III.

Der Einzelne und die Volksgemeinschaft.

1. Der lndividualismus in Sage und Geschichte.

    Es entspricht einer natürlichen, innerhalb einer naiven Weltbetrachtung allverbreiteten Neigung, zu jeder irgendwie wertvollen oder bedeutsamen Schöpfung ein Individuum als Urheber hinzuzudenken. Schon der primitive Mythus schafft so die Gestalt eines "Heilbringers", dem die Entzündung des Feuers, die Erfindung der Waffen und Werkzeuge und die Einführung der Zauberzeremonien verdankt werden. Nicht minder bindet die Sage die dem Gedächtnis der Völker tiefer sich einprägenden Ereignisse an die Namen einzelner Helden. Noch den Chinesen galten in einer merkwürdigen Verschmelzung dieser Gestalten des mythischen Heilbringers und des sagenhaften Helden ihre einstigen Herrscher als die Schöpfer ihrer uralten Kultur: der eine sollte die Sprache, der andere die Schrift, ein dritter den Ackerbau eingeführt haben. Eine spätere Zeit läßt an die Stelle dieser sagenhaften Individuen ein bevorzugtes Volk treten. So ist die biblische Schöpfungs- und Urvätersage wohl ebensosehr einem frühen Erklärungsbedürfnis entgegengekommen, wie sie selbst wieder solchen Vorstellungen eine Hauptstütze bot. In der Wissenschaft der Gegenwart hat zwar das israelitische Volk diese Rolle ausgespielt; aber in anderen altorientalischen Völkern hat es bis in unsere Tage herab in dem Anspruch auf die Stellung eines Urvolkes der Kultur seine Nachfolger gefunden. Nur waltet dabei der Unterschied, zum Nachteil dieser Sukzedenten, daß keiner von ihnen so unumstritten wie dereinst das Volk des alten Bundes seine Herrschaft behaupten konnte. Auch hat der Ursitz der Kultur meist nach der Studienrichtung der beteiligten Gelehrten oder, wo eine einzelne Anschauung eine größere Verbreitung gewann, nach dem Gebiet gewechselt, das jeweils die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt auf sich lenkte. So haben nacheinander Indien, Ägypten, Babylonien als Ursprungsstätten der höchsten geistigen Güter der Menschheit gegolten und gelten zum Teil noch heute als solche. Nicht als ob dieser Wandel der Anschauungen nicht in den fortschreitenden Ergebnissen der Altertumsstudien sein gutes Recht fände. Aber die Neigung, einen solchen Ursitz jeweils zum Ausgangspunkt aller Religion, Kunst und Wissenschaft überhaupt zu machen, ist doch wohl zugleich ein unbewußter Rückfall in den Gedankenkreis der alten biblischen Ursprungsvorstellungen, und konsequent zu Ende gedacht führt er unvermeidlich zur unhaltbarsten aller Theorien über die Anfänge der Kultur, zur Erfindungstheorie.

    Wenn nun eine so exakte, überall von kritischer Reflexion durchsetzte Wissenschaft wie die Philologie in diesem Punkte mit den naiven Anschauungen über die Urheimat der Kultur wieder zusammentrifft, so lassen sich wohl zwei Motive anführen, die diese merkwürdige Erscheinung verständlich machen. Erstens ist es ein unabänderliches Gesetz intellektueller Betätigung, daß jede Verengerung des Gesichtskreises eine Konzentration des Interesses mit sich führt, die für die Wertbeurteilung der Gegenstände entscheidend ist. In dieser Konzentration des Interesses begegnen sich aber Anfang und Ende: die naive Anschauung, die die individuelle Erfahrung in die Geschichte der Menschheit hinüberträgt, und die zur höchsten Vollkommenheit zugespitzte Einzelforschung. Für diese gilt das Sprichwort: man sieht den Wald vor Bäumen nicht, bisweilen in der veränderten Fassung: in den Anblick des einzelnen Baumes versunken, sieht man überhaupt nicht, daß es einen Wald gibt. Ein zweiter Grund liegt zweifellos in der von selbst zur strengen Konzentration auf das Einzelne erziehenden Methode philologischer Arbeit. Hier hat die große und für das Ganze der Wissenschaft überaus segensreiche Stärkung philologischer Forschungsweise zur notwendigen Kehrseite eine gewisse Einseitigkeit, die ihr vielleicht mehr als anderen Forschungsrichtungen anhaftet. In der kritischen Analyse und Interpretation geistiger Erzeugnisse sieht sie ihre nächste Aufgabe und hier sucht sie wieder das Einzelne scharf zu sondern und in seiner Eigenart zu begreifen. Unvermeidlich überträgt sich aber diese Arbeitsmethode auf den Gegenstand und bestimmt dessen Wertbeurteilung. Und dieser vom Standpunkt der speziellen Arbeitsaufgaben bis zu einem gewissen Grade berechtigten Beschränkung schiebt sich nun leicht noch ein weiteres Motiv unter, dem freilich keine Berechtigung mehr zuerkannt werden darf: den Objekten selbst, die den Inhalt der Untersuchung bilden, wird ein reflexionsmäßiger Ursprung zugeschrieben, der sie möglichst nahe an die Tätigkeit des untersuchenden Philologen heranrückt. Und wie die letztere eine Anspannung individueller geistiger Kräfte voraussetzt, so ist man schließlich geneigt, jedes Erzeugnis menschlichen Geistes, wie und wo es uns begegnen mag, auf einen individuellen Urheber oder höchstens auf eine beschränkte Anzahl von Individuen zurückzuführen. Zu dem, fast könnte man sagen, berufsmäßigen Intellektualismus des Philologen gesellt sich so als dessen natürliche Ergänzung ein meistens stark ausgeprägter Individualismus, der durch die Beschäftigung mit geistigen Schöpfungen, die wirklich individuellen Ursprungs sind, noch mehr befestigt wird. In einem Artikel über Methodenlehre definiert z. B. Hermann Paul folgendermaßen das Wesen der philologischen Interpretation: "wir verstehen einen Text, wenn in unserer Seele eben die Vorstellungsassoziationen erzeugt werden, welche der Urheber desselben in der Seele derjenigen hat hervorrufen wollen, für die es bestimmt ist" 1). Diese Definition mag für Lehrschriften irgendwelcher Art zutreffend sein. Daß der lyrische oder selbst der epische und dramatische Dichter in den Augenblicken seines begeisterten Schaffens an keine absichtliche Wirkung auf andere gedacht hat, wird wohl jeder zugeben, der sich psychologisch einigermaßen in die Seele eines solchen Dichters zu versetzen weiß. Doch dem philologischen Interpreten wandelt sich eben hier unversehens die intellektuelle Arbeit, die er zum Verständnis einer geistigen Schöpfung aufwenden muß, in eine ihr entsprechende intellektuelle Arbeit des Schaffenden selbst um. Dem liegt aber offenbar die Vorstellung zugrunde, jede derartige Schöpfung, und demnach wohl überhaupt jede sprachliche Äußerung sei ein Produkt der Reflexion über eine bei dem Hörer oder Leser hervorzubringende Wirkung. Was gelegentlich ein Nebenmotiv sein kann, wird zum Hauptmotiv. Und da jenes auf das Verständnis eines wirklich anwesenden oder hinzugedachten Hörers gerichtete Nebenmotiv immer ein Erzeugnis individueller Reflexion ist, so sieht man, wie nahe sich diese rationalistische Auffassung der Entstehung geistiger Schöpfungen mit einer individualistischen Deutung berührt, in der diese äußerste Zuspitzung wissenschaftlicher Reflexion wieder in die Bahnen der naiven Heilbringerlegenden einlenkt. Denn naturgemäß greift nun diese individualistische Betrachtungsweise von den Literaturerzeugnissen auch auf andere geistige Schöpfungen, wie Sagen, Mythen, Sitten, und schließlich auf die Sprache selbst über, die ja das Organ aller dieser Bildungen ist.

            1) Paul, Grundriß der germanischen Philologie, I2, S. 178.

    So geschieht es denn auch ganz im Sinne jener Definition der philologischen Interpretation, wenn Paul zu jeder Neubildung wie Veränderung in der Sprache ein Individuum oder eine beschränkte Anzahl von Individuen als Urheber annimmt, dagegen der Gemeinschaft als solcher bei diesem Vorgang schlechthin gar keine Bedeutung zugesteht. Er hat diese Anschauung bereits in der 1880 erschienenen ersten Auflage seines Werkes über die "Prinzipien der Sprachgeschichte" vertreten, und in der 1909 ausgegebenen vierten Auflage hat er sie unverändert festgehalten. Auch erfreut er sich darin, wie mannigfache Äußerungen zeigen, der Zustimmung eines Kreises angesehener Sprachforscher.

    Nun ist es jedenfalls nicht gerechtfertigt, diese Frage, wie es freilich gerade im Interesse einer philologischen Beschränkung der Probleme nicht selten geschieht, lediglich vom Standpunkt der Sprach- oder gar der Literaturgeschichte aus zu behandeln. Diese Objekte der Philologie stehen, so wichtig sie an sich sein mögen, immerhin nicht allein da. Auch Sage und Mythus ergänzen infolge ihrer schwierigen Abgrenzung von den Formen der literarischen Überlieferung nur unzureichend das Bild, das man sich auf Grund philologischer Forschung von der Entstehung geistiger Schöpfungen zu machen pflegt. Was vielmehr überall da, wo das eigentliche Gemeinschaftsproblem in Frage kommt, in den Vordergrund gestellt werden muß, das ist das gemeinschaftliche Leben selbst und seine Formen: das Recht, der Staat und die ihn vorbereitenden oder ergänzenden Gesellschaftsverbände. Und hier liegt der Punkt, wo, historisch betrachtet, der Intellektualismus und Individualismus der heutigen Philologie unverkennbar einen Rückfall in die Anschauungen der rationalistischen Aufklärung bedeutet. Wie jede derartige Rückwärtsbewegung in der Kulturgeschichte bedeutet er freilich zugleich eine Wiederholung auf einer höheren Stufe intellektueller Entwicklung. Wo das Zeitalter der Aufklärung unter dem Banne einer konstruktiven Metaphysik handelte, da unterliegt der heutige Philologe der Herrschaft der Arbeitsteilung; So besteht ihm die Sprache aus einer Summe individueller Wortbildungen, der Mythus aus erzählenden Dichtungen unbekannter Urheber. Wie sich diese Schöpfungen zu anderen Gemeinschaftserzeugnissen, zu Sitte, Recht, Staat verhalten, das ist eine Frage, um die sich der Linguist und der Mythologe als solche wenig kümmern. Darin war der Standpunkt der Aufklärungsphilosophen ein anderer gewesen. Ihnen stand der einsam lebende Naturmensch im Anfang aller Dinge. Er hatte, als er zum erstenmal mit seinesgleichen zusammentraf, die Sprache erfunden. Er gründete zu seinem eigenen Schutze durch Vertrag mit anderen, die von dem gleichen Bedürfnis geleitet waren, einen Staat und eine Rechtsordnung, und er stiftete zur Befestigung aller dieser Institutionen schließlich auch noch eine gemeinsame Gottesverehrung. Das sind die Ideen, wie sie am schärfsten der extreme Vertreter des egoistischen Rationalismus, Thomas Hobbes, ausgesprochen hat, die aber in einer durch die leise Beimengung sympathischer Gefühle gemilderten Form noch bei Rousseau und seinen Zeitgenossen wiederkehren.

2. Der Ursprung der Völkerpsychologie.

    Hier liegt nun der Punkt, wo die Romantik, in der Sprachwissenschaft durch Jakob Grimm, in der Rechtswissenschaft durch Savigny und Puchta vertreten, gegen den Individualismus der vorangegangenen Zeit den Gedanken ins Feld führt, daß das Volk, das Sprache, Sitte und Recht aus sich erzeuge, selbst eine Persönlichkeit, ein "historisches Individuum" sei. Und hier wurzelt zugleich jener Begriff des "Volksgeistes", der bei Hegel und der rechtshistorischen Schule dem überlieferten Begriff der individuellen Seele als seine Ergänzung und Vollendung gegenübertritt. Nicht ohne Absicht hatte vornehmlich Hegel in der Anwendung auf die menschliche Gemeinschaft das allgemeinere Wort Geist verwendet, das den Gedanken an die körperlichen Grundlagen des Seelenlebens zurücktreten ließ. Nicht als wenn hier nach seiner Meinung materielle Bedingungen überhaupt gefehlt hätten. Sind es doch, wie er deutlich ausspricht, die Individuen, die die Gemeinschaft, und demnach die Einzelseelen, die den Volksgeist zusammensetzen. Aber je weitere Kreise das geistige Leben zieht, um so mehr überragt, wie er meint, sein idealer Gehalt an Wert und bleibender Bedeutung jenes unentbehrliche materielle Substrat der Lebensvorgänge. Nicht im Sinne eines qualitativen Unterschieds, sondern eines veränderten Wertprädikats wird darum hier der Geist der Gesamtheit den Einzelseelen gegenübergestellt; und im gleichen Sinne bedienen sich die Vertreter der historischen Rechtsschule dieser Bezeichnung. Dabei blieben sie freilich in der Auffassung des Staates immer noch in die Schranken der alten Vertragstheorie gebannt, so daß bei ihnen die Idee des Volksgeistes um so mehr in ein mystisches Halbdunkel gehüllt war, als gerade das Recht vermöge der eminenten Bedeutung, die der einzelnen Rechtspersönlichkeit für die scharfe Ausprägung der juristischen Begriffe überhaupt zukommt, leicht dazu verführte, jenes Individuum höherer Stufe, das man sich als den Träger des Volksgeistes dachte, allzu nahe an das wirkliche Individuum heranzurücken. Diese Unsicherheit der Begriffe hat noch auf die Anfänge der neueren Völkerpsychologie herübergewirkt. Hier war Steinthal von der Hegelschen Philosophie und von den verwandten Ideen Wilhelm von Humboldts ausgegangen. Als er sich dann aber mit dem Herbartianer Lazarus verband, meinte er dem in der Philosophie erfahreneren Genossen das eigene Urteil unterordnen zu müssen. So kam es, daß der Hegelsche Gedanke des Volksgeistes mit dem Gewand einer ihm völlig inadäquaten Psychologie umkleidet wurde. Um eine brauchbare Völkerpsychologie zu schaffen, hätte es einer Umsetzung der Hegelschen Begriffsdialektik in eine empirische Psychologie der aktuellen seelischen Vorgänge bedurft. Doch die Herbartsche Seelenatomistik und der Hegelsche Volksgeist vertrugen sich wie Wasser und Feuer. Die individuelle Seelensubstanz in ihrer starren Abgeschlossenheit ließ auch nur für den Gedanken einer individuellen Psychologie Raum. Auf die Gemeinschaft konnte diese höchstens mit Hilfe einer zweifelhaften Analogie übertragen werden. Wie Herbart in seiner Mechanik der Vorstellungen das Seelenleben aus einem Spiel imaginärer Vorstellungskräfte ableitet, so konnte man sich allenfalls nach seinem Vorbild die Individuen einer Gemeinschaft als Analoga der Vorstellungen im Einzelbewußtsein denken 2).

2) Herbart, Über einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft, Werke, Bd. 9, S. 201 ff. (Ausg. Hartenstein).
 
 
    Im Sinne dieser zweifelhaften Analogie ließ sich dann auch von einer "Volksseele" reden – eine Ähnlichkeit, die freilich ebenso leer und äußerlich war wie die der Vorstellungen mit den Individuen einer menschlichen Gemeinschaft. So wird man denn wohl auch den tieferen Grund für die Erfolglosigkeit der Völkerpsychologie in ihrer ersten Gestalt in dieser Mischung unverträglicher Voraussetzungen erblicken dürfen. Ist doch Lazarus eigentlich nie über unausgeführte Zukunftsprogramme hinausgekommen, und Steinthal, als Gelehrter ungleich bedeutender und fruchtbarer als jener, blieb stets in individual-psychologischen Betrachtungen befangen, neben denen seine sprachwissenschaftlichen und mythologischen Studien beziehungslos einhergingen. Es ist ein Verdienst Hermann Pauls, diese innere Unmöglichkeit einer Verbindung Herbartscher Seelenmechanik mit der in der Philosophie der Romantik wurzelnden Idee des Volksgeistes und damit die notwendige Ergebnislosigkeit einer mit dieser Verbindung operierenden Völkerpsychologie erkannt zu haben. Selbst der Herbartschen Psychologie zugetan, ausgerüstet zugleich mit einer gründlichen Kenntnis der Sprachgeschichte, war er vor andern befähigt, die Unvereinbarkeit des von Lazarus und Steinthal vertretenen psychologischen Standpunktes mit dem Programm einer zukünftigen Völkerpsychologie zu durchschauen. So bildete die Kritik dieses Programms eine für jene Zeit wohlberechtigte Einführung in die erste 1880 erschienene Auflage seiner "Prinzipien der Sprachgeschichte". Paul hat nun aber diesen Standpunkt durch alle Auflagen seines Werkes festgehalten. Ein paar neu hinzukommende Anmerkungen bestätigen nur ausdrücklich, daß der Verfasser da stehen geblieben ist, wo er vor 30 Jahren stand. Sicherlich ist das sein gutes Recht. Doch es scheint mir, daß ihm dabei ein doppeltes Versehen begegnet ist: erstens ist in seinen Augen die heutige Völkerpsychologie noch immer mit der Lazarus-Steinthalschen identisch; und zweitens nimmt er an, die Herbartsche Psychologie sei im wesentlichen das letzte Wort, das die wissenschaftliche Psychologie überhaupt gesprochen habe. Ich leugne das eine wie das andere. Die Völkerpsychologie, die nicht nur von mir, sondern in einer Reihe einzelner Arbeiten von Ethnologen und Philologen, die ihre Aufmerksamkeit der psychologischen Seite der Probleme zugewandt haben, vertreten wird, ist nicht mehr die Völkerpsychologie von Lazarus und Steinthal; und Herbarts Mechanik der Vorstellungen gehört der Vergangenheit an. Sie bildet ein interessantes Blatt in der Entwicklungsgeschichte der neueren Psychologie. Aber ihre Voraussetzungen sind ebensowenig mehr anwendbar, um Tatsachen des seelischen Lebens zu interpretieren, wie sich psychologische Probleme deshalb zurückweisen lassen, weil sie mit jenen Voraussetzungen nicht übereinstimmen. Doch nicht bloß die Völkerpsychologie und die Psychologie überhaupt sind heute andere geworden, als sie zur Zeit waren, da Hermann Paul seine ersten Gedanken über die Unmöglichkeit einer Völkerpsychologie niederschrieb, auch in der Philologie hat sich indessen manches gewandelt, "Wörter und Sachen" nennt sich bezeichnenderweise eine neue Zeitschrift, die eine über alle Seiten der Kultur sich erstreckende Erforschung der Vergangenheit auf ihre Fahne geschrieben hat. So beginnt, wie mir scheint, allmählich die Überzeugung durchzudringen, daß der Sprachforscher die Sprache nicht wie eine vom übrigen Menschen abzusondernde Lebensäußerung behandeln kann, sondern daß die Voraussetzungen über Ursprung und Entwicklung sprachlicher Formen mit unseren Anschauungen über den Ursprung und die Entwicklung des Menschen selbst, über die Entstehung der Formen des gemeinsamen Lebens, die Anfänge von Sitte und Recht einigermaßen zusammenstimmen müssen. Niemand wird heute mehr den Begriff des "Volksgeistes" mit der stark an die Unter- oder Oberseele moderner psychologischer Mystiker anklingenden Bedeutung eines körperlosen, unabhängig von den Einzelnen existierenden Wesens festhalten wollen, wie es sich dereinst die Begründer der historischen Rechtsschule dachten. Selbst Hegels dialektisch vermittelte Rationalisierung dieses Begriffes ist für uns unannehmbar geworden. Aber der Gedanke, in welchem der Begriff des Volksgeistes wurzelte, daß die Sprache so wenig wie Sitte und Recht ein abgesondertes Dasein führt, sondern daß diese untrennbar aneinander gebundene Äußerungen des gemeinsamen Lebens sind, – dieser Gedanke ist heute ebenso wahr geblieben, wie zur Zeit, da Jakob Grimm ihn zum Leitstern seiner über alle Teile der deutschen Vergangenheit sich erstreckenden Arbeiten machte. Wer behauptet, die gemeinsame Sprache sei aus einer Anzahl von Individualsprachen zusammengenossen, der muß wohl oder übel auch zu den Fiktionen des alten Rationalismus von jenem einsam lebenden Urmenschen zurückkehren, der durch Vertrag mit seinesgleichen die Rechtsordnung geschaffen und den Staat gegründet habe. Die individualistische Gesellschaftstheorie eines Thomas Hobbes hatte diese Konsequenz nicht zu scheuen. Sie sah sich in der Frage des Ursprungs der Kultur einer Aufgabe gegenüber, die zu jener Zeit im wesentlichen überhaupt nur durch willkürliche Konstruktionen zu lösen war. Heute sind doch die Verhältnisse, und das nicht zum geringsten Teil durch die Mitarbeit der Philologie, andere geworden. Für die Sprache allein kann man zur Not noch dieses konstruktive Verfahren beibehalten, weil sie das älteste und jedenfalls das der Erforschung ihres Ursprungs unzugänglichste Produkt des gemeinsamen Lebens ist. Aber auch hier ist das nur möglich, wenn man unter dem Schutz der weitgehenden Arbeitsteilung unserer Tage die Sprachwissenschaft als ein Reich für sich betrachtet, das nach eigenen historischen "Prinzipien" regiert werde, und in dem man sich um sonstige Kulturgeschichte so wenig wie um Psychologie zu kümmern brauche. Daß übrigens die individualistische Theorie schon an denjenigen Erscheinungen der Sprachgeschichte selbst scheitert, die in jene weiteren Gebiete des gemeinsamen Lebens hinüberreichen, hat F. Kauffmann treffend an einigen Beispielen erörtert. Vergleicht man in der deutschen Sprachgeschichte die ursprünglichen Bedeutungen solcher Wörter, die sich auf das Verhältnis der Individuen innerhalb der Gemeinschaft beziehen, wie gemein und geheim, Geselle und Genosse usw., so trifft man nicht bloß auf das auch sonst zu beobachtende Verblassen einer einst sinnlich lebendigeren Bedeutung, sondern überall zugleich auf einen Bedeutungswandel, bei dem der Begriff, der vormals eine festere Gebundenheit der Glieder einer Gemeinschaft ausdrückte, einem loseren und freieren Verhältnis der Personen zueinander den Platz geräumt hat. In der Geschichte der menschlichen Gesellschaft ist eben das Erste nicht das Individuum, sondern die Gemeinschaft. Aus der Horde, der Sippe löst sich durch fortschreitende Individualisierung die selbständige Einzelpersönlichkeit, in geradem Gegensatz zu den Hypothesen der rationalistischen Aufklärung, nach denen sich die Individuen, halb durch die Not, halb durch vernünftige Überlegung veranlaßt, zu einer Gemeinschaft verbanden 3). 3) Vgl. F. Kauffmann, Altdeutsche Genossenschaften, in "Wörter und Sachen", kulturhistorische Zeitschrift, Bd. 2, 1910, S. 9 ff.
 
 
3. Kritik der Einwürfe gegen die Völkerpsychologie.

    Wie dereinst bei den Vertretern des alten Naturrechts die Umkehrung des Verhältnisses der Einzelnen zur Gesamtheit auf einer logischen Konstruktion beruhte, so sind es nun im wesentlichen analoge, weniger auf Beobachtungen als auf allgemeinen logischen Erwägungen beruhende Einwände, die von verschiedenen Seiten gegen das Existenzrecht der Völkerpsychologie erhoben worden sind. Die Führung in diesem Streit des philologischen Individualismus gegen den psychologischen Kollektivismus hat die Sprachwissenschaft in vielen ihrer Vertreter übernommen. Von besonderem Interesse ist hier die kurze Darlegung, die Paul in einer bei feierlicher Gelegenheit gehaltenen Rede von den allgemeinen Gesichtspunkten gibt, die sein ablehnendes Urteil bestimmen 4). Sie zeigt deutlich, daß diese Gesichtspunkte im wesentlichen die nämlichen geblieben sind, von denen dereinst jenes alte Naturrecht ausgegangen war. Nur sind sie hier von der politischen Gesellschaft auf die Sprachgemeinschaft übertragen worden; auch gewinnen sie durch die speziell gegen die Völkerpsychologie gerichtete Tendenz einen kritischen und teilweise polemischen Charakter, der den vormaligen individualistischen Staatstheorien fern lag. Dabei sind es hauptsächlich zwei Gesichtspunkte, von denen diese Kritik der Völkerpsychologie ausgeht. Der eine ist positiver, der andere negativer Art. Erstens wird behauptet, der Begriff der "Volksseele", auf den sich die Völkerpsychologie gründe, sei ein unstatthafter Begriff; es gebe eine Einzelseele, aber keine Volksseele, eine Wissenschaft von dieser Volksseele sei daher innerlich unmöglich. Dazu komme zweitens, daß in den verschiedenen Darstellungen der sogenannten Völkerpsychologie von Lazarus und Steinthal an bis heute "Gesetze" dieser Volksseele, analog den Gesetzen der individuellen Seele, überhaupt nicht aufzufinden seien. Das gelte zunächst für die Sprache, aber auch für den Mythus.

4) Hermann Paul, Rede, gehalten beim Stiftungsfeste der Universität München am 25. Juni 1910. Abgedruckt im Oktoberheft der Süddeutschen Monatshefte 1910.
 
 
    Es lohnt sich wohl, diese beiden allgemeinen Gesichtspunkte etwas näher zu beleuchten, da nach dem ersten Einwand, wenn seine Richtigkeit anerkannt werden müßte, allerdings der Gedanke einer Völkerpsychologie von vornherein zurückzuweisen wäre, und das um so mehr, als der zweite Einwand hinzufügt, irgend welche ihre Existenz rechtfertigende Ergebnisse seien bei ihr überhaupt nicht herausgekommen.

    Nun ist das Argument, auf das sich der Satz stützt, es gebe nur eine Individualpsychologie, und es könne dem eigensten Wesen der Psychologie gemäß keine Völkerpsychologie geben, anscheinend ein außerordentlich einfaches. Alles seelische Leben setzt nach Paul einen "unmittelbaren Zusammenhang zwischen seelischen Zuständen und Vorgängen" voraus. "Ein solcher findet aber nur in der Einzelseele statt. Nach außen kann diese immer nur vermittels ihres Körpers, auf fremde Seelen also nur indirekt wirken. Gibt es demnach keine unmittelbare Einwirkung einer Seele auf die andere, so gibt es auch keine unmittelbare Erkenntnis fremden Seelenlebens. Was in den Seelen anderer Individuen vor sich geht, können wir nur aus unserm eigenen Seelenleben erschließen und müssen wir als demselben gleichartig voraussetzen. Ist auf solche Weise alle psychologische Erkenntnis auf die individuelle Seele beschränkt, so muß nun auch alles, was sich im gemeinsamen Leben ereignet, aus dem individuellen Seelenleben abzuleiten sein. Denn fänden sich in jenem andere Elemente als in diesem, so würden solche für uns ganz unbegreiflich bleiben." Dies scheint Paul so einleuchtend zu sein, daß er meint, man müsse sich "fast schämen es auszusprechen", und vollends von irgend welchen metaphysischen Voraussetzungen über das Wesen der Seele seien daher diese Sätze ganz unabhängig.

    Aber es ist längst kein Geheimnis mehr, daß diejenige Metaphysik, die sich offen als solche bekennt, nicht die schlimmste ist, sondern daß man vornehmlich vor jener auf seiner Hut sein muß, die sich hinter angeblich allgemein anerkannten Tatsachen verbirgt. Nun besteht der "unmittelbare Zusammenhang der Zustände und Vorgänge der Einzelseele" nach Paul darin, daß die einzelnen seelischen Erlebnisse, die Vorstellungen, die Gefühle, die Assoziationen, ohne irgend welche physische Zwischenvorgänge aneinander gebunden sind. Woher hat er aber die Kenntnis, daß dem wirklich so ist? Natürlich aus irgend einer Psychologie, und alles spricht dafür, daß es die Herbartsche ist, auf die er diese Überzeugung gründet. Denn ich kenne unter den heute noch einigermaßen kursfähigen psychologischen Systemen kein anderes, dem die Seele als eine bloß äußerlich mit dem Körper verbundene, in ihrem eigenen Leben aber von diesem im wesentlichen unabhängige metaphysische Substanz gilt. Für diese Herbartsche Seele sind in der Tat die Vorstellungsbildungen, die Assoziationen usw. rein innerliche Erlebnisse der Seele, und sie stehen als solche in einem "unmittelbaren", nirgends durch körperliche Vorgänge vermittelten Zusammenhang. Daß die Herbartsche Psychologie ein metaphysisches Hypothesengebäude ist, und daß der unmittelbare Zusammenhang, den sie voraussetzt, nirgends wirklich existiert, ist aber heute eine ziemlich allgemeine Überzeugung der Psychologen. Alles was unserem Seelenleben angehört, ist, so viel wir wissen, an physische Vermittelungen gebunden, von den einfachen zeitlichen und räumlichen Vorstellungen an bis zu den verwickeltsten Assoziationen und Apperzeptionen. Auch wenn wir den psychologischen Gesetzen einen eigenartigen, von dem der physischen verschiedenen Inhalt zuschreiben, so meinen wir damit doch nicht im mindesten, diese Gesetze könnten jemals ohne physische Zwischenvorgänge verwirklicht werden. Der "Zusammenhang der Zustände und Vorgänge in der Einzelseele" ist also tatsächlich gerade so gut physisch vermittelt wie der Zusammenhang der Individuen in der menschlichen Gesellschaft. Allerdings ist dieser Zusammenhang ein anderer hier und dort. Niemand hat aber auch behauptet, daß er derselbe sei. Vielmehr gilt uns der Gedanke einer der Einzelseele analogen "Volksseele", deren Individuen den Vorstellungen im einzelnen Bewußtsein entsprechen sollen, als eine Fiktion, die sich für die Völkerpsychologie ebenso unbrauchbar erweist, wie es die Herbartsche Seelensubstanz für die individuelle Psychologie ist. In Wahrheit hat es eben jene wie diese nach der Aufgabe, die wir ihr heute stellen, mit Tatsachen und nicht mit Fiktionen zu tun, und da es Tatsachen gibt, die an die menschliche Gemeinschaft gebunden sind und nur aus den besonderen Bedingungen, die aus dem Zusammenleben des Menschen mit seinesgleichen hervorgehen, psychologisch begriffen werden können, so ist es einleuchtend, daß hier die individuelle Psychologie einer Ergänzung bedarf, die eben diese gemeinsamen geistigen Erzeugnisse und ihre Entwicklung zur Aufgabe hat. Gewiß hat auch die Geschichte dabei ein gewichtiges Wort mitzureden. Aber die psychologische Interpretation ist etwas anderes als die historische Darstellung, so wichtig es ist, daß jene überall wo irgend möglich diese zu Rate zieht.

    Die Deduktion, durch die Paul die Unmöglichkeit einer Völkerpsychologie beweist, stützt sich jedoch nicht bloß auf eine metaphysische Fiktion, sondern er bedient sich dabei auch eines Schlußverfahrens, das die alten Logiker einen "Saltus in concludendo" nennen würden. Aus der unbestreitbaren und nie bestrittenen Gleichartigkeit des menschlichen Seelenlebens schließt er, auch der Inhalt desselben müsse bei allen menschlichen Individuen, welcher Rasse oder Nation sie angehören, der gleiche sein; und aus dieser Übereinstimmung der Individuen wird dann weiterhin deduziert, die Individuen als solche seien die Schöpfer aller Erzeugnisse gemeinsamer Kultur, während der Gemeinschaft, d. h. den durch die Wechselwirkung der Individuen erweckten geistigen Kräften, kein wesentlicher Anteil an diesen Erzeugnissen zukomme. Zuerst werden also den gemeinsamen "Elementen" des Seelenlebens dessen Inhalte substituiert, und dann wird daraus, daß die letzteren angeblich bei allen Individuen übereinstimmen, geschlossen, diese seien die alleinigen Urheber jener Inhalte. So wird aus der selbstverständlichen Tatsache, daß wir keine völkerpsychologische Erscheinung erklären können, ohne eine allgemeine Gleichartigkeit der psychischen Anlagen vorauszusetzen und demnach unsere eigene psychologische Erfahrung zu Rate zu ziehen, die Folgerung gezogen, es gebe überhaupt keine völkerpsychologischen Tatsachen, die nicht zugleich Tatsachen der individuellen Psychologie seien. Hier hat sichtlich der Psychologe und Kulturhistoriker mit dem Dialektiker die Rollen getauscht. Oder sollte Paul wirklich meinen, solche Erscheinungen wie der sogenannte "Totemismus", die "Exogamie" und ähnliche seien aus den Tatsachen des individuellen Bewußtseins ohne weiteres abzuleiten? Und sollen hier irgend welche "Prinzipien der Geschichte" an die Stelle der psychologischen Interpretation treten, während es doch psychische Motive gewesen sein müssen, die an so vielen Orten anscheinend unabhängig die Erscheinungen hervorbrachten? In der Tat sind ja auch alle Hypothesen, die bis jetzt über diese schwierigen Probleme aufgestellt wurden, im letzten Grunde psychologischer Art.

    Aber Paul bestreitet der Völkerpsychologie nicht bloß im Hinblick auf den zweifelhaften Begriff der "Volksseele" a priori ihr Existenzrecht, er findet dies Ergebnis logischer Überlegung auch a posteriori durch die Tatsache bestätigt, daß es ihr nach seiner Meinung bis dahin nicht gelungen ist, irgendwelche "Gesetze" zu finden. Nun hängt freilich dieses empirische mit dem vorigen logischen Argument enger zusammen, als es auf den ersten Blick scheint. Denn es liegt auch ihm jene falsche Analogie der Volksseele mit der Einzelseele zugrunde, und es entpuppt sich daher dieser Einwurf bei näherem Zusehen wieder mehr als ein logischer denn als ein tatsächlicher. Die Individualpsychologie hat, so lautet etwa der Schluß, die Gesetze der Einzelseele zu ermitteln, folglich muß die Völkerpsychologie, wenn es eine solche gibt, die Gesetze der Volksseele feststellen; nun sind solche Gesetze nicht gefunden worden, also gibt es keine Völkerpsychologie. Aber dieser weist Paul hier eine Aufgabe zu, die sich wenigstens die heutige Völkerpsychologie überhaupt nicht gestellt hat. Sie soll nach ihm den Erscheinungen des gemeinsamen Lebens in Sprache, Mythus, Sitte usw. gesetzgebend gegenübertreten oder mindestens für diese Gebiete Gesetze auffinden, die bis dahin unbekannt waren. Dessen hat sich jedoch die Volkerpsychologie der Gegenwart niemals anheischig gemacht, und wo sie sich überhaupt des Ausdrucks "Gesetze" bedient, da geschieht dies in einer Weise, die vielmehr ein solches Ansinnen ausdrücklich ablehnt. Eine "Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte" habe ich mein Werk über Völkerpsychologie auf seinem Titel genannt. Das sagt doch mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, daß die objektiv in der Sprache, dem Mythus, der Sitte uns entgegentretenden Gesetze hier psychologisch untersucht, nicht im geringsten aber, daß diese Gesetze selbst erst gefunden oder gar von oben herab auf Grund irgendwelcher apriorischer Überlegungen diktiert werden sollen. Daß es z. B. Gesetze des Lautwandels gibt, oder daß die Entwicklung der Wortformen einer Sprache und ihre Syntax gewissen Gesetzen folgt, und daß bei der Entstehung solcher Gesetze psychologische Motive mindestens eine mitwirkende Rolle spielen, wird doch Paul schwerlich leugnen wollen. Ich bin also geneigt, diesen Einwand auf ein Mißverständnis zurückzuführen, das in der Auffassung der Psychologie seinen Grund hat. Die Psychologie Herbarts war ja auf Gesetzen aufgebaut, die nicht den Tatsachen selbst entnommen, sondern auf Grund gewisser metaphysischer Voraussetzungen gewonnen wurden. Wenn die Völkerpsychologie die Tendenz hätte, für die Volksseele ähnliche Gesetze zu finden, wie sie Herbarts "Mechanik der Vorstellungen" für die individuelle Psychologie aufgestellt hat, so würde daher jener Vorwurf gerechtfertigt sein. Aber einen solchen Versuch macht sie nicht. Vielmehr sucht sie die in den Erscheinungen des gemeinsamen Lebens objektiv hervortretenden Gesetze auf der Grundlage gewisser allgemeingültiger psychischer Motive, die sie dem individuellen Seelenleben entnimmt, und der besonderen Bedingungen, unter denen diese Motive auf den verschiedenen Stufen der Kultur wirken, psychologisch zu interpretieren. Die Voraussetzung aber, zu der sie dabei überall durch die Tatsachen selbst geführt wird, ist die, daß Erscheinungen wie Sprache, Mythus, Sitte von Anfang an eine menschliche Gemeinschaft fordern, und daß eben darum die individuelle Psychologie ebenso wenig die in ihnen gegebenen psychologischen Aufgaben zu lösen vermag, wie ein einzelnes Individuum für sich allein jemals diese Produkte des gemeinsamen Lebens hervorbringen würde 5). So kann denn auch die Tatsache, daß bei keinem dieser Erzeugnisse der Gemeinschaft die Hilfe der individuellen Psychologie zu entbehren ist, nicht bedeuten, es gebe überhaupt keine an die menschliche Gemeinschaft gebundenen psychologischen Gesetze. Vielmehr wird man zu diesen spezifisch völkerpsychologischen Gesetzen im objektiven Sinne in allererster Linie das Gesetz rechnen dürfen, daß, soweit wir den Menschen in seiner Entwicklung zurückverfolgen können, er nach dem aristotelischen Ausdruck ein zvon politic ón gewesen ist, d. h. daß alle Erzeugnisse seines geistigen Lebens nur in der Gemeinschaft entstehen. Daneben gibt es übrigens auf allen Gebieten eine nicht unbeträchtliche Zahl allgemeiner Tatsachen, denen man die Bedeutung empirischer Gesetze wird beilegen müssen. So nennt ja die Sprachwissenschaft selbst gewisse regelmäßige Veränderungen der Sprachlaute "Lautgesetze", und wenn man z. B. beobachtet, daß innerhalb des Gebietes der afrikanischen Bantusprachen Erscheinungen des Lautwandels vorkommen, denen ähnlich, die nach Grimms Gesetz der Lautverschiebungen innerhalb der germanischen Sprachen stattgefunden haben, so ist die Vermutung gerechtfertigt, die Einflüsse, die solche Veränderungen bedingen, seien von allgemeinerer, über den geschichtlichen Horizont des einzelnen Volkes hinausgehender Bedeutung 6). Noch mehr gilt das von den beim Kontakt der Laute eintretenden Assimilationen und Dissimilationen, den sogenannten Analogiebildungen und manchen den Gebieten des Bedeutungswandels und der Syntax zugehörenden Erscheinungen. Und das ähnliche begegnet uns in Mythus, Kultus und Sitte. So haben sich die Motive der die Leichenbestattung umgebenden Bräuche, so die Anschauungen, die dem Opferkultus zugrunde liegen, innerhalb weit voneinander abliegender Kulturgebiete in so auffallender Übereinstimmung geändert, daß wir, wenn irgendwo in den Erscheinungen des geistigen Lebens, hier von einer durchgehenden und nur selten von andern Einflüssen übertönten Gesetzmäßigkeit reden können 7). Wenn also Paul hier keine Gesetze gefunden hat, so beweist das zwar, daß er sie nicht gesehen hat, es beweist aber nicht, daß sie nicht existieren.

5) In seiner Rede über Völkerpsychologie bemerkt Paul, es sei ein "merkwürdiger Widerspruch", daß ich die Aufgabe der Völkerpsychologie auf alle geistigen Erzeugnisse der menschlichen Gemeinschaft ausgedehnt und dann trotzdem auf Sprache, Mythus und Sitte "eingeschränkt" habe (a. a. O. S. 365). In der Methodenlehre seines Grundrisses der germanischen Philologie (I2, S. 156) sagt er, es habe "seine Berechtigung, die Erforschung gerade dieser drei Gebiete in eine besonders nahe Beziehung zu setzen, insofern sie einerseits einer psychologischen Basierung bedürfen, anderseits umgekehrt der Psychologie wertvolles Material zur Bearbeitung liefern". Dieses frühere Urteil scheint mir richtiger als das spätere zu sein. Über die bloß relative Bedeutung jener Einschränkung vgl. übrigens oben S. 25 ff.             6) C. Meinhof, Die moderne Sprachforschung in Afrika, 1910, S.58 ff.

            7) Völkerpsychologie, Mythus und Religion. I3, S. 150 ff. III2, S. 459 ff.

    Nun möchte freilich auch Paul gewisser Leitsätze von allgemeinem Charakter bei der Interpretation der Erscheinungen, die in den Bereich der von ihm so genannten " Kulturwissenschaften" fallen, nicht entraten. Aber da diese letzteren historische Wissenschaften sind, so sollen auch die für sie maßgebenden allgemeinen Sätze nicht psychologische Gesetze, sondern "historische Prinzipien" sein. Doch bekenne ich offen: so mannigfache Belehrung ich trotz meines abweichenden Standpunktes Pauls "Prinzipien der Sprachgeschichte" verdanke, davon, was er unter seinen "Prinzipien" versteht, habe ich mir nie eine deutliche Vorstellung machen können. Seine Ausführungen über diesen Punkt lauten sehr unbestimmt. Am ehesten findet man eine Art Definition des Begriffs in der Methodenlehre des "Grundrisses". Da heißt es, die "Prinzipienwissenschaft" habe der Methodenlehre eine Summe von Möglichkeiten des Geschehens an die Hand zu geben, zu der man greifen könne, wenn es sich um die Ergänzung des Gegebenen handle (I2, S. 168); und kurz zuvor wird bemerkt, der Grad der Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Annahme müsse, ebenso wie ihre Möglichkeit, auf Grund analoger Fälle bestimmt werden, die man früher beobachtet habe. Nun verstand man bis dahin unter einem Prinzip einen Satz, der sich gleichzeitig durch seine Allgemeinheit wie durch die strenge Ausnahmslosigkeit seiner Geltung auszeichnet. In diesem Sinne gelten z. B. in der Mechanik das sogenannte Trägheitsgesetz und der Satz vom Kräfteparallelogramm als Prinzipien. Sätze dagegen, die eine bloße Möglichkeit ausdrücken, und über deren Wahrscheinlichkeit die Analogie mit anderen Erfahrungen entscheidet, pflegt man Hypothesen und nicht Prinzipien zu nennen. In der Tat reduzieren sich, soviel ich sehen kann, die Paulschen Prinzipien im wesentlichen auf den einen Satz; die Sprache ist im letzten Grunde eine individuelle Schöpfung. Ihm könnten etwa noch die Korollarsätze beigefügt werden: die ursprüngliche Form der Sprache ist die Individualsprache; jede Gemeinsprache ist durch das Zusammenfließen vieler Individualsprachen entstanden; jede Veränderung der Sprache hat einen lokal und individuell beschränkten Ausgangspunkt. Diese Sätze sind aber offenbar Hypothesen, und zwar, wie ich glaube, sehr unwahrscheinliche Hypothesen. Jedenfalls kann die Frage, ob sie Geltung haben oder nicht, nur auf Grund der Erfahrung beantwortet werden.

4. Der Individualismus in der neueren Sprachwissenschaft.

    In der Tat hat es nun nicht an Versuchen gefehlt, einzelne empirische Belege für diese Hypothesen beizubringen. Doch legt man auf solche Beispiele offenbar nur deshalb ein Gewicht, weil man die Voraussetzung, die sie beweisen sollen, a priori schon für selbstverständlich, also eigentlich für keines Beweises bedürftig hält. Insofern ist es zugleich bezeichnend, daß unter allen Gebieten der Philologie die Sprachwissenschaft diesen Individualismus in seiner extremsten Form ausgebildet hat. In der Kultur-, Mythen- und Sittengeschichte begnügt man sich in der Regel mit einem Kulturzentrum, von dem alle Entwicklung ausgegangen sei. Nur die Linguisten sind gelegentlich so weit gegangen, jede Neubildung oder Wandlung in der Sprache auf ein einziges Individuum zu beschränken. So bemerkt B. Delbrück aus Anlaß einer Erörterung über die Entstehung von Sprachmischungen: "Ehe zwei Stämme vorhanden sind, deren Sprachen sich mischen, muß jeder von ihnen auf einem anderen Wege zu einer einheitlichen Lautgebung gekommen sein. Unter diesem anderen Weg aber kann man sich, so viel ich sehe, nur vorstellen, daß eine Neuerung bei einem Einzelnen beginnt, und sich von ihm aus in immer weitere und weitere Kreise fortsetzt. Den hauptsächlichsten Grund, warum die Mehreren die Wenigen nachahmen, darf man aber wohl in dem persönlichen Einfluß der Wenigen suchen" 8).

            8) B. Delbrück, Grundfragen der Sprachforschung, 1901, S. 98.

    So weit geht freilich Paul nicht. Er betont ausdrücklich, daß größere Wandlungen der Sprache voraussichtlich von einer Vielheit Einzelner ausgehen. Aber von prinzipieller Bedeutung ist dieser Unterschied nicht, und es ist daher nicht zu verwundern, daß Sprachforscher, die eine klare Stellungnahme bevorzugen, mehr dem extremen Individualismus Delbrücks sich zuneigen, als dem gemäßigteren Pauls 9). Auch für Paul ist die Gemeinschaft eine Summe von Individuen, nichts weiter. Was in ihr geschieht, das hat in den mit den gleichen seelischen Kräften ausgestatteten Individuen seine Quelle. Wenn ein Individuum auf ein anderes einwirkt, so ist das im allgemeinen nichts anderes, als wenn ein sonstiger äußerer Reiz eine Sinneswahrnehmung hervorruft. Daß Sprache, Mythus, Sitte Schöpfungen der Gemeinschaft als solcher sind, und daß bei ihrer Entwicklung in allen wesentlichen Beziehungen die Gemeinschaft den Einzelnen bestimmt, nicht oder nur in sekundärer Weise der Einzelne die Gemeinschaft, diese Tatsache kommt bei ihm nicht zur Geltung.

9) So z. B. Hugo Schuchardt, Sprachgeschichtliche Werte. Festschrift zur Philologenversammlung in Graz, 1910.
 
 
    Die Begründung dieser Anschauung besteht nun aber lediglich in einem Beweis aus Beispielen oder, logisch ausgedrückt, in einer Induktion von wenigen Fällen auf alle Fälle, bei der die entgegenstehenden Instanzen unbeachtet bleiben. So breiten sich sprachliche Änderungen oder Neubildungen gelegentlich von einem beschränkten Punkt über ein größeres Territorium aus, dialektische Eigenheiten können in die Literatursprache übergehen, in seltenen Fällen kann sogar ein Einzelner willkürlich ein Wort erfinden. Niemand bestreitet das. Aber daß dies der regelmäßige Verlauf der Entwicklung sei, wird damit nicht im mindesten erwiesen. Denn allen diesen Fällen stehen andere gegenüber, in denen allem Anscheine nach der Prozeß den umgekehrten Verlauf genommen hat. Eine Gemeinsprache scheidet sich in einzelne Dialekte, und aus dem einzelnen Dialekt sondern sich wieder individuelle Sprechweisen aus, die sich mit steigender Kultur gegenüber dem gemeinsamen Idiom immer charakteristischer gestalten. Endlich den seltenen Fällen, in denen ein Einzelner eine Neuerung bewirkt, steht die erdrückende Zahl der anderen Fälle gegenüber, in denen er selbst aus der gemeinsamen Sprache schöpft. Stellt man im Hinblick auf diese einander entgegengesetzten Strömungen, die hier wie überall das geistige Leben durchfluten, die Frage so, wie sie von Rechts wegen gestellt werden muß: was ist in diesem Widerspiel der Kräfte das Primäre? dann kann kein Zweifel sein, daß im ganzen genommen das Gemeinsame das Erste, und die Differenzierung und Individualisierung das Spätere ist. Man müßte die ganze Entwicklung der Kultur auf den Kopf stellen oder der Sprache eine wunderbare Ausnahmestellung unter den Erzeugnissen des menschlichen Geistes anweisen, um das Gegenteil anzunehmen. Wo daher trotzdem der Versuch gemacht wird, auf solche Erscheinungen offenkundiger Differenzierung die individualistische Hypothese anzuwenden, da helfen dann willkürliche Konstruktionen, die auf Schritt und Tritt mit den wirklichen Tatsachen in Widerspruch geraten. So behauptet z. B. Paul, die Dialektspaltung bedeute überall nichts anderes als "das Hinauswachsen der individuellen Verschiedenheiten über ein gewisses Maß". Von einem Individuum oder einer beschränkten Anzahl von Individuen aus sollen sich also gewisse Eigenarten ihrer Individualsprachen allmählich ausgebreitet haben 10). Daß man sich den Vorgang allenfalls so konstruieren kann, will ich nicht leugnen. Aber daß er wirklich in dieser Weise stattgefunden hat, dafür besteht, wenn man die Bedingungen ins Auge faßt, unter denen solche Sprachspaltungen ursprünglich eintreten, nicht die geringste Wahrscheinlichkeit. Die dialektische Differenzierung ist, wie uns die Verhältnisse der heutigen primitiven Völker lehren, auf das engste an die Spaltung der Stämme selbst und in ihren weitergreifenden Folgen an die Wanderungen der Stämme gebunden. Eine Horde Zusammenlebender hat eine einzige Sprache, innerhalb deren die individuellen Unterschiede ebenso verschwinden, wie die Unterschiede der Sitte und des Kultus. Wird die Horde größer, so spaltet sie sich, ein Teil wandert aus, sucht entfernte Jagdgründe auf und beginnt unter den veränderten Bedingungen eine neue, selbständige Entwicklung. Die Spuren solcher Vorgänge begegnen uns heute noch deutlich ausgeprägt bei zahlreichen australischen und amerikanischen Stämmen, und wir werden sicherlich nicht irregehen, wenn wir uns die frühesten Sprach- und Dialektscheidungen der heutigen Kulturvölker im allgemeinen dem ähnlich denken. Aber der Vorgang der Umbildung einer in dieser Weise mitgebrachten Sprache kann nicht wohl ein wesentlich anderer sein als der des Ursprungs der Sprache überhaupt. So wenig diese von einem Einzelnen oder von einer beschränkten Anzahl von Individuen erfunden ist, ebenso wenig sind jene Umwandlungen aus der Ausbreitung von Individualsprachen hervorgegangen, sondern die Gemeinschaft selber hat die neue Sprache geschaffen. Auch hier verallgemeinert daher die Hypothese der Individualsprache vereinzelte Erscheinungen einer späten Kultur, um sie dann in eine beliebig vergangene Zeit zu projizieren. So wiederholt sich hier die gleiche Umkehrung der Geschichte, mit der einst der Individualismus und Rationalismus der Aufklärung operierte. Die selbständige Persönlichkeit steht nicht da, wo wir sie auf Grund unserer anthropologischen und soziologischen Erkenntnisse sehen müssen, am Ende, sondern am Anfang der Geschichte.

            10) Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte 4, S. 38.

5. Naturhistorische Analogien zur Sprachgeschichte.

    Gleichwohl gibt es einen Punkt, wo die Wege des alten und des neuen Individualismus sich scheiden. Jenem war die menschliche Entwicklung ein Reich für sich; es lag ihm ferne, die Geschichte der geistigen Erzeugnisse zu der Entstehung der sonstigen Bildungen der Natur, selbst der organischen Wesen in Beziehung zu bringen. Heute ist die Lage der Dinge eine andere geworden. Die Entwicklungstheorie beherrscht gegenwärtig alle Wissenschaften. Die Analogien zwischen menschlicher und tierischer Entwicklung sind allgemein zugestanden. Beinahe jede Hypothese, namentlich wenn sie mehr auf Konstruktionen als auf Tatsachen beruht, stützt sich auf sie. Der Individualismus hat sich diese Stütze nicht entgehen lassen. Auch hier hat Paul für die Sprache diese naturhistorischen Analogien eingehend erörtert.

    Wie in der organischen Natur Arten, Gattungen, Klassen nichts anderes sind als "Zusammenfassungen des menschlichen Verstandes, die je nach Willkür verschieden ausfallen können", so hat im letzten Grunde jedes Individuum seine eigene Sprache, und es ist darum bis zu einem gewissen Grade willkürlich, wenn wir eine Anzahl solcher Individualsprachen zu einer Dialektgruppe verbinden. Demnach ist aber auch jede Änderung oder Neubildung der Sprache zunächst ein individuelles Geschehen, und es hängt von hinzutretenden Umständen ab, ob sich ein solches auf andere Individuen ausbreitet oder nicht. Ferner entstehen, wie uns die Darwinsche Theorie gelehrt hat, neue Varietäten dadurch, daß sich ursprünglich zufällige individuelle Abweichungen, irgendwie durch den Kampf ums Dasein begünstigt, steigern und ständig werden. Ganz analog ist daher innerhalb der menschlichen Gesellschaft das Usuelle überall aus dem ursprünglich Okkasionellen entstanden 11). Die aus einem bestimmten Anlaß zum erstenmal vollführte Handlung eines Einzelnen wird unter günstigen Umständen zur Gewohnheit, die Gewohnheit breitet sich auf andere aus, sie wird zum Brauch. Gleicher Weise hat in der Sprache jede Änderung oder Neubildung einen individuellen Ausgangspunkt. Zwischen der unendlichen Menge individueller Sprechweisen vollziehen sich aber durch Austausch und Nachahmung allmählich Angleichungen. So wird. was ursprünglich eine individuelle Abänderung war, in die allgemeine Sprache aufgenommen, und aus dieser können sich dann wieder durch weitere individuelle Abänderungen Dialekte differenzieren 12).

            11) Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte 4, S. 37 ff.

            12) Ebenda S. 75 ff.

    So sehr nun unter diesen beiden Analogien der Hinweis auf das Vorbild, das die moderne Entwicklungstheorie durch die Auflösung des starren Speziesbegriffs der genetischen Betrachtung der menschlichen Gesellschaft gegeben hat, auf den ersten Blick imponieren mag, so dürfte diese Analogie doch beim Lichte besehen nur in dem einen Punkte zutreffen, in dem es solcher Analogien überhaupt nicht bedarf: darin nämlich, daß in unserer Erfahrung überall das Konkrete, das Einzelne in Wirklichkeit allein existiert, und daß abstrakte Begriffe keine realen Dinge sind. Sobald man über diesen Punkt hinausgeht, versagt aber die Analogie. Oder wo fände sich etwa in der Tierwelt ein Beispiel dafür, daß stammesfremde Arten, ähnlich stammesfremden Sprachen, sich mischen, oder daß ein Individuum dem andern durch Nachahmung ähnlich wird? In der Tat, diese Analogie geht in Stücke, wo man sie anfaßt. Physische Objekte und psychische oder psychophysische Funktionen gleichen sich eben in nichts, ausgenommen darin, daß beide nur in der Form konkreter Erscheinungen vorkommen. Dagegen läßt sich vermöge dieser allgemeinsten Analogie nicht das geringste darüber aussagen, wie irgend eine Veränderung in den zahlreichen Individualsprachen, aus denen sich eine Gemeinsprache zusammensetzt, eingetreten ist. Hier ist nur dies gewiß, daß die Nachahmung, die, möge auch ihr Einfluß überschätzt worden sein, bei der Sprache jedenfalls nicht auszuschließen ist, bei den Variationen und Mutationen innerhalb der organischen Natur keine Rolle spielt.

    Nicht anders verhält es sich mit dem Argument, daß das Usuelle überall aus einer irgend einmal zufällig oder willkürlich entstandenen Handlung hervorgegangen sei. Gewiß ist ja ein "Usus" nicht plötzlich vom Himmel gefallen. Er wird stets aus einzelnen zunächst ausnahmsweise geschehenden Handlungen entstanden sein. Aber damit ist nicht gesagt, daß diese überall auf einzelne selbständig handelnde Individuen zurückgehen. Wer so schließt, der substituiert zunächst dem Okkasionellen das Individuelle und dann weiterhin dem Individuellen die einzelnen Individuen. Nun ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß Gewohnheiten und sogar willkürliche Einfälle Einzelner usuell werden können. Aber als die Regel läßt sich dies in keiner Weise hinstellen, und es kommt vor allem auf die besondere Art der Lebenserscheinungen an, ob es wahrscheinlich ist oder nicht. Das Gebiet, wo die individuelle Entstehung die größte Bedeutung hat, ist zweifellos die Mode. Eine Kleidermode kann von einem einzelner Schneider oder von einer in Sachen der äußeren Repräsentation maßgebenden Persönlichkeit erfunden werden, und vielleicht ist das sogar der häufigste Weg ihrer Entstehung. Im allgemeinen ist eben die Mode eine Sache der Erfindung, und jede Erfindung geht auf einen Erfinder zurück. Es gibt aber auf der andern Seite Gebiete, wo die Erfindung keine nennenswerte Rolle spielt, wo demzufolge auch eine solche individuelle Entstehung nur ausnahmsweise vorkommen dürfte. Ein solches ist in erster Linie die Sprache, die in dieser Beziehung in der Tat von allen geistigen Erzeugnissen der Menschheit am ehesten an die Entwicklung organischer Naturformen erinnert. Die Vermutung, gewisse Veränderungen der Sprache von allgemeingültigem Charakter, wie z. B. der reguläre Lautwandel, die Assimilationen und Dissimilationen, die sogenannten Analogiebildungen u. a., seien bei zahlreichen Individuen gleichzeitig und unabhängig eingetreten, liegt hier um so näher, je mehr solche Erscheinungen nicht nur auf Einflüsse, denen alle Mitglieder einer Gemeinschaft gleichförmig unterworfen waren, sondern vor allem auch auf Wechselwirkungen zwischen den Individuen hinweisen, welche die Existenz der Gemeinschaft bereits voraussetzen.

6. Die Nachahmungstheorie.

    Nun ist im Hinblick darauf, daß der Mensch, soweit wir seine Entwicklung zurückverfolgen können, nur in Gemeinschaft gelebt hat, und daß Erzeugnisse wie Sprache, Mythus und Sitte nur innerhalb einer Gemeinschaft möglich sind, die Annahme des individuellen Ursprungs einer Erscheinung innerhalb dieser Gebiete im allgemeinen nur da gestattet, wo ein solcher direkt nachzuweisen oder vermöge der besonderen Bedingungen des Falls wahrscheinlich ist. Von dem Wort "Gas" wissen wir z. B. genau, daß es von dem bekannten Arzt und Chemiker Baptista van Helmont willkürlich, wie er es selbst bezeugt, erfunden worden ist.

    In der Tat ist es nun aber nichts anderes als ein Schluß aus solchen Beispielen, die noch dazu in der Regel den Charakter singulärer Erscheinungen an sich tragen, durch den man nicht selten überhaupt den individuellen Ursprung sprachlicher Bildungen wahrscheinlich zu machen sucht. So erzählt Hugo Schuchardt 13) eine Fülle kleiner Anekdoten zum Teil sehr ergötzlicher Art über Sprachschöpfungen, die von einem Einzelnen herrührten und von seiner Umgebung aufgenommen wurden, um hier kürzere oder längere Zeit erhalten zu bleiben. Daß Spitznamen von Personen, scherzhafte Bezeichnungen von Orten, Beschäftigungen usw. solche Produkte individueller Laune zu sein pflegen, ist ja bekannt, und natürlich bin ich weit entfernt, diese Beispiele zu bestreiten; ja ich möchte glauben, daß über den Kreis solch persönlicher Erlebnisse hinaus bei gewissen Sondersprachen, wie bei der Gauner-, der Studentensprache u. a., ein wesentlicher Teil des charakteristischen Wortschatzes individuellen Ursprungs ist, wenn man das auch hier zumeist nicht direkt nachzuweisen vermag. Was aber in diesem Fall eine solche Wahrscheinlichkeit begründet, das hängt mit demselben Merkmal zusammen, dessen Fehlen einen analogen Ursprung für die große Mehrzahl der Bildungen einer allgemeinen Sprache unwahrscheinlich macht: mit dem der willkürlichen Erfindung. Zwar ist es, wie die Geschichte der technischen Entdeckungen lehrt, nicht ganz ausgeschlossen, daß zwei Menschen unabhängig voneinander und annähernd gleichzeitig dieselbe Erfindung machen; aber dieser Fall ist doch sehr selten, so daß man im allgemeinen an der Regel festhalten darf, wo irgend eine Schöpfung als das Produkt einer erfinderischen Tätigkeit erscheint, da sei dies zugleich ein Zeugnis für ihren individuellen Ursprung. Damit soll nicht gesagt sein, daß, wo jenes Merkmal fehlt, nicht dennoch ein solcher möglich ist. Aber es müssen dann eben andere Zeugnisse für diese Annahme eintreten. Ebenso darf die Tatsache, daß bei einer Erscheinung die Nachahmung von Einfluß gewesen ist, nicht ohne weiteres als ein Beweis dafür angesehen werden, daß jene Erscheinung selbst von einem Einzelnen ausgegangen sei. Ein charakteristisches Beispiel bietet hier die von Schuchardt angeführte näselnde Aussprache der Puritaner, besonders ihrer Prediger, die nach einer nicht unwahrscheinlichen Vermutung in der allgemeinen Sprache der Yankees heute noch nachwirkt. Obgleich die einstigen Motive dieser Sprachgewohnheit verloren gegangen sind, so ist diese doch innerhalb des Kreises, in dem sie entstand, wahrscheinlich generellen Ursprungs, und sie ist nicht ausschließlich aus einer Nachahmung abzuleiten. Vielmehr hatte wohl die Sprechweise der Puritaner in dem Wert, den sie den Schriften des Alten Testaments beilegten, ihre Quelle. Wie sie sich die Namen der Erzväter und Propheten gaben, so fand ihre Redeweise ihr Vorbild in der halb näselnden, halb singenden Art, wie in den Synagogen die hebräische Bibel noch heute rezitiert wird. In welcher Weise diese Art der Rezitation selbst entstanden ist, bleibt freilich dahingestellt. Sie mag teils in der allgemeinen Sprechweise der Juden, teils in den phonetischen Eigenschaften eines mit etwas gedämpfter Stimme gesungenen Rezitativs ihren Grund haben. Jedenfalls ist es aber nicht wahrscheinlich, daß diese Motive zunächst nur auf wenige Einzelne eingewirkt haben.

            13) Hugo Schuchardt, Sprachgeschichtliche Werte, 1909.

    Überhaupt ist die Nachahmung zwar überall ein bei der Ausbreitung einer völkerpsychologischen Bildung mitwirkender Faktor; aber sie ist weder der einzige noch gibt sie der Natur der Sache nach über die Entstehung dessen Rechenschaft, was nachgeahmt wird. Betont man daher ausschließlich die Nachahmung als Bedingung für die Entstehung einer Erscheinung, so liegt dem eigentlich immer schon die Voraussetzung zugrunde, ihr letzter Ursprung sei in einer Erfindung zu suchen, womit, da solche Erfindungen stets von Einzelnen gemacht werden, ohne weiteres auch ihr individueller Ursprung gegeben ist. Darum ist das Wort "Nachahmung" ein Ausdruck, der die Vorgänge, die bei der Ausbreitung einer gesellschaftlichen Erscheinung zusammenwirken, immer nur unzulänglich wiedergibt. Wenn ein Mensch einen andern nachahmt, so übernimmt er fertig, was dieser entweder selbst von einem andern überkommen oder neu hervorgebracht hat. Das ist ein Grenzfall, der zuweilen einmal verwirklicht sein kann, der sich aber in der großen Mehrzahl der Fälle aus fortwährend ineinander greifenden Wechselwirkungen zusammensetzt, bei denen eventuell jeder nachahmt und selbst wieder nachgeahmt wird. Man beobachte, um sich dies zu vergegenwärtigen, denjenigen Fall einer Neubildung und Ausbreitung sprachlicher Bildungen, bei dem wir diesen Prozeß direkt verfolgen können: die Entstehung und Fixierung einer Gebärdensprache zwischen zusammenlebenden taubstummen Kindern oder auch zwischen einem Taubstummen und seiner redenden Umgebung. Der Taubstumme drückt eine Vorstellung durch eine Gebärde aus, die dem andern in der Regel ohne weiteres verständlich ist, und die dieser je nach Umständen abändert, ergänzt und mit einer weiteren Gebärde erwidert usw. Dann geschieht es wohl auch einmal, daß von einem einzelnen ein Zeichen willkürlich erfunden und von den Genossen rezipiert wird. Aber diese Rezeption selbst wurde nicht möglich sein, wenn nicht jene gemeinsame Schöpfung die Grundlage bildete, bei der die Nachahmung nur ein mitwirkender Faktor ist. Ohne daß jeder einzelne durch die auf ihn einwirkenden Reize zu Bewegungen angetrieben würde, die natürliche Ausdrucksmittel seiner Vorstellungen und Affekte sind, würde sich jener Verkehr, bei dem jeder gebend und empfangend zugleich ist, niemals entwickeln können. Wenn daher Schuchardt meint, eine andere Wechselwirkung zwischen den Individuen einer Gesellschaft als die durch Nachahmung könne man sich überhaupt nicht denken, so scheint mir diese Meinung wenig zutreffend zu sein. Fast überall, wo man solche gemeinsame Bildungen aus der Nachahmung oder gar, wie Delbrück und Schuchardt wollen, aus der Nachahmung eines von einem Einzelnen gegebenen Beispiels erklären will, da führt dies in der Tat zu psychologisch unmöglichen Konstruktionen. Belehrende Beispiele bieten hier, wie mir scheint, besonders die Erscheinungen der Sprachmischung oder der Beeinflussung einer Sprache durch eine andere, – Beispiele, bei denen man, soweit es sich um allgemeine sprachliche Vorgänge handelt, vielleicht am ehesten an Nachahmung denken könnte. Eine interessante Erscheinung dieser Art ist z. B. das Eindringen der sogenannten Vokalharmonie in die rumänische Sprache. Daß sie aus dem Türkischen übernommen ist, steht wohl fest, da sie sonst den romanischen wie überhaupt den indo-europäischen Sprachen fehlt. Sie ist in ihren für die uralaltaischen Sprachen charakteristischen Formen ein Vorgang progressiver Lautassimilation: der Vokal einer Silbe assimiliert den Vokal der nächsten, wie z. B. bei dem türkischen Infinitiv der Vokal des Wortstamms den des Suffixes: sev-mek, mä-mäk, bak-mak u. dgl. Bei dem namentlich in früherer Zeit regen Verkehr zwischen der Türkei und Rumänien ist eine solche Beeinflussung im allgemeinen wohl begreiflich. Wie soll man sich aber den Vorgang des Näheren denken? Nach der Theorie der Nachahmung und der Ausbreitung von einem vorbildlich wirkenden Individuum aus würde ein einzelner einflußreicher Rumäne diese Eigenschaft des Türkischen in seine Sprechweise aufgenommen und dann zahlreiche Nachahmer unter seinen Landsleuten gefunden haben, so daß schließlich diese Eigentümlichkeit in die Gemeinsprache überging. Vielleicht ist man auch bereit zuzugeben, daß in diesem Fall mehrere gleichzeitig das Beispiel gegeben haben könnten, die Nachahmungstheorie als solche würde dann immer noch bestehen bleiben. Aber ihre Wahrscheinlichkeit wird durch diese Vervielfältigung nicht wesentlich größer. Die Beobachtungen, die wir tatsächlich beim Verkehr sprachfremder Völker machen können, widersprechen beiden Hypothesen. Denn das Nächste ist hier dies, daß sich eine größere oder kleinere Anzahl von Individuen beide Sprachen aneignet. Solche zweisprachige Individuen nehmen dann beim Gebrauch ihrer Muttersprache teils Wörter in diese auf, die der fremden Sprache entlehnt sind, teils mischen sie Laut- und Flexionsformen. So versehen die pennsylvanischen Pfälzer Amerikas im Volksdialekt englische Wörter mit deutschen Flexionsformen, und so ist ohne Zweifel auch zuerst bei den zweisprachigen Rumänen die Vokalharmonie in die rumänischen Wortformen hinübergewandert. Wollte man das eine Nachahmung nennen, so müßte man sagen, hier habe der Sprechende sich selbst nachgeahmt. Da aber eine solche Übertragung offenbar unwillkürlich erfolgt, so hat dieser Prozeß mit der Nachahmung überhaupt nichts zu tun, sondern es handelt sich, wie bei vielen anderen sprachlichen Wirkungen, um einen jener Vorgänge psychophysischer Assimilation, wie sie auf allen Stufen seelischer Entwicklung vorkommen.

    Übrigens gibt es nicht bloß Wechselwirkungen innerhalb der menschlichen Gesellschaft, bei denen die Nachahmung nur einen begleitenden Faktor ausmacht, oder wo sie, wie in dem letzten Beispiel, im Grunde eine inadäquate vulgärpsychologische Umschreibung eines von der eigentlichen Nachahmung verschiedenen psychologischen Assoziationsprozesses ist, sondern in zahlreichen Fällen eines Laut- oder Bedeutungswandels ist sie nicht einmal in diesem übertragenen Sinne von nennenswerter Bedeutung. Das trifft überall da zu, wo irgend welche Einflüsse der Natur und der Kultur die Individuen einer Sprachgemeinschaft annähernd gleichmäßig treffen. Ich lasse hier die vielumstrittenen Natureinflüsse beiseite. Aber jene Lautänderungen, die auf ganz bestimmte psycho-physische Einflüsse zurückzuführen sind, wie die sprachlichen Assimilationen und Dissimilationen, zu denen ja auch die erwähnte Vokalharmonie gehört, sie sind zum großen Teil in letzter Instanz Produkte des Verkehrs, also der Wechselwirkung der Individuen, ohne daß als primäre Ursache eine Nachahmung vorauszusetzen wäre. Daß z. B. durch regressive Lautassimilation adsimilare in assimilare, dumb in dumm, brumben in brummen übergegangen ist, beruht wohl, wie K. Brugmann zuerst bemerkt hat, und wie es die Effekte willkürlicher Artikulationsbeschleunigung wahrscheinlich machen, auf einer allmählich eingetretenen Beschleunigung der Rede. Diese Beschleunigung ist aber eine Folge des Verkehrs, also einer Wechselwirkung der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft, die mit der Nachahmung gar nichts zu tun hat. Führt die Nachahmungstheorie in der ihr von angesehenen Autoritäten der Sprachwissenschaft gegebenen individualistischen Prägung in jedem einzelnen Fall auf die Erfindungstheorie zurück, so kann sie sich übrigens auch der weiteren Konsequenz kaum entziehen, daß die Sprache überhaupt, die ja nichts anderes als die Gesamtsumme dieser individuellen Bildungen ist, schließlich ein Produkt willkürlicher Erfindung sei. Damit sind wir dann glücklich wieder bei dem einsam lebenden Naturmenschen angelangt, der zunächst eine Sprache erfand, dann zusammen mit seinesgleichen einen Staat gründete und endlich, um dem wild wuchernden Aberglauben der Einzelnen zuvorzukommen, einen religiösen Kultus einführte.