IV.

Pragmatische und genetische Religionspsychologie.

l. Die pragmatische Philosophie.

    Die unter dem Namen des "Pragmatismus" in Amerika und England verbreitete Richtung der neuesten Philosophie ist bis zu den letzten Jahren in Deutschland ziemlich unbekannt geblieben, und noch jetzt hat sie bei uns vornehmlich außerhalb des Kreises der sogenannten Fachphilosophen Beachtung und Zustimmung gefunden. Namentlich deutsche Theologen und unter ihnen wieder solche, die in ihrer eigenen Wissenschaft einer historisch-kritischen Richtung zugeneigt sind, haben dem Pragmatismus, wenn nicht in jeder Beziehung, so doch vor allem in dem, was man seine Religionspsychologie genannt hat, ihre Anerkennung gezollt. Nun ist freilich weder die Psychologie im allgemeinen noch die Religionspsychologie insbesondere ein aus der gesamten Philosophie des Pragmatismus loszulösendes Gebiet. Sie ist das eigentlich ebensowenig, wie man etwa Hegels Lehre vom "subjektiven Geiste" aus seinem System herausnehmen und als selbständige Psychologie behandeln darf. Diese wurde in solchem Fall alles verlieren, was ihr ihren philosophischen Wert geben mag, und es würde wenig mehr übrig bleiben als eine, noch dazu in dieser Isolierung jeder inneren Begründung entbehrende Aneinanderreihung der alten psychologischen Vermögensbegriffe an dem Faden willkürlicher logischer Verknüpfungen. Von dem Pragmatismus gilt das in nicht geringerem Grade. Es gibt eine pragmatische Philosophie, die sich, wie jede nach systematischer Einheit strebende Philosophie, über alle Gebiete des menschlichen Denkens erstreckt. Aber es gibt keine selbständige pragmatische Psychologie. Vielmehr bringt es gerade der Charakter der pragmatischen Philosophie mit sich, daß sich jene, wenn man den Versuch einer solchen Isolierung ausführt, in ein zusammenhangloses Gemenge zerstreuter Beobachtungen und Bekenntnisse auflöst. Sie gewinnen Sinn und Bedeutung erst da, wo sie dem pragmatischen Grundgedanken untergeordnet und, so gut es geht, zu dessen Bestätigung verwendet werden.

    Ehe sich von pragmatischer Psychologie reden läßt, muß man sich daher vor allen Dingen darüber Rechenschaft geben, was pragmatische Philosophie ist. Dann erst wird sich darüber reden lassen, wie sich ihr allgemeiner Gedankengehalt auch für die einzelnen Gebiete der Wissenschaft, darunter insbesondere für die Psychologie auf der einen und die Religionswissenschaft auf der andern Seite, fruchtbar machen läßt. Nun existiert bereits eine ziemlich umfangreiche Literatur über diesen Gegenstand. Aber diese ist fast ganz auf England und Amerika beschränkt; sie hängt daher in ihren Ausgangspunkten von den eigenartigen Zuständen der angloamerikanischen Philosophie ab, wie denn auch die gegen andere philosophische Strömungen gerichtete Kritik der Pragmatiker hauptsächlich durch die dortigen Gestaltungen des Idealismus oder, wie man diesen in England zu nennen pflegt, "Absolutismus" bestimmt ist. Demnach fehlen in dieser Literatur beinahe ganz die Beziehungen zur deutschen Philosophie, während doch eigentlich diese erst den Gedankengehalt des Pragmatismus unserem Verständnis und damit unserer Beurteilung seiner allgemeinen philosophischen Bedeutung näher bringen können. Statt die Lehren des Pragmatismus – insoweit man von solchen bei einer mehr in der Gesamttendenz als in positiven Behauptungen bestehenden Philosophie reden kann – in dem ihnen durch die pragmatischen Philosophen selbst gegebenen Zusammenhang auseinanderzusetzen, scheint es mir darum für eine kurze Orientierung über die allgemeine Richtung dieser Philosophie zweckmäßiger, vor allem auf das Verhältnis zu den uns bekannten Richtungen der Philosophie Rücksicht zu nehmen. Das um so mehr, als die pragmatischen Philosophen zwar nicht versäumt haben, gelegentlich die den ihrigen entgegengesetzten Anschauungen kritisch zu beleuchten, über ihre positiven Beziehungen zu sonstigen Richtungen aber in der Regel stillschweigend hinweggehen 1).

1) Eine kurzgefaßte Darstellung findet man übrigens in William James, Der Pragmatismus, ein neuer Name für alte Denkmethoden, übers. v. W. Jerusalem, 1908. Die Unterschiede der amerikanischen von der haupt-sächlich durch F. C. S. Schiller unter dem Namen des "Humanismus" vertretenen englischen Richtung des Pragmatismus können hier außer Betracht bleiben. Durch seine scharfsinnige Kritik des vorangegangenen englischen Idealismus hat übrigens Schiller zur Klärung der neuen Richtung wesentlich beigetragen.
 
 
    Wenn das Wort "pragmatisch" zunächst an "praktisch" erinnert, so täuscht in der Tat diese nahe Verbindung der Begriffe nicht. Die pragmatische Philosophie will vor allem eine praktische sein: sie will den Bedürfnissen des Lebens und, in allererster Linie den eigenen Gemütsbedürfnissen des Menschen genügen. Aber die pragmatische Philosophie ist darum doch keineswegs das, was wir "praktische Philosophie" nennen. Sie fällt mit ihr auch dann nicht zusammen, wenn die letztere so nachdrücklich den Primat der praktischen Forderungen über die Ergebnisse des theoretischen Denkens betont, wie dies Kant getan hat. Die kritische Philosophie läßt trotz des von vornherein zugestandenen Primats der praktischen über die theoretische Vernunft die selbständigen Rechte dieser unverkürzt bestehen. Es kommt ihr nicht bei, zu behaupten, das Erkennen selbst müsse durch praktische Wünsche bestimmt werden. Vielmehr legt sie gerade darauf den größten Wert, daß die theoretische Vernunft uneingeschränkt den ihr immanenten Gesetzen folge, und wenn sich dabei zeigt, daß die Ergebnisse, zu denen sie gelangt, den praktischen Forderungen nicht genügen, so gilt ihr das vermöge jenes von vornherein von ihr anerkannten Primats ethischer Postulate als ein Beweis für die Schranken, denen hier die Erkenntnis begegnet, nicht aber im geringsten als ein Motiv, das Erkennen unter den Willen zu beugen. Ganz anders die pragmatische Philosophie. Den Primat der praktischen Forderungen erkennt auch sie an. Aber dabei deutet der Ausdruck "pragmatisch" zugleich an, daß sich die Praxis bei ihr nicht mit einem Vorrang begnügt, der ihr der reinen, dem Erkenntnisbedürfnis dienenden Theorie gegenüber zukommt, sondern daß sie den Anspruch erhebt, dem Erkennen selbst seine Wege zu zeigen. Sie will dieses nicht bloß aus der Region des Wollens und Handelns ausschließen, sondern sie will es meistern, auf daß es selbst dem Willen Untertan werde.

    Dennoch würde man sich täuschen, wenn man meinen sollte, an diese Erweiterung der Herrschaft des Willens sei zugleich eine Erhöhung des Wertes und der Würde der praktischen Ideale, die dem Wollen als Ziele gesteckt sind, gebunden. Genau das Gegenteil ist zutreffend. Je umfassender der Bereich ist, auf den sich unser Wünschen und Wollen erstrecken soll, je mehr es also neben dem Hohen und Höchsten auch das Niedrige oder Gleichgültige umfaßt, um so mehr wird natürlich der Wert jenes freien Entschlusses herabgesetzt, dem schließlich alles, von den höchsten Gütern des geistigen Lebens bis zu den alltäglichsten Lebensbedürfnissen, unterworfen sein soll. Je unterschiedsloser alles das der Willkür anheimgegeben wird, um so tiefer sinkt notwendig der allgemeine Zweckbegriff, der sich nun mehr nach den niederen oder bestenfalls nach den durchschnittlichen als nach den höchsten Werten einer solchen Skala richten muß. Dem Allgemeinen liegt hier, wie überall wo Wertprädikate in Frage kommen, das Gemeine am nächsten. So ermäßigt denn – schon die Veränderung des Ausdrucks ist hier bezeichnend genug – der Pragmatismus die unbedingten Forderungen der praktischen Vernunft in Motive der Bedürfnisbefriedigung, die absolut wertvollen Ideale in relativ nützliche Zwecke. Damit weist dieses Verhältnis auf zwei weitere Beziehungen zu modernen Denkrichtungen hin. In der Herabstimmung der geistigen Werte zu Motiven der Willensbefriedigung und der ethischen Forderungen zu Erwägungen über das Nützliche erinnert der Pragmatismus einerseits an gewisse andere, unter dem Namen des "Voluntarismus" zusammengefaßte Strömungen der neueren Philosophie, und bildet er anderseits eine Abzweigung des Utilitarismus.

    Wenn sich nun aber die Pragmatiker, dem herrschenden Intellektualismus gegenüber, selbst "Voluntaristen" nennen, so gewinnt dieser Name bei ihnen, gegenüber den bekannten Richtungen des metaphysischen und des psychologischen Voluntarismus, eine wesentlich veränderte Bedeutung. Den voluntaristischen Metaphysikern ist der Wille ein letztes transzendentes Einheitsprinzip, das in der Welt der Erscheinungen dem Intellekt volle Freiheit gewährt, daher er sich, wie dies bei Schopenhauer geschah, mit einem empirischen Intellektualismus verbinden kann. Der psychologische Voluntarismus vollends sucht das Wollen nur in die Rechte einzusetzen, die ihm auf Grund der unmittelbaren psychologischen Erfahrung neben den anderen Inhalten des Seelenlebens zukommen. Indem dagegen der Pragmatismus weder ein metaphysisches System noch empirische Psychologie sein will, sondern, wie er selbst betont, lediglich eine Methode, und zwar diejenige Methode des Denkens, die unserem Bedürfnis in den Gebieten des Erkennens wie des Handelns und Glaubens am vollkommensten genügt, liegt bei ihm das voluntaristische Prinzip weder auf der Seite spekulativer Erwägungen, wie beim metaphysischen, noch auf der empirischer Beobachtungen, wie beim psychologischen Voluntarismus. Vielmehr liegt es ganz und gar im Begriff des Willens selbst in seiner hergebrachten Bedeutung als eines Vermögens freier Wahl zwischen beliebigen Motiven. Der pragmatische Voluntarist will frei sein in der Wahl der Grundsätze der Erkenntnis wie des Handelns und Glaubens. Als einzige Norm gilt ihm die eigene Befriedigung.

    Mündet hier der pragmatische Voluntarismus in den Utilitarismus ein, so ist aber auch dieser wiederum gegenüber dem in der englischen Moralphilosophie ausgebildeten ein anderer geworden. Dem letzteren war zunächst die eigene Wohlfahrt und dann die Wohlfahrt der Mitmenschen oder, da dies ein zu unbestimmtes und allgemeines Ideal bleibt, nach der Formel Benthams das größtmögliche Wohl der größtmöglichen Zahl das Ziel menschlichen Strebens gewesen. Das Wohl oder der Nutzen umfaßt dann seinerseits wieder alle menschlichen Bedürfnisse samt den Mitteln, die zu ihrer Befriedigung dienen können, und da unserem eigenen Streben, namentlich soweit es sich auf andere Menschen erstreckt, nur die äußeren Mittel der Bedürfnisbefriedigung zugänglich sind, so gilt für Bentham geradezu der Reichtum als Maß des Glücks. Dem gegenüber bezeichnet der Pragmatismus unleugbar eine Verinnerlichung des Utilitätsprinzips. Hierin berührt er sich am nächsten mit der von John Stuart Mill vertretenen Phase des englischen Utilitarismus. In der Anerkennung dieser Verwandtschaft der Gedanken hat William James selbst seine populären Vorlesungen über den Pragmatismus dem Gedächtnis Mills gewidmet; und noch in anderer Beziehung, vor allem in seinen Gedanken über die Religion, konnte er diesen nicht mit Unrecht einen "Führer zur pragmatischen Denkweise" nennen. Immerhin hatte auch Mill den Glücksbegriff der utilitarischen Ethik nach der geistigen wie nach der materiellen Seite noch ganz in die objektiven Güter des Lebens verlegt, die durch die Tradition und die allgemeine Übereinstimmung als wertvoll anerkannt sind. Gerade dies widerstreitet aber durchaus jenem voluntaristischen Prinzip des Pragmatismus, das die subjektive Befriedigung zum alleinigen Maßstab der Werte macht und in der Wahl der Mittel dieser Befriedigung der individuellen Freiheit keinerlei Schranken auferlegt. Je mehr durch diesen Appell an den freien Willen die Beziehung zu äußeren, durch das Herkommen geschützten Gütern sich löst und so der Glücksbegriff des Utilitarismus verinnerlicht wird, um so mehr wandelt sich daher Mills notdürftiger Kompromiß zwischen, Benthams materialistischer Güterlehre und seinen eigenen, vorwaltend den geistigen Gütern zugewandten Neigungen in einen Gegensatz um. Dem Pragmatismus gilt für jeden als gut, was er nach freier Wahl bevorzugt. Scheint so die pragmatische "Option" hart an die Grenze der egoistischen Utilitätsmoral der Sophistik heranzureichen, so steht sie doch durch die beinahe an die Kantische Freiheitslehre erinnernde energische Betonung des freien Willens in der Entscheidung zum Guten am weitesten abseits von den überlieferten, zwischen Egoismus und Altruismus schwankenden Formen der Utilitätsmoral. Die freie Wahl, die nur in den Tiefen der eigenen Seele nach ihren Motiven zu suchen hat, scheint in der Tat nicht mehr allzuweit von jener Erhebung des guten Willens zum uneingeschränkt höchsten Gut entfernt zu sein, die Kant am Eingang seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verkündet.

    Aber freilich, der absolut freie Wille ist noch immer nicht der absolut gute Wille. Ohne den moralischen Imperativ des Gewissens würde der Wille schließlich doch schwankenden Motiven preisgegeben sein, wenn nicht als Ersatz das alte sokratische Motiv der dauernden Befriedigung zu Hilfe käme, das, hedonistisch und intellektualistisch zugleich, auch den Pragmatismus wieder in die Bahnen des Utilitarismus einlenken läßt, den er nur – das bleibt sein unbestreitbares Verdienst – von der Verbindung mit der materialistischen Glückseligkeitsmoral zwar nicht prinzipiell, dies schließt sein absoluter Voluntarismus aus, aber mindestens potentiell gelöst hat. Doch hier greift zugleich eine andere geistige Strömung in die pragmatische Denkweise ein, die in dem gleichen Voluntarismus ihre Quelle hat. Es ist die Skepsis, die in der besonderen Form, in der sie der Pragmatismus aufnimmt, vornehmlich in der modernen Mathematik und Naturwissenschaft ihre Ausbildung gefunden und hier bereits ihre Verwandtschaft mit dem pragmatischen Gedanken der freien Wahl bekundet hat. Wie der ethische Pragmatismus den absoluten Indeterminismus aus der Kantischen Ethik herübernimmt, aber das absolute Sittengesetz verschwinden läßt, so hat die naturwissenschaftliche Skepsis die alten Axiome der Geometrie und Mechanik im wesentlichen beibehalten, aber aus objektiven Normen, die sie in der Naturphilosophie Newtons gewesen waren, in heuristische Hypothesen verwandelt, die an sich durch beliebige andere ersetzt werden könnten, sich jedoch bis dahin als solche bewährt haben, die am einfachsten zu befriedigenden und praktisch brauchbaren Ergebnissen führen. Es sind die zwei Motive der vollkommenen Willkür der zu irgendwelchen Zwecken gemachten Annahmen und der mit intellektueller Befriedigung gepaarten praktischen Brauchbarkeit, die den skeptischen Empirismus, wie er in etwas abweichenden Gestaltungen von Ernst Mach und H. Poincaré vertreten wird, mit dem Pragmatismus verbinden. Höchstens darin variieren diese Richtungen, daß der naturwissenschaftliche Skeptizismus das intellektuell Mögliche, der Pragmatismus das praktisch Brauchbare bei seiner Feststellung des Wahrheitsbegriffs mehr betont. Wahr ist jede Voraussetzung, mit der wir besser operieren oder die wir leichter verifizieren können als jede andere. Von diesem praktischen Standpunkte aus braucht man sogar vor einer doppelten Wahrheit nicht zurückzuschrecken. Wenn für die Wissenschaft der Determinismus und für die Moral der Indeterminismus ein Postulat ist, so sollen wir, sagt Schiller, ruhig als Naturforscher Deterministen und als Moralisten Indeterministen sein und darauf vertrauen, daß dieser Widerspruch irgendwie seine Lösung finden werde, wenn wir auch vorläufig nicht einsehen, wie es geschehen kann 2). In dieser starken Betonung der praktischen Brauchbarkeit verrät sich deutlich die utilitarische Beimischung zur pragmatischen Skepsis. Doch auch damit sind noch nicht alle Ingredienzien der pragmatischen Denkrichtung erschöpft. Der Pragmatiker verwirft das Absolute, in welcher Gestalt es sich bieten mag, und so auch eine absolute Skepsis, die als solche das Gemüt unbefriedigt läßt; und er verwirft nicht minder den dogmatischen Utilitarismus, der nach seinem aus möglicher Weise vergänglichen Kulturbedingungen heraus konstruierten Begriff allgemeiner Wohlfahrt die Welt reformieren möchte. Gegen diese wie gegen jede theoretische Einseitigkeit schützt ihn sein auf das Praktische gerichteter Voluntarismus. Er läßt dem Individuum die Wahl zum Glauben, wo ihm das Wissen versagt ist, und er eröffnet ihm die Aussicht auf eine bessere Zukunft, wo die Güter der Gegenwart, denen der Utilitarier seine Wertmaße entnimmt, das individuelle Glücksbedürfnis unbefriedigt lassen. So bekennt sich der Pragmatismus zu einem unumschränkten Individualismus: jeder ist der Schöpfer seiner eigenen Ideale, niemand hat das Recht, ihn in dieser freien Wahl zu beschränken; und indem sich die Wahl der Ideale naturgemäß vor allem auf die Gebiete des Glaubens und Hoffens erstreckt, in die keine anderen Schranken herüberreichen als solche, die der Wille sich selbst zieht, sind es die religiösen Überzeugungen, in denen sich diese Freiheit des Willens vornehmlich betätigt. Der Wille, der sich auf die Erkenntnis richtet, ist an den Zwang der Tatsachen, der moralische Wille an das Zusammenleben mit anderen Menschen, der Wille zum Glauben ist nur an sich selbst, an das Bedürfnis des eigenen Gemüts gebunden. Hier waltet er vollkommen frei. Mag mein Glaube einem anderen absurd erscheinen, solange er nur mich selber befriedigt, leistet er, was ich von ihm verlange: er beruhigt das Gemüt, tröstet im Leid und erlöst vom Übel. So führt der schrankenlose Wille zu glauben schließlich zur Mystik, und so bewähren sich auch hier Individualismus und Skeptizismus vereint als nächste Verwandte dieser Mystik. Der christliche Anachoret wie der indische Büßer suchen die Einsamkeit, um nur sich selber zu leben, und der Skeptiker Pyrrho, vor dessen Zweifel nichts bestehen blieb, war Oberpriester des Apoll. Doch die Mystik des modernen Philosophen kann nicht ganz ohne Wissenschaft auskommen. So erbaut er sich denn aus allen den Elementen, die aus der umgebenden Kultur und aus eigenem Bedürfnis ihm zufließen, eine eigenartige religiöse Metaphysik.

            2) Schiller, Studies in Humanism, p. 368.

2. Die pragmatische Religionsphilosophie.

    Man kann den Pragmatismus nicht verstehen, wenn man nicht vor allem seine Religionsphilosophie in Betracht zieht. In Wissenschaftslehre und Moral bleibt er an äußere Einflüsse gebunden. Durch sie prävaliert in jener der skeptische, in dieser der utilitarische Zug zu sehr, als daß die pragmatische Denkweise ihren Voluntarismus und Individualismus und ihren aus diesen geborenen Mystizismus voll entfalten könnte. Das ist erst in der Religionsphilosophie möglich, die darum den originalsten Teil dieser Philosophie überhaupt bildet, wie denn auch wohl die religiösen Motive diejenigen sind, von denen sie vornehmlich ausgegangen ist. Als die hauptsächlichste Darstellung pragmatischer Religionsphilosophie pflegt man James’ "Varieties of Religious Experience" von 1902 zu betrachten. Doch ist dies nur in bedingter Weise zutreffend. Erstens darf man dabei immerhin die sonstige pragmatische Literatur, namentlich auch die hierher gehörigen Schriften von James selbst nicht unbeachtet lassen; und zweitens muß man die eigentümliche Kompositionsweise jenes Werkes im Auge behalten. Die "Varieties of Religious Experience" bestehen nämlich ihrem Hauptinhalte nach aus Beispielen. Diese Beispiele treten aber erst durch das Schlußkapitel, in welchem James seine religionsphilosophischen Thesen in Kürze zusammenfaßt, in die richtige Beleuchtung. Daß der deutsche Übersetzer des Werkes gerade diesen Schluß hinweggelassen hat, ist daher sicherlich zu mißbilligen, und seine Bemerkung, er habe ihn unterdrückt, teils weil er ihn für seine Person vollständig ablehnen müsse, teils weil er mit dem übrigen Inhalt in keinem Zusammenhang stehe, enthält in ihrem ersten Teil keine genügende Motivierung und ist in ihrem zweiten Teil unrichtig 3). Der Herausgeber, der einen Autor einem Publikum zugänglich machen will, sollte nicht den Teil der Arbeit unterdrücken, auf den dieser selbst den Hauptwert legt. Daß das bei dem Werke von James zutrifft, daß er seine Zeugnisse über religiöse Bekehrung, Ekstase, Erlösung usw. nur gesammelt hat, um damit eine Grundlage für seine in jenem Nachwort enthaltene Religionsmetaphysik zu schaffen, daran kann aber nicht der leiseste Zweifel obwalten. Und darum ist nun auch die Behauptung, jene Schlußbetrachtung stehe in keinem direkten Zusammenhang mit dem Vorangegangenen, nicht zutreffend. Vielmehr erkennt man erst aus ihr den Zweck, zu dem James seine Beispiele gesammelt hat.

3) W. James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, deutsch von G. Wobbermin, 1907. Vorwort S. XVIII.
 
 
    Nun sind diese Beispiele überaus mannigfacher Art. Sie umfassen die Inspirations-, Erweckungs- und Bekehrungsliteratur der verschiedensten Zeiten und Völker. Philo von Alexandrien, der heilige Angustin, die heilige Therese, die jüdische Prophetie, die Bekenntnisse Tolstois und anderer aus dem weltlichen Leben zu schwärmerischer Religiosität erweckter Persönlichkeiten, endlich die reiche Bekehrungsliteratur, von den gewöhnlichen Formen pietistischer Frömmigkeit bis zu den pathologischen Ekstatikern und Visionären, – alles das bildet ein überaus buntes Beobachtungsmaterial, dem jedoch trotz dieser Mannigfaltigkeit gewisse Züge gemeinsam sind. James sucht sie, ehe er zur Nutzanwendung auf seine pragmatische Religionsphilosophie übergeht, in einigen Leitsätzen seiner "Varieties" zusammenzufassen. Das erste der hier aufgeführten Merkmale des religiösen Zustandes ist freilich so wenig ein neues, daß man es wohl in den Kreisen aller Religionsphilosophen, soweit sie nicht überhaupt die Religion negieren, als ein unbedingt zugestandenes ansehen kann: dem religiösen Bewußtsein ist die sichtbare Welt ein Teil einer unsichtbaren höheren Welt. Von da an aber trennen sich die Wege, und hier sind nun für den pragmatischen Religionsphilosophen nur noch jene Zeugnisse gesteigerten religiösen Gefühls entscheidend, die in die Sphäre des ungewöhnlichen, des Abnormen und eben damit des Mystischen hineinreichen. Das Gefühl jener Einheit mit einer übersinnlichen Welt ist dem von der religiösen Ekstase Erfaßten nicht bloß ein subjektiver, sondern ein objektiver Vorgang, den er als ein Einströmen geistiger Kraft in die Erscheinungswelt und in sich selber empfindet. Er schöpft daraus ein Gefühl der Geborgenheit und des inneren Friedens, das ihn tröstet, erhebt und mit Liebe gegen seine Mitmenschen erfüllt. Doch die Art, wie diese Gefühle erlebt werden, ist keine völlig übereinstimmende, sondern sie ist vom Temperament des einzelnen, zum Teil wohl auch von seinen äußeren Erlebnissen abhängig. In solchen Bedingungen wurzeln die Gegensätze des Pessimisten und des Optimisten und in diesen, auf das religiöse Gebiet übertragen, die des Erlösungsbedürftigen und des religiös Beruhigten, der keiner Erlösung bedarf, weil er sich bereits erlöst fühlt. Diese Gegensätze der düsteren und der freudigen Stimmung sind zu tief in den persönlichen Eigenschaften des Menschen begründet, als daß sie sich völlig aufheben ließen. Immerhin stimmen sie in jenen allgemeinen Merkmalen des religiösen Zustandes überein. Nur treten diese bei dem Pessimisten mehr in der Form eines Strebens, bei dem Optimisten in der eines Gefühls der Befriedigung hervor. Erweisen sich so diese Richtungen besonders da, wo sie sich auf religiösem Boden bewegen, doch nur als verschiedene, von dem individuellen Temperament abhängige Abwandlungen einer im Grunde übereinstimmenden Gemütslage, so kann aber auch, wie James meint, eben darum auf dem gleichen Boden eine Ausgleichung zwischen beiden gefunden werden. Sie besteht darin, daß man das Streben des religiösen Melancholikers nach Erlösung mit dem befriedigten Gottvertrauen des bereits in einer höheren Welt schwelgenden Ekstatikers verbindet. So fließen Pessimismus und Optimismus in einem "Meliorismus" zusammen, der die Einseitigkeit beider vermeidet und ihren wahren Kern bewahrt, während er zugleich eine nützliche Richtschnur für unser praktisches Handeln abgibt. Eben damit erweist er sich aber als brauchbare Grundlage einer pragmatischen Religion.

    Noch nach einer anderen Seite sollen jedoch die Vorbilder, die wir der Literatur der Bekehrten und der Erweckten entnehmen, für die Befriedigung unseres eigenen religiösen Bedürfnisses maßgebend sein. Mögen sich die Vorstellungen solcher religiöser Persönlichkeiten immerhin nach den Bekenntnissen der Gemeinschaften richten, denen sie angehören, jenes Streben nach Erlösung und jene beseligte Ruhe in dem Gefühl der Einheit mit Gott sind Regungen, die von allen Glaubensbekenntnissen und allem äußeren Kirchentum unabhängig sind. Hier ist der Einzelne überall selbst der Schöpfer seiner Religion, und nirgends entscheidet wie hier der freie Wille allein über Wert und Unwert der Dinge. Zwar wird auch im Gebiet des theoretischen Erkennens das, was wir Wahrheit nennen, schließlich durch uns bestimmt, und die Wahrheit überhaupt ist nichts, was unabhängig von uns existiert, sondern ein Produkt, das wir immer wieder neu erzeugen und fortwährend durch unser eigenes Eingreifen verändern. Gleichwohl ist unser Wille hier durch die Tatsachen beschränkt, die sich seinen Befehlen nicht fügen. Jede sogenannte theoretische Wahrheit resultiert daher gewissermaßen aus einem Kompromiß zwischen unserem Willen und dem Zwang der Tatsachen. Hier, im Gebiet der Religion, gibt es keine Tatsachen außer denen, die wir in uns selber vorfinden. Hier schaltet der Wille schrankenlos. Wir glauben was wir glauben wollen, und niemand kann uns von Rechts wegen zwingen, etwas anderes zu glauben. Auch hier kann nun freilich der Glaube an die religiöse Wahrheit mit der Wirklichkeit in Konflikt geraten. Aber diese Wirklichkeit übt nicht, wie die äußere Natur, einen unentrinnbaren Zwang auf uns aus, sondern es ist nur der Widerspruch mit der "statutarischen Religion", wie es Kant nennen würde, dem wir begegnen. Hier hat, wie die Pragmatisten, auf die psychologischen Quellen dieses Konfliktes zurückgehend, behaupten, die Intelligenz den Willen unter ihr Joch gebeugt. Ihn aus diesem Joch zu befreien, darin sieht daher die pragmatische Religion ihre vornehmste Aufgabe, und der Kampf gegen das Dogma bildet so einen wichtigen Einschlag der pragmatischen Philosophie. Ja, soweit diese Philosophie überhaupt positive Sätze über das Wesen der Religion aufgestellt hat – es kann sich für sie ihrer ganzen Stellung nach nur um unmaßgebliche Meinungen handeln – sind diese viel weniger durch die Eigenschaften der religiösen Erweckungs- und Bekehrungserscheinungen, als vielmehr durch den Gegensatz bestimmt, in dem sich ihr radikaler Voluntarismus gegen den im Dogma niedergelegten Intellektualismus befindet. Dieser Intellektualismus ist, wie Schiller unermüdlich ausführt, das große Erbübel, mit dem die griechische Philosophie das Christentum belastet hat. Wollen wir uns nicht mit dem bloßen Nacherleben der religiösen Erhebung begnügen, sondern uns eine eigene Religionsanschauung bilden, so müssen daher die Sätze, die wir aufstellen, genau das Gegenteil von dem enthalten, was das Dogma als kirchliches Bekenntnis festgelegt, und was dann, zwar im Kampf mit dem Dogma, aber doch mit den gleichen Waffen des Intellektualismus und darum in verwandtem Geiste die Philosophie weitergebildet hat. Das ist der Leitfaden, dem die Pragmatisten in dem Labyrinth möglicher Glaubensüberzeugungen folgen. Aus der griechischen Philosophie ist das Dogma der Trinität und sind die anderen Dogmen, die dem religiösen Erlebnis gegenüber gar keinen Wert haben, in das Christentum verpflanzt worden. So wurde dieses Erlebnis selbst durch seine Intellektualisierung getrübt und geschwächt. In der Philosophie ist dann wieder im Kampf gegen die Zersplitterung des dogmatischen Gottesbegriffs die Einheitsidee ausgebildet worden, die schließlich in Spinozas Einheit von Gott und Welt kulminierte. Damit war die Unterwerfung des religiösen Affekts unter die Intelligenz besiegelt und mit ihr die Religion selber vernichtet. Wollen wir diese zurückgewinnen, so müssen wir daher zum Anfang zurückkehren, dem Intellektualismus des Dogmas den Voluntarismus des Glaubens, dem Monismus der Philosophie einen Pluralismus entgegenstellen. Dieser läßt alle Wege offen, die zum Heil führen können, er erkennt die Übel der Welt an, erblickt aber zugleich in ihnen den Antrieb, eine Verbesserung anzustreben. So wird er zum Moralismus und Meliorismus. Als ein Förderungsmittel auf diesem Wege hat sich die "Hypothese von Gott" erwiesen, wie dies durch die Erfahrung aller Zeiten an den typischen Formen religiöser Zustände bestätigt wird. Welche Religion die letzte sei, wissen wir nicht; aber jene Zustände der Erweckten und Bekehrten sind für sie jedenfalls insofern vorbildlich, als sie mit der höchsten Befriedigung verbunden sind, einem Ziel, dem wir in der Religion wie in allen Dingen zustreben. Diese Befriedigung gewährt weder der Materialismus noch der absolute Idealismus mit seinen rein intellektuellen Idealen der Unendlichkeit, Vollkommenheit, Allmacht u. dgl. Der pragmatische Theismus läßt daher alles das beiseite. Ihm ist der Glaube an Gott lediglich ein Hilfsmittel zur Befriedigung des Gemüts, ganz gleichgültig ob Gott vollkommen oder unvollkommen, endlich oder unendlich gedacht wird. Hier erinnern wir uns, daß James seine Vorlesungen über den Pragmatismus dem Gedächtnisse John Stuart Mills gewidmet hat. Dieser ist in der Tat ein Führer des Pragmatismus auch auf dem Wege zur pluralistischen und melioristischen Religionsphilosophie. In seinen "Essays on Religion" entscheidet Mill das alte Dilemma zwischen der Vollkommenheit Gottes und der Unvollkommenheit der Welt dahin, daß er die Annahme einer Machtbeschränkung der Gottheit für die wahrscheinlichste Hypothese und überdies für die befriedigendste erklärt, weil sie es gestatte, den Menschen als den Mitarbeiter Gottes zu denken 4). Was Mill als möglich bezeichnet, das erhebt der Pragmatismus zum eigentlichen Wesen der Religion, und die Gottesidee selbst rückt ihm damit in gleiche Linie mit jenen heuristischen Hypothesen der Naturwissenschaft, deren Wert darin besteht, daß sie nützlich sind.

            4) John Stuart Mill, Über Religion, deutsch von E. Lehmann, 1895, S, 154 ff.

    Sicherlich würde man sich jedoch mit der so aus Mystik und Skepsis, Individualismus und Voluntarismus, Positivismus und Relativismus gemischten Eigenart dieser pragmatischen Religionsphilosophie allzu billig abfinden, wollte man sie bloß als ein echtes Produkt amerikanischen Geistes betrachten, wie er uns auch sonst in Wissenschaft und Leben, nur freilich selten in so vollständiger Durchdringung aller dieser Elemente, entgegentritt. Dazu trägt diese Religionsphilosophie allzu sehr das Gepräge des modernen Geistes überhaupt an sich. Auch hier ist es freilich von Interesse zu sehen, wie bei allen diesen Bestrebungen einer Versöhnung des modernen Geistes mit den Bedürfnissen des Glaubens die Anschauungen von dem Mutterboden bestimmt werden, aus dem sie emporgewachsen sind. Der katholische Modernismus will der Kirche treu bleiben, obgleich er nicht bloß der Naturwissenschaft, sondern auch der historischen Forschung und der Kritik der Tradition völlige Freiheit gewahrt sehen möchte, und er findet die Lösung dieses Dilemmas darin, daß er Glauben und Wissen streng auseinander hält: dort herrscht die Mystik, die bei dem überlieferten Glauben die sicherste Zuflucht findet, hier der Rationalismus, der der Mystik nichts anhaben kann, weil er völlig andere Wege geht 5). Aber den Modernisten macht es wenig Sorge, was die Philosophie zu ihren Bestrebungen sagt. Sie huldigen der historischen Kritik, und die Historiker haben sich von jeher mit den Forderungen des Glaubens ohne Schwierigkeit abzufinden gewußt. Anders der Pragmatismus. Er ist auch darin ein echt protestantisches Erzeugnis, daß er ohne irgend eine Anlehnung an philosophische Überzeugungen nicht auskommt. Solche Anlehnung zu finden, dazu verhilft ihm aber dasselbe Prinzip protestantischer Gewissensfreiheit, das ihn Dogma und Tradition ruhig als überlebte Reliquien in den Winkel stellen läßt. Es waren andere Zeiten, da noch ein Pierre Bayle oder auch ein Hamann und Jacobi zwischen Glauben und Wissen die Wahl stellen konnten. Entspricht die bisherige Philosophie unseren Bedürfnissen nicht, sagt der moderne Pragmatist, so werfen wir sie weg, wie der Naturforscher, der eine unbrauchbare Hypothese verwirft, und machen uns eine neue, die uns besser befriedigt. Hatte Heinrich Jacobi dereinst den Spinozismus für die allein konsequente Philosophie erklärt, so stimmt der Pragmatiker darin dem Glaubensphilosophen zu. Aber er ergibt sich darum noch nicht der reinen Mystik, sondern sucht das irrationale Moment der Religion rational zu machen, indem er, dem alten Zug der Affinität zwischen Mystik und Skepsis nachgebend, den in der Schule der modernen Naturwissenschaft erzielten Gewinn empiristischer Skepsis mit dem aus dem praktischen Leben geschöpften Utilitarismus zusammennimmt. Gott ist eine Hypothese, die beste, die bis jetzt für das Rätsel des Daseins aufgefunden ist, weil sie die befriedigendste ist. Dies zeigt das Beispiel der in dem Gefühl der Einheit mit Gott schwelgenden Mystiker und Ekstatiker. Diese Hypothese ist vielleicht, wie jede andere, der Verbesserung fähig. Aber vorläufig ist sie die nützlichste, indem sie dem moralischen "Meliorismus" dient. Wie im übrigen unsere Gedanken von einer übersinnlichen Welt zu gestalten seien, ist aber lediglich von unserem eigenen Willen abhängig. Hier hat daher das überlieferte Dogma ebensowenig wie die aus dem Kampf mit demselben hervorgegangene rationalistische Philosophie mitzureden. Vielmehr ist die letztere nur insofern für den Pragmatismus maßgebend, als dieser dem Intellektualismus, der jene beherrscht, am wirksamsten begegnet, wenn seine Hypothesen über das Göttliche durch den Gegensatz zu ihm bestimmt werden.

            5) Der italienische Modernismus (Reformkatholische Schriften Nr. II) 1908, S. 105.

    Bei diesem Punkte tritt die merkwürdige Mischung kontrastierender Elemente, aus denen sich diese Philosophie zusammensetzt, in überraschender Klarheit zutage. Indem sie eine Anschauung zu entwickeln sucht, die in allen Stücken ein Gegenbild zu dem überlieferten Intellektualismus in Religion und Philosophie sein soll, begibt sie sich selbst erst recht in die Dienste des Intellekts. Hier herrscht nicht mehr der freie Wille, auf den der Pragmatismus pocht, sondern das Produkt solcher im Kontrast zu dem Gegebenen sich bewegenden Überlegungen kann naturgemäß selbst nur ein Produkt trockener Verstandeslogik sein. Und wenn die alte Dogmatik und Philosophie an den Intellekt immerhin nur Zumutungen gestellt hatten, die nebenbei der Mystik freien Raum ließen, da Gedanken wie die der Trinität auf der einen oder der Einheit von Gott und Welt auf der andern Seite selbst schon einen mystischen, die religiöse Phantasie erregenden Zug in sich trugen, so ist der "Pluralismus" der Pragmatisten eigentlich nur noch rationalistisch und in seiner Phantasielosigkeit zugleich echt utilitarisch. Die Ekstatiker und die Bekehrten gelten ihm bloß als lebendige Zeugen dafür, daß die Religion den Wert höchster Befriedigung unserer auf die Zukunft gerichteten Bedürfnisse in sich schließt, und daß das Gefühl dieser Befriedigung weder an Dogmen noch an philosophische Überzeugungen gebunden ist. Dieses mystische Motiv verflacht sich aber in dem Versuch, ihm philosophisch beizukommen, zu dem moralistischen Begriff des "Meliorismus", der vielleicht dem Namen nach neu, in Wirklichkeit aber das Glaubensbekenntnis aller Utilitarier von Francis Bacon an bis auf Bentham und Mill gewesen ist. So fließen in dieser Philosophie nahezu alle Motive des modernen Denkens zusammen, und in dieser Mischung aus zum Teil sehr heterogenen Elementen wird man dem Pragmatismus eine gewisse Originalität nicht absprechen können. Wenn man aber den Maßstab neuer originaler Gedanken an ihn anlegt, so wird ihn auch der nachsichtigste Beurteiler den Religionsphilosophen, die uns das Jahrhundert nach Kant in Schleiermacher, Hegel und selbst in Schelling geschenkt hat, nicht entfernt an die Seite stellen können. Mit dem Utilitarismus, dem er doch am nächsten verwandt ist, und mit dem skeptischen Empirismus der Naturwissenschaft teilt er, mit jenem das Motiv der befriedigenden, mit diesem das der einfachsten oder, was damit zusammenfällt, der bequemsten Lösung der Probleme. Daß die spekulative Arbeit, die der Pragmatismus bei seiner Vertiefung in dieses letzte aller philosophischen Probleme geleistet hat, sonderlich groß gewesen sei, wird man in der Tat schwerlich behaupten können.

3. Die Rezeption des Pragmatismus durch die deutsche Theologie.

    So ist es denn eine um so auffallendere Erscheinung, daß die deutsche Theologie der pragmatischen Religionsphilosophie ein sehr warmes Interesse entgegengebracht hat, und daß diese Insonderheit in den Kreisen der sogenannten liberalen, kritischen Theologie zum Teil mit großem Beifall aufgenommen worden ist. Während bei aller Hochachtung, die man vor William James als einem geistvollen und feinsinnigen Psychologen hegt, der von ihm vertretene Pragmatismus in der deutschen Philosophie, soweit er überhaupt Beachtung fand, einer kühl ablehnenden Haltung begegnete, sehen manche Theologen in ihm eine epochemachende wissenschaftliche Leistung 6). Allerdings ist es nicht die pragmatische Philosophie selbst, auf die man sich hier beruft, nicht einmal die pragmatische Religionspsychologie, sondern was allein in Betracht kommt, das sind jene Zeugnisse religiöser Erweckung, die James teils der Geschichte und den Bekenntnissen bekannter historischer Persönlichkeiten, teils den von einigen amerikanischen Autoren, wie Starbuck und Leuba, veranstalteten Sammlungen moderner Beispiele, besonders aus der Bekehrungsliteratur, entnommen hat. Daß diese Zeugnisse den Namen einer Religionspsychologie in keiner Weise verdienen, und daß sie ebensowenig der Psychologie von William James zugerechnet werden können, habe ich schon oben erwähnt. Der von den deutschen Theologen rezipierte Teil der "Varieties" besteht in einer Reihe von Zeugnissen für eine Lehre, die man zur Seite liegen läßt, als wenn sie nicht existierte, und ohne die doch die Zeugnisse selbst einen wesentlich veränderten Sinn annehmen. James konnte sich in dem jene Beispiele verwertenden Schlußabschnitt seines Werkes kurz fassen, da dieses sichtlich nur dazu dienen sollte, die eingehendere Darstellung der pragmatischen Religionsphilosophie vorzubereiten. Er sah in ihnen nebenbei Studien zur Psychologie des religiösen Lebens. Das sind schließlich die Flugschriften der Heilsarmee und andere ähnliche Produkte der religiösen Literatur ebenfalls, die man deshalb noch nicht als Grundlagen einer Religionspsychologie ansehen wird. Das hat auch William James schwerlich getan. Als Psychologe ist er reiner, ja, wie er selbst meint, radikaler Empirist; und in dem Vorwort zu seinen Pragmatismusvorlesungen bemerkt er ausdrücklich, sein Pragmatismus habe mit seinem Empirismus gar nichts zu tun 7). Zwar hat James gelegentlich auch in seiner Psychologie paradoxe Behauptungen nicht gescheut, die übrigens manchmal nur den überkommenen Vorurteilen gegenüber paradox klangen. Aber er ist sich stets dessen bewußt geblieben, daß die allgemeinen Regeln wissenschaftlicher Methodik auch für die Psychologie gelten. Die Zeugnisse der Erweckten und Bekehrten waren ihm keine Psychologie, sondern lediglich eine Grundlage seiner eigenen pragmatischen Philosophie. Die deutschen Theologen, die den Pragmatismus gleichzeitig rezipierten und von ihm abstrahierten, haben daher selbst erst jene Materialiensammlung zu einer Religionspsychologie gemacht, was sie weder ihrem Ursprung nach sein sollte, noch ihrem Wesen nach sein kann. Da sich William James als Psychologe jedenfalls dessen bewußt war, daß die allgemeinen Normen wissenschaftlicher Kritik und Interpretation auch für die Psychologie gelten, so würde er sicherlich zugestanden haben, daß man nicht beliebige Erscheinungen, die den verschiedensten Zeiten und Zuständen angehören, wegen gewisser Ähnlichkeiten vereinigen darf, ohne nach den Bedingungen zu fragen, unter denen sie entstanden sind; und er würde wohl noch weniger behauptet haben, das normale Leben müsse aus den abnormen, aus den an die Grenze des Pathologischen heranreichenden oder sie überschreitenden Fällen religiöser Ekstase psychologisch interpretiert werden. Methodologisch steht in der Tat dies Verfahren auf gleicher Linie mit der Ableitung der Religion aus Suggestion und Hypnose oder aus den Erscheinungen des Traums usw., kurz mit sogenannten religionspsychologischen Hypothesen, die gelegentlich ebenfalls schon da waren, oder auch mit dem Unternehmen, die normale Sinneswahrnehmung aus den Sinnestäuschungen und den normalen Vorstellungsverlauf aus der Ideenflucht Geisteskranker zu erklären. Auch kann man nicht sagen, daß die Ergebnisse, die James diesen Beispielen entnimmt, mehr enthalten als eine zusammenfassende Schilderung der Zustände selbst. Die Gefühle des Geborgenseins, des Aufquellens neuer Lebenskraft, des Überströmens der Gottheit in die eigene Seele, – diese Gefühle konnte James für seinen pragmatistischen Zweck, zu zeigen, daß das Streben nach Befriedigung und das Gefühl gewonnener Befriedigung den religiösen Zustand kennzeichne, sehr gut verwerten; niemand kann aber darin den Versuch einer psychologischen Analyse der religiösen Erscheinungen sehen, und James selbst würde es schwerlich getan haben. Ihm sind diese Beispiele lediglich Belege dafür, daß die tiefe Beruhigung des Gemüts und das Streben nach ihr, nicht aber irgend ein Dogma oder eine auf Grund des Dogmas oder im Gegensatz zu ihm erdachte spekulative Idee das Wesen der Religion ist. Wenn übrigens jemand aus dem Dogma selbst oder aus einer absoluten Philosophie diesen Trost und diese Beruhigung schöpfen sollte, so widerspricht er ihm nicht. Denn er sieht in den Zuständen religiöser Ekstase nicht Zeugnisse für die Wahrheit dieser religiösen Erlebnisse selbst, sondern nur Zeugnisse dafür, daß die "Hypothese eines Gottes" jene tröstende und beruhigende Wirkung ausübt, nach der der Mensch in der Religion begehrt. Wie jedoch die Wahrheit überhaupt nach der Anschauung der Pragmatisten kein Ding ist, dessen Existenz sich objektiv nachweisen ließe, sondern nur in derjenigen subjektiven Überzeugung besteht, die am meisten befriedigt, so ist auch auf religiösem Gebiet keine Hypothese zu verwerfen, die sich in diesem Sinne als nützlich erweist.

            6) Ernst Troeltsch, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft, 1905, S. 14.

            7) W. James, Der Pragmatismus, deutsch von W. Jerusalem, 1908, Vorwort S. XI.

    Danach ist es vollkommen klar, daß die Bedeutung der von James mitgeteilten Beispiele religiöser Erhebung eine total andere wird, wenn man diesen pragmatischen Zweck beiseite läßt. Dann bleibt nur zweierlei möglich. Entweder sieht man in ihnen das was die großen Ekstatiker der Geschichte zumeist selbst in ihnen gesehen haben, und was die religiösen Ekstatiker des Irrenhauses noch heute in ihnen zu sehen pflegen: wirkliche Offenbarungen der Gottheit. Oder man betrachtet sie, wie die Amerikaner es teilweise getan haben, als Beiträge zur Psychologie und namentlich zur Psychopathologie des religiösen Bewußtseins. Insofern jede Erscheinung des Seelenlebens einen psychologischen Wert hat, kann ein solcher natürlich auch diesen Beobachtungen nicht abgesprochen werden. Aber zu einer wirklichen Religionspsychologie fehlt diesem Material so gut wie alles. Weder sind die Entstehungsbedingungen der Erscheinungen festgestellt, noch sind diese selbst einer psychologischen Analyse unterworfen, da dies eben wiederum nur auf Grund der Ermittelung jener Bedingungen und der Beziehungen zu anderen seelischen Vorgängen möglich wäre. Unter den Bedingungen stehen in diesem Fall natürlich die historischen obenan. So wenig man eine historische Tatsache verstehen kann, ohne auf das was ihr vorangegangen ist Rücksicht zu nehmen, gerade so wenig kann selbstverständlich die Psychologie dieser Erscheinungen von den Zeitbedingungen abstrahieren. Die Bekenntnisse Augustins, die Geschichte der heiligen Therese und die melancholischen oder ekstatischen Zustände eines an Mania religiosa leidenden Zeitgenossen bilden ein Material, auf das sich eine Psychologie der Religion ebensowenig wie eine Geschichte derselben gründen läßt 8). Denn so gern ich den Wert eines rein deskriptiven Verfahrens gerade in der Psychologie anerkenne, wenn er auch niemals eine abschließende Bedeutung haben kann, von einer Bedingung wird auch sie sich nicht emanzipieren dürfen. Sie besteht darin, daß man bei der Betrachtung eines bestimmten Lebensgebietes nicht eine einzelne Erscheinungsgruppe herausgreift und alle andern vernachlässigt. Gewiß, die religiöse Ekstase ist ein wichtiges Ingredienz in der Entwicklung der Religionen. Aber es wäre schlimm, wenn sie das einzige wäre. Hier stand das Werk von James, das eine Begründung seiner pragmatischen Religionsphilosophie geben sollte, auf einem anderen Boden. Während der Psychologe verpflichtet ist, die Tatsachen möglichst allseitig und ohne vorgefaßte Tendenz zu prüfen, machte James von vornherein kein Hehl daraus, daß seine Sammlung dazu dienen sollte, den pragmatischen Gedanken an Beispielen höchster religiöser Befriedigung zu erläutern. Das war sein ausgesprochener Zweck, und von seinem Standpunkt aus hatte er ein Recht zu einer solchen tendenziösen Auslese. Das wird aber anders, wenn man, wie es die deutsche pragmatische Theologie tut, die Hauptsache, nämlich den pragmatischen Gedanken selbst, hinwegläßt und die Beispielsammlung, die zu seiner Veranschaulichung dienen sollte, zu einer selbständigen Religionspsychologie machen will. Dann ist eine solche Psychologie natürlich im höchsten Grade lückenhaft, weil sie nur eine beschränkte Erscheinungsgruppe berücksichtigt, und sie fordert den Verdacht heraus, daß auch sie aus einer der Psychologie an sich fremden Tendenz diese Auslese vornimmt, wenn sie auch dies nicht so offen ausspricht, wie es die amerikanischen Pragmatisten getan haben.

8) Allerdings herrscht über diesen Punkt unter den theologischen Vertretern der pragmatischen Religionspsy-chologie keine volle Übereinstimmung. Während Troeltsch die Rücksicht auf die geschichtlichen Bedingungen der Erscheinungen ganz aus der Religionspsychologie ausscheiden will, möchte Wobbermin diese Bedingungen, soweit sie in das Gebiet der Kulturreligionen gehören, berücksichtigt wissen (Der gegenwärtige Stand der Religionspsychologie, Zeitschrift für angew. Psychologie, Bd. 3, 1910, S. 518 ff.). Warum er gerade da Halt macht, wo uns die jüngsten Jahre mit die reichsten Materialien zur Erkenntnis der Anfänge des religiösen Lebens gebracht haben, bei den primitiven Kultur- und Halbkulturvölkern, ist freilich schwer einzusehen.
 
 
    In der Tat lassen die theologischen Pragmatiker über diese Tendenz keinen Zweifel aufkommen. In dem Vorwort zu seiner Ausgabe des Werkes von James rühmt Wobbermin die "Beachtung und Bewertung der Mystik für die Religion" als das Hauptverdienst dieses Werkes, und er weist auf Schleiermacher und Albrecht Ritschl hin, die im Gegensatze zu den allzu formal erkenntnistheoretischen Bestrebungen der heutigen Theologie diesem irrationalen Faktor der unmittelbaren religiösen Erlebnisse Rechnung getragen, und von denen namentlich Schleiermacher den Anschauungen von James nahegestanden habe 9). Dabei dürfte nun freilich die letztere Äußerung höchstens dann einigermaßen berechtigt sein, wenn man sich die Religionsphilosophie, auf der bei jenen Theologen die Wertschätzung der Mystik ruht, hinwegdenkt, und wenn man insbesondere Schleiermachers Stellung zur Religion selbst mit seiner Religionsphilosophie verwechselt, die bei diesem größten der theologischen Philosophen des vorigen Jahrhunderts viel zu sehr metaphysisch und dialektisch fundiert ist, als daß er der sogenannten "religionspsychologischen Methode", d. h. einer bunt zusammengewürfelten Statistik ekstatischer Zustände, irgend einen Wert beigemessen hätte. Anders wieder sucht Troeltsch den utilitarischen Pragmatismus des amerikanischen Psychologen in einen theologischen Pragmatismus umzuprägen, der spekulativen Bedürfnissen einigermaßen gerecht werde10). Er konstruiert sich seine eigene Religionsphilosophie, der er den Namen einer religiösen "Erkenntnistheorie" gibt, und die eine folgerichtige Verbesserung der Kantischen Erkenntnislehre sein soll. Zu ihr hätte angeblich Kant selbst notwendigerweise gelangen müssen, wenn er nicht, durch seinen Moralismus verführt, sich selbst untreu geworden wäre. Die Tatsachen der Religionspsychologie, wie sie in den Berichten der amerikanischen Pragmatisten niedergelegt seien, können aber den Bedürfnissen der Religionswissenschaft nicht genügen. Diese habe das Irrationale des religiösen Erlebnisses zu rationalisieren. Die Religionslehre Kants müsse daher an der Hand der pragmatischen Religionspsychologie reformiert, und diese hinwiederum auf der Grundlage der Kantischen Erkenntnistheorie rationalisiert werden. Dazu genügt freilich nicht Kants wirkliche Erkenntnistheorie, sondern diese soll zweckentsprechend ergänzt, und es soll vor allem die moralistische Begründung der Religion aus ihr entfernt werden. Da entsteht nun allerdings die Frage, was, nachdem ihr diese Grundlage genommen, von Kants Religionslehre überhaupt noch übrig bleibt. Aber die am Pragmatismus orientierte Theologie weiß Rat zu schaffen. Die von Kant so vorsichtig aufgerichteten Schranken zwischen theoretischer und praktischer Vernunft müssen fallen. Die Notwendigkeit einer Beschränkung der apriorischen Grundbegriffe, die zu erweisen Kant in der transzendentalen Analytik die ganze Kraft seines philosophischen Tiefsinns aufgewandt hatte, existiert nicht. Vielmehr sind diese apriorischen Begriffe stetem Wachsen unterworfen. Die Kantischen Kategorien selbst, insbesondere die Kausalität, sind von der empirischen auf die intelligible Welt zu übertragen. Mit andern Worten: das wesentlichste Stück dieser neuesten Fortbildung der kritischen Philosophie soll darin bestehen, daß man sie zum vorkritischen Standpunkt zurückbildet, wie ihn Kant noch in der Dissertation von 1770 eingenommen hatte, ehe er in seinem Meisterwerk kritischer Dialektik, in dem "Schematismus des reinen Verstandes", die Grundlage seiner Erkenntnislehre gewonnen hatte. Kein fest geschlossenes System soll aber überhaupt dieser angeblich nach Kant orientierte Rationalismus sein, sondern er hält fortwährend offene Stellen bereit, um das Irrationale, so weit erforderlich, zu rationalisieren, und auszuscheiden, was sich nicht rationalisieren läßt: den Schein und den Irrtum. Gleichwohl gehört dieses Antirationale mit zu dem Wirklichen. Darum kann der Rationalismus der Erkenntnistheorie immer nur ein bedingter und begrenzter sein, und darum soll nun das von James nachgewiesene Gefühl der unmittelbaren Präsenz des Göttlichen der Ausgangspunkt für die Nachweisung des Apriori der Religion werden. Denn jene Rationalisierung vollzieht sich wirklich, wenn das Irrationale und psychologisch Tatsächliche zugleich als ein allgemeingültiger Bestandteil des religiösen Erlebnisses erkannt wird. Dabei bleibe freilich immer irrationalen Erfahrungen der Zugang frei. Doch sei auch bei ihnen zu erwarten, daß sie auf demselben Wege rationalisiert werden, soweit sie nicht als Irrtum und Lüge auszuscheiden sind.

            9) Wobbermin, Vorwort zu James, Die religiöse Erfahrung, S. VIII, XVII.

            10) Ernst Troeltsch, Psychologie und Erkenntnistheorien in der Religionswissenschaft, S. 30 ff.

    Wie sich dieser Entwurf einer "rationalen Erkenntnistheorie" eine Berichtigung der Kantischen Vernunftkritik nennen kann, ist einigermaßen dunkel. Doch mag darüber hinweggegangen werden. Seit Albrecht Rischl gilt es ja in gewissen theologischen Kreisen als eine Pflicht, unter Kantischer Flagge zu segeln, auch wenn dem alten Kant selbst die Ware, die man auf diesem Wege importiert, zweifellos als Konterbande erscheinen würde; und nichts ist gewisser, als daß Kant das Unternehmen, das Irrationale durch eine ins Unbestimmte verlaufende Erweiterung der Erkenntnisnormen zu rationalisieren, als eine Umdeutung abgelehnt haben würde, die einer Umkehrung ins Gegenteil so nahe wie möglich kommt, und hinter der alle ihm bis dahin widerfahrenen Umdeutungen und Mißdeutungen verschwinden. Geht man aber diesem Plan einer angeblichen Rationalisierung des Irrationalen auf den Grund, so ist der Gedanke, mit dem er operiert, schließlich ein erstaunlich einfacher. Die durch und durch irrationale, also unvernünftige psychologische Erfahrung soll rational und womöglich sogar zur apriorischen Vernunftwahrheit werden, wenn sie sich hinreichend oft wiederholt und wenn sie sich nicht allzu deutlich als Schein oder Täuschung erwiesen hat. Nun ist oben bemerkt worden: die Offenbarungen der religiösen Ekstase lassen, wenn man sie, wie der Pragmatismus tut, religionsphilosophisch verwerten will, eine doppelte Anwendung zu: man kann entweder in ihnen Äußerungen höchster Befriedigung sehen, die als solche ein Zeugnis dafür ablegen, daß das religiöse Bedürfnis selbst in dem Streben nach dieser Befriedigung besteht. In diesem Sinne stützt sich auf sie der utilitarische Pragmatismus der amerikanischen und englischen Pragmatisten. Oder man kann in ihnen wirkliche Offenbarungen der Gottheit sehen. Als solche gelten sie zumeist den Ekstatikern selbst, und als solche gelten sie offenbar auch den Pragmatisten unter den deutschen Theologen. Si duo faciunt idem non est idem. Auf die Idee der Inspiration verzichten möchte man nicht. Zu dem Gedanken eines Herder und Hegel, daß die Menschheitsgeschichte die Offenbarung der Gottheit sei, vermag sich eine durchweg individualistisch und in ihrer Weise nicht minder utilitaristisch wie der eigentliche Pragmatismus gesinnte Theologie nicht zu entschließen. Da muß denn eine rationalistische Erkenntnistheorie aushelfen. Das Rationale setzt das Irrationale voraus, und tatsächlich irrational ist ja die Inspiration des Ekstatikers zweifelsohne. Doch das Irrationale fordert hinwiederum das Rationale. Darum nichts leichter als das Irrationale rational zu machen. Zugleich bietet sich dabei Gelegenheit, alles, was an den Bekenntnissen der Ekstatiker etwa allzu kompromittierend sein möchte, als nicht rationalisierbar zur Seite zu schieben. Ich ziehe meinerseits ein offenes und auf die Beihilfe eines angeblichen Kantianismus verzichtendes Bekenntnis vor. Wenn jemand erklärt: mir ist der Glaube an eine persönliche Offenbarung Gottes ein religiöses Bedürfnis, auf das ich nicht verzichten kann, so bin ich der letzte, der einen Stein gegen ihn aufheben möchte. Selbst der alten "Gnosis", die ja in dem Gebrauch des Begriffs der Erkenntnis eine entfernte Verwandtschaft mit diesem Neokantianismus hat, würde ich vor einer solchen angeblichen Rationalisierung des Irrationalen den Vorzug geben.

4. Die genetische Religionspsychologie.

    Der Psychologie im ganzen wie in ihren einzelnen, gewissen Problemen von hervorragendem Interesse zugewandten Gebieten stehen bekanntlich zwei Wege der Untersuchung offen: sie kann entweder eine einfache, aber möglichst genaue und unbefangene Beschreibung der Tatsachen zu geben suchen; oder sie kann sofort auf eine Analyse und Interpretation der Erscheinungen ausgehen. Welchen dieser Wege sie aber auch einschlagen mag, zwei Forderungen muß sie sich unter allen Umständen fügen. Sie hat erstens jede Tendenz fernzuhalten, die der Feststellung der Tatsachen und einer aus ihnen selbst geschöpften Interpretation fremd ist. Und sie darf zweitens als empirische Wissenschaft nicht über die ihr gestellte Aufgabe einer Untersuchung der Bewußtseinsvorgänge, sowohl der individuellen wie der im gemeinschaftlichen Leben der Menschen hervortretenden, hinausgehen. Sie darf sich daher ebensowenig von irgend welchen metaphysischen oder praktischen Motiven her in der Unbefangenheit ihrer Forschung beirren lassen, wie sie sich ihrerseits weiter, als es durch ihre Aufgabe geboten ist, in die Probleme anderer Disziplinen einzumengen hat. Eine Religionspsychologie, die sich an die Stelle einer Religionsphilosophie setzen möchte, überschreitet nicht minder die ihr gesteckten Grenzen wie eine Psychologie der Denkprozesse, die sich für Erkenntnistheorie ausgibt. In beiden Fällen kann die Psychologie zweifellos den betreffenden philosophischen Disziplinen nützliche Dienste leisten, und diese selbst sollten niemals versäumen, sich des vollen Tatsachenmaterials zu versichern, das ihnen jene zur Verfügung stellt. Aber weiter reicht das Recht der Psychologie nicht. Sie hat ebensowenig über den Wert logischer oder ethischer Normen wie über das metaphysische Wesen der Religion zu entscheiden. Denn sie ist ebensowenig eine Norm- oder selbst im eigentlichen Sinne eine Wertwissenschaft, wie sie ein Teil der Metaphysik ist.

    Dennoch fehlt es an Übergriffen von beiden Seiten noch heute nicht. Namentlich aber pflegt das, was man gelegentlich Religionspsychologie nennt, gleichzeitig an einer unberechtigten Beschränkung des Gesichtskreises und an einer Einmengung von Tendenzen zu leiden, die außerhalb der Aufgabe der Psychologie liegen. Beides hängt natürlich zusammen: man zieht ausschließlich ein bestimmtes, mehr oder minder begrenztes Gebiet von Erscheinungen herbei, weil diese der Tendenz, in der man die Psychologie verwerten will, am besten zu entsprechen scheinen. In dieser Beziehung ist offenbar der theologische Pragmatismus mit seinem Versuch, die Religion aus der Ekstase begreifen zu wollen, ebenso einseitig, wie es die bekannten mythologischen Hypothesen sind, die alle Mythologie und womöglich auch alle Religion aus dem Seelenglauben oder aus dem Eindruck des Gewitters, der Sonne, des Mondes und seines Gestaltenwechsels ableiten wollen. Auch die Religion ist nicht aus einer Wurzel emporgewachsen, sondern aus vielen. Wer ihren Ursprung psychologisch erforschen will, muß in die Gesamtheit der Erscheinungen des religiösen Lebens einzudringen und die Beziehungen der einzelnen Faktoren zueinander sowie zu anderen Lebensgebieten zu erforschen suchen. Vision und Ekstase mögen demjenigen genügen, der mit der Absicht an sie herantritt, in ihr zu finden, was er von vornherein in sie gelegt hat. Für den Psychologen steht ein solches, noch dazu willkürlich die heterogensten Erscheinungen zusammenwerfendes Verfahren auf gleicher Linie mit dem jener Religionsinterpreten der Aufklärungszeit, die, weil es unter den Medizinmännern der Naturvölker so gut wie unter buddhistischen und christlichen Heiligen gelegentlich Betrüger gegeben hat, die Religion mit dem "Systeme de la Nature" auf eine Priestererfindung zurückführten. Die Beachtung der Bedingungen, unter denen die Erscheinungen stehen, wie sie von jeder wissenschaftlichen und darum auch von jeder psychologischen Untersuchung gefordert ist, verlangt in diesem Fall vor allen Dingen die Berücksichtigung der geistigen Umgebung, in der die Erscheinungen entstanden sind. Individuelle Bekenntnisse und Erlebnisse gewinnen daher für die Religionspsychologie, genau wie für die Religionsgeschichte, erst eine Bedeutung, wenn man das religiöse Medium, dem sie angehören, mit in Rücksicht zieht. Losgelöst von diesem haben sie psychologisch nur einen geringen Wert. Denn die Religion ist so gut wie die Sprache und die Sitte eine Schöpfung der menschlichen Gemeinschaft, und sie hängt mit beiden auf das engste zusammen. Wie die Sprache die religiösen Überlieferungen lebendig erhält, aus denen der Einzelne seine ihm eigene Religiosität gewinnt, so erhebt sich aus der Sitte ein besonders wert gehaltener und geschützter Kreis religiöser Bräuche im Kultus, der wiederum für die individuelle Religionsübung maßgebend ist. Darum ist die Religionspsychologie in erster Linie ein Teil der Völkerpsychologie, und wie das Individuum überhaupt die Gemeinschaft voraussetzt, so können hier wie überall irgend welche Erscheinungen nur auf dieser Grundlage psychologisch gewürdigt werden. Die Völkerpsychologie ihrerseits setzt aber wieder die Geschichte der Erscheinungen des gemeinsamen Lebens voraus. Die Behauptung, die Religionspsychologie habe mit der Religionsgeschichte überhaupt nichts zu tun, steht daher methodologisch auf gleicher Linie mit der andern, die psychologischen Probleme der Sprache, der Kunst, der Sitte seien unabhängig von der geschichtlichen Entwicklung dieser Erscheinungen. Unter der Geschichte muß endlich diese im weitesten Sinne des Wortes verstanden werden. Die Behauptung, die Religionen der primitiven Völker seien als eine Art "Prähistorie" auszuschließen, entbehrt daher jeder Berechtigung, vollends wenn man die reichen Aufschlüsse bedenkt, die wir der neueren Völkerkunde über den Ursprung und die primitiveren Stufen der wichtigsten, in höheren und vergeistigten Formen noch im Christentum fortlebenden Religionsanschauungen und Kulte verdanken.

    Setzt die psychologische Beurteilung religiöser Erscheinungen deren geschichtliche Würdigung als eine unerläßliche Bedingung voraus, so kann es demnach nur eine genetische Religionspsychologie geben. Diese kann aber zwei verschiedene Wege einschlagen. Sie kann entweder die religiöse Entwicklung in eine Anzahl einander folgender Stufen und ihre Übergänge in aufsteigender Richtung zu ordnen, also gewissermaßen einzelne Querschnitte durch den gesamten organischen Zusammenhang der Religionsgeschichte zu legen suchen. Oder sie kann, um bei dem Bilde zu bleiben, Längsschnitte ziehen. indem sie je eine Gruppe bedeutsamer Erscheinungen von den noch erreichbaren Anfängen an in ihren Wandlungen verfolgt. So unentbehrlich die erste dieser Methoden ist, so muß sie doch durch die zweite teils vorbereitet, teils ergänzt werden. Für sich allein angewandt gerät sie leicht in Gefahr, Zusammengehöriges zu trennen oder Verschiedenartiges zusammenzuwerfen, wenn sie nicht gar in das alte Übel schematischer Klassifikationen zurückfällt, vorgefaßte Begriffe zu Einteilungsgründen zu nehmen. Demgegenüber bietet die Verfolgung einer einzelnen Erscheinung den Vorteil, daß sie wenigstens für das beschränkte Gebiet einen wirklichen genetischen Zusammenhang vor Augen führt und dadurch eigentlich erst die Einordnung in die Gesamtentwicklung ermöglicht. Sie fördert damit zugleich eine fruchtbare, in die Beziehungen der einzelnen Erscheinungsgruppen tiefer eindringende Anwendung der synthetischen Methode. Die psychologische Entwicklung des Gebets, des Opfers, der Reinigungszeremonien, der Bestattungsbräuche, die Entstehung der so mannigfach ineinander fließenden Vorstellungen des Tabu, des Unreinen, des Heiligen, die Assimilation des Traumes und der ekstatischen Erregungszustände durch die religiösen Affekte, endlich die in wechselnder Weise eingreifenden Beziehungen zur Tierwelt, zu den mythologischen Vorstellungen über Himmel und Erde, – in allem dem und vielem andern bietet sich eine Fülle nebeneinander herlaufender und ineinander eingreifender Erscheinungen, die man zusammennehmen muß, um der Frage näher treten zu können, wie Religion im objektiven Sinne entsteht, und welches die subjektiven Motive sind, auf die ihre objektiven Schöpfungen zurückschließen lassen. Eine einzelne Erscheinung herausgegriffen kann wohl dem Tendenzphilosophen genügen, dem es nicht um die Erkenntnis der Religion selbst, sondern um die Geltendmachung seiner vorgefaßten Ansicht zu tun ist, Religionspsychologie läßt sich eine solche willkürlich isolierende Betrachtung nicht nennen. Auch kann man dem nicht mit der Ausrede begegnen, alles das, was hier als Material der Religionspsychologie in Anspruch genommen wird, gehöre in das Gebiet der Religionsgeschichte, denn die Psychologie habe es überall nur mit den Tatsachen des individuellen Bewußtseins zu tun, die im letzten Grunde von allen historischen Bedingungen unabhängig seien. Erstens ist die letztere Behauptung überhaupt falsch, weil sie eine Allgemeingültigkeit, die für die letzten Elemente des Bewußtseins, die Empfindungen, Gefühle, einfachen Affekte, zutrifft, auf seelische Erzeugnisse ausdehnt, die, so weit unsere Erfahrung reicht, überhaupt nur unter bestimmten geschichtlichen Vorbedingungen entstehen. Zweitens ist es nicht richtig, daß die Religionsgeschichte an und für sich schon über die Probleme Aufschluß gebe, die hier einer genetischen Religionspsychologie gestellt sind. Der Geschichte liegt es ob, die einzelnen Religionen in ihrer Bedeutung für die geistige Entwicklung der Völker zu schildern. Aber nachzuweisen, wie sich die Erscheinungen zu sonstigen teils in den nämlichen teils in ganz verschiedenen und voneinander unabhängigen Gebieten vorkommenden religiösen Ideen verhalten, und wie die religiösen Motive überhaupt mit den allgemeinen seelischen Anlagen des Menschen zusammenhängen, das ist nicht im mindesten Aufgabe der Religionsgeschichte, sondern der Psychologie. Darum kann es keine Religionspsychologie geben ohne Religionsgeschichte. Dagegen kann jene zwar dieser nützliche Dienste leisten. Doch kann die Geschichte immer noch wichtige Aufgaben erfüllen, auch wenn sie auf diese Dienste verzichtet, wie das Beispiel zahlreicher Religionshistoriker beweist, die sich entweder psychologischer Motivierung enthalten, oder denen die Psychologie als ein Gebiet gilt, auf dem die sonstigen Regeln wissenschaftlicher Methodik nicht mitzureden haben, sondern jeder frei seinen eigenen Einfällen und Wünschen zu folgen befugt ist.

    Auf diese Weise steht die Religionspsychologie mitten inne zwischen der allgemeinen Psychologie und der Religionsgeschichte. Sie hat die religiösen Erscheinungen, die die Religionsgeschichte bietet, mit den allgemeinen Motiven menschlichen Denkens und Handelns in Beziehung zu setzen sowie nicht minder die Quellen neuer Motive nachzuweisen, die aus den völkerpsychologischen Entwicklungen der Religion dem individuellen Bewußtsein zufließen. Aber so wichtig an sich und so bedeutsam für die philosophische Würdigung der Religion die Religionspsychologie ist: sie umfaßt weder das Ganze der Religionswissenschaft, noch fällt ihre Aufgabe mit derjenigen der Religionsphilosophie zusammen. Gewiß hat sie auch für diese einen nicht zu unterschätzenden Wert. Liegt ein solcher doch schon darin, daß sie eine bei aller Verschiedenheit im einzelnen doch in den wesentlichsten Zügen übereinstimmende Entwicklung des religiösen Bewußtseins nachweist. Doch bei allem dem ist die Aufgabe beider eine grundsätzlich verschiedene. Die Religionspsychologie hat der tatsächlichen Entwicklung der Erscheinungen des religiösen Bewußtseins nachzugehen: in diesem Sinne ist sie eine rein empirische Wissenschaft, die ebensowenig wie die individuelle Psychologie oder die Naturlehre andere Werturteile als solche auszusprechen hat, die sich auf die Bedeutung der einzelnen Tatsachen für den allgemeinen Zusammenhang beziehen. Die Religionsphilosophie dagegen hat in erster Linie die Frage zu beantworten, inwiefern jene in aller Religion hervortretende Idee einer übersinnlichen Welt, die als Ergänzung der sinnlichen gedacht wird, philosophisch begründet ist. Hier kann die Religionspsychologie zwar die tatsächlichen Formen der Entwicklung dieser Idee nachweisen. Die Frage nach ihrer allgemeingültigen Bedeutung und nach dem Wert, der, an dieser gemessen, ihren einzelnen geschichtlichen Entwicklungen zukommt, gehört vor das Forum der Religionsphilosophie. In dieser Aufgabe liegt aber zugleich eingeschlossen, daß die Religionsphilosophie selbst dem Gebiet der Metaphysik zufällt. Denn wenn irgend etwas, so ist die Frage der Existenz oder Nichtexistenz einer übersinnlichen Welt eine metaphysische Frage, und es kann nur zu einer schädlichen Vermengung und Verwirrung der Gebiete führen, wenn sie für die Erkenntnistheorie in Anspruch genommen wird. Unleugbar wirkt hier Kants Kritik der Metaphysik seiner Zeit noch immer nach. So berechtigt jedoch diese Kritik dem metaphysischen Dogmatismus gegenüber sein mochte, so war es ein durch nichts gerechtfertigter Schritt, wenn Kant nun die Unterordnung der Metaphysik unter die Erkenntniskritik in dem Sinne verwirklichen wollte, daß er jene in seiner Metaphysik der Natur und der Sitten als ein Übergangsgebiet zwischen den kritischen Teilen der Philosophie und ihren Anwendungen behandelte. Es konnte nicht ausbleiben, daß dem späteren Kantianismus der Inhalt dieser Metaphysik doch allzu dürftig schien, um ihm den stolzen Namen der einstigen Herrscherin unter den philosophischen Wissenschaften beizulegen. So kam es, daß man meist die Kantische Verurteilung der ontologischen Metaphysik auf die Metaphysik überhaupt ausdehnte und diese nun als eine Pseudowissenschaft vergangener Zeiten gänzlich beiseite schob. Die nächsten spekulativen Philosophen nach Kant, Fichte und Hegel standen freilich dieser Frage gleichgültig gegenüber. Galt ihnen doch die kritische Philosophie selbst nur als eine unvollkommene Vorstufe ihres eigenen Strebens, von der Einheit des ihre Systeme beherrschenden Gedankens aus alle philosophischen Probleme zu lösen. Als man dann aber wieder zu Kant zurückkehrte, da hatte sich der Kritizismus mit einer an dem Widerstreit gegen eben diese spekulativen Systeme erwachten Skepsis vermischt. Und nun kam jene Blütezeit der Erkenntnistheorie, wo diese zum erstenmal auf ihren heutigen Namen getauft und, soweit nicht die Ethik noch bescheidene Rechte geltend machte, als das Haupt- wenn nicht einzig berechtigte Gebiet der Philosophie betrachtet wurde. Der Metaphysik, so urteilte man, hatte schon Kant das Lebenslicht ausgeblasen, die Naturphilosophie hatte Schelling durch seine phantastischen Absurditäten wider Willen zum Tode befördert, die Ethik war von dem Utilitarismus in Beschlag genommen, zu dessen Betrieb man keine Philosophie brauchte, die Psychologie endlich ging ihre eigenen Wege, – was blieb da dem Philosophen zu tun übrig als Erkenntnistheorie zu treiben. Um diese kümmerte man sich zwar in den einzelnen Wissenschaften nicht sonderlich, aber sie galt für harmlos genug, um von dieser Seite nicht beanstandet zu werden. Das ist die Entwicklungsphase moderner Philosophie, in der der Gedanke einer "religiösen Erkenntnistheorie" Wurzel geschlagen hat, einer Erkenntnistheorie, die zwar mit ganz anderen Mitteln arbeiten und nach ganz anderen Prinzipien verfahren soll als die gewöhnliche, aber doch nahe genug bei dieser angesiedelt ist, um mit ihr unter dem gleichen schützenden Dach zu wohnen. Und auf dem Boden dieses theologischen Anbaus der Kantischen Erkenntnislehre ist endlich auch das Programm der "Rationalisierung des Irrationalen" entstanden. Wie es auszuführen sei, erfährt man zwar nicht. Immerhin deutet der Ausdruck an, daß die Religion etwas Irrationales ist, oder, wie es Leibniz, den Gegensatz in eine Ergänzung umwandelnd, zutreffender genannt hat, ein Übervernünftiges. Niemand wird dem Glauben diesen Zug zur Mystik streitig machen. Aber in die Philosophie gehört er nicht. Das hat auch der einzige hervorragende unter den Theologen des vergangenen Jahrhunderts, der zugleich Philosoph gewesen ist, erkannt: Schleiermacher, so nahe verwandt er sich persönlich der religiösen Mystik fühlen mochte. Er sah ein, damals fast der einzige unter seinen Zeitgenossen, daß Kant zwar die alte rationalistische Metaphysik zerstört, daß er aber damit die metaphysischen Probleme nicht aus der Welt geschafft hatte. Sie sind geblieben und werden bleiben, weil sie unvermeidliche Probleme der menschlichen Vernunft sind, mag auch der Weg, den heute die Metaphysik zu gehen hat, ein anderer sein als ehedem. Nicht aus der Höhe transzendenter Begriffe hat sie herabzusteigen in das weite Feld der Erfahrung, sondern aus diesem sich zu erheben, um, wo sie an den Grenzen der Erfahrung angelangt ist, zu fragen, wie über diese hinaus nach den dem Denken immanenten Gesetzen der Verbindung des Gegebenen eine letzte Einheit des Denkens und Seins zu gewinnen sei. Auch für eine solche Metaphysik ist die kritische Arbeit Kants keine verlorene. Denn so wenig es zulässig ist, die metaphysischen Probleme in die Erkenntnistheorie zu verweisen, so notwendig ist es, daß nicht, wie im alten Rationalismus, die Erkenntnislehre der Metaphysik Untertan sei, sondern daß umgekehrt die Prinzipien der Erkenntnis die Grundlagen der Metaphysik sind 11).

11) Zu dieser Forderung vgl. mein System der Philosophie I4, S. 339 ff. Dazu Kleine Schriften, Bd. l, S. 132 ff., 214 ff.