstehen Zeichnungen, die sich durch ihre Exaktheit, unter anderem aber auch durch die Vorliebe für ornamentale Zugaben, von den gewohnten Zeichnungen des Kindes so total unterscheiden, daß sie mit diesen absolut nicht zu verwechseln sind. Ein treffendes Beispiel bieten hier die oben erwähnten Felszeichnungen von Koch-Grünberg, wenn man sie etwa mit irgendeiner der bekannten Sammlungen von Kinderzeichnungen, z. B. der reichhaltigen von Levinstein, vergleicht. Man kann getrost sagen, daß es unter den 169 Kinderzeichnungen Levinsteins und den auf 29 Tafeln wiedergegebenen Felszeichnungen Kochs kein einziges Beispiel gibt, wo eine Verwechslung stattfinden könnte 11). Natürlich kommt in Betracht, daß die Felszeichnungen wahrscheinlich durchweg von Erwachsenen herrühren; aber nicht darum handelt es sich ja hier, sondern gerade um die Frage, ob der erwachsene Naturmensch in seinen künstlerischen Betätigungen dem Kinde gleicht oder nicht.

            l0) K. von den Steinen, Unter den Naturvölkern Zentralbrasiliens, 1897, S. 231 ff.
            11) Levinstein, Kinderzeichnungen, 1905.

    Noch weniger entspricht die zweite Hypothese der Wirklichkeit, die einen Parallelismus zwischen dem Kinde und dem Naturmenschen in jener schon oben erwähnten Neigung des letzteren zu ornamentalen Ausschmückungen seiner Figuren oder gar zu einem rein omamentalen Stil behauptet. Allerdings kommen auch beim Kinde, wie schon Vierkandt bemerkt hat, Erscheinungen vor, die man insofern ornamentale nennen kann, als Reihenwiederholungen und symmetrische Gliederungen dabei eine Rolle spielen 12). So zeichnet etwa das Kind zu einer menschlichen Figur eine Reihe von Köpfen übereinander, oder statt der Linien rechts und links, die die beiden Arme bedeuten sollen, auf beiden Seiten mehrere solche Arme usw. Dazu kommen zuweilen, aber selten schon im früheren Kindesalter einfache geometrische Figuren. Dagegen überwiegt beim Kinde, solange nicht die Beeinflussung durch einen geregelten Unterricht eingetreten ist, weitaus die Zeichnung von Gegenständen. So ist es denn auch bemerkenswert, daß noch heute unter den Ethnologen eine zweite, zu dieser Hypothese im vollen Gegensatz stehende Anschauung viele Vertreter hat. Nach ihr soll sich die bei den Naturvölkern bestehende Neigung zu einfachen, teilweise ganz und gar geometrischen Ornamenten aus der Stilisierung wirklicher Naturgegenstände erklären. Allerdings bieten überzeugende Belege solcher Stilisierungen nicht sowohl die Zeichnungen der Primitiven als die der sogenannten Halbkulturvölker, wo sich in einzelnen Fällen die Umwandlung eines Tieres oder einer Pflanze in ein einfaches Ornament Stufe für Stufe verfolgen läßt 13). Immerhin hat man vielfach geometrische Figuren lediglich auf Grund der Angaben der Eingeborenen, auch wo sie auf primitiveren Stufen vorkommen, als Stilisierungen von Objekten angesehen. Einen großen Einfluß haben in dieser Beziehung die Beobachtungen K. von den Steinens bei den Stämmen Zentralbrasiliens ausgeübt 14). Er fand gelegentlich Zeichnungen von Rhomben, Dreiecken von verschiedener Stellung usw., die die Eingeborenen als Reihen von Bienen, Fledermäusen, Frauenschürzen je nach der Lage der Winkel bezeichneten. Diese und andere Beobachtungen gleicher Art verschafften der Stilisierungstheorie während längerer Zeit eine so allgemeine Geltung, daß sie zur Deutung der gesamten Ornamentik der Naturvölker herbeigezogen wurde, auch wo sich ein direkter Übergang der Formen keineswegs etwa durch die Auffindung von Zwischenformen wahrscheinlich machen ließ. Von den Steinen selbst wurde freilich später darauf aufmerksam, daß man sich hierbei einer Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse schuldig gemacht hatte: man faßte die geometrischen Figuren den Angaben der Eingeborenen folgend als stilisierte Bilder von Gegenständen auf, während vielmehr diese Angaben auf dem assimilativen Hineinsehen des Erinnerungsbildes in das geometrische Objekt beruhten. Von den Steinen hat daher später ausdrücklich diese Deutung zurückgenommen 15). Nichtsdestoweniger begegnet man derselben noch immer, und manchmal durchkreuzen sich die Hypothesen von dem Ornament als der Ursprungsform der Kunst und die andere von seiner Entstehung aus der Stilisierung der Natur. Zugleich hat hierbei die Anwendung auf die Entstehung abstrakt geometrischer Ornamente dazu geführt, daß der Begriff der Stilisierung selbst wohl nicht zum wenigsten unter dem Einfluß dieser Beobachtungen in ungerechtfertigter Weise verengt wurde, indem man unter ihm lediglich diejenige Form eines Stilwandels verstand, aus der in konsequenter Weiterführung irgendeine einfache geometrische Form hervorgeht. Dieser Art des Stilwandels stehen jedoch tatsächlich noch zwei andere gegenüber, die sich bald mit ihr verbinden, bald ebenfalls einseitig hervortreten können. Wenn wir jene erste als die reduzierende bezeichnen, so läßt sich die in einer Ergänzung der ursprünglichen Form bestehende die amplifizierende nennen, worauf endlich zwischen beiden die modifizierende eingeordnet werden kann, bei der der Prozeß auf einer Veränderung der Verhältnisse der Teile beruht, ohne daß diese in einer bestimmten Richtung stattfindet. Gerade bei den Naturvölkern lassen sich nun diese Erscheinungen ebensowohl in der einseitigen Ausprägung der einen oder anderen dieser Formen wie in ihrem Nebeneinander an zahlreichen Beispielen verfolgen. Eine Reihe trefflicher Belege enthält hier die Abhandlung von Martin Heydrich über afrikanische Ornamentik in den Darstellungen afrikanischer Eidechsenornamente, die Beispiele ebensowohl der genannten drei Grundformen wie ihrer Übergänge und Verbindungen bieten 16).

            12) A. Vierkandt, Das Zeichnen der Naturvölker. Zeitschrift für angewandte Psychologie Bd. 6, 1912, S. 299 ff.
           13) Vgl. meine Völkerpsychologie Bd. 32, S. 249 ff.
           14) K. von den Steinen a. a. O. S. 248 ff.
           15) K. von den Steinen, Korrespondenzblatt der Deutschen Anthrop. Ges. Bd. 55, S. 126.
           16) Martin Heydrich, Afrikanische Ornamentik. Leipziger Dissertation 1914, Tafel 1–3.


    Abgesehen von den Fällen, wo ein Tier- oder Pflanzenornament wirklich als das Resultat dieser Stilisierungen nachzuweisen ist, gibt es nun aber zahlreiche andere, wo das Ornament von Anfang an ein rein geometrisches zu sein scheint, und gerade in den Zeichnungen der primitivsten Völker trifft dies nicht selten zu. Dahin gehören die oben erwähnten geometrischen Figuren der Bakaïri, die, wie von den Steinen in seiner späteren Veröffentlichung gezeigt hat, in ihre Rhomben und Dreiecke nachträglich Bienen, Fledermäuse usw. hineinsahen, keineswegs aber solche von Anfang an zu zeichnen beabsichtigten. Ähnliche rein geometrische Objekte bilden die Zeichnungen der Senoi, eines Pygmäenstammes auf der malaiischen Halbinsel, die E. Martin abgebildet hat, und die durchweg bloß aus Reihen von Dreiecken und Vierecken bestehen. Für sie hat man zwar ebenfalls einen Ursprung aus stilisierten Pflanzen oder Tieren angenommen, doch in den Tatsachen ist hierfür nicht der geringste Grund zu finden. Solche regelmäßig geometrische Formen sind aber besonders bedeutsam, weil sie als Zauberzeichen an Amuletten oder an Waffen und Werkzeugen nicht selten vorkommen. Die erwähnten Figuren der Senoi sind offenbar derartige Zauberzeichen, mit denen die Kämme der Frauen dieser Stämme ausgerüstet werden, und die zum Schutz vor Krankheiten dienen sollen. Nach allem dem scheint es, daß solche Zeichnungen auch gerade um ihrer geometrischen Regelmäßigkeit willen zunächst wohl das Staunen und dann, von diesem ausgehend, die ähnlichen magischen Motive auslösen, wie sie auch umgekehrt durch fratzenhafte Objekte erregt werden können. Wie dem aber auch sein mag, so viel scheint festzustehen, daß neben den stilisierten Pflanzen- und Tierformen, zu denen besonders auch die fratzenhaften Tiermasken und die Götteridole der Naturvölker zu zählen sind, einfache geometrische Muster mit zu den bevorzugten Kunstleistungen der Primitiven gehören. Dabei bewegt sich jedoch unter dem Einfluß der ästhetischen und besonders auch der magischen Motive, die hier zusammenwirken, dieser Stilwandel zwischen allen möglichen Formen, unter denen die drei oben herausgegriffenen der vereinfachenden, der hinzufügenden und der zwischen diesen Grenzfällen liegenden beliebig verändernden in der mannigfaltigsten Weise sich verbinden können. Dagegen davon, daß die bildende Kunst des Naturmenschen mit dem geometrischen Ornament beginne, kann keine Rede sein. Neben ihm spielt der Eindruck der Naturformen eine nicht minder bedeutende Rolle, und aus beiden, aus der Einwirkung der Objekte der Außenwelt und dem Anblick selbsterzeugter regelmäßiger Formen, entsteht jene Fülle primitiver Kunsterzeugnisse, mit denen der Naturmensch seine Waffen und Geräte und nicht zum wenigsten sich selber schmückt. Wenn man einzelne dieser Betätigungen der Phantasie Stilisierungen, Umbildungen oder besonders bei den einfachsten Erzeugnissen freie Erfindungen nennt, so sind dies daher immer nur symptomatische Ausdrücke für das nach allen diesen Richtungen innerlich zusammenhängende Walten der Phantasie. Indem sich dieses beim Naturmenschen frei weiß von den Schranken, in denen ihm später teils Überlieferung und Beispiel, teils eigene Wahl festere Ziele setzen, zerlegt es sich hier um so klarer in seine einzelnen psychischen Motive. Diese bestehen aber ebensowenig in einer unerklärlichen Vorliebe für geometrische Formen wie in zufällig wechselnden Tendenzen zur Stilisierung gegenständlicher Bilder, sondern alle diese Begriffe sind Produkte von Abstraktionen, denen eben jenes einheitliche Walten der Phantasie bald nach wechselnden Richtungen umgestaltend, bald neugestaltend zugrunde liegt. Dieses Walten der Phantasie hat Johannes Volkelt mit glücklichem Griff die "Einfühlung" genannt. Das Wort bezeichnet treffender als jedes andere den zusammengesetzten und doch einheitlichen seelischen Vorgang, in welchem das ästhetische Subjekt seine eigensten inneren Erlebnisse in den Gegenstand der Anschauung hinüberträgt, um sie nun als die diesem selbst immanenten Eigenschaften wieder auf sich wirken zu lassen 17). Diesen Prozeß der Einfühlung nach seinen verschiedenen Richtungen und in der Reihe der Künste in einer tiefeindringenden psychologischen Analyse verfolgt und uns damit eine wahre psychologische Ästhetik geschenkt zu haben, ist Volkelts unvergängliches Verdienst.

            17) Volkelt, System der Ästhetik, I, S. 213 ff.