I.

Ziele und Wege der Völkerpsychologie.

l. Die Aufgabe der Völkerpsychologie.

    Daß neue Wissensgebiete oder, da es solche im strengsten Sinn des Wortes wohl nicht gibt, neue Formen wissenschaftlicher Betrachtung eine Zeitlang um ihre Existenz kämpfen müssen, ist nicht nur begreiflich, sondern vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grad nützlich. Empfängt doch die neu aufstrebende Disziplin auf diese Weise den wirksamsten Antrieb, durch tatsächliche Errungenschaften sich ihre Stellung zu sichern und durch die Auseinandersetzung mit Nachbargebieten ihre wirklichen Aufgaben klarer zu erfassen, indem die etwa zu weit gehenden Ansprüche ermäßigt und die berechtigten schärfer begrenzt werden.

    So haben wir im Laufe des 19. Jahrhunderts die vergleichende Anatomie von der Zoologie, die Sprachwissenschaft von der Philologie, die Anthropologie von den anatomisch - physiologischen Wissenschaften und von der Ethnologie sich ablösen sehen. Noch haben selbst diese jetzt anerkannten Gebiete nicht überall feste Gestalt gewonnen. In der Darstellung sieht man die vergleichende Anatomie zumeist immer noch die Wege des zoologischen Systems gehen. Die Sprachforscher sind, so unzweifelhaft das Objekt ihrer Untersuchungen zu sein scheint, doch über dessen Stellung zu anderen Gegenständen geschichtlicher Forschung keineswegs allgemein einig. Die Anthropologie vollends hat erst seit kurzer Zeit die Naturgeschichte und die von ihr untrennbare Urgeschichte des Menschen als ihr spezifisches Arbeitsfeld in Anspruch genommen. Immerhin erfreuen sich alle diese Gebiete heute schon eines verhältnismäßig gesicherten Besitzstandes. Mögen die Ansichten über ihre Bedeutung und Aufgabe schwanken, – über ihre Existenzberechtigung und relative Selbständigkeit herrscht kaum mehr ein Zweifel.

    Ganz anders ist das bei derjenigen Wissenschaft, deren Namen man heute oft genug nennen hört, ohne daß sich immer ein klarer Begriff mit ihm verbände, bei der Völkerpsychologie. Seit geraumer Zeit sind die Gegenstände, die man unter ihr zu begreifen pflegt, die Kulturzustände, Sprachen, Sitten, religiösen Vorstellungen der Völker, nicht bloß Aufgaben besonderer Wissenszweige, wie der Kultur- und Sittengeschichte, der Sprachwissenschaft und Religionsphilosophie, sondern man hat auch längst das Bedürfnis empfunden, diese Gegenstände in ihrer allgemeinen Beziehung zu der Natur des Menschen zu untersuchen, und sie haben daher zumeist einen Bestandteil anthropologischer Betrachtungen gebildet. So hat besonders Prichard in seinem jetzt veralteten, aber für die Anthropologie epochemachenden Werke 1) den seelischen Merkmalen der Rassen und Völker die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet. Da jedoch die Anthropologie diese Merkmale nur mit Rücksicht auf ihre genealogische und ethnologische Bedeutung untersucht, so bleibt dabei ein Gesichtspunkt unbeachtet, unter dem alle jene geistigen Erscheinungen, die an das Zusammenleben der Menschen gebunden sind, betrachtet werden können, der psychologische. Wie es nun die Aufgabe der Psychologie ist, den Tatbestand des individuellen Bewußtseins zu beschreiben und in bezug auf seine Elemente und Entwicklungsstufen in einen erklärenden Zusammenhang zu bringen, so muß unverkennbar auch die analoge genetische und kausale Untersuchung jener Tatsachen, die zu ihrer Entwicklung die geistigen Wechselbeziehungen der menschlichen Gesellschaft voraussetzen, als ein Objekt psychologischer Forschung angesehen werden.

1) Resealches into the physical history of mankind, deutsch u. d. T. Naturgeschichte des Menschen, nach der 3. Aufl. herausg. v. Rud. Wagner. 4 Bde. Leipzig 1840–1848.
 
 
    In diesem Sinne haben in der Tat Lazarus und Steinthal die Völkerpsychologie der individuellen Psychologie gegenübergestellt. Sie sollte eine Ergänzung und notwendige Fortführung der letzteren sein und so mit ihr zusammen erst die gesamte Aufgabe der psychologischen Forschung erschöpfen. Da nun aber alle die Einzelgebiete, mit deren Problemen sich hierbei die Völkerpsychologie noch einmal beschäftigt, die Sprachwissenschaft, die Mythologie, die Kulturgeschichte in ihren verschiedenen Verzweigungen, selber bereits bemüht sind, die psychologischen Entwicklungsbedingungen der geistigen Tatsachen zu ermitteln, so wird dadurch die Stellung der Völkerpsychologie zu diesen Einzelgebieten eine einigermaßen fragwürdige, und es regt sich das Bedenken, ob nicht für die Arbeit, die sie sich vorsetzt, überall schon anderweitig gesorgt sei. Betrachten wir, um dieses Bedenken zu prüfen, zunächst das Programm etwas näher, das Lazarus und Steinthal ihrer, der Sammlung völkerpsychologischer Arbeiten bestimmten "Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" vorausgeschickt haben 2).

            2) Im ersten Band der genannten Zeitschrift, 1860, S. 1–73.

    Dies Programm ist in der Tat so umfassend wie möglich. Nicht nur Sprache, Mythus, Religion und Sitte, sondern auch Kunst und Wissenschaft, die Entwicklung der Kultur im allgemeinen und in ihren einzelnen Verzweigungen, ja selbst das geschichtliche Werden und Vergehen der einzelnen Völker, sowie die Geschichte der ganzen Menschheit sollen Objekte dieser Zukunftswissenschaft sein. Das Ganze ihrer Untersuchungen soll aber in zwei Teile zerfallen: in einen abstrakten, der die allgemeinen Bedingungen und Gesetze des Volksgeistes ohne Rücksicht auf die einzelnen Völker und ihre Geschichte zu erörtern habe, und in einen konkreten, der die einzelnen, wirklich existierenden Volksgeister und ihre besonderen Entwicklungsformen charakterisieren soll. Das Ganze der Völkerpsychologie wird so wieder in eine "völkergeschichtliche Psychologie" und eine "psychologische Ethnologie" geschieden.

    Lazarus und Steinthal haben die naheliegenden Einwände, die sich gegen dieses Programm erheben lassen, keineswegs übersehen. Zunächst weisen sie die Behauptung zurück, daß alle jene Probleme, die sich die Völkerpsychologie stelle, in der Geschichte und ihren einzelnen Zweigen bereits ihre Erledigung fänden. Der Gegenstand zwar sei der Völkerpsychologie mit diesen Gebieten gemeinsam, nicht aber die Art der Betrachtung. Die Geschichte der Menschheit sei "Darstellung der gewordenen Wirklichkeit im Reiche des Geistes"; sie verzichte auf die Darlegung der in dem geschichtlichen Werden waltenden Gesetze. Wie die beschreibende Naturgeschichte der Ergänzung bedürfe durch die erklärende Naturlehre, Physik, Chemie und Physiologie, so bedürfe daher die Geschichte als eine Art Naturgeschichte des Geistes der Ergänzung durch eine Physiologie des geschichtlichen Lebens der Menschheit, und dies eben sei die Völkerpsychologie. Insoweit die Historiker, insbesondere Kulturhistoriker, Philologen, Sprachforscher, ein psychologisches Verständnis der von ihnen untersuchten Tatsachen zu gewinnen suchen, liefern sie schätzbare Vorarbeiten; aber es bleibe immer noch die Aufgabe, aus den so gewonnenen Tatsachen allgemeine Gesetze zu finden, und hierzu sei erst die Völkerpsychologie berufen.

    Diese Ausführungen, welche die Berechtigung und Selbständigkeit der Völkerpsychologie dartun sollen, sind gewiß geeignet, ihrerseits die schwersten Bedenken zu erwecken. Ich bezweifle, daß die Vertreter der Geschichte und der verschiedenen anderen Geisteswissenschaften mit der hier ihnen zugedachten Rolle zufrieden sein werden. Im Grunde ist all ihr Tun doch nur dazu bestimmt, einer künftigen Völkerpsychologie Handlangerdienste zu leisten. In der Tat entspricht die Arbeitsteilung, die vorgeschlagen wird, um der Völkerpsychologie ihr Gebiet zu sichern, nicht den wirklichen Verhältnissen. Wohl ist alle Geschichte, wenn man will, "Darstellung der gewordenen Wirklichkeit im Reiche des Geistes". Aber nimmermehr kann eine solche Darstellung auf die Kausalerklärung des Geschehens Verzicht leisten. Neben der umfassenden Berücksichtigung der äußeren Naturbedingungen befleißigt sich daher jede historische Disziplin der psychologischen Interpretation. Ob es freilich jemals gelingen wird, "Gesetze des geschichtlichen Geschehens" von ähnlichem Charakter wie die Naturgesetze zu finden, mag füglich bezweifelt werden. Wenn dies aber möglich sein sollte, so würde sich ganz gewiß der Historiker nicht das Recht nehmen lassen, sie aus der umfassenden Kenntnis der Tatsachen selbst abzuleiten. Der Vergleich mit der Naturgeschichte ist schon deshalb hinfällig, weil die Gegenüberstellung einer bloß beschreibenden und einer erklärenden Bearbeitung des nämlichen Tatbestandes heute wohl von keinem Naturforscher mehr als richtig zugestanden wird. Zoologie, Botanik, Mineralogie wollen nicht minder wie Physik, Chemie und Physiologie die Objekte ihrer Untersuchung erklären und so viel als möglich in ihren kausalen Beziehungen begreifen. Der Unterschied liegt vielmehr darin, daß jene es mit der Erkenntnis der einzelnen Naturobjekte in ihrem wechselseitigen Zusammenhang, diese mit der Erkenntnis der allgemeinen Naturvorgänge zu tun haben. Einigermaßen ließe sich daher mit diesen abstrakteren Disziplinen die allgemeine Sprachwissenschaft, die vergleichende Mythologie oder die Universalgeschichte in Parallele bringen, mit jenen konkreteren die systematische Untersuchung der Einzelsprachen, der einzelnen Mythologien und die Geschichte der Einzelvölker. Doch drängt sich auch hier die Bemerkung auf, daß Gebiete von so verschiedener Natur ihre besonderen Existenzbedingungen besitzen, die eigentlich jede Vergleichung unzutreffend machen.

    Dies verrät sich im vorliegenden Fall besonders in dem viel innigeren Zusammenhang der allgemeinen mit den speziellen Disziplinen der Geisteswissenschaften. Die einzelnen Sprachentwicklungen, Mythologien und Völkergeschichten bilden so unveräußerliche Bestandteile der allgemeinen Sprachwissenschaft, Mythologie und Geschichte, daß beide einander, insbesondere aber die allgemeinen die konkreten Disziplinen voraussetzen. Man kann ein tüchtiger Physiker oder Physiologe sein, ohne in Mineralogie und Zoologie besonders eindringende Kenntnisse zu besitzen, wohl aber fordert hier das konkrete Gebiet die Kenntnis des allgemeinen. Man kann dagegen kein allgemeiner Sprachforscher und Universalhistoriker sein ohne eine gründliche Kenntnis der einzelnen Sprachen und der einzelnen Teile der Geschichte, – ja, hier ist weit eher das Gegenteil des vorigen Falles möglich: die Forschung im einzelnen kann bis zu einem gewissen Grade der Hilfe der allgemeinen Grundlagen entbehren. In der Entwicklung des geistigen Lebens bildet eben das Einzelne in viel unmittelbarerer Weise einen Bestandteil des Ganzen als in der Natur. Zerfällt diese in eine Menge von Objekten, die als solche neben den allgemeinen Gesetzen ihrer Entstehung und Veränderung Gegenstände selbständiger Betrachtung sein müssen, so trennt sich die geistige Entwicklung in jedem ihrer Hauptgebiete immer nur in eine große Zahl von Einzelentwicklungen, die integrierende Bestandteile des Ganzen bilden. Darum bleiben der Stoff und die Art der Betrachtung die nämlichen in den Einzelgebieten wie in den allgemeinen Wissenschaften, die sich auf ihnen aufbauen. Der schon in der Naturwissenschaft unzutreffende Gegensatz einer bloß beschreibenden und einer erklärenden Untersuchung der Erscheinungen wird somit hier ganz und gar hinfällig. Wo es sich nur um Unterschiede des Umfangs, nicht des Inhalts der untersuchten Objekte handelt, da kann auch von Verschiedenheiten der wesentlichen Methode oder der allgemeinen Aufgabe nicht mehr die Rede sein. Diese letztere besteht überall nicht bloß in der Schilderung der Tatsachen, sondern zugleich in der Nachweisung ihres Zusammenhanges und, so weit dies nur immer möglich ist, in ihrer psychologischen Interpretation. Wo also hier die Völkerpsychologie mit ihrer Arbeit eintreten möchte: sie findet aller Orten schon die Einzelforschung am Werk, diese Arbeit selber zu leisten.

    Immerhin könnte man denken, daß in einer Beziehung noch eine Lücke bleibe, die der Ausfüllung durch eine besonders geartete Forschung bedürfe. Jede einzelne der historischen Wissenschaften verfolgt den Prozeß des geschichtlichen Werdens nur in einer einzelnen Richtung des geistigen Lebens. So sind Sprache, Mythus, Kunst, Wissenschaft, Staatenbildungen und äußere Schicksale der Völker gesonderte Objekte verschiedener Geschichtswissenschaften. Sollte es nun nicht notwendig sein, alle diese einzelnen Strahlen des geistigen Lebens gleichsam in einem einzigen Brennpunkte zu sammeln, die Resultate aller jener Entwicklungen noch einmal zum Gegenstand einer sie vereinigenden und vergleichenden geschichtlichen Betrachtung zu machen? In der Tat ist das eine Aufgabe, die man auch bisher nicht ganz übersehen hat. Teils hat die allgemeine Geschichte selbst das Bedürfnis empfunden, die verschiedenen Momente der Kultur und Sitte in ihre Schilderung aufzunehmen. Besonders aber ist eine derartig zusammenfassende Betrachtung stets als die wahre Aufgabe einer Philosophie der Geschichte angesehen worden. Auch Lazarus und Steinthal verkennen die nahe Beziehung, in der das Programm ihrer Völkerpsychologie zu den Aufgaben einer Geschichtsphilosophie steht, keineswegs; aber sie sind der Meinung, man habe hierbei immer nur eine übersichtliche und räsonierende Darstellung des geistigen Inhalts, eine Art Quintessenz der Geschichte zu geben versucht und nie sein Augenmerk auf die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung gerichtet 3). Ich weiß nicht, ob der Vorwurf in dieser Allgemeinheit berechtigt ist. Sowohl Herder wie Hegel, an die wir doch zunächst denken werden, wenn von Philosophie der Geschichte die Rede ist, haben sich bemüht, bestimmte Gesetze der Entwicklung in dem allgemeinen Verlauf der Geschichte nachzuweisen. Wenn sie nach unserer heutigen Meinung zu einem befriedigenden Ergebnisse nicht gelangt sind, so lag dies nicht daran, daß sie keinen Versuch der Verallgemeinerung von Gesetzen gemacht haben, sondern an der Unvollkommenheit oder Zweckwidrigkeit der Hilfsmittel und Methoden, deren sie sich bedienten, also an Bedingungen, die im Grunde jedes Unternehmen auf einem so schwierigen Gebiete zu einem mehr oder weniger transitorischen machen. Wenn jene Geschichtsphilosophen aber insbesondere nicht bestrebt waren, rein psychologische Gesetze der historischen Entwicklung aufzustellen, so waren sie dabei vielleicht nicht im Unrecht, da die psychischen Kräfte immerhin nur eines der Elemente abgeben, die für den Kausalzusammenhang der Geschichte in Betracht kommen. Denn hier spielen namentlich auch die schon von Herder so sehr hervorgehobenen und von Hegel über Gebühr mißachteten Naturbedingungen sowie die mannigfachen äußeren Einflüsse, welche die Kultur mit sich führt, eine wichtige Rolle.

            3) a. a. O. S. 20.

2. Das Programm einer historischen Prinzipienwissenschaft.

    Sollen wir nun angesichts solcher Bedenken der Völkerpsychologie überhaupt ihre Berechtigung absprechen? Gehören, wie es nach diesen Erörterungen scheinen könnte, ihre Probleme durchgehends in andere Wissensgebiete, so daß eine selbständige Aufgabe für sie nicht mehr übrig bleibt? In der Tat ist diese Folgerung gezogen worden. Insbesondere hat derselben Hermann Paul in seinem verdienstvollen Buche "Prinzipien der Sprachgeschichte" Ausdruck gegeben. Die Gesichtspunkte, von denen aus er zu dieser Ansicht gelangt, sind aber zum Teil andere als die oben geltend gemachten.

    Paul geht in seinen Erörterungen von einer Zweiteilung aller Wissenschaften in Gesetzeswissenschaften und in Geschichtswissenschaften aus 4). Die ersteren zerfallen in Naturlehre und Psychologie, die letzteren in die historischen Naturwissenschaften und die historischen Kulturwissenschaften. Den Gesetzeswissenschaften sei der Begriff der Entwicklung völlig fremd, ja mit ihrem Begriffe unvereinbar; in den Geschichtswissenschaften sei im Gegenteil der Begriff der Entwicklung der alles beherrschende. Dieser Gegensatz beider Gebiete fordere nun aber seine Ausgleichung in einer zwischen ihnen stehenden Wissenschaft, der Geschichtsphilosophie oder Prinzipienwissenschaft. Was Lazarus und Steinthal als Aufgabe der Völkerpsychologie hinstellen, das ist daher nach Paul eben die Aufgabe der Prinzipienwissenschaft, die sich nach ihm in ebenso viele Zweige trennt, als es einigermaßen voneinander gesonderte Gebiete historischer Entwicklung gibt. Das Bestreben aller dieser Prinzipienwissenschaften müsse dahin gerichtet sein nachzuweisen, wie unter der Voraussetzung konstanter Kräfte und Verhältnisse dennoch eine Entwicklung möglich sei. Weil es nur individuelle Seelen gibt, so kann es nach Paul auch nur eine individuelle Psychologie geben. In der an die Verbindung der Individuen gebundenen Kulturentwicklung können keine Kräfte frei werden, die nicht in der einzelnen Seele schon vorhanden sind, und es können daher auch in dieser Entwicklung keine Gesetze zur Geltung kommen, die nicht in der einzelnen Seele schon wirksam sind.

4) Hier ist zunächst die zweite Auflage des Paulschen Werkes, Halle 1886, Einleitung, zugrunde gelegt. In allem Wesentlichen stimmt übrigens die erste 1880 erschienene mit der zweiten überein. Das gleiche gilt von der vierten 1909 erschienenen Auflage.
 
 
    Die Möglichkeit dieses letzten auf die Nichtexistenz einer mythologischen Volksseele gegründeten Einwandes ist nun freilich auch schon von Lazarus und Steinthal nicht übersehen worden. Eine "Psyche des Volkes" im eigentlichen Sinne des Wortes, meinen sie, sei undenkbar. Aber auch für die individuelle Psychologie – so wird dieser selbsterhobene Einwand sofort widerlegt – sei "die Erkenntnis der Seele, d. h. der Substanz und Qualität derselben, keineswegs das Ziel oder auch nur das Wesentliche ihrer Aufgabe". Diese bestehe vielmehr in der "Darstellung des psychischen Prozesses und Progresses, also in der Entdeckung der Gesetze, nach denen jede innere Tätigkeit des Menschen vor sich geht, und in der Auffindung der Ursachen und Bedingungen jedes Fortschrittes und jeder Erhebung in dieser Tätigkeit". Die Psychologie selbst wird daher von den Verfassern auch als "Geisteslehre" bezeichnet, während die "Seelenlehre" vielmehr ein Teil der Metaphysik oder Naturphilosophie sei, sofern man unter "Seele" das Wesen oder die Substanz der Seele an sich, unter "Geist" die Tätigkeit der Seele und deren Gesetze verstehe. In diesem Sinne könne zwar nicht von einer Volksseele, wohl aber von einem Volksgeiste ganz ebenso wie vom individuellen Geiste geredet werden, und es stelle sich hiermit die Völkerpsychologie der Individualpsychologie vollkommen gleichberechtigt zur Seite 5).

            5) a. a. O. S. 28 f.

    Selten ist wohl von einem Anhänger des substantiellen Seelenbegriffs dessen völlige Unbrauchbarkeit für die psychologische Erklärung unzweideutiger zugestanden worden, als es in diesen Worten der beiden Herbartianer geschieht. Bezeichnenderweise wird die Frage nach der Seelensubstanz aus der Psychologie in die Naturphilosophie verwiesen, die ja in Wahrheit die eigentliche Quelle dieses Begriffes ist, die ihn aber doch sicherlich nicht aus eigenem Bedürfnis gebildet hat, sondern nur weil sie meinte, damit der Psychologie einen Dienst zu leisten. Wird diese Hilfe, wie es hier geschieht, zurückgewiesen, so ist nicht abzusehen, welche Bedeutung jener Begriff überhaupt besitzen soll 6). Immerhin sieht man, wie gewaltig hier noch der Einfluß metaphysischer Standpunkte bleibt. Lazarus und Steinthal haben tatsächlich die Herbartsche Grundvoraussetzung verlassen, und nur dadurch ist es ihnen möglich geworden zur Idee einer Völkerpsychologie zu kommen. Hermann Paul kehrt zur korrekten Auffassung Herbarts zurück, und da es für diesen nur eine Individualpsychologie geben kann, so spricht er folgerichtig der Völkerpsychologie ihr Recht auf Existenz ab. Aber Lazarus und Steinthal behalten merkwürdigerweise, obgleich sie den Standpunkt Herbarts im Prinzip verlassen, doch dessen einzelne Voraussetzungen bei: sie reden zwar von Entwicklungsprozessen auch in der individuellen Seele, gleichwohl legen sie allen ihren Erklärungen die Herbartsche Idee eines Vorstellungsmechanismus zugrunde, der eigentlich alle Entwicklung ausschließt. Wenn die sämtlichen psychischen Prozesse von den niedersten bis zu den höchsten und der einförmigen Wiederholung der nämlichen Vorstellungsmechanik beruhen, so müssen die Bedingungen jeder Entwicklung konsequenterweise in äußere zufällige Wechselwirkungen mit der Naturumgebung verlegt werden. So hat denn auch Herbart ganz im Geiste seiner Grundvoraussetzung angenommen, der Unterschied zwischen Mensch und Tier beruhe schließlich nur auf den Unterschieden der körperlichen Organisation und auf den Rückwirkungen, die diese auf die Seele ausübe. Nirgends kommt deutlicher als in diesen Folgerungen der unbewußte Materialismus, der jener ganzen Seelenmetaphysik zugrunde liegt, zum Vorschein. Auch in diesem Punkte bleibt nun Paul der Herbartschen Lehre treu. Die Psychologie ist ihm "Gesetzeswissenschaft", und als solcher ist Entwicklung ein ihr fremder Begriff. Die abstrakten Gesetze, die sie findet, gehen aller geistigen Entwicklung voran: diese ist überall erst ein Produkt der Ku1tur, d. h. der Wechselwirkungen jener Gesetze mit äußeren materiellen Bedingungen und Einflüssen. Mit den Produkten dieser Wechselwirkungen hat es aber die geschichtliche Betrachtung zu tun.

6) Vgl. meine Logik 4. III, S. 240 ff.
 
 
    Dennoch wird auch Paul kaum dem Zugeständnis, das Lazarus und Steinthal bereits der psychologischen Untersuchung gemacht haben, entgehen können, daß jene Gesetze, in deren Feststellung ihre Aufgabe als Gesetzeswissenschaft bestehen soll, nicht irgendeinem von außen herbeigeholten Seelenbegriff, sondern der inneren Erfahrung selber entnommen werden müssen. Dann wird aber, wie dies jene Forscher bereits eingeräumt, zum eigentlichen Objekt der Psychologie lediglich der Tatbestand des psychischen Geschehens. Die Seele im Sinne der psychologischen Untersuchung ist kein außerhalb dieses Tatbestandes gelegenes Wesen mehr, sondern sie ist dieser Tatbestand selber; mit anderen Worten: jene Unterscheidung zwischen Seele und Geist, die ohnehin schon die erstere aus der Psychologie in die Metaphysik oder gar in die Naturphilosophie verwiesen hatte, wird für die Psychologie völlig gegenstandslos. Nennt sie das Objekt ihrer Untersuchung, dem alten Sprachgebrauch folgend, Seele, so ist diese Seele eben nichts anderes als die Gesamtheit aller inneren Erlebnisse. Nun gibt es unzweifelhaft unter diesen Erlebnissen solche, die stets einer großen Zahl von Individuen gemeinsam sind, ja für viele psychische Erzeugnisse, wie die Sprache, die mythischen Vorstellungen, ist diese Gemeinschaft geradezu eine Lebensbedingung ihrer Existenz. Es bleibt daher nicht abzusehen, warum wir nicht vom Standpunkte des oben bezeichneten aktuellen Seelenbegriffs aus diese gemeinsamen Vorstellungsbildungen, Gefühle und Strebungen mit demselben Rechte als Inhalt einer Volksseele ansehen, wie wir unsere eigenen Vorstellungen und Gemütserregungen als den Inhalt unserer individuellen Seele betrachten, oder warum wir etwa jener Volksseele weniger Realität als unserer eigenen Seele beilegen sollen.

    Nun wird man freilich entgegnen, die Volksseele bestehe doch immer nur aus den einzelnen Seelen, die an ihr teilnehmen; sie sei nichts außerhalb der letzteren, und alles, was sie erzeuge, führe darum mit Notwendigkeit auf die Eigenschaften und Kräfte der individuellen Seele zurück. Aber wenn auch selbstverständlich zuzugeben ist, daß die Vorbedingungen zu allem, was eine Gesamtheit hervorbringt, schon. in den Mitgliedern derselben gelegen sein müssen, so ist damit doch keineswegs gesagt, daß diese Erzeugnisse auch aus jenen Vorbedingungen vollständig erklärbar sind. Vielmehr ist zu erwarten, daß die Koexistenz einer Vielheit gleichartiger Individuen und die Wechselwirkung, die sie mit sich führt, als eine neu hinzutretende Bedingung auch neue Erscheinungen mit eigentümlichen Gesetzen hervorbringen wird. Diese Gesetze werden zwar niemals mit den Gesetzen des individuellen Bewußtseins in Widerstreit treten können, aber sie werden darum doch in den letzteren ebensowenig schon enthalten sein, wie etwa die Gesetze des Stoffwechsels der Organismen in den allgemeinen Affinitätsgesetzen der Körper enthalten sind. Auf psychologischem Gebiete kommt hier sogar noch das besondere Moment hinzu, daß für alle unsere Beobachtung die Realität der Volksseele eine ebenso ursprüngliche ist, wie die Realität der Einzelseelen, und daß daher der Einzelne nicht nur an den Wirkungen des Ganzen teilnimmt, sondern fast in noch höherem Maße von der Entwicklung des Ganzen, dem er angehört, abhängt. So fallen beispielsweise die logischen Verbindungen der Vorstellungen schon in das Gebiet individual - psychologischer Untersuchung. Aber es ist einleuchtend, diese Verbindungen sind von der Existenz der Sprache und der in ihr geschehenden Gedankenbildung so gewaltig beeinflußt, daß es vergeblich sein würde, von den Wirkungen solcher Einflüsse bei der Untersuchung des individuellen Bewußtseins zu abstrahieren. Darum bleibt, sofern man sich nur auf den Standpunkt der Tatsachen stellt und von allen für die Untersuchung doch völlig unnützen metaphysischen Hypothesen absieht, der Völkerpsychologie vollständig ihr Recht gewahrt. Im allgemeinen werden die in ihr zu behandelnden Probleme zwar die Individualpsychologie voraussetzen, dagegen wird sie in gar mancher Beziehung ihrerseits wieder, insbesondere bei den komplexen geistigen Vorgängen, auf die Erklärung der individuellen Bewußtseinserscheinungen einen Einfluß gewinnen müssen.

    Doch es ist nicht bloß jenes metaphysische Vorurteil, welches der Anerkennung der neuen psychologischen Disziplin im Wege zu stehen scheint, sondern noch zwei andere mehr tatsächliche Gründe werden von Paul in ähnlichem Sinne geltend gemacht. Erstens ist alle Wechselwirkung der Individuen und darum alle Kultur von physischen Einflüssen mitbedingt; deshalb können die kulturgeschichtlichen Gebiete nicht gleichzeitig Objekte einer rein psychologischen, d. h. nur den seelischen Vorgängen zugewandten Betrachtung sein. Zweitens ist alle Kulturgeschichte Entwicklung, die Psychologie aber ist Gesetzeswissenschaft, sie hat nur die auf allen Entwicklungsstufen gleichförmig wirksamen geistigen Gesetze festzustellen, nicht die Entwicklung selbst zu verfolgen oder gar abzuleiten.

    Gleichwohl kann ich auch diesen beiden Einwänden keine Berechtigung zugestehen, und zwar deshalb, weil der Begriff von Psychologie, der ihnen zugrunde liegt, wie ich meine, ein irriger ist. Zunächst soll diese Psychologie die Gesetze des geistigen Lebens, wie sie an sich selbst sind, also unabhängig von allen physischen Einflüssen feststellen. Aber wo gibt es denn ein geistiges Geschehen, das von solchen Einflüssen unabhängig, oder das ohne alle Rücksicht auf diese in seinem kausalen Zusammenhang zu begreifen wäre? Von den einfachen Sinnesempfindungen und Sinneswahrnehmungen an bis zu den verwickeltsten Denkprozessen ist unser seelisches Leben an jene Beziehungen zur physischen Organisation gebunden, die wir, solange wir uns auf dem Boden empirisch-psychologischer Betrachtung bewegen, doch wahrlich in nicht anderem Sinne als physische Einwirkungen auffassen müssen, wie wir etwa die Kulturentwicklung in ihren verschiedenen Verzweigungen auf Wechselbeziehungen des geistigen Lebens mit äußeren Naturbedingungen zurückzuführen suchen. Eine Seelenmechanik, welche die Vorstellungen als imaginäre Wesen behandelt, die ihren von physischen Einflüssen völlig unberührten Gesetzen der Bewegung und Hemmung unterworfen sind, ist eine völlig transzendente Wissenschaft, die mit der wirklichen Psychologie, d. h. mit derjenigen, die den Tatbestand des psychischen Geschehens in seinen Bedingungen und Wechselbeziehungen zu begreifen strebt, nichts als den Namen gemein hat.

    Nur aus der nämlichen Vorstellung einer imaginären Seelenmechanik heraus, die sich zur wirklichen Psychologie ebenso verhält wie das metaphysische Luftschloß einer Welt an sich zur wirklichen Naturlehre, begreift sich auch der zweite Einwand: die Psychologie sei "Gesetzeswissenschaft", und darum sei ihr der Begriff der Entwicklung fremd, ja er stehe mit ihr im Widerspruch. Es mag sein, daß er mit dem Seelenbegriff, der dieser psychologischen Anschauung als Folie dient, im Widerspruch steht. Aber steht er auch im Widerspruch mit dem wirklichen Seelenleben, wie es uns in seiner durch psychologische Hypothesen unverfälschten Gestalt in den Tatsachen des individuellen Bewußtseins entgegentritt? Ist hier nicht wiederum alles Entwicklung, von der Bildung der einfachsten Sinneswahrnehmungen an bis zu der Entstehung der verwickeltsten Gefühls- und Gedankenprozesse? Hat auch die Psychologie, soweit sie es vermag, diese Erscheinungen auf Gesetze zurückzuführen, so darf sie doch nimmermehr solche Gesetze von den Tatsachen der geistigen Entwicklung selber loslösen. Einer Psychologie, die dies zustande brächte, wäre schließlich ihr eigentlicher Gegenstand abhanden gekommen. Wir dürfen nie vergessen, daß die "Gesetze", die wir für ein Gebiet von Tatsachen aufstellen, nur so lange eine Berechtigung besitzen, als sie diese Tatsachen wirklich in einen erklärenden Zusammenhang bringen. Gesetze, die dies nicht leisten, sind nicht mehr Förderungsmittel, sondern Hemmnisse der Erkenntnis. Welche der Tatsachen des individuellen wie des allgemeinen geistigen Lebens wäre aber bedeutsamer als eben die der Entwicklung?

    Auch hier hat, wie ich glaube, die sachgemäße Auffassung der Verhältnisse, wie so oft, unter der Anwendung unzutreffender Analogien notgelitten. Indem man die Mechanik und abstrakte Physik als die Urbilder betrachtet, denen jede erklärende Wissenschaft nacheifern müsse, läßt man die Verschiedenheit der Bedingungen, unter denen die Gebiete stehen, außer Acht. Wenn die Psychologie in methodischer Beziehung überhaupt mit irgendeiner Naturwissenschaft verglichen werden kann, so kommt ihr sicherlich die Physiologie, und zwar, insofern wir von menschlicher Psychologie reden, die Physiologie des Menschen, viel näher als jene aus der Untersuchung der allgemeinsten und völlig unveränderlichen Eigenschaften der Körperwelt hervorgegangenen Gebiete. Kein Physiologe wird aber zugeben, daß die Frage der Entwicklung des Lebens und seiner Funktionen nicht vor das Forum der Physiologie gehöre, und daß nicht schließlich nach "Gesetzen" gesucht werden müsse, die über diese Entwicklung Rechenschaft geben. Ich meine, was für die Physiologie unbestreitbar ist, das trifft für die Psychologie in noch höherem Maße zu. Bei den physiologischen Vorgängen läßt sich immerhin in manchen Fällen, wo es sich nur um das Verständnis eines gegebenen Mechanismus oder Chemismus innerhalb des lebenden Körpers handelt, von der genetischen Frage abstrahieren. Auf psychologischem Gebiete ist geradezu alles in den Fluß jenes nie rastenden geistigen Werdens gestellt, das im Gebiete des geschichtlichen Werdens in anderen Formen sich äußern mag, aber in seinen Grundbedingungen schließlich doch übereinstimmt, weil alle geschichtliche Entwicklung in den Grundtatsachen geistiger Entwicklung, die im individuellen Leben hervortreten, ihre Quelle hat. Wenn es hier jemals gelingen soll, die Tatsachen unter Gesetze zu bringen, so werden diese daher nie als zureichende gelten können, wenn sie nicht zu einem großen Teile selbst den Charakter von Entwicklungsgesetzen besitzen.

    Die Psychologie verhält sich hier nicht anders als jede andere Geisteswissenschaft. Auch die Sprachwissenschaft verzichtet ja, obgleich ihr Objekt fortwährend dem Fluß geschichtlicher Entwicklung unterworfen ist, keineswegs auf die Formulierung empirischer Gesetze. Ob solche Verallgemeinerungen ein engeres oder weiteres Umfangsgebiet besitzen, ist schließlich ein für das Wesen der Sache gleichgültiger Umstand. Die empirischen Gesetze, welche die Sprachwissenschaft findet, sind aber in letzter Instanz samt und sonders Entwicklungsgesetze. Die Gesetze des Lautwandels z. B. stellen fest, wie sich der Lautbestand einer Sprache oder Sprachengruppe im Laufe der Zeit verändert hat. Die Gesetze der Formbildung bestimmen, wie die sprachlichen Formen geworden sind und wie sie sich umgewandelt haben. Wenn die Psychologie gewisse Regelmäßigkeiten des inneren Geschehens als "Gesetze" bezeichnet, die dieses Moment des Werdens nicht unmittelbar erkennen lassen, so bilden diese in Wahrheit nur eine scheinbare Ausnahme. Sie verhalten sich ebenso wie jene grammatischen Gesetze, bei denen man von dem Werden der sprachlichen Laute und Formen abstrahiert, um den Organismus einer gegebenen Sprache in einem bestimmten, als ruhend gedachten Zustande darzustellen, oder wie jene Gesetze der Physiologie, denen man lediglich die im entwickelten menschlichen Organismus vorkommenden Verhältnisse zugrunde legt. So sind gewisse Assoziations- und Apperzeptionsgesetze für eine bestimmte Bewußtseinsstufe von relativ allgemeingültiger Art. Aber jene Stufe selbst steht inmitten einer langen Entwicklungsreihe, und ein psychologisches Verhältnis der für sie geltenden Gesetze wird stets die Erkenntnis der niederen Formen des Geschehens voraussetzen, aus denen sie sich entwickelt haben.

    Das geistige Leben ist im Bewußtsein des Menschen ein anderes als im Bewußtsein der höheren Tiere, ja zum Teil im Bewußtsein des Kulturmenschen ein anderes als in dem des Wilden. Es ist völlig aussichtslos zu erwarten, daß es uns jemals gelingen werde, die Erscheinungen, welche die höhere Stufe bietet, den nämlichen "Gesetzen" vollständig unterzuordnen, denen das geistige Leben der niederen folgt. Dennoch besteht zwischen beiden ein innerer Zusammenhang, der uns, auch abgesehen von allen genealogischen Annahmen, die Aufgabe stellt, die Gesetze der höheren Stufe in gewissem Sinne als die Entwicklungsprodukte der niederen aufzufassen. Alle geistigen Erscheinungen sind eben jenem Fluß des geschichtlichen Werdens unterworfen, bei dem das Vorangegangene zwar immer die Anlagen in sich enthält, aus denen sich die für das Folgende gültigen Gesetze entwickeln werden, wo aber diese Gesetze selbst aus jenen Anlagen niemals erschöpfend vorausbestimmt werden können. Darum kann in einem gegebenen Moment höchstens die Richtung einer kommenden Entwicklung, nie diese selbst vorausgesagt werden. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt aber darin, daß schon bei der Entwicklung der allgemeinen Bewußtseinsfunktionen neben der in den psychischen Tatsachen selbst gegebenen Vorbereitung stets auch noch die Abhängigkeit von äußeren Naturbedingungen eine wichtige Rolle spielt. Diese Abhängigkeit ist es eben, die jene Annahme psychologischer Gesetze, die allen Beziehungen zu der physischen Organisation vorausgehen und die letztere höchstens als Hilfsmittel zu ihren Zwecken verwenden sollen, zu einer unhaltbaren Fiktion macht. Die Psychologie hat es überall mit Entwicklungen zu tun, die genau ebenso wie alle geistigen Vorgänge an die mannigfachen äußeren Beziehungen der Wesen und an die Beziehung zu ihrer eigenen Körperlichkeit geknüpft sind. Ein Herausschälen von Gesetzen, bei denen man von allen diesen Beziehungen abstrahiert, ist daher für die Psychologie genau ebenso unmöglich wie auf irgendeinem anderen Gebiete geschichtlichen Werdens. Nur wenn man den Begriff des "Gesetzes" nicht in dem in allen Erfahrungswissenschaften gültigen Sinne der abstrakten Verallgemeinerung gewisser Regelmäßigkeiten der Erfahrung versteht, sondern wenn man ihm die Bedeutung einer aus metaphysischen Voraussetzungen abgeleiteten Norm unterschiebt, der sich die Wirklichkeit aus irgendwelchen Gründen a priori fügen müsse, – nur dann mögen die "Gesetze" jene über allen Bedingungen der Zeit und äußerer Beziehungen stehende Gestalt gewinnen. Aber solche der Psychologie von außen entgegengebrachte, nicht aus ihrem Gegenstand selbst abgeleitete Gesetze haben sich bis jetzt noch immer als unbrauchbar für die Interpretation des psychischen Geschehens erwiesen, obgleich es selbstverständlich an Bemühungen nicht mangelte, sie künstlich mit den Tatsachen in Verbindung zu bringen. Auch dann konnte es freilich nicht ausbleiben, daß gerade das Hauptproblem der Psychologie, die Frage der geistigen Entwicklung, von diesen angeblichen Gesetzen unberührt blieb.

3. Die Hauptgebiete der Völkerpsychologie.

    So scheint denn als das schließliche Resultat unserer Erwägungen eine völlige Unsicherheit darüber zurückzubleiben, was als die eigentliche Aufgabe der Völkerpsychologie zu betrachten sei. Auf der einen Seite war nicht zu verkennen, daß das von Lazarus und Steinthal aufgestellte Programm nicht haltbar ist. Jene Scheidung zwischen Beschreibung und Erklärung, die sie annehmen, besteht nirgends zu Recht, und die neue Disziplin, die sie fordern, findet daher überall schon die Plätze besetzt, die sie einzunehmen bestimmt ist. Anderseits aber konnten auch die aus dem Begriff der Psychologie und ihrer Aufgaben geschöpften Einwände gegen die Existenz einer Völkerpsychologie nicht als zutreffend anerkannt werden. Der Abhängigkeit von äußeren Einflüssen und dem Prozeß geschichtlicher Entwicklung ist das Individuum so gut unterworfen wie irgendeine Gesamtheit; eine der Hauptaufgaben der Psychologie wird es daher immer bleiben, jene Wechselwirkungen zu untersuchen und diese Entwicklung begreiflich zu machen. Lassen wir den für die Erfahrung unbrauchbaren metaphysischen Seelenbegriff und die mit ihm zusammenhängende Fiktion von "Gesetzen" beiseite, verstehen wir unter "Seele" lediglich den gesamten Inhalt seelischer Erfahrungen, unter psychischen Gesetzen die an diesen Erfahrungen wahrzunehmenden Regelmäßigkeiten, so ist die "Volksseele" an sich ein ebenso berechtigter, ja notwendiger Gegenstand psychologischer Untersuchung wie die individuelle Seele. Und da es Regelmäßigkeiten des geistigen Geschehens gibt, die an die wechselseitigen Beziehungen der Individuen gebunden sind, so würde die Völkerpsychologie sogar mit demselben Rechte den Anspruch erheben können "Gesetzeswissenschaft" zu heißen wie die Individualpsychologie.

    Unter diesen Umständen liegt die Vermutung nahe, das Programm, das Lazarus und Steinthal für die Völkerpsychologie entwickelten, sei nicht deshalb unzutreffend, weil es eine solche Wissenschaft mit selbständigen Aufgaben überhaupt nicht gibt, sondern weil jenes Programm zu weit ist und die Scheidung der wissenschaftlichen Aufgaben in ungeeigneter Weise bestimmt.

    In der Tat kann in dieser Beziehung schon die Aufstellung eines besonderen oder konkreten Teils der Völkerpsychologie gerechte Bedenken erwecken. Sie soll "die wirklich existierenden Volksgeister und ihre besonderen Entwicklungsformen" behandeln und so eine psychologische Beschreibung und Charakteristik der einzelnen Völker liefern. Nun ist aber ein derartiges Unternehmen die wahre Aufgabe der Ethnologie, die mit gutem Recht gleichzeitig die physischen und die psychischen Eigenschaften der Völker in ihren wechselseitigen Beziehungen und in ihrer Abhängigkeit von Natur und Geschichte zur Darstellung zu bringen sucht. Die Ablösung des psychologischen Teils dieser Betrachtung kann im Interesse der Arbeitsteilung vorübergehend von Nutzen sein. Niemals kann aber hier eine prinzipielle Sonderung zugestanden werden, wie denn auch diejenigen Forscher, die vorzugsweise das Gebiet der psychologischen Ethnologie bearbeiteten, jene Trennung ausdrücklich ablehnten 7). Obgleich übrigens die Ethnologie zu einer allgemeinen Schilderung der psychischen Eigenschaften des Menschen zunächst das Material zu liefern hat, und daher jedenfalls eine wichtige Hilfsdisziplin der Völkerpsychologie ist, so steht doch ihr selbst nicht diese, sondern die Anthropologie als die ihr entsprechende allgemeine Disziplin gegenüber. Auch die Anthropologie hält aber zwischen der physiologischen und der psychologischen Betrachtung des Menschen die Mitte, da sie als Naturgeschichte des Menschen diesen gleichzeitig nach seinen körperlichen und geistigen Eigenschaften ins Auge faßt.

7) Ich nenne hier namentlich Theodor Waitz in seiner "Anthropologie der Naturvölker". Die Arbeiten von E. B. Tylor, J. G. Frazer u. a. fallen, als wesentlich komparativer Natur, mehr der eigentlichen Völkerpsycholo-gie zu.
 
 
    Scheiden wir demnach diese ethnologischen und anthropologischen Aufgaben aus, so umfaßt übrigens, was nach Lazarus und Steinthal als Inhalt des allgemeinen Teils der Völkerpsychologie übrig bleibt, immer noch, wie ich glaube, Gebiete, die wenigstens von den grundlegenden Untersuchungen derselben auszuschließen sind. Vor allem ist hier die allgemeine Geschichte zu nennen. Für sie ist die Psychologie ein wichtiges Hilfsmittel, da die psychologische Interpretation für jedes tiefere Verständnis geschichtlicher Zusammenhänge unentbehrlich ist. Dagegen kann die Geschichte selbst wegen der komplexen Natur des historischen Geschehens nicht den grundlegenden Gebieten der Völkerpsychologie zugezählt werden. In der Geschichte des einzelnen Volkes besitzen die Vorgänge einen derart singulären Charakter, daß zwar Analogien zwischen verschiedenen Epochen, nicht aber allgemeingültige psychologische Entwicklungsgesetze des Verlaufs im ganzen möglich sind. Innerhalb einer universalgeschichtlichen Betrachtung dagegen verbinden sich die seelischen Motive mit einer Fülle von naturgeschichtlichen und soziologischen Bedingungen, die weit über das Gebiet der Aufgaben psychologischer Analyse hinausreichen, während alle diese Elemente in ihrer Gesamtheit einer philosophischen Betrachtung zustreben. Wo man jemals allgemeine Gesetze der historischen Entwicklung zu formulieren versucht hat, da besitzen daher diese, mögen sie nun zutreffend sein oder nicht, stets und mit innerer Notwendigkeit den Charakter philosophischer Prinzipien. Wo bei ihrer Aufstellung die Völkerpsychologie mitgewirkt hat, wie es notwendig geschehen muß, wenn eine solche Geschichtsphilosophie nicht auf die Irrwege konstruktiver Spekulation geraten soll, da handelt es sich daher um Einzelprobleme. So sind die Fragen nach den Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft, der Sitte und des Rechts, der Kunst, der Religion usw. zunächst Probleme der Völkerpsychologie und dann in einem weiteren Zusammenhang erst solche der Geschichtsphilosophie. Unter völkerpsychologische Gesichtspunkte fallen aber diese einzelnen Entwicklungen nur insoweit, als sie bei allen Völkern vermöge der allgemeinen Anlagen der menschlichen Natur wesentlich übereinstimmende Züge bieten. Dies trifft vor allem für die Anfänge des gemeinsamen Lebens zu, während auf den späteren Stufen mit der Zunahme äußerer und innerer singulärer Einflüsse die Mannigfaltigkeit der Entwicklungen die allgemeingültigen psychischen Motive mehr und mehr zurücktreten und in der Gesamtheit der historischen Bedingungen aufgehen läßt. Darum bildet die Völkerpsychologie neben der Individualpsychologie eine Grundlage der Geschichte, nicht umgekehrt; und insoweit gehören Universalgeschichte und Völkerpsychologie nur in dem Sinne zusammen, daß sich beide verbinden müssen, um zu einer philosophischen Betrachtung der historischen Menschheit zu gelangen.

    Wesentlich abweichend von der Geschichte verhalten sich im allgemeinen dagegen die Entwicklungen der Kunst und der Wissenschaft.

    Die Kunst bildet in ihren Anfängen kein selbständiges Gebiet gemeinsamen Lebens, sondern sie ist so innig verwachsen mit Mythus und Sitte, daß sie nur in der Betrachtung der allgemeinen Formen, nicht der Grundmotive ihrer Entstehung und ersten Entwicklung von jenen sich sondern läßt. Sind es auch neben äußeren Naturbedingungen technische und frühe schon selbständige ästhetische Motive, die das künstlerische Schaffen bestimmen, so entspringen diese doch zum Teil selbst den mythologischen Trieben, die sich in mimischen und bildlichen Darstellungen oder in Lied und Erzählung objektivieren müssen, wenn sie zu eigenem Leben erwachen sollen. Nicht minder ist die Wissenschaft ursprünglich ganz im mythologischen Denken eingeschlossen, und lange noch wirkt dieses in ihr nach. Dauernder als diese beiden bleibt endlich ein drittes Gebiet gemeinsamen Lebens, die Religion, mit dem Mythus verwachsen, daher das Problem ihrer Entwicklung aus dem Mythus eines der wichtigsten Probleme der Völkerpsychologie überhaupt ist, das freilich wieder ganz mit dem des Mythus selber zusammenfällt. Diesen drei Gebieten ist aber gemeinsam, daß von dem Augenblick an, wo sie sich von Mythus und Sitte zu scheiden beginnen, um ihnen selbständig gegenüberzutreten, die Einzelpersönlichkeit entscheidender auf die Gesamtentwicklung einzuwirken beginnt, und daß gleichzeitig die singulären Merkmale der Einzelentwicklungen mehr und mehr überwiegen. Hier wird dann die völkerpsychologische von der historischen Betrachtung abgelöst. Insofern aber auch in der letzteren generelle Motive nicht fehlen, die sich zumeist als direkte Fortsetzungen der in den Anfängen menschlicher Geistesentwicklung wirksamen Kräfte betrachten lassen, bleibt der Völkerpsychologie nur noch die Aufgabe, die Richtlinien zu ziehen, die in diese geschichtlichen Differenzierungen der allgemeinen Geistesentwicklung hinüberführen. Hier berührt sie sich daher wieder auf der einen Seite mit der Ästhetik und Religionsphilosophie, auf der anderen mit der Philosophie der Geschichte.

    Demnach bleiben schließlich drei große Gebiete übrig, für die eine spezifisch psychologische Betrachtung gefordert scheint, – drei Gebiete, die, weil ihr Inhalt den Umfang des individuellen Bewußtseins überschreitet, zugleich die drei Grundprobleme der Völkerpsychologie umfassen: die Sprache, der Mythus und die Sitte.

    Auch sie bilden freilich zunächst Objekte einer rein historischen Betrachtung, bei der, wie bei jeder Geschichte, die psychologische Erklärung überall nur als Hilfsmittel der Interpretation in Betracht kommt. Aber von der eigentlichen Geschichte unterscheiden sich jene Gebiete durch den allgemeingültigen Charakter bestimmter geistiger Entwicklungsgesetze, die in ihnen zur Erscheinung gelangen. Keineswegs in allen Tatsachen tritt dieser Charakter hervor: jede Sprache, jede nationale Mythenbildung und Sittenentwicklung steht unter ihren besonderen, auf keine allgemeingültigen Regeln zurückzuführenden Bedingungen. Aber neben diesem singulären Charakter, der ihnen wie allem Geschichtlichen zukommt, folgen sie im Unterschiede von den im engeren Sinne historischen Bildungen universellen geistigen Entwicklungsgesetzen. Dies liegt eben darin begründet, daß die Entwicklung dieser allgemein menschlichen Schöpfungen auf übereinstimmenden geistigen Kräften beruht, deren Wirkungen demnach auch in gewissen allgemeinen Zügen übereinstimmen. Bei der Geschichte findet sich ein analoges Verhältnis nur bei gewissen individuellen Motiven des Handelns, die vermöge der übereinstimmenden menschlichen Natur ebenfalls überall wiederkehren. Aber diese individuellen Motive können es hier wegen der vielfältigen Kreuzungen der Interessen niemals zu einer allgemeingültigen Wirkung auf das Ganze bringen: sie bewahren auch in ihren völkerpsychologischen Resultaten ihren individuellen Charakter. So bleibt die individuelle Psychologie der äußeren Völkergeschichte gegenüber immer in der Stellung eines Hilfsmittels, nirgends finden sich hier Gegenstände einer selbständigen psychologischen Forschung.

    Ein Wechselverhältnis dieser Art besteht dagegen in vollstem Umfange zwischen jenen drei oben bezeichneten Gebieten und der Psychologie. Auch hier dient natürlich die letztere der Interpretation der einzelnen Erscheinungen; anderseits aber sind Sprache, Mythus und Sitte selbst geistige Entwicklungsprodukte, in deren Erzeugung sich eigentümliche psychologische Gesetze betätigen. Zu ihnen enthalten zwar die Eigenschaften des individuellen Bewußtseins die letzten Motive, ohne daß jedoch in diesen jene Gesetze selbst schon vorgebildet sind. Denn indem sie eine geistige Wechselwirkung der Individuen voraussetzen, überschreiten sie den Umfang und die Fähigkeiten des Einzelbewußtseins. Sie sind Formen des Geschehens, die durchaus neue, von der individuellen Psychologie nicht vorauszusehende Bedingungen mit sich führen. Alle jene aus der Gemeinschaft des geistigen Lebens hervorgehenden Entwicklungen bilden so die Probleme einer selbständigen psychologischen Untersuchung, für die man den Namen der Völkerpsychologie zweckmäßig deshalb beibehalten wird, weil die Volksgemeinschaft der weitaus wichtigste der Lebenskreise ist, in denen sich ein geistiges Gesamtleben entwickeln kann. Die Völkerpsychologie ihrerseits ist aber ein Teil der allgemeinen Psychologie, und ihre Resultate bieten vielfach auch für die individuelle Psychologie wertvolle Aufschlüsse, weil Sprache, Mythus und Sitte als Erzeugnisse des Gesamtgeistes zugleich ein Material abgeben, aus dem auf das geistige Leben der einzelnen zurückgeschlossen werden kann. So werfen z. B. die Erscheinungen der Sprache, die an sich nur als eine Schöpfung des Gesamtgeistes zu begreifen ist, doch ein helles Licht auf die psychologische Gesetzmäßigkeit des individuellen Denkens. Die Erscheinungen der Mythenentwicklung sind vorbildlich für die Schöpfungen der individuellen Phantasie, und die Geschichte der Sitte beleuchtet die Entwicklung der individuellen Motive des Willens. Wie also auf der einen Seite die Individualpsychologie zur Aufhellung völkerpsychologischer Probleme dient, so gewinnen anderseits die völkerpsychologischen Tatsachen den Wert eines zur Erklärung der individuellen Bewußtseinserscheinungen überaus wertvollen objektiven Materials.

    Gegen die Stellung, die wir hiermit der Völkerpsychologie als einer selbständig neben der Individualpsychologie stehenden, mit deren Hilfe arbeitenden, aber ihr wiederum hilfreichen Disziplin anweisen, kann die Tatsache, daß Sprache, Mythus und Sitte auf diese Weise gleichzeitig zu Objekten verschiedener Wissenschaften werden, der Sprach-, Mythen- und Sittengeschichte sowohl wie der Völkerpsychologie, nicht als irgend berechtigter Einwand gelten. Ist doch solche Doppelheit der Betrachtung auch anderwärts nichts Ungewöhnliches. In Geologie und Paläontologie, Anatomie und Physiologie, Philologie und Geschichte, Kunstgeschichte und Ästhetik, im System einer Wissenschaft und in ihrer Methodik, – hier überall sind den einander koordinierten Formen wissenschaftlicher Bearbeitung die Objekte ganz oder teilweise gemeinsam, nur der Gesichtspunkt ist ein anderer, unter dem die Probleme behandelt werden. Selbst das individuelle Leben kann ja in ähnlichem Sinne Gegenstand einer doppelten Betrachtungsweise sein: es kann einmal in seiner singulären Natur und in seinem spezifischen, nur ihm eigentümlichen Entwicklungsgang aufgefaßt werden, dann ist es Gegenstand der Biographie, dieser beschränktesten, und doch, sofern nur das zu schildernde Leben einen bedeutsamen Inhalt hat, keineswegs unwichtigsten Form der Geschichte. Die individuellen Erlebnisse können aber auch in bezug auf ihren allgemeingültigen Wert, auf die geistigen Gesetze, die in ihnen zur Äußerung kommen, untersucht werden, – dann tritt das Einzelleben unter den Gesichtspunkt der Individualpsychologie, für die der spezifische Wert dieses Einzellebens ganz außer Betracht bleibt, da sie in dessen einzelnen Erlebnissen nur einen Stoff sieht, in dem sich ihr allgemeine geistige Entwicklungsgesetze enthüllen.

    Vollkommen dem analog ist nun das Verhältnis der Völkergeschichte zur Völkerpsychologie. Wie die psychologische Untersuchung des Einzellebens alle die Momente desselben, die nur eine singuläre Bedeutung besitzen, außer Betracht läßt, so auch die Völkerpsychologie. Nur hat sich hier innerhalb der geschichtlichen Bearbeitung selbst schon eine vorbereitende Scheidung der Gebiete vollzogen, indem sich die Entwicklung jener allgemeinen Grundlagen des menschlichen Gesamtlebens, der gemeinsamen Sprache, des gemeinsamen Vorstellungskreises und der allgemeingültigen Willensnormen, von der Schilderung der äußeren Schicksale der Völker und ihrer Ableitung aus inneren Ursachen als dem Objekt der eigentlichen Geschichte gesondert hat. Aber auch nach dieser Scheidung bleibt die geschichtliche Darstellung der allgemeinen Elemente des Völkerlebens noch eine von ihrer psychologischen Erforschung wesentlich verschiedene Aufgabe: die erstere betrachtet sie in ihrer historischen Bedingtheit und darum im Zusammenhang mit der ganzen äußeren und inneren Geschichte der Völker; die zweite untersucht sie lediglich im Hinblick auf die allgemeinen geistigen Entwicklungsgesetze, die an ihnen zum Ausdruck gelangen. So hat für die geschichtliche Betrachtung die Vergleichung mythischer Vorstellungskreise, die außerhalb jedes nachweisbaren historischen Zusammenhangs stehen, höchstens insofern einen Wert, als daraus etwa trotzdem auf übereinstimmende geschichtliche Bedingungen zurückgeschlossen werden kann: für die völkerpsychologische Untersuchung ist umgekehrt die Übereinstimmung im einzelnen vornehmlich dann von Bedeutung, wenn eine Entstehung unter ähnlichen, aber geschichtlich unabhängigen Bedingungen nachgewiesen werden kann. Darum ergänzen sich zugleich beide Gebiete. Alles Allgemeingültige ist ursprünglich der Beobachtung als ein Singuläres gegeben: es kann erst aus dem Fluß des Einzelgeschehens durch die Vergleichung zahlreicher Entwicklungen von übereinstimmendem Charakter gewonnen werden. Und ebenso erheben sich alle singulären Erlebnisse auf der Grundlage allgemeiner Eigenschaften des Volksgeistes, ganz wie das individuelle Leben die Eigenschaften des Einzelbewußtseins voraussetzt. Darum schöpft die Völkerpsychologie aus der Geschichte, um sich ihrerseits wieder der letzteren als eine ihrer wichtigsten Grundlagen zur Verfügung zu stellen.

    Kaum bedarf es hiernach einer näheren Ausführung an Beispielen, wie verschieden sich die historische und die psychologische Betrachtung gegenüber jenen Gegenständen, die ihnen gemeinsam sind, gestalten. Für die Sprachgeschichte sind die Entwicklung und allmähliche Veränderung der Laute, der grammatischen Formen, die Scheidung der Redeteile, der Bedeutungswandel der Wörter und die in ihm sich ausprägende Differenzierung und Wandlung der Begriffe Bestandteile einer zusammengehörigen geschichtlichen Entwicklung, die ihren Wert auch dann behält, wenn sie in der beobachteten Form nur einmal vorgekommen sein sollte. Die Psychologie der Sprache erblickt in allen diesen Vorgängen Erscheinungsformen des geistigen Gesamtlebens, die für sie nur insoweit ein Interesse besitzen, als sie auf allgemeingültige psychologische Gesetze zurückgeführt werden können. Wenn das Wort "König" mit dem gotischen Wort "Kuni", Geschlecht, zusammenhängt und danach, die Endung patronymisch gefaßt, einen "Mann von Geschlecht" bedeutet, so mag dies für den Historiker insofern bedeutsam sein, als es auf eine Urzeit zurückweist, in welcher ein Geburtsadel die Herrschaft führte; für den Psychologen steht die Frage im Vordergrund, auf welcher auch in anderen ähnlichen Beispielen zum Ausdruck kommenden Bewegung der Vorstellungen dieser Übergang beruhe, und er wird so den einzelnen Fall als die Exemplifikation eines allgemeinen Gesetzes des Wandels der Vorstellungen im Volksgeiste darzustellen suchen. Den Historiker werden die mannigfachen Sitten, die bei deutschen und slawischen Völkern auf einen dereinst weit verbreiteten Kultus von Baum-, Wald- und Feldgeistern hinweisen, als Zeugnisse früherer Religionsanschauungen und Kulturzustände interessieren; das Vorkommen ähnlicher Kulte bei den alten und bei manchen orientalischen Völkern wird er als wertvolle Spuren vorgeschichtlicher Beziehungen beachten. Für den Psychologen dagegen entsteht die ganz andere Frage, welche allgemeingültigen Bedingungen der Entstehung jenen eigentümlichen Kultvorstellungen zugrunde liegen, und welchen psychologischen Ursachen sie hinwiederum ihre lange Fortdauer unter völlig geänderten Kulturzuständen sowie die damit Hand in Hand gehenden, in ihren wesentlichsten Zügen überall gleichartigen Umwandlungen verdanken. Und auch hier wird die psychologische Untersuchung schließlich bemüht sein, solche Vorgänge auf allgemeingültige Entwicklungsgesetze zurückzuführen.

    Wieder kommen wir aber bei dem Versuch die Gebiete auszumessen, für welche in dieser Weise der historischen eine psychologische Untersuchung parallel gehen kann, auf Sprache, Mythus und Sitte als auf diejenigen zurück, die den hier erforderlichen Charakter allgemeiner Gesetzmäßigkeit mit dem dem individuellen wie dem Völkerleben eingeprägten Charakter geschichtlicher Entwicklung verbinden. Die Sprache enthält die allgemeine Form der in dem Volksgeiste lebenden Vorstellungen und die Gesetze ihrer Verknüpfung. Der Mythus birgt den ursprünglichen Inhalt dieser Vorstellungen in seiner Bedingtheit durch Gefühle und Triebe. Die Sitte endlich schließt die aus diesen Vorstellungen und Trieben entsprungenen allgemeinen Willensrichtungen in sich. Wir verstehen darum hier Mythus und Sitte in jenem weiteren Sinne, in welchem der erstere die ganze primitive Weltanschauung enthält, wie sie unter dem Einflusse der allgemeinen Anlagen der menschlichen Natur vor dem Beginn des wissenschaftlichen Denkens entstanden ist, während die Sitte zugleich alle jene Anfänge der Rechtsordnung umfaßt, die der planmäßigen Rechtsbildung als einem historischen Vorgang vorausgehen.

    So wiederholen sich in Sprache, Mythus und Sitte gleichsam auf einer höheren Stufe die Elemente, aus denen sich der Tatbestand des individuellen Bewußtseins zusammensetzt. Dabei führt aber der Wechselverkehr der Einzelgeister, aus deren gemeinsamen Vorstellungen und Strebungen die Volksseele besteht, neue Bedingungen mit sich. Sie sind es, die Sprache und Mythus als zwei Erscheinungsweisen des Volksgeistes hervortreten lassen, die sich annähernd wie Form und Inhalt zueinander verhalten. Die Sprache gibt dem geistigen Lebensinhalt jene nach außen tretende Form, durch die er erst zu einem gemeinsamen werden kann. In der Sitte endlich betätigt sich dieser gemeinsame Inhalt in übereinstimmenden Willensmotiven. Doch wie bei der Betrachtung des Einzelbewußtseins Vorstellen, Fühlen und Wollen nicht als getrennte Kräfte angesehen werden dürfen, sondern als die in sich untrennbaren Bestandteile eines und desselben inneren Geschehens: so bilden auch Sprache, Mythus und Sitte allgemeine geistige Erscheinungen, die auf das innigste miteinander verwachsen sind, so daß sich die eine ohne die andere nicht denken ließe. Die Sprache ist nicht bloß das Hilfsmittel, das die individuellen geistigen Kräfte zur Einheit sammelt, sondern sie nimmt an dem Inhalt, den sie zum Ausdruck bringt, lebendigen Anteil, und sie ist selbst ganz und gar von jenem mythologischen Denken erfüllt, das ursprünglich ihren Inhalt bildet. Nicht minder sind Mythus und Sitte überall miteinander verwachsen. Sie verhalten sich wie das Motiv und die Tat: die Sitte gibt den Lebensanschauungen, die der Mythus in sich birgt und die Sprache zu einem gemeinsamen Besitz macht, in Handlungen Ausdruck. Und diese Handlungen wirken ihrerseits erhaltend und weiterbildend auf die Vorstellungen zurück, aus denen sie entsprungen sind. Neben der Untersuchung der einzelnen Funktionen der Volksseele wird daher die Erforschung dieser Wechselwirkung eine wichtige Aufgabe der Völkerpsychologie sein.

    Natürlich konnte nun der fundamentale Unterschied, den die Geschichte von Sprache, Mythus und Sitte anderen geschichtlichen Entwicklungen gegenüber bietet, der Beachtung nicht völlig entgehen. Bei der Sprache hat man bisweilen diesen Unterschied darin zu finden geglaubt, daß ihre Entwicklung nicht sowohl ein geschichtlicher als ein naturgeschichtlicher Prozeß sei. Dieser Ausdruck ist zwar kein ganz glücklicher; immerhin liegt ihm das Bewußtsein zugrunde, Sprache, Mythus und Sitte seien in den Hauptmomenten ihrer Entwicklung dem bewußten Einflusse individueller Willensakte entzogen, so daß sie als unmittelbare Erzeugnisse des gesamten Volksgeistes erscheinen, an denen der Wille einzelner immer nur Unwesentliches ändern kann. Diese Eigentümlichkeit liegt aber freilich nicht sowohl in einer wirklichen Unabhängigkeit von den Einzelgeistern begründet als vielmehr in dem Umstande, daß deren Einflüsse hier unendlich viel zersplitterter und darum unsichtbarer wirksam sind als in der Geschichte des politischen und der höheren Entwicklungsformen des geistigen Lebens. Doch diese Unsichtbarkeit der individuellen Wirkungen bringt es zugleich mit sich, daß jede von ihnen nur da von dauerndem Erfolg sein kann, wo sie den in der Gemeinschaft selbst schon wirksamen Strebungen entgegenkommt. Hierdurch gewinnen nun diese in die Anfänge des menschlichen Daseins zurückreichenden geschichtlichen Entwicklungen allerdings eine gewisse Verwandtschaft mit Naturprozessen, insofern sie aus allverbreiteten Naturtrieben zu entspringen scheinen. Die Willensimpulse sind eben hier zu Totalkräften geworden, die auch in der Unwiderstehlichkeit ihrer Wirkungen eine gewisse Ähnlichkeit mit blinden Naturkräften annehmen. Da auf solche Weise diese primitiven Erzeugnisse des Gesamtwillens die Resultanten allverbreiteter geistiger Kräfte sind, so erklärt sich daraus aber auch der allgemeingültige Charakter, den die Erscheinungen in gewissen Grundformen des Geschehens an sich tragen, und der sie eben nicht bloß zu Objekten historischer Betrachtung macht, sondern ihnen zugleich den Wert allgemeiner Erzeugnisse des menschlichen Gesamtgeistes verleiht, die eine psychologische Untersuchung fordern.

    Mag es daher auf den ersten Blick befremdend erscheinen, daß gerade Sprache, Mythus und Sitte als die Hauptprobleme der Völkerpsychologie herausgegriffen werden, so wird, glaube ich, dieses Befremden schwinden, wenn man erwägt, daß eben der Charakter der Allgemeingültigkeit der fundamentalen Erscheinungsformen vornehmlich auf jenen Gebieten anzutreffen ist, bei den übrigen nur insoweit, als sie noch in sie zurückreichen. Gegenstand einer psychologischen Betrachtung, die in ähnlichem Sinne das Völkerbewußtsein wie die individuelle Psychologie das Einzelbewußtsein zu ihrem Inhalt hat, kann ja naturgemäß nur das sein, was für das erstere einen ebenso allgemeingültigen Wert besitzt, wie die von der Individualpsychologie untersuchten Tatsachen für das Einzelbewußtsein. In Wahrheit sind darum Sprache, Mythus und Sitte keineswegs bloße Bruchstücke aus dem Zusammenhang des Volksgeistes, sondern sie sind dieser Volksgeist selbst in seiner von den individuellen Einflüssen singulärer geschichtlicher Entwicklung verhältnismäßig noch unberührten Gestalt.

4. Völkerpsychologische Streitfragen.

    Es ist, wie oben bemerkt, das Schicksal neuer Forschungsgebiete und Arbeitsmethoden, daß sie sich ihre Stellung neben den altangesehenen Disziplinen, die sich eines von keiner Seite mehr angefochtenen Besitzstandes erfreuen, allmählich erkämpfen müssen. Und es ist ein Glück, daß dem so ist. Denn die Abwehr fremder Ansprüche und die Ausgleichung widerstreitender Interessen ist schließlich auch in der Wissenschaft das beste Mittel, um den bereits erworbenen Besitz zu sichern oder neue Rechtsansprüche zu begründen.

    Der Völkerpsychologie ist dieser Kampf von Anfang an in doppelter Weise beschieden gewesen. Ihr ist nicht nur ihr Existenzrecht überhaupt bestritten worden, sondern jede der Hauptfragen ihres Gebietes ist, als sie ins Leben trat, bereits als strittige Frage von ihr übernommen worden, so daß man fast von ihr sagen könnte, sie sei aus dem Streben hervorgegangen, einen neuen, womöglich erfolgreicheren Weg zur Lösung uralter Probleme zu finden. Darum hängt jene ablehnende Haltung gegen die neue Wissenschaft zum Teil mir der Zurückweisung der von ihr aufgenommenen Probleme eng zusammen. Wer die Fragen nach den ursprünglichen Motiven der Entstehung von Sprache, Mythus und Sitte für unlösbar erklärt, weil sie allen geschichtlichen Dokumenten, die zu ihnen zurückreichen könnten, unzugänglich sind, der ist natürlich geneigt, die Völkerpsychologie überhaupt abzulehnen und alles, was sie für sich in Anspruch nimmt, teils der Geschichte, teils, soweit diese nicht ausreicht, wohl auch der Individualpsychologie zuzuweisen. Im folgenden sollen sich daher dem obigen Versuch, die allgemeine Berechtigung völkerpsychologischer Betrachtung nachzuweisen und ihre Hauptaufgaben abzugrenzen, einige kritische Erörterungen anschließen, die solche umstrittene Probleme berühren.

    Drei Fragen sind es, die zu dem Ende hier herausgegriffen werden. Die erste berührt sich nahe mit dem alten Problem des Ursprungs der Sprache. Ob Schallnachahmungen und Lautmetaphern eine allgemeine, das Leben der Sprache in allen seinen Stadien begleitende und in den natürlichen Bedingungen ihrer Entwicklung begründete, oder ob sie eine erst spät hervortretende, ihrem Wesen nach sekundäre Erscheinung sind, hinter dieser Streitfrage verbirgt sich in der Tat mehr, als es auf den ersten Blick scheinen mag, die allgemeinere nach dem Ursprung nicht bloß der Sprache, sondern der geistigen Gemeinschaftserzeugnisse überhaupt. Ob jusei oder Jesei , das ist im Grunde die Alternative, um die sich hier ein Kampf der Meinungen bewegt, in welchem sich, meist ohne es sich selbst recht einzugestehen, die Vertreter einer rein historischen Forschung der Seite des Jesei zuneigen. Die Tendenz, die Geschichte zur einzigen Richterin über das zu machen, was der Mensch geworden ist und was er geschaffen hat, erzeugt hier die Neigung, den Anfang der Geschichte für den Anfang der Dinge zu halten. Indem aber in den Lauf der Geschichte von frühe an handelnde Personen eingreifen, nähert diese Tendenz ihre Vertreter immer wieder der alten, offiziell verpönten, jedoch in den Maximen, denen man folgt, und in den Folgerungen, zu denen diese führen, festgehaltenen Erfindungstheorie. Das ist ein Standpunkt, den die psychologische Betrachtung als einen unmöglichen zurückweisen muß, und mit dessen Annahme sie ihre eigene Berechtigung verneinen würde. In anderer Weise reflektiert sich der nämliche Gegensatz in einer nicht minder über alle Gebiete des gemeinsamen Lebens sich erstreckenden Form in einer zweiten Frage. Ist die geistige Kultur von ihren primitiven Anfängen an, und sind die Wandlungen ihrer Erzeugnisse jeweils nur von einem einzigen Zentrum, schließlich vielleicht sogar nur von einem einzigen Individuum ausgegangen? Oder ist dies nur ein Grenzfall, dem als die reguläre Erscheinung ein in der Gemeinschaft als solcher begründeter Ursprung gegenübersteht? Der zweite der folgenden Beiträge versucht es, diese Frage an konkreten, hauptsächlich wieder der Sprache entnommenen Beispielen zu beleuchten. Der dritte dieser Aufsätze wagt sich auf das wichtigste der Gebiete gemeinsamen Lebens, auf das der Religion. Müssen wir uns, um Wesen und Ursprung der Religion zu begreifen, ausschließlich an die subjektiven Erlebnisse des religiösen Einzelbewußtseins wenden? Oder hat nicht vielmehr die Untersuchung der allgemeinen religiösen Entwicklungen das Verständnis jener Sondererscheinungen zu vermitteln? Hier reichen sich die pragmatische Philosophie Amerikas und Englands, deren Losung auch im Gebiet der Wissenschaft das utilitarische Prinzip der möglichst einfachen Bedürfnisbefriedigung ist, und eine ihr verwandte Richtung der modernen deutschen Theologie die Hand zum Bunde. Auf der anderen Seite steht die Völkerpsychologie, die sich bemüht, gestützt auf die Ethnologie und die vergleichende Religionswissenschaft, den allgemeinen Bedingungen der Glaubens- und Kultusformen nachzugehen.

    Auf diese Weise ist es das individualistische Prinzip, in dem schließlich alle diese der völkerpsychologischen Betrachtung gegenüberstehenden Richtungen übereinstimmen: die des Sprach- oder Mythenforschers, der alle an den Ursprung geistiger Schöpfungen irgendwie von ferne rührenden Fragen ablehnt, des Historikers, der diese Schöpfungen auf ein einziges Individuum oder wenigstens auf eine beschränkte Zahl von Individuen zurückführt, und endlich des Religionsphilosophen, dem die Religion eine einmalige, aber in religiös erweckten Einzelpersönlichkeiten sich wiederholende Schöpfung ist. Indem die Völkerpsychologie gegen diesen einseitig individualistischen Standpunkt streitet, kämpft sie zugleich um ihre eigene Berechtigung, die von jeder dieser Seiten grundsätzlich verneint wird.