V.

Völkerpsychologie und Entwicklungspsychologie.

1. DieVölkerpsychologie: Wort und Begriff.

    In seiner an Gedanken und Anregungen reichen Abhandlung "Über Entwicklungspsychologie", die Felix Krueger als erstes Heft einer Sammlung von "Arbeiten zur Entwicklungspsychologie" veröffentlicht hat, ist von ihm der Name "Völkerpsychologie" einer ausführlichen Kritik unterzogen worden 1). Diese Kritik kommt zu dem Ergebnis, der von Lazarus und Steinthal eingeführte Ausdruck sei im wesentlichen aus zwei Gründen zu verwerfen: erstens, weil die genannten Forscher selbst mit diesem Ausdruck einen sehr unbestimmten und zum Teil von dem heutigen abweichenden Begriff verbunden haben, und zweitens, weil der Name überhaupt seinem unmittelbaren Wortsinne nach unzutreffend sei. Krueger schlägt daher vor, ihn zu beseitigen, und statt seiner den der "Entwicklungspsychologie" oder, wenn man einer näheren Bezeichnung bedürfe, den der "sozialen Entwicklungspsychologie" einzuführen. Seine Begründung dieses Vorschlags enthält nun zweifellos manches Beachtenswerte. Gleichwohl kann ich dem Schlußergebnis nicht zustimmen. Vielmehr glaube ich, daß, wenn wir den vorgeschlagenen Namenwechsel vornehmen wollten, dies ein schönes und auch im wesentlichen zutreffendes Wort gegen ein minder schönes und in viel erheblicherem Grade kritischen Einwänden ausgesetztes eintauschen hieße. Je erfreulicher daher das rege Interesse ist, mit dem der Verfasser für die völkerpsychologischen Probleme eintritt, Probleme, die gegenwärtig noch immer für die meisten Psychologen einer ihrer eigenen Wissenschaft fremden Welt anzugehören scheinen, um so mehr glaube ich meine Bedenken in diesem Punkte nicht verschweigen zu sollen. Ist doch auch in diesem Fall der Name keine bloß äußerliche Sache, da er, soweit dies in einem einzigen Wort möglich ist, auf die wesentlichen Aufgaben der Wissenschaft hinweisen soll. In der Tat wollen die beiden hier in Frage stehenden Ausdrücke dieser Forderung nachkommen, und auch darin stimmen sie überein, daß sie keine exakten Definitionen sein können. Sie weichen aber darin von einander ab, daß der Name "Völkerpsychologie" selbstverständlich zu eng, "Entwicklungspsychologie" dagegen zweifellos zu weit ist, denn dieser Begriff umfaßt außer den menschlichen Gesellschaften bis hinauf zur ganzen Menschheit auch die psychische Entwicklungsgeschichte des einzelnen Menschen, insbesondere also die Psychologie des Kindes sowie die Tierpsychologie. Die strittige Frage lautet demnach nicht, ob einer dieser Ausdrücke der allein zutreffende, sondern welcher der zweckmäßigere sei.

1) Felix Krueger, Arbeiten zur Entwicklungspsychologie, l. Heft: Über Entwicklungspsychologie, ihre Sachlichkeit und geschichtliche Notwendigkeit. Leipzig 1915.
 
 
    Nun hat Krueger sicherlich recht, wenn er auf die unbestimmte, nirgends eine sichere Begrenzung gegenüber den historischen Geisteswissenschaften und der Geschichtsphilosophie bietende Formulierung des Programms hinweist, das Lazarus und Steinthal in der einleitenden Abhandlung zum ersten Bande ihrer "Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" vom Jahr 1860 entwickelt haben, und er bemerkt treffend, in dem inneren Widerspruch, in den sich dieses Programm mit der von beiden Forschern vertretenen Herbartschen Vorstellungsmechanik verwickelt, sei das unsichere Schwanken, in welchem sich ihre Darlegungen bewegen, wesentlich mit begründet 2). Gleichwohl kann ich Krueger nicht beistimmen, wenn er es den beiden Völkerpsychologen zum Vorwurf macht, daß sie auch "die unterscheidende Charakteristik einzelner Völker und ihrer besonderen Geistesart" der Völkerpsychologie als eine ihrer Aufgaben zuwiesen, und wenn er meint, damit sei ihnen "das eigentlich völkerpsychologische Problem", das an sich ein "entwicklungstheoretisches" sei, "unklar in historische Aufgaben hinübergeglitten". Ich meine im Gegenteil, die Aufgabe einer vergleichenden Charakterologie der Völker ist die einzige im vollen Sinne und ausschließlich völkerpsychologische, die von ihnen klar und deutlich als solche hingestellt worden ist, wie sie denn auch wohl am schnellsten in die allgemeine Literatur unter diesem Namen Eingang gefunden hat. Sie ist freilich keineswegs die fundamentale Aufgabe, sondern mehr ein Anwendungsgebiet, aber sicherlich ist sie eine psychologische und keine historische, wie dies schon das ihr mit gutem Recht beigelegte Prädikat einer "vergleichenden" Disziplin in sich schließt. Tritt doch die Charakteristik der geistigen Eigenart eines Volkes überall erst unter dem Gesichtspunkt einer vergleichenden Betrachtung der Charaktereigenschaften verschiedener Völker in die geeignete Beleuchtung. Die Geschichtswissenschaft als solche dagegen hat mit einer derartigen psychologischen Analyse an sich nichts zu tun, wenn sie auch selbstverständlich im Verein mit den die einzelnen Teile des geistigen Lebens umfassenden historischen Spezialgebieten der Geschichte, der Kunst, der Literatur, der Sitten usw., die Hilfsmittel zur Lösung dieser Aufgabe bietet. Freilich ist die letztere ebensowenig eine entwicklungspsychologische im unmittelbaren Sinne des Wortes. Wohl aber ist sie eine völkerpsychologische. Wollte man daher die hierher gehörigen Fragen deshalb ausscheiden, weil sie sich nicht unter den Begriff einer Entwicklungspsychologie oder gar einer "Entwicklungstheorie" bringen lassen, so hieße dies fordern, der Inhalt einer Wissenschaft solle sich nach dem für sie gewählten Namen, nicht umgekehrt die Wahl des Namens nach ihrem Inhalte richten. Hier hat eben der Ausdruck Völkerpsychologie den Vorzug, daß er seinerseits die Probleme der geistigen Entwicklung einschließt, daß er darum aber wichtige psychologische Aufgaben, die nur hier ihre geeignete Stelle finden, keineswegs ausschließt. 2) Vgl. hierzu meine oben S. l ff. wieder abgedruckte Kritik des Lazarus-Steinthalschen Programms (Philos. Studien, Bd. 4, S. l ff.). Der einzige etwas schmale Steg, der von der Herbartschen Psychologie zur "Völkerpsychologie" hinüberführte, bot sich in Herbarts "Statik und Mechanik des Staats", Psychologie als Wissenschaft, 2. Teil, Einleitung. Mehr als dieses wenig ergiebige Spiel mit Analogien, bei denen das Verhältnis der einzelnen zur Gemeinschaft mit den wechselseitigen Beziehungen der Vorstellungen im individuellen Bewußtsein verglichen wird, dürfte übrigens bei dieser ersten Konzeption einer Völkerpsy-chologie der Umstand wirksam gewesen sein, daß Steinthal von Wilhelm v. Humboldt und Hegel herkam. Insbesondere die starke Tendenz des Programms zur Geschichtsphilosophie dürfte in diesen in dem bekehrten Herbartianer immer noch fortwirkenden Einflüssen der Hegelschen Geschichtsphilosophie ihre Quelle haben.
 
 
    Doch zu diesem Vorzug kommt noch ein anderer. Da es nun einmal unmöglich ist, in dem Namen einer Wissenschaft eine vollständige Definition ihres Inhalts zu geben, so wird die zweckmäßigste Namengebung diejenige sein, die einen Zentralbegriff herausgreift, der die wesentlichsten anderen, dem gleichen Gebiet angehörenden Begriffe als seine Ergänzung fordert. Hier ist nun das "Volk" ohne Frage derjenige, der gegenüber allen den Gebieten, die eine Psychologie des gemeinsamen menschlichen Lebens umfaßt, auf eine solche zentrale Bedeutung Anspruch machen kann. Wenn Krueger einwendet, daß in diesem Zusammenleben doch auch Vereinigungen einzelner Individuen, die kein Volk seien, ferner die Familie, der Verein usw. ihren Wert besäßen, so könnte man mit demselben Rechte beanstanden, daß z. B. die "Staatswissenschaft" nicht auch die Gemeinde, die Polizei, die Strafgewalt und vieles andere in ihren Namen mit aufnehme. Das Volk schließt eben die verschiedenen Gliederungen der Volksgemeinschaft und die mannigfaltigen geistigen Erzeugnisse, die sie hervorbringen kann, in sich. Indem der Name unserer Wissenschaft diese ausdrücklich nicht "Volks-", sondern "Völkerpsychologie" nennt, weist aber dieser Plural deutlich genug darauf hin, daß sie die Vielheit, den Verkehr, die Wechselbeziehungen der Völker, und vor allem ihre Gesamtheit in sich einschließt. Höchstens daran könnte man etwa noch zweifeln, auf welche der vielen einzelnen Bedeutungen, die das Wort "Völker" besitzen kann, das Hauptgewicht falle. Aber auch dieser Zweifel wird im Grunde schon durch die plurale Form des Wortes gehoben: es ist in erster Linie das, was allen Völkern zukommt, also das allgemein Menschliche, was sich gemäß der allgemeinen Aufgabe der Psychologie in dem Leben der Völker als ein Objekt psychologischer Untersuchung bietet. Wer mit dieser Auskunft, die das Wort gibt, sobald wir nur dem Sinn, den es andeutet, näher nachgehen, nicht zufrieden ist, dem wird dann freilich nichts anderes übrig bleiben als das gleiche zu tun, was er bei jeder anderen, auch bei den längst gesicherten Disziplinen tun muß, bei denen niemand mehr an eine Umtaufe denkt: er muß sich mit den Problemen selbst beschäftigen und nicht glauben, der Name könne schließlich mehr sein als ein konventionelles Zeichen für einen Zusammenhang wissenschaftlicher Aufgaben. Auf diesen konventionellen Wert des Namens, den sie sich selbst beilegt, ebenso wie auf den zahlreicher einzelner Begriffe, die sie verwendet, muß jede Wissenschaft rechnen. Wen kümmert es, daß sich die Physiologie ihrem Namen nach mit der Physik decken könnte, oder daß die Chemie durch den ihren an die Zauberkünste mittelalterlicher Adepten erinnert? Noch vor einem halben Jahrhundert nannte Theodor Waitz sein großes, im wesentlichen völkerpsychologisches Werk eine "Anthropologie der Naturvölker". Gegenwärtig hat das Wort "Anthropologie" dagegen nach längerem Schwanken die Bedeutung einer den physischen Eigenschaften zugewandten Rassen- und Völkerkunde gewonnen. Die Anthropologie im heutigen Sinne steht daher mitten inne zwischen der Anatomie des Menschen und der Ethnologie, und insofern sie den Menschen der Vergangenheit umfaßt, berührt sie sich zugleich mit der Urgeschichte. Jedenfalls ist aber dadurch das Wort zur Bezeichnung psychologischer Aufgaben unbrauchbar geworden. Nach einer anderen Seite gilt dasselbe von der "Soziologie". So weit auch die verschiedenen soziologischen Systeme voneinander abweichen, sie kommen doch darin überein, daß sie sich wesentlich andere Aufgaben stellen als die Völkerpsychologie. Und wenn auch dieses Hindernis nicht vorhanden wäre, so würde gleichwohl das Bedenken im Wege stehen, daß der Begriff der Gesellschaft bereits lange, bevor die moderne Soziologie existierte, durch die Staatswissenschaft seine eigentliche Prägung empfangen hat, nach der er die Gesamtheit der Zusammenlebenden in ihren neben der staatlichen Ordnung bestehenden Beziehungen bedeutet. Auf diese Weise hat die "Gesellschaftslehre" der Nationalökonomen und Staatstheoretiker den Charakter einer systematischen Disziplin angenommen, die bei ihren Betrachtungen im allgemeinen den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft im Auge hat, während genetische Gesichtspunkte, wie durchgängig bei systematischen Disziplinen, nur beiläufig in Anwendung kommen. Unverkennbar wirkt aber diese Richtung auf die Probleme der Gegenwart auch noch in der neueren Soziologie nach, soweit diese nicht, dem Vorbild Auguste Comtes folgend, auf eine konstruktive Geschichtsphilosophie ausgeht. Das sind Gründe genug, die nicht nur den substantivischen Ausdruck, sondern auch die attributive Verwendung des Soziologischen in Ausdrücken wie "soziologische Entwicklungspsychologie" u. dgl. wenig rätlich erscheinen lassen. Allen solchen durch den Konflikt mit geläufigen Begriffen ungeeigneten und nebenbei sprachlich unschönen Wortbildungen gegenüber zeichnet. sich, wie ich meine, der Ausdruck "Völkerpsychologie" durch seine den grundlegenden Begriff in den Vordergrund stellende und dabei zugleich die unnütze Häufung von Fremdwörtern ebenso wie pedantische Weitschweifigkeit vermeidende Form aus. Wenn darum Krueger es als einen Akt "schöner Pietät" rühmt, daß ich für meine eigenen völkerpsychologischen Arbeiten das von Lazarus und Steinthal eingeführte Wort beibehalten habe, so muß ich dieses Lob ablehnen. Der Umstand, daß das Wort in einem mit der Sache wenigstens annähernd übereinstimmenden Sinne nun einmal existierte, wäre für mich allerdings schon ein zureichender Grund gewesen, es zu bewahren. Aber mehr noch hat mich dazu doch das Wort selbst bestimmt, das ich für eine der treffendsten und schönsten Wortbildungen halte, die jemals für ein neues Gebiet von Untersuchungen eingeführt worden sind; ja ich gehe so weit, die Schaffung dieses Wortes, das die unserer deutschen Sprache eigene Kraft der Wortzusammensetzung so maßvoll und zugleich so beziehungsreich ausnützt, für ein Meisterstück der Sprachkunst zu halten.

2. Der Entwicklungsgedanke und die Entwicklungspsychologie.

    Doch wie man auch über diese ästhetische Seite der Frage urteilen mag, jedenfalls kenne ich keine andere Bezeichnung, die vorzuziehen wäre. Das gilt auch für die "Entwicklungspsychologie" und vollends für die "soziale Entwicklungspsychologie": der erstere Ausdruck ist zu weit, der zweite verleitet zu der Vermengung mit dem bereits in wesentlich anderem Sinne verwendeten Begriff der Soziologie und widerspricht überdies allen Regeln der Sprachökonomie. Daß die "Entwicklungspsychologie", zu der man, um das schwerfällige Doppelwort zu vermeiden, seine Zuflucht nehmen muß, zu weit ist, hat Krueger selbst in seiner Schrift dargetan, indem er darauf hinweist, daß im letzten Grund jede Geisteswissenschaft, insbesondere aber die Psychologie mit ihren sämtlichen Zweiggebieten von dem Entwicklungsgedanken getragen sei. Schon die Behandlung der Probleme des individuellen Bewußtseins setze in jedem einzelnen Fall dieses Moment der Entwicklung voraus. Die Psychologie des Kindes pflege durchgehends unter diesem Gesichtspunkt behandelt zu werden. Dasselbe gelte von der Tierpsychologie. Es gelte aber auch von der Psychopathologie und von den in die sogenannte Völkerpsychologie herüberreichenden Einzelgebieten, wie der Sprachpsychologie, der Religionspsychologie u. dgl. Allem dem wird man zustimmen können. Ist dies der Fall, so liegt darin aber auch der schlagendste Beweis dafür, daß das Wort "Entwicklungspsychologie" nicht auf die Völkerpsychologie allein angewandt werden kann. Pflegt man doch heute noch den Ausdruck speziell auf das Gebiet zu beziehen, das, ehe noch die Völkerpsychologie in den Gesichtskreis der Psychologen trat, als eine Art allgemeiner Psychologie der menschlichen Entwicklung galt: auf die Kinderpsychologie. In der Tat zweifle ich kaum, daß auf die Frage, was unter Entwicklungspsychologie zu verstehen sei, noch jetzt mindestens neun Zehntel aller deutschen Psychologen antworten würden: die Kinderpsychologie 3). Es bleibt also nur zweierlei übrig: entweder muß man jedesmal hinzufügen, welche der vielen möglichen "Entwicklungspsychologien" gemeint sei, also allgemein die Ausdrücke Entwicklungspsychologie des Kindes, der Tiere, des menschlichen Individuums usw. einführen, oder aber, weil das Moment der Entwicklung ein gemeinsamer Faktor aller dieser Begriffe ist, ihn als einen selbstverständlichen überhaupt hinweglassen. Gegen das Wort "Soziale Entwicklungspsychologie" kommt aber dabei noch in Betracht, daß es diesen Begriff in bedenkliche Nähe zu der wesentlich andere Aufgaben verfolgenden Soziologie bringt. Nun ist freilich von manchen Seiten das Existenzrecht der letzteren bestritten worden. Immerhin hat vorläufig jedenfalls noch die soziologische Literatur gegenüber der völkerpsychologischen mindestens numerisch das Übergewicht, und ich bezweifle daher nicht, daß die Mehrzahl selbst der Psychologen und Soziologen annehmen würde, das Doppelwort solle eine psychologisch gerichtete Soziologie bedeuten, sich also im Sinne des verbreiteten Begriffs dieser Wissenschaft vornehmlich mit der Entwicklung der gegenwärtig bestehenden sozialen Verhältnisse beschäftigen. Ist der genetische Gesichtspunkt ein unveräußerlicher Faktor jeder psychologischen Betrachtung, so ist es eben eine notwendige Folge, daß man die einzelnen Gebiete der Psychologie nicht nach ihm, sondern nach den Gegenständen benennt, um deren Entwicklung es sich handelt. Daß die Kinder-, die Tier- und nicht minder die Völkerpsychologie im wesentlichen genetische Wissenschaften seien, ist ja auch allgemein anerkannt 4). Für die Psychologie des Individuums, bei der allein von Seiten mancher Psychologen der genetische Gesichtspunkt unbillig vernachlässigt worden ist, einen anderen Namen als den allgemeinen der "Psychologie" einzuführen, wird aber schwerlich jemand befürworten wollen. In der Psychologie gibt es eben, wie in anderen Wissenschaften, verschiedene Richtungen. Jeder hat das Recht, eine nach seiner Meinung falsche oder einseitige zu bekämpfen, aber es würde zu einer unerträglichen Verwirrung führen, wenn man jede dieser Richtungen mit einem besonderen Namen belegen wollte.

3) Mit Rücksicht auf diese übertriebene Bewertung der Kinderpsychologie und im Gegensatz zu ihr habe ich in meinen "Elementen der Völkerpsychologie" bemerkt, die Völkerpsychologie sei "im eminenten Sinne des Wortes Entwicklungspsychologie" (S. 4). Ich habe damit weder gesagt, daß sie die einzige Entwicklungspsychologie sei, noch sagen wollen, daß ich den Ausdruck als einen brauchbaren Ersatz für Völkerpsychologie ansehe, wie Krueger (S. 208 Anm.) anzunehmen scheint.

4) Ich darf hier wohl darauf hinweisen, daß ich meinem eigenen größeren Werk über Völkerpsychologie den Untertitel einer "Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte" und meinen "Elementen der Völkerpsychologie" den einer "psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit" gegeben habe.
 
 

    Unverkennbar wirkt jedoch in diesem Streben, in der Bezeichnung einer Wissenschaft wo möglich alle wesentlichen Bestandteile ihres Inhalts zum Ausdruck zu bringen, eine Verwechslung zweier Aufgaben nach, die sich zwar unter Umständen berühren, prinzipiell aber doch wesentlich voneinander verschieden sind: in dem Namen einer Wissenschaft will man eine kurz gefaßte, aber im ganzen vollständige Definition ihres Inhaltes geben. Man übersieht dabei, daß Benennung und Definition zwei durchaus verschiedene Aufgaben sind. Die Definition muß alles enthalten, was zur Kenntnis des Inhalts wesentlich ist, die Benennung hat die Bedeutung eines Merkworts, durch das man den Begriff festzuhalten sucht. Darum ist es für die Fixierung eines solchen Begriffs wichtig, daß, namentlich da, wo es sich um umfassendere Wissensgebiete handelt, ein einziges Wort den Begriff fixiere. Unsere deutsche Sprache hat den Vorzug, dies vermöge der ihr erhalten gebliebenen Fähigkeit der Wortbildung in ungleich höherem Grade als andere moderne Sprachen tun zu können. Für die Wahl des Namens sind sodann zwei Momente maßgebend: erstens die überlieferte allgemeine Geltung, und zweitens, wo diese allein nicht entscheidet, die Wahl eines Zentralbegriffs, der auf die sonstigen Inhalte als Unter- oder Nebenbegriffe zurückschließen läßt. Bei den längst anerkannten Wissenschaften ist die erste dieser Bedingungen allein maßgebend. Bei ihnen haben sich die Namen entweder von ihrer ursprünglichen Bedeutung gänzlich losgelöst, oder diese ist für den Begriff gleichgültig geworden. Hier verhält sich also der Name der Wissenschaft zu dieser selbst im wesentlichen ganz so wie das Wort überhaupt zur Sache, die es bezeichnet. Anders steht es natürlich bei der Neubildung von Wissenschaftsgebieten und der durch sie geforderten Neubildung von Namen. Hier kommt zunächst das zweite der obigen Motive zur Geltung, daneben aber doch auch das erste, insofern man auch hier auf die allmähliche Befestigung des einmal eingeführten Wortes durch den Gebrauch zählen muß. In diesem Sinne hat sich nun, wie ich glaube, der Ausdruck "Völkerpsychologie" als ein zweckmäßiger bewährt. Erstens hebt er in einem einzigen leicht verständlichen Wort die "Völker" als das Grundthema dieses psychologischen Gebiets hervor, und zweitens hat das Wort mindestens in den beteiligten wissenschaftlichen Kreisen bereits eine ziemlich weite Verbreitung gefunden, so daß ein anderes schon sehr einleuchtende Vorzüge aufweisen müßte, wenn es Aussicht haben sollte, sich in einem anderen Sinne durchzusetzen als in dem von Krueger auf dem Gesamttitel der von ihm herausgegebenen "Arbeiten zur Entwicklungspsychologie" gebrauchten. Denn da das zweite seiner programmatischen Abhandlung folgende Heft dieser Arbeiten einen interessanten Beitrag Hans Volkelts zur Tierpsychologie enthält, so darf man wohl vermuten, der Plan dieser Sammlung gehe dahin, hauptsächlich Monographien aus den Gebieten der Völker-, der Tier-, der Kinderpsychologie, dazu vielleicht auch noch andere, wesentlich dem genetischen Gesichtspunkt Rechnung tragende Arbeiten zu veröffentlichen. Hier wird gewiß niemand bestreiten, daß der Titel zweckmäßig gewählt sei, und das Unternehmen selbst ist wegen der Beziehungen, in denen jene drei genetischen Sondergebiete der Psychologie zueinander stehen, als eine glückliche Bereicherung unserer periodischen Literatur zu begrüßen. Gerade im Hinblick darauf, daß die Völkerpsychologie in dieser Sammlung im Verein mit anderen anerkannt entwicklungspsychologischen Disziplinen auftritt, fällt aber, wie man meinen sollte, jeder Grund hinweg, dieses Merkmal der Entwicklung für sie noch einmal besonders hervorzuheben.

    Nun wird freilich eingewandt, der Begriff "Volk" sei in Wahrheit gar nicht der Zentralbegriff der Völkerpsychologie. Denn diese habe sich auch mit Vereinigungen von zwei, drei und mehr Individuen zu befassen, die doch bei weitem kein Volk sind. Ferner bilde die Familie einen wichtigen Bestandteil ihrer Untersuchungen, und endlich beschäftige sie sich mit allgemeinen Kulturerscheinungen, die über den Bereich des einzelnen Volkes hinausreichen. Diese Einwände scheinen mir jedoch sämtlich auf einer mißverständlichen Auffassung dessen zu beruhen, was man mit Fug und Recht einen "Zentralbegriff" im Sinne der oben erwähnten terminologischen Verwendung nennen kann. Zunächst ist zu bedenken, daß der Plural "Völker" in diesem Fall eine schwerwiegende Bedeutung hat. Die "Völkerpsychologie" unterscheidet sich hier von einer "Volkspsychologie", unter der man etwa die im Volk verbreiteten psychologischen Anschauungen verstehen könnte, ziemlich genau ebenso wie die Völkerkunde von der Volkskunde. Der Plural gibt dem Begriff Volk, das ja ohnehin in mannigfachen Bedeutungen vorkommt, einen wesentlich anderen Sinn, als ihn der Singular besitzt. Jener Plural schließt nicht bloß das Verhältnis der Völker zueinander und eben damit schon den Entwicklungsgedanken ein, sondern auch die Völker als Gesamtheit, als Inbegriff der Menschheit in ihrer vorgeschichtlichen wie geschichtlichen Entwicklung. Der Ausdruck "Kulturpsychologie", der gelegentlich im gleichen Sinne gebraucht wird, ist dafür kein Ersatz, da er vollends in Verbindung mit dem Begriff der Entwicklung, als "Entwicklungspsychologie der Kultur", nicht bloß alle die Teile der Menschheit ausschließt, die keinen nachweisbaren Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet haben, sondern da er außerdem noch für die sogenannten Kulturvölker bloß die Kultur hervorhebt, die, so bedeutsam sie sein mag, immerhin nicht das gesamte geistige Leben der Völker umfaßt. Hier verhält sich also die "Kulturpsychologie" zur "Völkerpsychologie" ungefähr ähnlich wie die Kulturgeschichte zur Geschichte. Die Geschichte behandelt selbstverständlich auch die Geschichte der Kultur; die Kulturgeschichte dagegen beschränkt sich geflissentlich auf die Kulturerscheinungen; sie schließt also z. B. die politische Geschichte im wesentlichen aus. Wo möglich noch unhaltbarer ist endlich der Einwand, die "Völkerpsychologie" enthalte in ihrem Namen keinen Hinweis auf andere menschliche Vereinigungen, wie die Familie, eine Gesellschaft von zwei oder mehr Personen usw. Was die Familie betrifft, so würde dieser Einwurf gerechtfertigt sein, wenn Volk und Familie voneinander unabhängige Begriffe wären. Davon ist aber das Gegenteil zutreffend. Vielmehr bestätigt sich wohl auf keinem Gebiet der Zusammenhang der engeren Gesellschaftsverbände mit dem gesamten geistigen Leben eines Volkes auffallender wie auf dem der Ehe und Familie. Hier vor allem erweist sich daher das Volk als der Zentralbegriff, nicht die Gesellschaft, die zu den auf dem Verhältnis der Geschlechter beruhenden Verbindungen in gar keiner inneren Beziehung steht, wie die innerhalb der heutigen Kultur geläufigsten Anwendungen des Gesellschaftsbegriffs auf wirtschaftliche, politische und ähnliche Zweckvereinigungen schlagend beweisen. Wie die Familie, so bildet aber die Gruppe, die aus der Vereinigung einer beliebigen kleineren Anzahl von Individuen besteht, entweder in der Form von Vereinigungen von Individuen gleichen Geschlechts oder in der von Familienverbänden einen integrierenden Bestandteil der Volksgemeinschaft. Nur in dieser Beziehung zum Ganzen eines Volkes hat die Gruppe für die Völkerpsychologie überhaupt eine Bedeutung. Alle diese Einwände beruhen also auf einer unzulänglichen Auffassung der Begriffe Volk und Völker.

    Ist das Volk oder, mit Rücksicht auf die vergleichenden und genetischen Aufgaben genauer ausgedrückt, die Gesamtheit der Völker der wahre Zentralbegriff einer auf die Erscheinungen des gemeinsamen Lebens gerichteten Psychologie, so führt nun aber der Name "Soziale Entwicklungspsychologie" noch andere Übelstände mit sich. Ich will davon absehen, daß er die leider nicht geringe Zahl gelehrter Mißbildungen um das Beispiel einer barbarischen Sprachmengung ersten Ranges vermehren würde. Hat man sich an die "Soziologie" mit ihrem lateinischen Kopf und ihrem griechischen Schweif unter dem nun einmal eingerissenen Zwang der Verbreitung allmählich gewöhnt, so könnten wir uns zur Not auch noch die Einschaltung einer deutschen Mitte gefallen lassen. Aber ist es nicht zweckwidrig, den Namen einer Wissenschaft so zu wählen, daß er der grammatischen Verwendung überall Schwierigkeiten bereitet? Wir reden kurz von völkerpsychologischen Methoden, völkerpsychologischen Ergebnissen usw. Sollen wir dafür künftig sagen "soziologisch - entwicklungspsychologische Methoden" usw., oder statt dessen uns mit "entwicklungspsychologischen Methoden" begnügen, obgleich dieser Ausdruck tatsächlich falsch ist, da z. B. die Kinderpsychologie, die auch zur Entwicklungspsychologie gehört, in ihren spezifischen Methoden so gut wie nichts mit der Völkerpsychologie gemein hat?

3. Die psychologische Analyse.

    Wenn die Herrschaft des Entwicklungsgedankens einen wichtigen Charakterzug der modernen Biologie bildet, der von ihr aus, wie Krueger in seiner Programmschrift mit Recht hervorhebt, auch in der Psychologie der genetischen Betrachtungsweise die Wege bereitet habe, so liegt nach allem dem, wie ich glaube, das Verdienst dieses Hinweises weniger darin, daß der genetische Gesichtspunkt speziell für die Völkerpsychologie nicht bereits anerkannt wäre, als vielmehr darin, daß er von ihm der allgemeinen Psychologie gegenüber zur Geltung gebracht wird, wo ihm die noch immer nicht ganz überwundene Nachwirkung der Herbartschen Vorstellungsmechanik im Wege steht. So mag es denn dieses energische Eintreten für den Entwicklungsgedanken entschuldigen, wenn er in seiner Beurteilung der gegenwärtigen Psychologie Herbartsche Atomistik gelegentlich auch da sieht, wo sie doch wohl nur in seiner eigenen Vorstellung existiert.

    Der Schwerpunkt der hier obwaltenden Mißverständnisse liegt augenscheinlich auf dem Begriff der einfachen Empfindung als des psychischen Elementes, auf das wir alle im weitesten Sinne objektivierten Inhalte unseres Bewußtseins zurückführen können, und dem das einfache Gefühl als das subjektive, auf das Bewußtsein selbst bezogene Element gegenüber zu stellen ist. Man kann sich hier des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß Krueger in seiner Kritik die Begriffe Element und Atom miteinander verwechselt, wodurch dann die Assoziation mit dem Seelenatom einerseits und mit den unvergänglichen Vorstellungen Herbarts anderseits nahegelegt wird. Nun sind aber Element und Atom wesentlich verschiedene Begriffe. Elemente sind letzte, nicht weiter zerlegbare Bestandteile des Gegebenen; Atome sind beharrende einfache Substanzen, die als letzte metaphysische Einheiten zum Zweck der Interpretation des Gegebenen vorausgesetzt werden. Demnach kann es empirische Elemente, aber keine empirischen Atome geben. Empirische Elemente werden wir aber solche nennen, die unmittelbar in der Wahrnehmung aufgezeigt werden können. Als solche können sie ebensowohl fließende Vorgänge wie beharrende Dinge sein. Damit, daß sie empirisch aufgezeigt werden können, ist freilich nicht gesagt, daß sie jemals isoliert wahrzunehmen sind. Vielmehr wird dies durch Anerkennung der zusammengesetzten Natur aller Erscheinungen ohne weiteres ausgeschlossen. Wohl aber müssen sie als Inhalte der Erfahrung aufzuzeigen sein. In diesem Sinne und in keinem anderen ist z. B. die Empfindung Rot als nicht weiter zerlegbare Qualität Element irgend einer gegenständlichen Vorstellung. Ferner sind die Empfindungen, da alle psychischen Inhalte fließende Vorgänge sind, selbstverständlich nicht anders denn als elementare Vorgänge zu denken. Nun nimmt Krueger offenbar an dem Ausdruck "unmittelbar" Anstoß. Da die Empfindungselemente eingestandenermaßen immer nur in den aus ihnen und begleitenden Gefühlen resultierenden komplexen Bewußtseinsvorgängen gegeben sind, so sind sie, wie er schließt, überhaupt nicht unmittelbar gegeben, folglich sind auch sie Atome. Er übersieht dabei, daß die Atome beharrende metaphysische Substanzen und als solche hypothetische Begriffe sind, die jederzeit durch ein anderes Begriffssystem, wenn es dasselbe leistet, ersetzt werden können, während die einfachen Empfindungen die letzten durch eine rein empirische Analyse des Gegebenen gewonnenen Komponenten der Erscheinungen und daher wie diese selbst fließende Vorgänge sind. Natürlich schließt das nicht aus, daß wir uns hier wie dort den Vorgang in einem bestimmten Moment zum Zweck der Untersuchung seiner Entstehung und seiner Beziehung zu anderen Inhalten fixiert denken können. Das geschieht in der Tat bei der Empfindung Rot nicht anders als bei irgend einer zusammengesetzten Gesichtsvorstellung, einem Zusammenklang usw. Diese zum Zweck der psychologischen Analyse unentbehrliche, im übrigen aber rein willkürliche Fixierung der Begriffe überträgt nun offenbar Krueger auf die elementaren Empfindungsvorgänge selbst und behauptet auf Grund dieser Übertragung, die einfache Empfindung sei nichts anderes als der Begriff eines psychischen Atoms, also einer metaphysischen Substanz.

    Was setzt er nun aber an die Stelle dieser von ihm verworfenen psychischen Elemente? Die Antwort lautet: die Psychologie kennt überhaupt keine Elemente, sondern nur zusammengesetzte Erscheinungen, Komplexe. Jede Empfindung ist verbunden mit anderen Empfindungen und mit Gefühlen, jedes Gefühl mit Empfindungen. Die reine Empfindung und das reine Gefühl als Element eines seelischen Inhaltes gedacht ist also etwas Irreales. Die Psychologie hat es aber nur mit realen psychischen Vorgängen zu tun, also mit komplexen Vorgängen, denen man nötigenfalls gewisse einheitliche "Komplexqualitäten" zuschreiben, die man aber unter keinen Umständen in ihre Elemente zerlegen darf. Wenn jedoch eine Analyse des psychischen Geschehens unzulässig ist, wie kommt dann Krueger dazu, überhaupt Empfindungen und Gefühle als Inhalte irgend welcher psychischer Komplexe zu unterscheiden? Und wie anders soll das möglich sein, als indem man sich über ihre unterscheidenden Merkmale Rechenschaft gibt? Wie endlich sollte das anders als eben durch eine Analyse der komplexen Inhalte möglich sein? Hier ist nur zweierlei denkbar: entweder muß man diese Begriffe als irreführende Fiktionen gänzlich verwerfen, oder man muß sie in der unbestimmten, verschwommenen Form stehen lassen, in der sie uns in der Sprache überliefert sind, und in der die Vulgärpsychologie alles, was klar und deutlich im Bewußtsein vorhanden ist, der Empfindung zuschiebt, alles dagegen, was mehr oder weniger dunkel und unbestimmt ist, Gefühl nennt. Den ersteren Weg hat bekanntlich W. James eingeschlagen, ohne ihn freilich zu Ende gehen zu können; den zweiten haben zumeist die "Phänomenologen" in ihrem Bemühen, an die Stelle der psychologischen Analyse die logische der Begriffe oder, was zumeist die Begriffe vertritt, der Wörter zu setzen, eingeschlagen. Unverkennbar nähert sich hier Krueger bedenklich diesen beiden Richtungen logizistischer Pseudopsychologie.

    Den überzeugenden Beleg für diese Vermengung von Logischem und Psychologischem erblicke ich in der Unterscheidung zweier Arten von Analyse, auf die Krueger großen Wert legt: einer Analyse von Bestandteilen und einer Analyse von Bedingungen. Diese Unterscheidung ist mindestens auf psychologischem Gebiet (wie übrigens in den meisten Fällen auch anderwärts) hinfällig, weil überall, wo es sich um eine Interpretation von Erscheinungen handelt, die Analyse von Bestandteilen zugleich eine Analyse von Bedingungen sein muß und daher insbesondere eine Analyse innerhalb der exakten Wissenschaften, deren Vorbild für jede psychologische Interpretation maßgebend ist, überhaupt nur im Sinne einer Analyse der Bedingungen, d. h. einer kausalen Analyse auf diesen Namen Anspruch erheben darf. In der Psychologie hat man so wenig wie in der Physik oder Physiologie etwas begreiflich gemacht, wenn man seine Teile aufzeigt. Nur der Logiker, der gelegentlich Begriffe spaltet, ohne zuzusehen, was dabei herauskommt, steht der Sache insofern anders gegenüber, als er dies nicht bloß auf reale Zusammenhänge, die eben allerwärts Kausalzusammenhänge sind, sondern auch auf beliebige Gesamtheiten, deren Teile er sich eventuell völlig unabhängig voneinander denken kann, nach Willkür anwendet. Das ist denn nun auch der Standpunkt, den der psychologische Logiker, der sich selbst einen Phänomenologen schlechthin oder auch einen phänomenologischen Psychologen nennt, den seelischen Vorgängen gegenüber einnimmt. Er verwandelt die Produkte des psychischen Geschehens in Summen, und wo er dennoch über die Tatsache, daß es Resultanten dieses Geschehens gibt, die nicht in ihren Komponenten enthalten sind, Rechenschaft geben soll, da hilft er sich mit unbestimmten und an sich nichtssagenden Allgemeinbegriffen, wie "Bewußtseinslage", "Gestaltqualität", "Komplexqualität", wobei sich bei dem ersteren dieser Ausdrücke der Einheitsbegriff hinter dem freilich gänzlich im Dunkeln gelassenen Begriff der "Lage" verbirgt, in den beiden letzteren Fällen aber der zunächst der Empfindung entlehnte Begriff der Qualität andeuten soll, daß der betreffende Komplex ein ganz bestimmter sei, über dessen Charakter man aber doch nur durch Aufzählung der Teile eines solchen Komplexes Rechenschaft zu geben weiß.

    Nun gibt es freilich auch in jenen auf eine kausale "Erklärung" der Erscheinungen ausgehenden Gebieten, zu denen die Psychologie gehört, eine reine Beschreibung der komplexen Tatsachen selbst, die an sich eine notwendige Vorbereitung einer jeden kausalen Analyse ist, die aber von den Phänomenologen fortwährend mit dieser selbst vermengt oder verwechselt wird. Ein aus einer solchen Mischung hervorgegangener Begriff ist die "Komplexqualität". Sie will erklären, daß ein gegebener, aus vielen Teilen bestehender Tatbestand von uns als etwas aufgefaßt wird, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Man begnügt sich aber damit, zu dem empirisch Gegebenen den Begriff der Qualität hinzuzufügen, der aus der empirischen Unterscheidung der Empfindungen hervorgegangen ist, und der, obgleich er an sich gar keinen erklärenden Wert hat, hier dennoch auf einen solchen Anspruch macht. Demnach wird die kausale Analyse durch einen inhaltleeren Kollektivbegriff ersetzt. Infolgedessen geschieht es dann aber auch, daß wirkliche Versuche einer kausalen Analyse psychischer Vorgänge mißverständlich in aufzählende Beschreibungen oder in eine sogenannte "Analyse von Bestandteilen" umgedeutet werden. Hierfür liefert, wie mir scheint, Kruegers Besprechung gewisser psychologischer Theorien einen treffenden Beleg. So behauptet er, nach meiner Auffassung setze sich das Harmoniegefühl, das den Eindruck eines Dreiklangs c e g begleite, lediglich aus den "Partialgefühlen" der Töne c, e, g, also aus einer Summe von Einzelgefühlen zusammen. Das ist unrichtig: ich behaupte, aus diesen Partialgefühlen entstehe als Resultante ein dem Akkord eigenes "Totalgefühl". Das ist immerhin der Versuch einer Interpretation, ein Versuch, der allerdings insofern noch der Ergänzung bedarf, als bis jetzt die zureichenden experimentellen Grundlagen für die Feststellung der kausalen Beziehungen der Komponenten zu ihren Resultanten noch mangelhaft sind. Gleichwohl ist wenigstens der Weg, den die kausale Analyse im einzelnen zu gehen hat, deutlich vorgezeichnet, und ich darf wohl darauf hinweisen, daß hier, wie in anderen Fällen der Gefühlsanalyse, die Ausdrucksmethode, insbesondere die Untersuchung der Atmungsinnervationen als eine wichtige Ergänzung der subjektiven Analyse zu Hilfe gekommen ist. Sie hat bestätigt, daß es sich auch hier nirgends um eine bloße Addition von Gefühlen, sondern um kausale Beziehungen handelt, bei denen die Tonkomponenten das resultierende Harmoniegefühl bestimmen, das diesen Komponenten als ein neuer psychischer Inhalt gegenübertritt 5). Krueger wandelt nun diese kausale Interpretation in eine bloße Beschreibung oder in eine "Analyse von Bestandteilen" um, indem er die Resultante hinwegläßt, wo dann freilich nur die Summe der Komponenten übrig bleibt (S. 76).

5) Vgl. Physiologische Psychologie, III6, S. 203 ff. und die experimentelle Arbeit von H. Sartorius, Psychol. Studien, Bd. 8, S. l ff.
 
 
    Wie in diesem Fall der – wenn auch angesichts des Umfangs der Probleme noch unvollkommene – Versuch einer kausalen Analyse vor ihm in eine bloße Addition von Bestandteilen umgewandelt wird, so substituiert er aber nicht minder gelegentlich da, wo es sich um eine reine Beschreibung handelt und der Natur der Aufgabe nach nur handeln kann, dieser eine hypothetische Kausalerklärung. Ein augenfälliges Beispiel bieten hier die "Erinnerungsvorstellungen", fälschlich auch "Reproduktionen" genannt. Ich habe mich bemüht, auf Grund sorgfältiger experimenteller Beobachtungen die wesentlichen Unterschiede der sogenannten Erinnerungsbilder von den direkten Sinnesvorstellungen zu schildern. Ich habe ausgeführt, wie sie vor allem durch ihre überaus flüchtige, wechselnde und fragmentarische Beschaffenheit neben geringer Intensität der Empfindungs- und dabei manchmal stark ausgeprägter der Gefühlsinhalte gekennzeichnet sind, daß die an sie gebundenen Gefühle sehr oft der etwas deutlicheren Ausprägung ihrer Inhalte vorausgehen usw.6). Trotzdem zählt mich Krueger zu den Psychologen, die beide, das Erinnerungsbild und die Sinneswahrnehmung "für ganz dasselbe" halten (S. 72). Es mag sein, daß die Bemerkung, die "Reproduktionen" seien nicht durch spezifische Elemente von den Sinneswahrnehmungen verschieden, dieses Mißverständnis veranlaßt hat, das ja übrigens um so merkwürdiger ist, als ich auch hinsichtlich des bei allen Sinneswahrnehmungen stattfindenden Zusammenwirkens direkter Sinneseindrücke mit reproduktiven Motiven bei Krueger Ausführungen begegne, die mit Anschauungen übereinstimmen, welche auf Grund im Leipziger Institut in mannigfachen Variationen ausgeführter tachistoskopischer Versuche gewonnen wurden 7). Ich darf wohl hierzu bemerken, daß Krueger vielleicht allzu sehr geneigt ist, solche aus Beobachtung und Experiment gewonnene Anschauungen als Ergebnisse theoretischer Konstruktionen anzusehen oder auch auf philosophische Einflüsse zurückzuführen. So nimmt er als feststehend an, meine psychologischen Anschauungen seien am stärksten von Schopenhauer, sodann aber auch von Feuerbach beeinflußt worden (S. 20). So nahe liegend diese Vermutung erscheinen mag, so ist sie doch falsch; denn ich muß zu meiner Beschämung gestehen, daß ich zur Zeit meiner ersten Arbeiten über die Theorie der Sinneswahrnehmung, in denen – neben manchem Unhaltbaren, wie z. B. der vielleicht an Schopenhauer erinnernden Hypothese der "unbewußten Schlüsse" – die später von mir verfochtenen Prinzipien in nuce bereits enthalten waren, weder Schopenhauer noch Feuerbach kannte – ein Vergehen, das man im Hinblick auf die damalige philosophiefeindliche Zeit einem jungen Physiologen vielleicht verzeihen wird. Auch darf man nicht vergessen, daß Schopenhauers Gestirn erst etwa ein Jahrzehnt nach der Mitte des Jahrhunderts zu strahlen begann. Vollends habe ich Feuerbach erst in viel späterer Zeit kennen gelernt. 6) Physiol. Psychologie, III6, S. 103 f. Zu beachten ist, daß die hier, wo es sich um eine einfache Quaestio facti handelt, so auffallenden Unterschiede in den Angaben der Psychologen zu einem wesentlichen Teil jedenfalls davon herrühren, daß man es versäumt hat, die notwendigen experimentellen Bedingungen, namentlich auch wegen der Verdrängung durch das Tageslicht die Beobachtung im Dunkeln anzuwenden.

7) Ich verweise insbesondere auf die Arbeiten von Scripture, Phil. Stud. Bd. 7, 72 ff., Cordes, Ebend. Bd. 17, S. 30 ff., Zeitler, Bd. 16, S. 380 ff. Außerdem schlagen hier ein die Beobachtungen über Assimilationswirkungen bei den sogenannten geometrisch-optischen Täuschungen, Ebend. Bd. 14, S. 32 ff. (Kleine Schriften III, S. 314 ff.)
 
 

    Nicht minder ist es freilich ein tatsächlicher Irrtum, wenn Krueger es als eine ausgemachte Sache betrachtet, daß ich von der Analyse der Gehörsempfindungen ausgegangen sei. Es ist die Untersuchung der Gesichtswahrnehmungen gewesen, die mich zuerst der Psychologie zugeführt hat, und der ich an allgemeinen psychologischen Erkenntnissen am meisten zu verdanken glaube. Ja ich kann nicht leugnen, daß meine Anschauungen über die Natur der Gehörsvorstellungen erst durch die dort gewonnenen Überzeugungen ihre Richtung empfingen, um dann allerdings für das Gebiet der emotionalen Funktionen zu selbständigen Grundlagen meiner psychologischen Studien zu werden. Für diese psychologische Verwertung der Klanganalyse ist für mich später neben Helmholz’ bekanntem Werk das Arthur von Oettingens über das "Harmoniesystem in dualer Entwicklung" von entscheidender Bedeutung geworden 8). 8) Arth. v. Oettingen, Das Harmoniesystem in dualer Entwicklung, 1866. Neue umgearbeitete Auflage u. d. T. Das duale Harmoniesystem, 1913. Dankenswerte Ergänzungen bieten hier Kruegers Arbeiten über Zweiklänge und Differenztöne, Psychol. Stud. Bd. l, 2 u. 4.
 
 
    Was ich gegenüber diesen späteren Einflüssen den Studien über den Gesichtssinn verdanke, das ist aber vor allem die Erkenntnis der durchgreifenden Bedeutung, die das Prinzip der schöpferischen Resultanten für das gesamte Seelenleben und damit für die Erkenntnis der Eigenart der psychischen Kausalität besitzt. Bringt es doch diejenige Kausalität zum Ausdruck, die das geistige Leben überhaupt beherrscht, daher es denn auch in ihm stillschweigend überall, vor allem aber in den Gebieten vorausgesetzt wird, die es mit irgend welchen Seiten der geistigen Entwicklung zu tun haben. Der eminente Wert des Prinzips gerade für die Psychologie besteht daher darin, daß diese es als das Fundamentalprinzip geistiger Kausalität für die einfachsten Zusammenhänge des Geschehens aufzeigt, wo es den Charakter einer exakten Geltung gewinnt, insofern sich mit dem Ausdruck "exakt" die Forderungen der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit verbinden. Denn die kausale Analyse einer Wahrnehmung besteht in der Tat nicht bloß darin, daß man die elementaren Vorgänge aufzeigt, die auf ihre Entstehung einwirken, sondern daß man nachweist, wie diese Elemente mit Notwendigkeit jene Resultante erzeugen, so daß man bei diesen einfachen Vorgängen psychischer Synthese, sobald das Resultat erst einmal gegeben ist, nun auch den Prozeß umkehren kann, indem für einen künftigen Fall aus den gegebenen Bedingungen die Folge vorauszusagen ist. Darin besteht eben der eminente und zugleich vorbildliche Wert der psychologischen Analyse, daß bei ihr die regressive Kausalerklärung, sobald sie nur vollständig ist, in eine progressive umgekehrt werden kann, was bei den verwickelteren Vorgängen des geistigen Lebens im allgemeinen unmöglich ist, wenn es auch als ideales Ziel jeder vollständigen Interpretation angesehen werden muß.

    Nun versteht es sich von selbst, daß diese psychologische Analyse so wenig wie die physikalische ohne hypothetische Zwischenglieder auskommen kann. Beide unterscheiden sich aber dadurch, daß die psychischen Zwischenglieder unmittelbar gegebene oder durch hinzutretende Hilfsanalysen nachzuweisende Inhalte des Bewußtseins sein müssen. Dabei ist der Begriff des "Unmittelbaren" selbstverständlich in dem oben gekennzeichneten analytischen Sinne zu verstehen, nämlich als ein gegebener, nicht als metaphysisch hinzugedachter, nicht weiter zerlegbarer Inhalt der gegebenen komplexen Erfahrung.

    Durch diese Forderung einer regressiven kausalen Interpretation mit dem idealen Ziel ihrer deduktiven Umkehrbarkeit unterscheidet sich zugleich das Resultantenprinzip von zwei anderen Begriffen, mit denen es gelegentlich verwechselt worden ist: von dem Begriff der reinen schöpferischen Neubildung, bei dem auf eine solche regressive Kausalanalyse verzichtet wird, und von dem Prinzip der Zweckerklärung. Die Annahme reiner Neuschöpfung beherrscht die vulgäre Auffassung des geistigen Lebens. Natürlich nicht ausschließlich, – dem Eindruck, daß auch hier die Dinge vielfach nach Grund und Folge verknüpft sind, kann sich niemand entziehen. Aber man begnügt sich mit partiellen Zugeständnissen, um wenigstens für den Gesamteffekt dem Eindruck des Neuen, Eigenartigen, das eben als eine in seiner Totalität unerklärliche Schöpfung gilt, sein Recht zu wahren. Diesen Standpunkt hat John Stuart Mill in eine naturwissenschaftliche Analogie gekleidet, indem er von einer "psychischen Chemie" redete. Zur Zeit, als Mill dieses Bild gebrauchte, pflegten sich die Chemiker mit der Auskunft zu begnügen, daß die Eigenschaften chemischer Verbindungen wohl zum Teil, aber niemals vollständig aus denen ihrer Elemente abzuleiten seien. In diesem Sinne war die Analogie eine vollkommen zutreffende. Mittlerweile ist jedoch dieser Standpunkt auch in der Chemie ein anderer, aber damit ist auch die Analogie selber hinfällig geworden. Die Chemie löst ihre Aufgaben praktisch mit Hilfe der chemischen Synthese und theoretisch unter der Voraussetzung der Prinzipien der Konstanz der Massen und der Energien, sowie der Gesetze der von diesen Prinzipien beherrschten Transformationen der Naturkräfte. Für die Psychologie, die es weder mit Massen noch mit Energien zu tun hat, existieren jene Voraussetzungen nicht. Darum ist die psychische Resultante eine wirkliche Neubildung, nicht bloß eine scheinbare oder zufällige, wie die chemische Verbindung, die auch da, wo sie in dieser Form zum erstenmal entstehen sollte, doch nur aus einer veränderten Kombination der gleichen allgemeinen Naturgesetze hervorgegangen ist. Die von jenen Konstanzprinzipien des Naturgeschehens unabhängige psychische Kausalität dagegen bringt mit den neuen Resultanten immer zugleich neue Gesetze des Geschehens hervor. Dem Bild der "psychischen Chemie" fehlt also gerade das Merkmal, das alle seelische Entwicklung auszeichnet und das die ausschließlich regressive Richtung ihrer Interpretationen begründet. Hier sind die Begriffe "Prinzip" und "Gesetz", die häufig zusammengeworfen werden, streng auseinander zu halten. Das Energieprinzip ist ein physikalisches Prinzip, kein Gesetz. Erst indem zu diesem Prinzip konkrete Bedingungen hinzutreten, entstehen die einzelnen Energiegesetze. Ebenso ist das Prinzip der psychischen Resultanten ein Prinzip, kein Gesetz. Es lassen sich ihm eine Fülle psychischer Vorgänge unterordnen; aber auch hier müssen konkrete Bedingungen hinzukommen, wenn bestimmte, zur Interpretation des Einzelnen dienende Gesetze entstehen sollen. Und hier liegt nun eben eine wichtige Eigenschaft des psychischen Geschehens darin, daß die Prinzipien der Psychologie gerade so allgemeingültig sind wie die der Naturwissenschaft, daß aber, wie dies das Prinzip der schöpferischen Resultanten in sich schließt, hier zwar die unter einem bestimmten Komplex von Bedingungen geltenden psychischen Gesetze selbstverständlich bei der Wiederkehr der gleichen Bedingungen dieselben bleiben, daß aber, da innerhalb der geistigen Entwicklungen solche Bedingungen fortan neu entstehen, auch immer wieder neue Gesetze des psychischen Geschehens hervortreten können. Im übrigen scheiden sich Prinzip und Gesetz an dem leicht erkennbaren Merkmal, daß das Gesetz allezeit entweder direkt in der Erfahrung nachweisbar oder durch eine Verallgemeinerung aus der Erfahrung abzuleiten sein muß, während das Prinzip eine Voraussetzung ist, die nie an sich selbst, sondern immer nur durch ihre Übereinstimmung mit den Gesetzen, in die es als idealer Faktor mit eingeht, nachzuweisen ist, eben darum aber auch niemals dazu dienen kann, irgend etwas direkt aus ihm allein abzuleiten. In diesem Sinne ist das Gravitationsgesetz ein wirkliches Gesetz, das Prinzip der Trägheit, das als Voraussetzung in dasselbe eingeht, ist dagegen ein Prinzip. Analog ist das Gesetz, daß die zwei zusammengehörigen Bilder eines nahen Objekts in beiden Augen unter den peripheren und zentralen Bedingungen des normalen Sehens in eine körperliche Vorstellung verschmelzen, ein Gesetz, das Prinzip der schöpferischen Resultanten aber, das dazu die notwendige Voraussetzung bildet, ist ein Prinzip, ohne das die durch die psychologische Analyse ermittelten Bedingungen für sich allein die Gesetze der stereoskopischen Vorstellungsbildung nicht erklären würden 9).

9) Hinsichtlich der näheren Erörterung des Resultantenprinzips und seines systematischen Zusammenhangs mit den anderen Prinzipien der Psychologie sowie des ergänzenden Verhältnisses, in welchem diese zu den Prinzipien der erklärenden Naturforschung stehen, verweise ich hier vornehmlich auf mein Buch: Sinnliche und übersinnliche Welt, 1914, S. 91 ff.
 
 
    Wie die "psychische Chemie" eine falsche naturwissenschaftliche Analogie, so ist nun die teleologische Umdeutung des Resultantenprinzips nichts anderes als ein spezieller Fall der bekannten Vermengungen von Teleologie und Kausalität, die auf einer unzulässigen nochmaligen Umkehrung des Satzes beruhen, daß jede Teleologie als die Umkehrung einer kausalen Betrachtung angesehen werden kann. Daraus, daß jede objektiv gültige Kausalität eine teleologische Umkehrung möglich macht, folgt nämlich noch lange nicht, daß auch jede wirkende Ursache in einen objektiv gültigen Zweck umgedeutet werden darf. Die Umwandlung eines formalen in ein reales Verhältnis, das in der Naturwissenschaft zu dem falschen Begriff der Zweckursache geführt hat, tritt hier aber auf geisteswissenschaftlichem Gebiet darin zutage, daß die psychische Kausalität zahllose Erscheinungen hervorbringt, die gänzlich außerhalb des Umkreises der Erscheinungen liegen, die zu einer regressiven Kausalerklärung herausfordern, daher sie auch bei dieser keine Verwendung finden können. Oder anders ausgedrückt: der Zweck, den wir auf das Zusammenwirken bestimmter kausaler Motive zurückführen, ist nicht nur selbst, wie es das Prinzip der psychischen Resultanten ausspricht, gegenüber jenen Motiven ein Neues, keine bloße Addition der Motive, sondern auch diese Motive sind in einer Mannigfaltigkeit wirkender Ursachen nur als ein Teil ihrer Inhalte gegeben.

    Indem daher die Resultante neben den aus den Motiven resultierenden Wirkungen noch weitere, in den Motiven nicht vorgebildete enthält, erscheinen diese vom Standpunkt der Zweckbetrachtung aus als nicht bezweckte Nebenerscheinungen, die nun im Zusammenhang der psychischen Kausalität Ausgangspunkte für die Bildung neuer Zweckmotive sein können. So entsteht eine "Heterogonie der Zwecke": die Wirkung, als Zweck betrachtet, enthält mehr als die resultierende Wirkung der Motive, denn sie enthält zugleich die sie begleitenden Nebenwirkungen der Bedingungen, von denen die Motive begleitet sind. Demnach bildet das in den hierher gehörigen Erscheinungen zum Ausdruck kommende "Prinzip der Heterogonie der Zwecke" eine wichtige Anwendung und zugleich Ergänzung des Prinzips der schöpferischen Resultanten, das besonders für das Gebiet des zwecktätigen Handelns und der nach seinem Vorbild interpretierten Erscheinungen der geistigen Entwicklung bedeutsam ist. Deutlich erhellt hieraus die grundsätzliche Verschiedenheit des Prinzips der Resultanten von der teleologischen Interpretation, die, indem sie die Motive als die vollgültigen Ursachen des Handelns ansieht, auf eine im eigentlichen Sinne kausale Betrachtung von vornherein verzichtet. So steht denn auch die teleologische Interpretation mit ihrer starren Einkreisung der Erscheinungen in fest gegebene Zuordnungen von Motiven und Zwecken dem wesentlichsten Problem der objektiven Teleologie, dem der Entstehung und Entwicklung der Zweck- und Wertbegriffe, hilflos gegenüber. Das haben wohl jene Metaphysiker dunkel empfunden, die, um diese Lücke auszufüllen, den Zweck oder, durch eine naheliegende Übertragung auf ein zwecktätiges Agens, den nach Zwecken handelnden Willen auf ein "Unbewußtes" zurückführten und ihn damit der psychologischen Betrachtung überhaupt entzogen.

4. Der Begriff des Gesetzes in der Psychologie.

    An vielen Stellen seiner Schrift redet Krueger von "psychologischen Gesetzen", insonderheit von "Entwicklungsgesetzen". Was er aber unter solchen Gesetzen versteht, wie er sich insonderheit ihr Verhältnis zu den Naturgesetzen denkt, darüber hat er sich leider nicht ausgesprochen. Man muß wohl annehmen, daß er diese geistigen Gesetze, ganz analog etwa wie die empirischen Naturgesetze, als Verallgemeinerungen aus der Erfahrung ansieht. Aber ein in der Naturwissenschaft so trefflich bewanderter Psychologe sollte sich doch sagen, daß es zur Aufstellung von Naturgesetzen im strengeren Sinne des Wortes vor allem bestimmter Prinzipien bedarf, die nicht sowohl Gesetze als vielmehr allgemeine Grundsätze für die Feststellung von Gesetzen sind, und über die man sich Rechenschaft geben muß, wenn das Reden von Gesetzen nicht im ganzen ein zielloses bleiben soll, weil ein Gesetz, das solcher prinzipieller Grundlagen entbehrt, kaum etwas anderes als eine Konstatierung von Tatsachen sein kann, auf eine kausale Erklärung der Erscheinungen aber, wie sie die fundamentalen Naturgesetze zu geben suchen, verzichten muß. So gibt es ohne das Trägheitsprinzip keine Gesetze der Mechanik, ohne das Prinzip der Energie kein im weiteren Sinne physikalisches Gesetz. Zu diesen kommen noch andere, zum Teil verborgenere. Boltzmann hat eine ganze Anzahl solcher als maßgebend für die Gesetze der klassischen Mechanik in der Einleitung seines Werkes über diese aufgestellt. Nun klagt Krueger, die seitherige Psychologie habe sich immer nur die Mechanik zum Muster genommen; aber er sagt nicht, von welcher Art er sich die Prinzipien denkt, auf die die Psychologie gegründet werden soll. Sie soll nach ihm "Entwicklungspsychologie" werden, und er weist in diesem Sinne auf die Biologie als ihr Vorbild hin. Also werden es auch hier Entwicklungsprinzipien sein, nach denen wir zu suchen haben. Doch ob er sich diese Prinzipien identisch mit denen der Biologie denkt oder wesentlich anders, sagt er nicht. Wohl wird auf die Bedeutung der Wertbegriffe für das gesamte geistige Leben eindringlich hingewiesen (S. 221 ff.). Über die Entstehung dieser Begriffe, die gewiß auch ein in eminentem Sinne psychologisches Problem ist, und darüber, wie sie sich zu den zu suchenden Entwicklungsgesetzen verhalten, erfahren wir aber nichts.

    So berechtigt nun die Forderung einer Philosophie der Werte sein mag, sie ist vorläufig ein Zukunftsprogramm, das uns in der Psychologie nicht weiter hilft, wenn wir nicht in dieser selbst schon einen einigermaßen festen Grund unter den Füßen haben. Sonst kann es sich ereignen, daß in die Psychologie, die dieser künftigen Philosophie der Werte als Grundlage dienen soll, Voraussetzungen eingehen, die diesem Zweck widerstreiten, weil sie einem außerhalb der Psychologie und darum außerhalb der Entstehung der Wertbegriffe liegenden Vorbilde entlehnt sind. In der Tat kann man sich, wenn in der Psychologie die Formulierung allgemeingültiger Gesetze gefordert wird, die als "Entwicklungsgesetze" zu einer "Entwicklungstheorie" zu verbinden seien, kaum des Eindrucks erwehren, daß hier dem Psychologen ein doppeltes Vorbild vor Augen steht: einerseits die exakte Naturwissenschaft überhaupt, deren (freilich manchmal überschätzte) systematische Geschlossenheit man auf die Psychologie übertragen möchte, anderseits die Biologie, die sich ja, besonders wenn man von gewissen speziell der Physiologie im engeren Sinne zugezählten Gebieten absieht, wesentlich mit Entwicklungsproblemen beschäftigt, und in der bekanntlich "Entwicklungstheorien" eine überwiegende Rolle spielen. In der Tat, sucht man nach den Vorbildern, die in den letzten Jahrzehnten vielfach, und leider muß man sagen auch vielfach irreführend, auf die psychologische Forschung gewirkt haben, so ist es, wie mir scheint, viel weniger die Mechanik, die in dieser Beziehung kaum in Betracht kommt, als vielmehr gerade die Biologie, was ja bei dem engen Zusammenhang der seelischen und der physischen Lebensvorgänge begreiflich genug ist, aber doch leicht dazu führen kann, daß man Prinzipien, die für den physikalischen Chemismus der Lebensvorgänge oder für die physiologische Entwicklungsgeschichte eine große Bedeutung besitzen, unbesehen auf die Psychologie überträgt: ich erinnere hier nur an den Mißbrauch, der mit dem Energieprinzip auf psychologischem Gebiet getrieben worden ist, sowie an die in der Regel ohne einen weiteren Anhalt als etwa den eines metaphysischen "Paralellismus" unternommene Übertragung des biologischen Prinzips der Wiederholung der Phylogenese in der Ontogenese auf die psychologische Entwicklung des Kindes und die des Naturmenschen. Nicht eine psychische Mechanik, von der höchstens noch bei einigen alten Herbartianern, die noch dazu, wie Herm. Paul, meist außerhalb der aktuellen Psychologie stehen, die Rede sein kann, sondern die Physiologie oder, soweit es sich um die Entwicklungsprobleme handelt, die Biologie scheint mir vielfach die gegenwärtigen Strömungen der Psychologie derart zu beherrschen, daß diese ihres eigenen Inhaltes verlustig geht. Vor solchen Fehlgriffen wird Krueger natürlich bewahrt. Die Psychologie gilt ihm nicht, wie manchen anderen Zeitgenossen, als eine angewandte Physiologie. Aber sie wird ihm zu einer Zukunftswissenschaft, die in der Biologie ihr Vorbild zu sehen hat. Wie die Biologie Gesetze des physischen, so soll die künftige Entwicklungspsychologie Gesetze des geistigen Lebens auffinden, und wie dort, so soll hier schließlich eine "Entwicklungstheorie" dieses Werk krönen. Mit einem Wort: Krueger denkt sich die "Gesetze" der geistigen Entwicklung durchaus analog den Naturgesetzen, als feste Formen, in die sich alles seelische Geschehen einordnen und auf Grund deren es sich zu einer Theorie zusammenfassen läßt. Nun hat die Naturwissenschaft für die Errichtung einer solchen Theorie ihr Vorbild in der Mechanik. Unausbleiblich führt daher dieses neue Ideal wieder auf das gleiche Vorbild zurück. Die Mechanik, zur Vordertür hinausgeworfen, tritt durch die Hinterpforte wieder ein.

    Ist nun aber dieses ideale Zukunftsbild einer auf unabänderliche Gesetze gegründeten Psychologie wirklich ein Ideal, und nicht vielmehr ein Idol, ein Trugbild, das nie Wirklichkeit werden kann, weil die Möglichkeit seiner Existenz auf falschen Voraussetzungen ruht? Krueger wendet sich, wie ich meine, mit Recht gegen den einseitig geprägten Begriff der "Gesetzeswissenschaften" für die Naturwissenschaften. Gesetzlos kann keine Wissenschaft sein, die sich überhaupt die Interpretation irgend welcher Erscheinungen zur Aufgabe nimmt, und gewiß ist die Aufgabe der Psychologie und, vermöge des psychologischen Einschlags, der das wesentliche Merkmal der Geisteswissenschaften ist, auch dieser letzteren die Feststellung der Gesetzmäßigkeit des geistigen Lebens. Aber der Begriff des Gesetzes wird, wie oben bemerkt, überall von den Prinzipien bestimmt, die als notwendige Voraussetzungen in die Gesetze eingehen. Wenn man daher die Psychologie eine Gesetzeswissenschaft nennt, es aber versäumt, sich nach den Prinzipien umzusehen, die die Voraussetzungen ihrer Gesetze bilden, so schiebt sich, auch wo dies nicht beabsichtigt wird, von selbst diesen Gesetzen der naturwissenschaftliche oder, was noch heute im wesentlichen damit zusammenfällt, der mechanische Gesetzesbegriff unter, dessen Voraussetzungen für die Psychologie deshalb nicht gelten, weil die physikalische und die psychologische Betrachtung der Wirklichkeit verschiedene, nicht entgegengesetzte, wohl aber einander ergänzende Seiten dieser Wirklichkeit zum Inhalt haben. Wie nun das Energieprinzip auf physischer Seite die Folgerung mit sich führt, daß die fundamentalen Naturgesetze, auf die alle konkreten empirischen Gesetze, bei denen selbstverständlich veränderte Kombinationen möglich sind, zurückgehen, allezeit unverändert bleiben, oder, mit anderen Worten, wie sie als ein in sich geschlossenes System von Gesetzen vorauszusetzen sind, auch falls uns einzelne Glieder dieses Systems derzeit und vielleicht noch für unbegrenzte Zeit unbekannt sein sollten, so schließt auf psychischer Seite das Prinzip der schöpferischen Resultanten die fortwährende Neuentstehung von Gesetzen nicht aus, sondern ein, insofern in den neu entstandenen Erzeugnissen zuvor nicht vorhandene Bedingungen hinzutreten, die aus der vorangegangenen Entwicklung entsprungen sind. Darum beobachten wir überall neben einzelnen sich regelmäßig wiederholenden einfacheren Zusammenhängen, die relativ gleichförmig wiederkehren können, vor allem in den Gebieten der geistigen Entwicklung, da eben diese es ist, in der vornehmlich das Prinzip der psychischen Resultanten zur Geltung kommt, Veränderungen, die neben den veränderten Bedingungen für die fortgesetzte Wirkung der vorhandenen Gesetze auf die Bildung neuer gesetzmäßiger Verknüpfungen zurückschießen lassen. Darin liegt der Grund, weshalb wir zwar überall auf geistigem Gebiet eine Gesetzmäßigkeit vorfinden, während doch von einzelnen, bestimmt gegen andere abzugrenzenden Gesetzen nur innerhalb beschränkter Zusammenhänge die Rede sein kann. So kommt es schließlich, daß der Begriff eines "geistigen Entwicklungsgesetzes" eigentlich eine Contradictio in adjecto ist. Das Gesetz sagt aus, daß sich unter den gleichen Bedingungen die gleichen Erscheinungen wiederholen. Die geistige Entwicklung schließt aber ein, daß sich genau die gleichen Bedingungen nie wiederholen. Darum ist die geistige Entwicklung durch und durch gesetzmäßig, aber sie ist nicht in dem Sinne gesetzlich, daß sie sich auf eine bestimmte Gesetzesformulierung und damit auf eine "Entwicklungstheorie" zurückführen ließe. Deshalb pflegen dann bei den Geschichtsphilosophen jene teleologischen Nothilfen einzutreten, wie sie die Begriffe der Vernunftfreiheit, der Vollkommenheit u. a. darbieten, hinter denen eigentlich immer noch der die Anfänge der Gesellschaftsphilosophie beherrschende Gedanke einer planmäßigen Erziehung verborgen ist. Die unbegrenzte Fülle gesetzmäßiger Wirkungen wird hierbei unter Zuhilfenahme der bekannten teleologischen Umkehrung vollendet gedacht, indem man ihr einen zunächst naiv religiösen Anschauungen entlehnten letzten Zweck hinzufügt und dann die ganze Reihe in eine Kausalreihe umkehrt. Dieser Weg einer transzendenten Teleologie ist natürlich der empirischen Psychologie verschlossen. Sie muß auch da, wo es sich um Phänomene der Entwicklung handelt, bei dem Begriff der allgemeinen Gesetzmäßigkeit dieser Entwicklungen, zugleich aber bei der Forderung stehen bleiben, daß diese Gesetze der geistigen Entwicklung selbst imanent sind. Gerade dies führt nun nach dem allgemeinen Charakter der geistigen Entwicklung zu der Folgerung, daß wir, abgesehen von gewissen Erscheinungen einfachster Art, wie sie uns bei den elementaren Prozessen der Sinneswahrnehmung begegnen, auf bestimmt formulierbare Gesetze nicht etwa bloß infolge unserer zeitweiligen unvollkommenen Kenntnis der Tatsachen, sondern grundsätzlich verzichten müssen. Darum ist nun aber auch für die Gesamtauffassung des geistigen Lebens die Erkenntnis der Prinzipien wichtiger als die Feststellung von Gesetzen. Denn es ist sehr viel wichtiger, den geeigneten Standpunkt zur Beurteilung geistiger Entwicklungen überhaupt zu gewinnen, als einen einzelnen Zusammenhang zu erkennen, der doch in einem anderen, ihm äußerlich ähnlichen Fall niemals der nämliche ist.

    Diese für die gegenwärtige Lage der Psychologie bedeutsame Stellung der die Gesetzmäßigkeit des geistigen Geschehens beherrschenden Prinzipien bestätigt sich nun auch darin, daß die beiden Richtungen, deren eine die Psychologie als ein abhängiges Teilgebiet der Biologie, und deren andere die Biologie als ein Vorbild der Psychologie ansieht, so weit sie in ihrer Tendenz voneinander entfernt sind, doch in den Voraussetzungen zusammentreffen, die sie der Interpretation der seelischen Vorgänge zugrunde legen. Diese Voraussetzungen können beidemal keine anderen sein, als die für die physiologische Forschung maßgebenden, die an die Vorstellungen von der objektiv gegebenen Außenwelt gebunden sind. Die Entstehung dieser Vorstellungen zu erklären ist eben die Aufgabe der Psychologie. Eine Psychologie, die am Leitfaden physiologischer Anschauungen die Entwicklung des Seelenlebens begreifen will, nimmt damit auch die Voraussetzung einer dem Subjekt gegenüberstehenden Außenwelt notwendig mit in ihre eigenen Voraussetzungen auf. Alles was die Beziehungen des Seelenlebens zu dieser Außenwelt angeht, ist daher für sie im wesentlichen überhaupt kein Problem. In nichts bewährt sich das augenfälliger als in der Theorie der Sinneswahrnehmung. Hier hat der Nativismus, der die psychischen Produkte der Wahrnehmungsprozesse als angeborene Eigenschaften der Sinnesorgane betrachtet, mit deren objektiver Existenz auch ihre Beziehung auf äußere Objekte gegeben sei, selbstverständlich den Ausgangspunkt aller sinnesphysiologischen Forschungen gebildet. Schon die Physiologie ist freilich nicht überall hierbei stehen geblieben. Aber in dem Moment, wo sie erkannte, daß sie mit jenen auf ihrem eigenen Gebiet liegenden Voraussetzungen nicht auskam, mußte sie sich entweder, wie in den sogenannten "empiristischen" Wahrnehmungstheorien, mit unzulänglichen Entlehnungen aus der Vulgärpsychologie begnügen oder die Lösung der Probleme der wissenschaftlichen Psychologie überlassen. Da standen nun den Psychologen, die sich ausschließlich der Leitung der Biologie überließen, zwei Wege offen. Sie konnten entweder mit vollen Segeln in die Bahnen des Nativismus einlenken: das geschah durchweg von seiten der "angewandten Psychologen", wie wir vielleicht der Kürze wegen die Vertreter der ersten der beiden oben gekennzeichneten Richtungen nennen können; und da ereignete sich bisweilen das Merkwürdige, daß gerade diese psychologischen Nativisten, unterstützt durch Reminiszenzen aus Kants transzendentaler Ästhetik, zu der naivsten Form des Nativismus zurückkehrten, die von den Physiologen selbst preisgegeben war: das Bild auf der Netzhaut z. B. wird nach ihnen als ein räumliches aufgefaßt, weil es objektiv einen Raum einnimmt. Den anderen Weg eröffnete das biologische Entwicklungsprinzip. Wozu brauchte man das individuelle Bewußtsein mit dem schwierigen Wahrnehmungsproblem zu belasten, da doch eine unendliche Reihe vorangegangener Generationen zur Verfügung stand, die dem Individuum die Anschauung dieser Außenwelt, nicht in allen einzelnen Teilen – hier konnte die einzelne Erfahrung nachhelfen – aber in der Hauptsache als Erbschaft hinterlassen habe. Daß man sich damit um das Problem herumdrückt, statt es zu lösen, ja auch nur den Versuch einer Lösung zu machen, ist einleuchtend; nicht minder, daß diese Auffassung faktisch zu einer Erneuerung der "Ideae innatae" führt. Mag nun auch eine solche Entgleisung dem Biologen verziehen werden, der sich über die psychologischen Schwierigkeiten seiner Hypothesen keine Rechenschaft gibt, der Psychologe müßte sich sagen, daß ihm unter allen Umständen die Pflicht obliegen würde, im individuellen Bewußtsein die Vorgänge nachzuweisen, in denen solche überkommene Anlagen aktuell werden, statt sich mit dem Allgemeinbegriff der "Vererbung" zu begnügen, der für sich allein ebenso viel und ebenso wenig leistet wie die Allgemeinbegriffe der alten Vermögenspsychologie.

    Ein Psychologe wie Krueger, der sich aus eigenen, wenn auch zum Teil einem hier etwas abliegenden Gebiet angehörigen Arbeiten der Forderungen bewußt ist, die an eine exakte psychologische Analyse zu stellen sind, kann natürlich auf solche Abwege nicht geraten, und er würde auf die Haltlosigkeit dieser mit einem schemenhaften Entwicklungsbegriff arbeitenden Konstruktionen vielleicht noch aufmerksamer geworden sein, wenn seinen eigenen Forschungen nicht gerade dasjenige Gebiet verhältnismäßig ferne läge, dem hier eine entscheidende Bedeutung zukommt: das der Gesichtswahrnehmungen. Hieraus allein ist es mir auch verständlich, daß er sich von der Bedeutung der Prinzipien, ohne die man in der Interpretation der Vorgänge, die zur Vorstellung äußerer Objekte und damit zugleich zur Unterscheidung von Subjekt und Objekt überhaupt führen, keinen Schritt tun kann, offenbar nur eine unzulängliche Vorstellung macht. So verfällt er denn hier notgedrungen gerade in diesen fundamentalen Gebieten einem Nativismus, der eigentlich alle Psychologie überflüssig macht. Wo die Fundamente fehlen, da kann aber ein haltbarer Bau nicht entstehen. Auch ist daran festzuhalten, daß diese psychogenetischen Probleme gänzlich außerhalb der zu beider Schaden mit ihnen vermengten erkenntnistheoretischen Fragen liegen. Ob die Anschauungsformen transzendentale apriorische Formen sind oder nicht, hat schlechterdings nichts damit zu tun, daß die Psychologie unter allen Umständen darüber Rechenschaft zu geben hat, wie eine bestimmte räumliche Vorstellung, die Auffassung einer Zeitreihe oder wie endlich die Unterscheidung mannigfaltiger Gegenstände und eines sie vorstellenden Subjekts zustande kommen.

    Kaum ein anderer Begriff ist wohl unter diesem Einfluß der aus der Physiologie überkommenen und womöglich noch vergröberten nativistischen Strömungen in der gegenwärtigen Psychologie so wechselvollen Schicksalen ausgesetzt gewesen wie der der Empfindung. Daß man den Begriff eines "Reizes", also einen rein physiologischen Hilfsbegriff, und damit dann natürlich auch den eines äußeren Objektes ohne weiteres in den der Empfindung als einen ursprünglich gegebenen und gar nicht weiter abzuleitenden Bestandteil herübernimmt, ist bekanntlich eine verbreitete Voraussetzung. Unter der Wirkung dieses Nativismus steht nun offenbar auch Krueger, wenn er in die von mir gegebene und meinen Arbeiten über die Theorie der Sinneswahrnehmung zugrunde gelegte Definition der Empfindung als des psychischen Elementes der objektiven Bewußtseinsinhalte ohne weiteres die Eigenschaft hineindeutet, Objekt zu sein. Das psychische Element einer in den Raum außer uns verlegten Vorstellung soll also eine in diesen Raum außer uns verlegte Vorstellung selbst sein. Dieses Mißverständnis, nach welchem ich die einfache Empfindung gleichzeitig als elementare Qualität und als etwas unendlich Zusammengesetztes auffassen soll – denn als äußeres Objekt würde sie doch den Raum und mit ihm eigentlich die ganze objektive Welt voraussetzen – das ist allerdings schwer begreiflich. Aber ein so erstaunliches Mißverständnis wird in der Tat erst dadurch einigermaßen verständlich, daß Krueger von dem Prinzip der psychischen Resultanten offenbar völlig unberührt geblieben ist, und daß er demnach auch von den Versuchen, die Wirksamkeit dieses Prinzips in den einzelnen Wahrnehmungsvorgängen, namentlich bei den Gesichtswahrnehmungen, nachzuweisen, keine nähere Kenntnis genommen hat. Und in der Tat war ja auch das letztere überflüssig, da er, in dem überlieferten Nativismus befangen, von vornherein die Empfindungen für äußere Objekte hielt, und also alle jene Theorien für überflüssige Bemühungen halten mußte, etwas auf mühselige Weise zu erklären, was doch eigentlich schon in den einfachen Empfindungen als ursprünglich gegeben vorausgesetzt sei. Aus diesem Mißverständnis erklärt sich denn auch, daß er auf der einen Seite die psychologische Analyse fordert, auf der anderen aber ihre Durchführung für unmöglich erklärt. So beruht sein Vorwurf, daß die Psychologie die "Analyse von Bestandteilen", welche natürlich nicht kausaler Natur sein soll, mit der kausalen "Analyse von Bedingungen" verwechsle, sichtlich darauf, daß er vermöge seines Nativismus eine Analyse in ein Nebeneinander von Teilen annimmt, wo in Wirklichkeit nur an eine kausale Analyse gedacht werden kann. So nennt er es eine bloße Teilanalyse, wenn man die Empfindungen Rot und Gelb nebeneinander unterscheidet. Ein solches Nebeneinandersehen ist aber überhaupt keine Analyse, sondern eine komplexe Wahrnehmung, welche neben den beiden Empfindungen den Raum und die Objektivierung der Eindrücke voraussetzt, lauter Bedingungen, die eine kausale Analyse fordern, wenn die Wahrnehmung psychologisch interpretiert und nicht einfach als gegeben hingenommen werden soll. Auch hier schiebt sich also dem psychologischen jener "phänomenologische" Standpunkt unter, der die Erklärung durch eine reine Beschreibung ersetzen will. Der hierbei stattfindende Wechsel der Standpunkte läßt sich demnach kurz folgendermaßen kennzeichnen: der Psychologe verwandelt sich zunächst den komplexen Erscheinungen gegenüber in den Phänomenologen, der der kausalen Analyse die reine Beschreibung, gelehrt ausgedrückt die "Analyse von Bestandteilen", substituiert. Dieser Phänomenologe tritt dann aber wieder als Psychologe in der Gestalt des "Nativisten" auf. Und damit würde die Reihe zu Ende sein, wenn sich nicht doch bei dem letzteren das Bedenken regte, daß er als Psychologe eigentlich zu einer kausalen Interpretation verpflichtet wäre. So schiebt er denn diese auf eine vorangegangene generelle Entwicklung zurück und wandelt damit schließlich den nativistischen in den genetischen Standpunkt um: der Nativist wird zum "Entwicklungspsychologen". Um den Forderungen der Psychologie Genüge zu leisten, müßte nun freilich das Wie dieser Entwicklung durch eine hier einsetzende kausale Analyse nachgewiesen werden. Aber davon schweigt die Geschichte: eine Entwicklungspsychologie in diesem Sinne ist im Hinblick auf die unbegrenzte Menge der Einzelprobleme, die sie in sich schließt, eine vielleicht niemals ganz zu bewältigende Aufgabe. Darum muß nun noch einmal die "Phänomenologie", die reine Beschreibung zu Hilfe kommen. Die genetische Erklärung eines gegenwärtigen Zustandes wird dadurch als vollendet angesehen, daß man sich ihre Entstehung aus den vorangegangenen Zuständen vor Augen führt. Hiermit würde eine rein phänomenologische Interpretation der psychischen Entwicklungen erreicht sein, die in der bekannten morphologischen Interpretation der biologischen Entwicklungen nach dem Prinzip der Wiederkehr der Phylogenese in der Ontogenese ihr genaues Vorbild hätte. Auch die Biologie betrachtet ja, so lange sie den rein morphologischen Standpunkt innehält, das Stadium der Phylogenese, das sich auf einer bestimmten Stufe der Ontogenese wiederholt, als die zureichende Ursache der letzteren. Hält man sich an dieses Vorbild, so eröffnet sich von hier aus die Perspektive auf eine in analogem Sinne genetische und zugleich phänomenologische Auffassung der Aufgaben der Psychologie, wenn diese auch selbstverständlich auf einem weit schwankenderen Boden steht als die über eine feste empirisch gegebene Formenreihe verfügende biologische Morphologie. Unter diesem Gesichtspunkte gewinnt zugleich die Umtaufe der Völkerpsychologie in eine "Entwicklungspsychologie" ihre tiefere Bedeutung. Als solche soll sie offenbar, ähnlich wie die morphologische Entwicklungsgeschichte den Aufbau des physischen Organismus phänomenologisch auf seine genetischen Vorstufen zurückführt, so die Bewußtseinsvorgänge des gegenwärtigen Kulturmenschen aus der vorangegangenen Entwicklung der Menschheit ableiten, in welcher der den Gegenstand der sogenannten allgemeinen Psychologie bildende heutige Kulturmensch das letzte Glied ist.

5. Genetische und kausale Interpretation.

    Ich bin nicht sicher, ob die Gedanken, die ich oben aus dem Nebeneinander phänomenologischer und kausaler Gesichtspunkte abzuleiten versucht habe, die Motive erschöpfen, die bei der Entstehung des Begriffs einer "Entwicklungspsychologie", zum Teil vielleicht unbewußt, wirksam gewesen sind. Aber es kam hier vor allem darauf an, den Zusammenhang dieser Bestrebungen mit den gegenwärtigen Strömungen der Naturwissenschaft und Philosophie aufzuzeigen. Denn nur wenn man sich diesen Zugammenhang vergegenwärtigt, wird sich auch der geeignete Standpunkt unbefangener Beurteilung gewinnen lassen. Dabei fällt nun vor allem die Analogie mit der Biologie ins Gewicht. Läßt sich doch nicht verkennen, daß sich die Biologie gegenwärtig einer doppelten Bedeutung bewußt geworden ist, die der Entwicklungsbegriff selbst und noch in höherem Grade der in Anlehnung an ihn gebrauchte einer "genetischen Betrachtung" besitzen kann. "Genetisch" kann eine Interpretation in dem Sinne sein, daß sie rein phänomenologisch die empirisch gegebenen Entwicklungsstufen aneinander reiht. "Genetisch" pflegt man aber auch bisweilen jede kausale Interpretation zu nennen, selbst wenn sie sich nur auf ein einzelnes, gar nicht in eine eigentliche Entwicklungsreihe gebrachtes Phänomen bezieht, insofern die Entstehung des Phänomens aus seinen Ursachen eine "Genese" genannt wird. In der Biologie haben sich diese beiden Begriffe der Genese seit langer Zeit äußerlich dadurch geschieden, daß die erste Form, die der phänomenologischen Genese, der Entwicklungsgeschichte zugewiesen wurde, während der Physiologie die kausale Erklärung der einzelnen Lebenserscheinungen zufiel, die man nun im Sinne jenes Sprachgebrauchs, nach der jeder Vorgang, bei dem aus irgend einer vorangegangenen Ursache eine ihr folgende Wirkung entspringt, als eine Genese bezeichnet wird, ebenfalls eine "genetische" Betrachtung nannte. Es ist aber klar, daß dieser Fall von dem der eigentlichen Genese, bei der ein einzelner Zustand als Glied in einer Reihe zusammengehöriger Zustände betrachtet wird, wesentlich abweicht, und daß hier in Wahrheit dem Begriff der Entwicklung der der Entstehung substituiert ist. Die Vermengung dieser beiden Bedeutungen ist also zunächst sprachlichen Ursprungs. Das Wort "Genesis" ist eben zweideutig: es umfaßt die beiden Begriffe der Entwicklung und der Entstehung. Aber wesentlich begünstigt wird die daraus entspringende gelegentliche Vertauschung der Begriffe durch die gleichzeitige Vermengung der phänomenologischen und der kausalen Betrachtung. Hier hat die Biologie, die ja in dieser Beziehung das Vorbild der Psychologie gewesen ist, bereits einen wichtigen Schritt zur Beseitigung solcher Irrungen getan. Sie hat der Entwicklungsgeschichte mit ihrer morphologischen, rein phänomenologischen Betrachtung der Erscheinungen die sogenannte "Entwicklungsmechanik" gegenübergestellt, der sie die kausale Ableitung einer jeden Stufe der Entwicklung aus der vorangegangenen als Aufgabe zuweist, und die demnach, wenn man sie sich über alle Stufen ausgedehnt denkt, zur kausalen Deutung der ganzen Entwicklung führen müßte. Der Ausdruck "Mechanik" ist dabei wohl heute schon als unzulänglich erkannt. Der allgemeinere einer physikalisch-chemischen Analyse der Prozesse würde zutreffender und weniger mißverständlich sein. Doch das Wesentliche liegt nicht in diesem Namen, sondern in der durch die kausale Betrachtung geforderten Ableitung eines jeden Zustandes innerhalb der Reihe aus dem unmittelbar vorausgegangenen mit Hilfe der kausalen Analyse der zwischen beiden vermittelnden Vorgänge.

    In der "Entwicklungspsychologie" laufen nun diese von der Physiologie im allgemeinen streng auseinander gehaltenen und dadurch schließlich auch in der physiologischen Entwicklungsgeschichte sorgfältig unterschiedenen Begriffe des eigentlich Genetischen oder der Genese als Entwicklung und des uneigentlich Genetischen oder der Genese als Entstehung völlig unterschiedslos durcheinander. Es ist aber keine Frage, daß diese zu einem guten Teil durch den laxen Sprachgebrauch verschuldete Unklarheit auf die ganze Auffassung der psychologischen Aufgaben trübend gewirkt hat. Und noch ein anderer Umstand spielt dabei eine verhängnisvolle Rolle: bei diesem gemischten Gebrauch des Begriffs drängt sich doch immer wieder die phänomenologische Bedeutung in den Vordergrund. Das hat seinen leicht verständlichen Grund darin, daß zwar sehr viel von "Gesetzen der Psychologie" und sogar von "genetischen Gesetzen" geredet wird, daß man sich aber nicht im geringsten über die Prinzipien Rechenschaft gibt, die für die psychologischen Gesetze ebensogut wie für die Naturgesetze gelten müssen. In Ermangelung dessen werden dann begreiflicherweise die Naturgesetze stillschweigend auf die seelischen Zusammenhänge übertragbar gedacht, sofern man sich nicht etwa überhaupt unter diesen psychischen Gesetzen völlig unbestimmte Möglichkeiten denkt, mit denen sich eine ferne Zukunft vielleicht einmal zu befassen habe. In beiden Fällen bleibt natürlich nichts anderes übrig, als daß man überhaupt auf eine kausale Analyse verzichtet. Wird sie doch bisweilen – so auch von Krueger – für unerlaubt erklärt, falls sie versuchen sollte bis auf die letzten nicht weiter zerlegbaren Ursachen zurückzugehen, obgleich dies eigentlich eine Forderung ist, die jeder kausalen Analyse als eine selbstverständliche zugrunde liegt. Dies führt dann wieder allen den psychologischen Aufgaben gegenüber, die nicht dem Gebiet der "eigentlichen Genese" zufallen, zu jenem Phänomenologismus, der bei den einzelnen Problemen mit Notwendigkeit zum Nativismus wird, und dessen Wahlspruch sich im Hinblick auf die oben erwähnte Bedeutung der Begriffe der Entstehung und der Entwicklung in die Formel fassen ließe: es gibt keine Entstehung, es gibt nur eine Entwicklung, worauf zu erwidern wäre: eine Entwicklung ohne Entstehung dreht sich entweder im Kreise wie Nietzsches "ewige Wiederkehr", oder sie führt auf ein Schöpfungswunder zurück, das, wie die Animalkulisten unter den Biologen des 17. Jahrhunderts meinten, im Samen Adams die ganze künftige Menschheit in sich schloß.

6. Das Assimilationsproblem und der Fluß des psychischen Geschehens.

    Es ist bezeichnend für die Zurückdrängung der kausalen Entstehungsprobleme durch das einseitige, rein phänomenologisch betrachtete Entwicklungsprinzip, daß es in dieser Einseitigkeit selbst eigentlich entwicklungslos ist, und daß hier als das Vorbild der Psychologie nicht die Physiologie, die doch mindestens zum Teil diese Beachtung verdiente, sondern die Biologie hingestellt wird, wobei man unter dieser von vornherein im wesentlichen die vergleichende Entwicklungsgeschichte zu verstehen pflegt. Daß die Physiologie noch andere Aufgaben hat, bei denen sie von der Entwicklungsgeschichte im wesentlichen abstrahieren kann, ja abstrahieren muß, wenn nicht die verschiedenen Probleme in Verwirrung geraten sollen, bleibt dabei unbeachtet. Der Chemismus der Stoffwechselvorgänge, der Mechanismus der Blutbewegungen, sie und alle anderen das Gleichgewicht der normalen Funktionen bewirkenden Vorgänge müssen notwendig zunächst in einem gegebenen, auf einer Fülle kausaler Entstehungs-, nicht Entwicklungsvorgänge beruhenden Zustande verstanden sein, ehe man sich mit irgend einer Aussicht auf Erfolg der Untersuchung der Entwicklung, also jenen genetischen Problemen im eigentlichen Sinne des Begriffs der Genese zuwenden kann. Nun besteht für die Physiologie, abgesehen von den Wahrnehmungsproblemen, die sie von Rechtswegen der Psychologie überlassen muß, keine Gefahr, die Aufgaben der Entwicklungsgeschichte und der kausalen Betrachtung der das Leben des entwickelten Organismus konstituierenden Funktionen mit einander zu vermengen. Um so mehr ist der Gefahr dieser Vermengung die Psychologie ausgesetzt, und bezeichnenderweise ist es gerade das Problem, das sie heute von der Physiologie übernommen hat, das Wahrnehmungsproblem, in dessen Behandlung jene Vermengung am klarsten zutage getreten ist. Es hängt dies aber wiederum mit jenen Eigenschaften des Bewußtseins zusammen, in denen der wesentliche Unterschied des unmittelbaren seelischen Erlebens, das man wohl auch fälschlicherweise die "innere Beobachtung" zu nennen pflegt, von der sogenannten äußeren Beobachtung beruht. Den unserer unmittelbaren Auffassung gegebenen Verlauf des objektiven Geschehens vermag die physikalische Betrachtung nur beschreibend zu verfolgen, indem sie die unmittelbare zeitliche Kontinuität des Geschehens schildert; falls sie nicht hypothetische Hilfsbegriffe herbeizieht, wie sie z. B. die Energieprinzipien oder gewisse andere teleologische Prinzipien der Mechanik zur Verfügung stellen. Unser Bewußtsein setzt dagegen in vielen Fällen neu in ihm entstehende Gebilde zu früheren, unter Umständen durch lange Intervalle von ihnen getrennten in Beziehung, und die psychologische Analyse gerade der Wahrnehmungsprozesse weist nach, daß solche Beziehungen in jede Wahrnehmung des entwickelten Bewußtseins eingehen. Wir bezeichnen diese Erscheinungen im allgemeinen als "reproduktive Assimilationen". Ihr Einfluß auf den Wahrnehmungsvorgang tritt uns am deutlichsten bei den Gesichtswahrnehmungen entgegen. Zugleich scheiden sich aber bei ihnen die direkten und die reproduktiven Faktoren des Vorgangs besonders deutlich, während sich außerdem unschwer die Motive erkennen lassen, die den experimentierenden Psychologen zur Scheidung derselben zwingen. Die direkten Faktoren einer Gesichtswahrnehmung sind in dem Zusammenwirken bestimmter durch äußere Reize erweckter Lichtempfindungen mit Bewegungen des Auges bzw. den diese begleitenden Spannungsempfindungen gegeben. Sucht man nun aus diesen direkten Faktoren nach den bekannten Methoden der Variation der Bedingungen und unter der Voraussetzung des Prinzips der psychischen Resultanten den Inhalt der Wahrnehmung abzuleiten, so bleibt im allgemeinen ein Rest, der aus diesen direkt gegebenen Bedingungen des Wahrnehmungsaktes nicht zu erklären ist, wohl aber aus einem früheren oder aus einer größeren Zahl früherer Akte, von denen man annehmen muß, daß sie auf den gegenwärtigen einwirken.

    Bei der Beurteilung dieser Erscheinungen der reproduktiven Assimilation, die allerseits anerkannt werden, setzt nun aber der Unterschied der kausalen und der phänomenologischen Betrachtungsweise ein. Für die erstere eröffnet sich hier eine Reihe schwieriger, zum Teil noch ungelöster Aufgaben. Sie bestehen in dem geforderten Nachweis, wie und durch welche Bedingungen die reproduktiven Elemente zu dieser Teilnahme an der Gesamtheit der das Endresultat bestimmenden Ursachen gelangt sind. In vielen Fällen lassen sich hier in begleitenden, die Assoziation unterstützenden Hilfsassoziationen Instanzen auffinden. In anderen Fällen wird man sich vielleicht endgültig mit der Tatsache begnügen müssen, daß reproduktive Motive überhaupt vorhanden waren. Jedenfalls muß der Psychologe, will er nicht der Aufgabe einer kausalen Interpretation gänzlich untreu werden, voraussetzen, daß frühere Wahrnehmungen in späteren als kausale Faktoren wirksam werden können, die aus der allgemeinen psychischen Kausalität der Wahrnehmungsvorgänge hervorgegangen sind. Dies führt aber auf den für alle Kausalität gültigen Grundsatz zurück: "ohne Entstehung keine Entwicklung".

    Auf einem wesentlich anderen Standpunkte steht der Phänomenologe. Er akzeptiert zunächst, wie wir sahen, den ihm von der Physiologie überkommenen Nativismus. Indem aber auch er sich der Anerkennung des Einflusses früherer psychischer Inhalte auf spätere Vorgänge nicht entziehen kann, sieht er gerade in diesen ein Mittel, auf der einen Seite einer kausalen Interpretation zu entgehen, auf der anderen Seite dem nun einmal nicht ganz zurückzudrängenden Kausalitätsbedürfnisse durch die Anwendung der "genetischen" Betrachtungsweise gerecht zu werden. Warum sollte auch nicht jeder psychische Vorgang nach dem Vorbild der reproduktiven Assimilation zu deuten, also auf früher vorhanden gewesene psychische Inhalte zurückzuführen sein? In der Tat würde nun dem nichts im Wege stehen, wenn es erlaubt wäre, eine "Entwicklung ohne Entstehung" anzunehmen. Im übrigen ist ersichtlich, daß hierbei die oben erwähnte Zweideutigkeit des Begriffs der "Genese" insofern eine verhängnisvolle Rolle spielt, als der Schein erweckt wird, es handle sich um eine wirkliche Kausalität. Eine solche steht aber eigentlich hier ebensowenig in Frage wie bei den "Zweckursachen" der alten Teleologie.

7. Systematische und genetische Betrachtung geistiger Vorgänge und Entwicklungen.

    Indem eine in diesem Sinne auf das "genetische" Prinzip gegründete Psychologie die Nachweisung jeder Kausalität der psychischen Vorgänge, die aus den Wechselwirkungen ihrer direkten Faktoren hervorgeht, zugunsten irgend welcher in die Vergangenheit zurückreichender unbestimmter Entwicklungsmotive ausschaltet, wird nun auch einigermaßen die Einseitigkeit begreiflich, mit der in allen Gebieten nicht nur der Psychologie selbst eine ausschließlich "genetische" Betrachtung gefordert, sondern mit der auch anderen Wissenschaften, wie z. B. der Soziologie, die Berechtigung schon um deswillen versagt wird, weil sie teilweise systematisch vorgehen oder mindestens an bestimmten Punkten des Verlaufs der Erscheinungen gewissermaßen Querschnitte durch diesen Verlauf gelegt denken, um innerhalb eines gegebenen Zustandes die Wechselwirkung der Faktoren, die diesen Zustand zusammensetzen, ins Auge zu fassen. Nun ist es gewiß nur zu billigen, wenn die Entwicklungspsychologie gegen die alte und doch noch immer gelegentlich ihre Rolle spielende Verdinglichung der psychischen Vorgänge Front macht. In nichts hat ja in der Tat die Herbartsche Vorstellungsmechanik schädlicher bis auf die neueste Zeit nachgewirkt, als in der Auffassung der Vorstellungen als unveränderlicher Objekte. Aber das immerwährende Fließen der seelischen Vorgänge darf nun doch nicht zu einem Fließen der Begriffe werden, das die Bildung von Begriffen überhaupt unmöglich macht. Ich will auf diesen Punkt nicht näher eingehen, da er die uns hier beschäftigende Frage nicht berührt. Wohl aber ist es auch für diese bedeutsam, wenn nun auf Grund der Tatsache, daß die seelischen Erlebnisse fließende Vorgänge sind, der Psychologie das Recht aller und jeder systematischen Betrachtung oder, was zu einer solchen Betrachtung erforderlich ist, das Recht den Verlauf der Entwicklung an irgend einer dazu geeignet scheinenden Stelle fixiert zu denken und in den Beziehungen seiner Teile zu untersuchen, abgesprochen wird. Wollte man der wissenschaftlichen Forschung verwehren, in dieser Weise ein unablässiges Werden und Geschehen relativ fixiert oder auf einen einzelnen in sich abgeschlossenen Teilvorgang beschränkt zu denken, so würde es offenbar überhaupt kein Gebiet geben, das von diesem Verbot auszunehmen wäre. Vor allem aber würde dies für sämtliche Geisteswissenschaften gelten, insofern bei ihnen wechselnde psychische Momente und verändernde äußere Bedingungen überall wirksam sind, die Voraussetzung eines relativen Beharrens also überall nur ein begriffliches Hilfsmittel ist, das wir aber nirgends ganz entbehren können.

    Nun denkt natürlich auch Krueger, der jene Forderung im weitesten Maße zur Geltung bringt, nicht daran, etwa die Berechtigung einer systematischen Rechts-, Staats-, Volkswirtschaft usw. neben einer Staats-, Rechts-, Wirtschaftsgeschichte oder das Recht der systematischen Grammatik einer Sprache neben ihrer Geschichte bestreiten zu wollen. Und doch kann ja auf keinem dieser Gebiete davon die Rede sein, daß es jemals einen absolut stabilen Zustand wirklich gegeben hat, daher denn auch die systematische Wissenschaft auf diese genetischen Momente gelegentlich hinweist, ohne sie freilich in dem Zusammenhang behandeln zu können, wie dies der historisch-genetischen Betrachtung obliegt. Eben darum bedarf in allen Fällen das System der Ergänzung durch die Geschichte, ebenso wie umgekehrt die Geschichte, die hierbei zugleich die Psychogenese der Begriffe ist, der Ergänzung durch das System oder, wo die Bedingungen der Entwicklung mehrere Querschnitte nötig machen, der Systeme. So besitzt z. B. die Jurisprudenz nicht bloß Systeme der verschiedenen Rechtsgebiete, wie des Privat-, des Straf-, des Verfassungsrechts usw., sondern auch solche der verschiedenen, in den wichtigeren Ländergebieten gültigen Rechte, wie des römischen und des deutschen Privatrechts usw. Niemand wird in diesem und ähnlichen Fällen einen Kampf gegen das Nebeneinander systematischer und entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung unternehmen wollen. Eine selbst noch in der Entwicklung begriffene Wissenschaft wie die Soziologie ist natürlich hiergegen weniger durch das Herkommen geschützt. An sich aber hat der Begriff der "Gesellschaft" in seiner die Gesamtheit der gesellschaftlichen Institutionen einschließenden Bedeutung gewiß denselben Anspruch auf eine systematische Behandlung wie jene altüberlieferten Gebiete. Da ist es denn seltsam, daß Krueger sein absprechendes Urteil lediglich auf die allerdings für uns Deutsche obsolet gewordenen Theorien von Comte, Spencer, Tarde, Le Bon und anderen französischen und italienischen Autoren gründet (S. 138 f.), während doch in Deutschland durch die Bemühungen von Alb. Schäffle, Bücher, Tönnies, Max Weber u. a. der Begriff der Soziologie wesentlich die Bedeutung einer systematischen Betrachtung der gegenwärtigen und darum für unser praktisches Interesse besonders bedeutsamen Gesellschaftsordnung gewonnen hat 10). Wenn nun aber Krueger gegen die Möglichkeit, soziologische Aufgaben systematisch zu behandeln, einwendet, daß man unmöglich z. B. ein System des "Animismus" aufstellen könne, so hat er zwar mit der letzteren Behauptung zweifellos recht. Doch auch einen Begriff wie etwa den der "culpa" und unzählige andere hat meines Wissens noch niemals ein Rechtssystematiker zum Inhalt eines Systems gemacht. Mit verkehrt gewählten Beispielen kann man schließlich jeden Satz ad absurdum führen. Die systematische Betrachtung setzt eben überall einen relativ in sich geschlossenen Zusammenhang von Begriffen voraus. Eine einzelne Erscheinung, die innerhalb dieses Zusammenhangs eine große Bedeutung besitzen kann, ist darum noch keineswegs geeignet, Gegenstand einer systematischen Betrachtung zu sein, es sei denn, daß man für gewisse Zwecke von dem Moment der Entwicklung abstrahieren will. In diesem Sinne hat man in der Tat gelegentlich versucht, die verschiedenen Seelenvorstellungen, die ja einen Hauptbestandteil des sogenannten Animismus bilden, systematisch zu ordnen, aber niemand wird natürlich in solchen auch innerhalb der entwicklungsgeschichtlichen Disziplinen kaum zu entbehrenden Einteilungen Wissenschaften erblicken. Wird doch in diesen Fällen die logische Ordnung schließlich selbst der genetischen Betrachtung dienstbar gemacht, nicht anders wie umgekehrt die entwicklungsgeschichtlichen Exkurse der systematischen Disziplinen zur näheren Beleuchtung der Bedeutung der logischen Stellung der Begriffe dienen. Auch dies zeigt wiederum die für den Parallelismus systematischer und historischgenetischer Untersuchungen mustergültige Rechtswissenschaft an zahlreichen Beispielen.

10) Bezeichnend ist in dieser Beziehung schon bei Schäffle die Methode der sogenannten "biologischen Analogien", die keineswegs eine Anlehnung an die genetische Biologie als vielmehr eine solche an die physiologische Funktionsanalyse bedeutet und die übrigens von Anfang an bei ihm kein naturphilosophi-sches Prinzip, sondern lediglich eine heuristische Maxime gewesen ist, die er dann aber in seiner späteren kurzen Darstellung wegen der Bedenken, die auch dieser Verwendung entgegentraten, ganz hinweggelassen hat.
 
 
    Nun ist freilich anzuerkennen, daß die Psychologie mit ihren Teilgebieten – und ihr analog verhalten sich hier die experimentellen Naturwissenschaften – von der durch ihre logische Ausbildung ausgezeichneten Jurisprudenz insofern abweicht, als in dieser die logisch - systematische Betrachtung derart überwiegt, daß selbst in den genetisch-historischen Gebieten die Entwicklung durch eine größere Zahl zeitlich begrenzter Querschnitte in eine Reihe von Systemen zerlegt zu werden pflegt. In der Psychologie dominiert umgekehrt aus guten Gründen der genetische Gesichtspunkt, während der systematische mehr als ein Hilfsmittel dient, den Fluß der seelischen Entwicklungen an bestimmten, durch geeignete Merkmale ausgezeichneten Punkten fixiert zu denken. Doch ist das, wie man sieht, kein wesentlicher Unterschied. Querschnitte zu legen durch den Fluß des Geschehens, die Erscheinungen auf einer bestimmten Stufe nicht in dem Sinne fixiert zu denken, daß sie stille stünden, wohl aber in dem anderen, daß die innerhalb einer gegebenen Entwicklungsstufe vorhandenen Wechselwirkungen vorzugsweise in Betracht gezogen werden, das ist vielmehr ein notwendiges Desiderat jeder Wissenschaft, die nicht bloß über das Wie sondern auch über das Woher Rechenschaft geben will. Dabei sind dann freilich die Bedingungen, die der Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung mit sich führt, verschiedene. So ist insbesondere das Recht unter allen Erzeugnissen menschlicher Kultur dasjenige, bei welchem ganz bestimmte Epochen der allgemeinen menschlichen Entwicklung eine überragende Bedeutung für alle späteren Rechtsbildungen und so auch noch für unsere gegenwärtige gewonnen haben, so daß hier theoretische und praktische Gesichtspunkte bestimmten historischen Rechtsordnungen den spezifischen Charakter von Rechtssystemen verliehen haben.

    Nun lassen sich spezifische Bedingungen dieser Art natürlich nicht von einer Wissenschaft auf die andere übertragen. Die Psychologie kann weder als eine klassifizierende Begriffswissenschaft behandelt werden, wie dies die alte Vermögenspsychologie und in veränderter Form die moderne logizistische Phänomenologie versucht haben; noch kann ihr, wie im wesentlichen bei Herbart, die mathematische Physik als Vorbild dienen. Aber eins trifft für sie wie für jede Wissenschaft zu, die es gleich ihr mit Erscheinungen zu tun hat, die einem stetigen Fluß der Veränderung unterworfen sind, ob sich nun diese Veränderung in ihren einzelnen Phasen zu einer Entwicklung zusammenschließen mag oder nicht: durch den Fluß des Geschehens kann, wo es die Verhältnisse wünschenswert machen, stets an geeigneter Stelle irgend ein gegebener Zustand festgehalten werden, um ihn als ein in innerem Zusammenhang stehendes Ganze, natürlich unter Herbeiziehung genetischer Momente, wo diese zum Verständnis erforderlich sind, darzustellen. Die Art, wie dies geschieht, ist dann von den besonderen Verhältnissen abhängig, wie denn auch diese darüber entscheiden, ob ein solches Verfahren zur Abzweigung selbständiger systematischer Wissenschaften führt oder bloß in einzelnen systematischen Begriffsordnungen sich betätigt, wie in der Psychologie und anderen vorzugsweise genetischen Disziplinen. Offenbar würde es aber auch hier verkehrt sein, wollte man sich irgend einem relativ in sich abgeschlossenen Problem gegenüber mit der Berufung auf vorangegangene Zustände beruhigen, also z. B. die Verschmelzung der Bilder beider Augen zu einer körperlichen Vorstellung "genetisch" daraus erklären wollen, daß solche Verschmelzungen bereits in der Vergangenheit stattgefunden haben, oder auch daraus, daß diese resultierenden Körpervorstellungen bei den meisten niederen Tieren jedenfalls unvollkommener sind als beim Menschen.

    Der Psychologie am nächsten verwandt ist in dieser Beziehung die Physiologie. Für beide bleibt es maßgebend, daß sich einerseits, wie dies oben an dem Beispiel der Seelenvorstellungen erläutert wurde, die sich wandelnden Erscheinungen selbst in eine systematische Ordnung bringen lassen, daß sich aber auch anderseits aus dem Fluß der Lebensvorgänge Zustände aussondern, innerhalb deren die unablässig wirkende Kausalität des Geschehens relativ gleichbleibende Erscheinungen hervorbringt. Nicht als ob dabei die Erscheinungen selber stabil wären, wohl aber, weil innerhalb der begrenzten Zeiträume, die der Betrachtung unterzogen werden, von den in Wirklichkeit niemals fehlenden Bedingungen, die eine wesentliche Änderung des Zustandes hervorbringen, abstrahiert wird und abstrahiert werden muß, wenn man nicht jeden Maßstab, der zur Würdigung der Vorgänge selbst und ihrer Veränderungen dienen kann, entbehren will. Für die physiologische Betrachtung eines solchen Zustandes, der in allen ihn zusammensetzenden Lebenserscheinungen von Moment zu Moment wechselt und doch im ganzen einen relativen Gleichgewichtszustand darstellt, ist es nun kennzeichnend, daß die ihn konstituierenden Vorgänge ausschließlich in ihrer kausalen Verkettung untersucht werden, während die biologische Entwicklungsgeschichte die Tatsachen der Entwicklung vorläufig noch aus einer rein morphologischen Gesetzmäßigkeit ableitet, sie also ebenso einseitig auf ein rein genetisches und zugleich rein phänomenologisches Prinzip zurückführt. Daß diese Lage auf die Dauer unhaltbar ist, leuchtet ein, ebenso aber, daß ihre Beseitigung nur durch den Nachweis möglich sein wird, das genetische Prinzip selbst sei als eine Folge bestimmter kausaler Voraussetzungen zu begreifen. In dieser Richtung liegen in der Tat, wie oben schon bemerkt, die Bestrebungen der sogenannten "Entwicklungsmechanik". Demnach ist die gegenwärtige Lage der physiologischen Entwicklungsgeschichte vorläufig noch eine provisorische. Sie zerfällt in zwei Teile: einen systematisch-kausalen und einen genetisch-phänomenalen. Das tatsächliche Streben der Physiologie ist aber dahin gerichtet, an die Stelle dieser genetisch-phänomenalen eine genetisch-kausale Betrachtung zu setzen. Die Scheidung einer systematischen und einer genetischen Aufgabe wird freilich auch dann bestehen bleiben. Nur darf man hier wie überall die systematische nicht so verstehen, als wenn dadurch die genetische beseitigt werden sollte. Vielmehr führt dieses Verhältnis die Forderung mit sich, daß das genetische Prinzip selbst schließlich auf das kausale zurückgeführt werden müsse. – Alles dies trifft nun auch in vollem Umfang für die Psychologie zu. Ihr verwehren zu wollen, irgend wo im Fluß des Geschehens Halt zu machen, um auch hier innerhalb eines relativ dauernden Gesamtzustandes, als welchen man selbstverständlich den des normalen entwickelten Bewußtseins zu wählen pflegt, diesen einer kausalen Analyse zu unterwerfen, hieße gegenüber der Anwendung des zuerst in der logisch-phänomenalen Form der Vermögenspsychologie und dann in der mechanistisch-kausalen bei Herbart in den entgegengesetzten Fehler des Verzichts auf jede kausale Erkenntnis verfallen, da es zu einer solchen stets unentbehrlich ist, daß man sich die Erscheinungen bei irgend welchen Punkten ihres Verlaufs fixiert denkt. Dieses letztere geschieht denn auch unvermeidlich in der allgemeinen Psychologie, wo sie irgend welche Vorgänge des normalen entwickelten Bewußtseins untersucht. Wenn hieran etwas zu tadeln ist, so ist es höchstens dies, daß man die Entwicklungsprobleme mehr oder weniger vernachlässigt oder allzu sehr als reine Sonderaufgaben gewissen Einzelgebieten, wie der Kinderpsychologie, zuweist. Denn darin nimmt allerdings die Psychologie eine eigenartige Stellung ein, daß in den Bewußtseinsvorgängen neben den unmittelbaren überall weitere Bedingungen wirksam werden, die der vorangegangenen Entwicklung des gleichen Bewußtseins angehören. Dennoch liegt in dieser bevorzugten Stellung, die hier das genetische Prinzip einnimmt, nicht die geringste Berechtigung, jeder Art systematischer, und damit indirekt jeder an diese gebundenen kausalen Betrachtung der Erscheinungen den Krieg zu erklären. Vielmehr trifft für die Psychologie noch mehr als für die Biologie das Gegenteil zu. Indem weit zurückliegende Entwicklungsmomente unmittelbar innerhalb der Bewußtseinsvorgänge wirksam werden, weisen sie zugleich darauf hin, daß das genetische Prinzip nur eine besondere Form des Kausalprinzips selber ist. Nicht minder tritt aber hier der verwirrende Einfluß hervor, der in diesen Erörterungen über die Aufgaben der Psychologie die oben erwähnte Zweideutigkeit des Begriffs der "Genese" ausübt. Bald nennt man es eine "genetische Erklärung", wenn ein späterer Bewußtseinsinhalt auf einen früheren zurückgeführt wird, der auf jenen irgend eine Wirkung ausübt, also einen einzelnen kausalen Zusammenhang, der an sich mit der eigentlichen Entwicklungsgeschichte des Bewußtseins gar nichts zu tun hat; bald versteht man darunter eine rein phänomenologisch betrachtete Aufeinanderfolge von Gesamtzuständen des individuellen Bewußtseins oder der Kultur. In dieser Vermengung der Begriffe behält dann naturgemäß der phänomenologische die Oberhand, weil er zur Aushilfe bereit ist, auch wo von einer kausalen Erklärung nicht entfernt die Rede sein kann. Dies führt aber zwei Übelstände mit sich. Erstens ist man geneigt, kausale Probleme für "genetisch erklärt" anzusehen, falls nur die allgemeine Forderung erfüllt ist, daß sie sich in irgend eine äußere Beziehung bringen lassen, wie z. B. bei der "Assimilation" eine gegenwärtige zu einer vorangegangenen Vorstellung; und zweitens muß, da der psychologischen Phänomenologie anschauliche Substrate fehlen, wie sie der biologischen Morphologie in der Aufeinanderfolge der Entwicklungsstadien zu Gebote stehen, jene sich mit Begriffen helfen, die aus gegebenen Erscheinungen oberflächlich abstrahiert sind und daher teils in die alte Vermögenspsychologie zurückfallen, teils durch eine psychologisch völlig wertlose logische Zergliederung der Begriffe die Aufgaben einer kausalen Analyse beseitigen, um an deren Stelle eine äußerliche Begriffsdialektik zu setzen, die schließlich, wie in der alten Scholastik, ihrem Vorbild, in einer öden Wortklauberei versandet, wie wir dies sattsam in dem modernen sogenannten "Phänomenologismus" erleben.

8. Die Völkerpsychologie als Teil einer allgemeinen Entwicklungspsychologie.

    Was für die Psychologie überhaupt, das gilt nun selbstverständlich auch für die Völkerpsychologie, die ja nicht die einzige, aber die für das Bewußtsein des Kulturmenschen wichtigste Entwicklung seelischer Kräfte darstellt. Nicht durch jede völkerpsychologische Erscheinung, wohl aber durch die wichtigsten Zusammenhänge solcher müssen wir uns bei den Formen der Kulturentwicklung Querschnitte gelegt denken, wenn wir uns überhaupt über die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen Rechenschaft geben wollen. Die Formen der Gesellschaftsverfassung von der primitiven Horde bis zu den verschiedenen Gestaltungen der Stammes- und der politischen Verfassungen fordern überall zu Zerlegungen heraus, die einerseits von systematischen Gesichtspunkten ausgehen, anderseits in ihrem Zusammenhang eine Stufenfolge von Entwicklungen bilden. Nicht anders verhält es sich mit den mythologischen, den religiösen Systemen, den sittlichen Anschauungen, den Epochen der künstlerischen Tätigkeit. Die Erscheinungen selbst fließen, die Zustände des geistigen Lebens verändern sich unaufhaltsam. Aber die Aufgabe der Wissenschaft ist es jederzeit, das Fließende in Anschauung und Begriff festzuhalten und dabei zugleich über jenes Fließen der Erscheinungen und über die Kräfte, die es bewirken, Rechenschaft zu geben.

    Wenn demnach wegen des auch bei ihr unentbehrlichen Ineinandergreifens systematischer und genetischer Gesichtspunkte, der zwischen beiden stehenden, zunächst aber mehr der systematischen Vergleichung zugewandten Aufgabe einer Charakterologie der Völker der Name "Entwicklungspsychologie" kein brauchbarer Ersatz für den der Völkerpsychologie ist, so könnte gleichwohl in einer anderen, allgemeineren Bedeutung dieses Wort brauchbar sein. Ja man darf vielleicht sagen, es würde in dieser einem Bedürfnis entgegenkommen, daß durch die mehr und mehr über die verschiedenen Gebiete der lebenden Natur sich erstreckende Geltung des Entwicklungsprinzips entstanden ist. Die beiden ersten Hefte der von Krueger herausgegebenen "Arbeiten zur Entwicklungspsychologie", die bis jetzt vorliegen, weisen unmittelbar auf diese umfassendere Bedeutung hin. Das erste ist, abgesehen von der Hervorhebung der über alle Gebiete der Psychologie sich erstreckenden Herrschaft des genetischen Prinzips, vornehmlich seiner Geltung in der Völkerpsychologie bestimmt; das zweite, früher erschienene behandelt ein interessantes tierpsychologisches Thema. Es fehlt demnach nur noch ein kinderpsychologisches, um den Umkreis der Gebiete zu umfassen, die man in eminentem Sinne als entwicklungspsychologische schon jetzt zu betrachten pflegt. Aber noch fehlt es durchaus an der Lösung einer Aufgabe, die gerade einer künftigen Entwicklungspsychologie im eigentlichen Sinne dieses Wortes zu stellen ist: an der Herstellung der Beziehungen, die zwischen diesen drei Gebieten bestehen, oder auch an der kritischen Prüfung derjenigen, die zwischen ihnen angenommen worden sind. Es ist klar, daß es sich bei der Ausfüllung dieser Lücke nur um eine fortgesetzte Anwendung derselben vergleichenden Methode handelt, die auf den genannten drei Einzelgebieten bereits ihre Dienste geleistet hat.

    So ist in der Tat die Vermutung, unter einer allgemeinen Entwicklungspsychologie eine vergleichende Entwicklungsgeschichte der Seele bei Tieren, Kindern, Völkern zu verstehen, für jeden, der mit der wichtigen Rolle vertraut ist, die das Entwicklungsprinzip in der heutigen Biologie spielt, wohl die nächstliegende. Wie die Biologie die Gesamtheit der Lebewesen umfaßt und sie alle, die Protozoen, die Pflanzen, die Tiere, womöglich als Stufen einer einzigen, die ganze organische Welt umschließenden Entwicklung zu begreifen sucht, so wird jeder, dem die Rückwirkungen nahegetreten sind, die dieses universelle biologische Entwicklungsprinzip auf die Geisteswissenschaften ausgeübt hat, unter einer "Entwicklungspsychologie" zunächst eine analoge Betrachtung der allgemeinen geistigen Entwicklung und ihrer Gesetze vermuten, wobei, was bisher die einzelnen psychologischen Disziplinen in gesonderter Arbeit geleistet, nun zu einem großen, unter einheitlichen genetischen Gesichtspunkten geordneten Ganzen vereinigt werden solle. Aber ein näherer Anhalt, der die Verwirklichung dieses Programms einer allgemeinen Psychogenese als das eigentliche Ziel erkennen ließe, läßt sich in Kruegers Abhandlung nicht auffinden. Doch wenn auch diese Absicht nicht bestehen sollte, kann man in einer Sammlung von Arbeiten, die, wenn auch sonst disparaten Gebieten angehörend, in der Beziehung zu psychologischen Entwicklungsproblemen gewissermaßen ihr gemeinsames Zentrum finden, sicherlich ein verdienstvolles Unternehmen erblicken. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß hier das Programm einer "Entwicklungspsychologie" mit innerer Notwendigkeit in Gedankengänge einmündet, die, gerade von der allgemeinen Biologie ausgehend, gegenwärtig mehr und mehr auf die Psychologie übergegriffen haben, so daß man wohl auch in dem vorliegenden Programm einen Ausdruck dieser verbreiteten Strömung erblicken darf. Daß Krueger dieser doch offenbar die Grundlage der Entwicklungspsychologie bildenden biologischen Analogien mit keiner Silbe gedacht hat, ist daher immerhin auffallend. Seine einleitenden Erörterungen verbreiten sich über die mannigfaltigsten Einflüsse, die auf die Psychologie der Gegenwart von außen eingewirkt haben: über die naturwissenschaftliche Mechanik, die Geschichtswissenschaft, die Philosophie in ihren verschiedenen Richtungen. Aber er schweigt völlig von dem Gebiet, das, wie man denken sollte, vor allen anderen als Pate an der Wiege der Entwicklungspsychologie gestanden hat: von der allgemeinen Entwicklungsgeschichte der Organismen. Wer kennt nicht die Diskussion über die Frage der Anwendung des "biogenetischen Grundgesetzes" auf die Psychologie? Müßte nicht eine "Entwicklungspsychologie", die im Prinzip alle Arten psychischer Entwicklung umfaßt, vor allem anderen die Beziehungen dieser zueinander vor ihr Forum ziehen? Doch so gründlich Krueger darzutun sucht – was meines Wissens eigentlich niemand bestritten hat – daß die grundlegenden Probleme der Völkerpsychologie Entwicklungsprobleme sind, so wenig geht er auf die Frage ein, die doch im eminenten Sinn einer allgemeinen Entwicklungspsychologie, wie er sie plant, zufällt, auf die Frage: wie verhält sich auf psychischem Gebiet die "Ontogenese" zur "Phylogenese"? Und doch liegt hier der Punkt, wo sich Kinder- und Völkerpsychologie berühren oder einander kreuzen, so daß sie in ihrer Verbindung und womöglich auch noch im Verein mit der Tierpsychologie in eine allgemeine Entwicklungspsychologie überzugehen scheinen. Zudem ist die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zur menschlichen Gemeinschaft schließlich eine Grundfrage nicht bloß der Völkerpsychologie, sondern der Geisteswissenschaften überhaupt. Wie sollte also eine Entwicklungspsychologie, die ihrem Namen nach die individuelle und die gemeinsame Entwicklung zugleich umfaßt, über das Verhältnis beider zu einander stillschweigend hinweggehen können? Gar mancher, der von der genetischen Biologie herkommt, wird vielleicht erwidern: nach dem biogenetischen Grundgesetz beantworte sich diese Frage von selbst, da nach ihm die individuelle Entwicklung im großen und ganzen eine Wiederholung der Entwicklung der Gattung sei. Daß man sich mit dieser Antwort nicht zufrieden geben darf, sagt aber bereits der limitierende Ausdruck "im großen und ganzen", der vor allem auch das wichtige und, wie man wohl einräumen muß, im wesentlichen noch ungelöste Problem in sich schließt, innerhalb welcher Grenzen das biogenetische Entwicklungsgesetz überhaupt auf die geistige Entwicklung übertragbar sei. Welches sind die Merkmale, nach denen ein analoger Parallelismus der Ontogenese und Phylogenese, wie ihn für die Biologie die morphologische Beobachtung ergibt, auf psychologischem Gebiet statuiert werden darf? und welches sind die Bedingungen, unter denen, wo die Entwicklung in beiden Fällen eine abweichende ist, solche Abweichungen begründet sind? Daß sich diese Fragen nicht beliebig nach zufälligen Eindrücken beantworten lassen, und daß man daher das biogenetische Gesetz nicht einfach als ein Axiom behandeln darf, nach dem z. B. die Kunsterzeugnisse primitiver Völker und die des Kindes einander ähnlich seien, oder aus dem die mythologischen Vorstellungen der Naturvölker aus dem Vorstellungskreis des Kindes heraus erklärt werden könnten, versteht sich von selbst. Um so mehr bilden aber diese Fragen und alle weiteren, die sich hier anreihen und zu denen schließlich auch die nach der Entwicklung der psychischen Funktionen im Tierreich bis herauf zum Menschen gehören, ein großes und wichtiges Gebiet von Untersuchungen, die freilich vielfach zugleich in andere Teile der Psychologie hinüberreichen und solche als ihre Grundlagen voraussetzen, die sich aber sehr wohl, wie ich glaube, in einer eigenen Wissenschaft zusammenfassen ließen. Auch scheint es mir, daß eine solche vergleichende Psychologie höchster Stufe in der Tat ein Desiderat ist, dem bis jetzt durch gelegentliche Exkurse innerhalb der einzelnen Gebiete, die ihre Grundlagen bilden, nur unzureichend abgeholfen wird. Und so wenig sich der Ausdruck "Entwicklungspsychologie" wegen seiner Allgemeinheit und Mehrdeutigkeit dazu eignet, den Namen Völkerpsychologie in dem bis dahin gebrauchten Sinne zu ersetzen, so treffend würde er durch diese Allgemeinheit den Inhalt einer derartigen vergleichenden Psychologie umfassendster, eben darum aber auch für die Gesamtauffassung des geistigen Lebens bedeutsamster Art kennzeichnen. Freilich ist die Zeit zum positiven Aufbau einer solchen allgemeinsten vergleichenden Seelenwissenschaft, wie man mit Recht einwenden kann, noch nicht gekommen. Dafür fehlt es vielleicht weniger an der notwendigen Vorarbeit im einzelnen, die ein solches Unternehmen voraussetzt, als an der zureichenden Übereinstimmung der methodologischen Voraussetzungen und der allgemeinen Gesichtspunkte, die in den einzelnen Teilen eines so weiten Gebiets begreiflicherweise maßgebend zu sein pflegen. Mag aber die vergleichende Entwicklungspsychologie bis dahin in Wirklichkeit mehr aus strittigen Problemen als aus sicherstehenden Tatsachen und Prinzipien bestehen, so erscheint um so mehr die kritische Prüfung dieser Probleme und der zu ihrer Lösung bestimmten Hypothesen mindestens als eine vorbereitende Aufgabe.