Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Schlußbetrachtungen.

    Überall führt die psychologische Untersuchung auf metaphysische Probleme hinaus. Aber zu deren Lösung bildet der Zusammenhang empirischer Tatsachen und Gesetze, zu denen sie gelangt, nur einen Teil der Vorbedingungen. Das übrige müssen Naturphilosophie und Kritik der Erkenntnis hinzutun. Denn die Begriffe der innern Erfahrung sind durch die der äußeren mitbestimmt und verlangen mit diesen zusammen die Prüfung ihres Ursprungs und ihrer Berechtigung. Am Schlusse unserer Aufgabe angelangt, wollen wir daher nur auf einige Gesichtspunkte hinweisen, welche die Ergebnisse der physiologischen Psychologie jenem allgemeineren Unternehmen entgegenbringen.
    Mit zureichender Sicherheit läßt sich wohl der Satz als begründet ansehen, daß sich nichts in unserm Bewußtsein ereignet was nicht in bestimmten physiologischen Vorgängen seine körperliche Grundlage fände. Die einfache Empfindung, die Synthese der Empfindungen zu Vorstellungen, die Assoziation und Wiedererweckung der Vorstellungen, endlich die Vorgänge der Apperzeption und der Willenserregung sind begleitet von physiologischen Nervenprozessen. Andere körperliche Vorgänge, wie insbesondere die einfachen und komplizierten Reflexe, gehen an und für sich nicht ein in das Bewußtsein, bilden aber wesentliche Vorbedingungen der bewußten oder im engeren Sinne psychologischen Tatsachen.
    Dieses Prinzip der durchgängigen Wechselwirkung zwischen Seele und Leib, das, so oft man es auch zu beschränken suchte, mit unwiderstehlicher Gewalt über das ganze Gebiet der innern Erfahrung sich ausdehnte, ist seit alter Zeit in verschiedener Weise metaphysisch gedeutet worden. Der aus der vulgären Anschauung in die Philosophie verpflanzte Dualismus, der Leib und Seele als zwei verschiedene Wesen nimmt, hat nicht weniger als drei Ansichten entwickelt, nach denen die Wechselwirkung gedacht werden kann. Nach der naheliegendsten soll die Seele, ähnlich einem gestoßenen Körper, Eindrücke von den leiblichen Organen empfangen und in ähnlicher Weise bei den Bewegungen wieder auf diese zurückwirken. Aber dieses System des "physischen Einflusses" kann nicht mehr festgehalten werden, sobald man sich der durchgreifenden Verschiedenheiten des körperlichen und geistigen Geschehens bewußt wird. Die Seele müßte ja selbst eine körperliche Beschaffenheit haben, wenn sie von dem Leibe Stöße empfangen und wieder solche an ihn zurückgeben könnte. In Erwägung dieser Schwierigkeiten, die ihm freilich auch bei den Wechselwirkungen körperlicher Substanzen zu bestehen schienen, kam DESCARTES zu der Vorstellung, daß der Einfluß von Seele und Leib auf einander in jedem einzelnen Fall durch eine besondere göttliche Fügung, eine "übernatürliche Assistenz", bewerkstelligt werde. Von einem System, das so jede psychologische Tatsache auf ein unmittelbares Wunder zurückführte, war LEIBNIZ nicht befriedigt, obzwar er anerkannte, daß der erste Grund des Zusammenhangs zwischen Leib und Seele sich der Erklärung entziehe. Ihm ist daher dieser Zusammenhang durch eine ursprüngliche göttliche Ordnung für immer vorausbestimmt. Körperliche Vorgänge und Vorstellungen stehen durch eine "prästabilierte Harmonie" in Verbindung. Damit war das wiederholte Wunder der übernatürlichen Assistenz auf eine einmalige Fügung zurückgeführt, aber in dieser blieb das Wunder bestehen. Indem der Dualismus auf solche Weise alle ihm möglichen Versuche der Erklärung erschöpfte, ohne eine genügende finden zu können, lieferte er den Beweis seiner eigenen Unhaltbarkeit und führte mit Notwendigkeit zur Ausbildung monistischer Ansichten.
    Unter ihnen sucht der Materialismus, der in seinem Ursprung älter als die dualistischen Systeme ist, das Geistige als eine Form oder als ein Erzeugnis körperlicher Vorgänge zu begreifen. Er ist im Vorteil, so lange er, auf die Abhängigkeit des Vorstellens und Denkens von physiologischen Bedingungen hinweisend, gegen den gewöhnlichen Dualismus zu Felde zieht. Aber er selbst hat nie eine Erklärung der psychologischen Erfahrungen zu Stande gebracht, und die Hoffnung, daß ihm dies einst noch gelingen mochte, scheitert an dem Widerstreit, in den er mit den sichersten Fundamenten der Erkenntniskritik gerät. Die Tatsachen des Bewußtseins sind die Grundlagen all' unseres Wissens. Die äußere Erfahrung ist daher nur eine besondere Domäne der innern, und führt dieselbe auch zur notwendigen Voraussetzung eines objektiven Seins, so ist doch die Form, in welcher wir dieses auffassen, durch die Eigenschaften des Bewußtseins wesentlich mitbedingt. Die Empfindung ist die subjektive Form, in der wir auf den äußeren Eindruck reagieren; Raum und Zeit beruhen auf subjektiven Gesetzen der Synthese der Vorstellungen; die Begriffe der Kausalität und der Substanz endlich, deren wir überall zur Naturerklärung bedürfen, sind psychologischen Ursprungs.
    Dieser Resultate der Erkenntniskritik bemächtigt sich der Idealismus. Da die äußere Erfahrung einen Bestandteil der innern bildet, so ist ihm die Welt ein Reflex des Bewußtseins. Der Idealismus bleibt siegreich, so lange er die Ansprüche des Materialisten zurückweist. Sobald er aber selbst zu dem Versuch einer Naturerklärung übergeht, scheitert er an der spröden Wirklichkeit, die zwar überall die Spuren der subjektiven Einflüsse auf ihre Auffassung erkennen läßt, aber nicht minder klar auf ein objektives Sein hindeutet, ohne das die Anschauungen und Begriffe in uns niemals sich bilden würden. So wird uns das Geständnis abgenötigt, daß wir nicht nur zur Erkenntnis der Natur der äußern Bestimmungsgründe bedürfen, sondern daß auch diese hinwiederum unsere Auffassungsformen mitbedingen. Raum und Zeit, Kausalität und Substanz wurden nie in uns entstehen, wenn nicht die objektive Welt zur Bildung dieser Anschauungen und Begriffe die Anregung böte. Diesen verschiedenen Quellen der Erkenntnis sucht der Realismus gleichmäßig gerecht zu werden. Will sich derselbe vollständig mit den Resultaten der Erkenntniskritik in Einklang setzen, so muß er aber die Priorität der innern Erfahrung zugestehen. So führt die Psychologie insbesondere notwendig über den reinen Realismus hinaus zum Idealrealismus.
    Indem der Realismus einen Begriff der Substanz zu entwickeln suchte, welcher für die innere und äußere Erfahrung gleicher Weise brauchbar sein sollte, kam er zu der Aufstellung einfacher Wesen, welche in ihrer äußeren Wechselwirkung das Nebeneinander einer atomistisch gedachten Materie darstellen, in ihrem inneren Sein aber zur Grundlage des einheitlichen Bewußtseins sich eignen sollten. Hieraus entwickelten sich jene monadologischen Systeme, denen die menschliche Seele als ein einfaches Wesen erscheint unter vielen andern, die den Leib und die Außenwelt bilden, ausgezeichnet nur durch seinen höheren Wert oder durch die günstige Lage, in die es mittelst seiner besonderen Verbindungen gesetzt ist. Aber schon an LEIBNIZ, dem Erfinder der Monaden, zeigte sich, wie leicht solche Anschauungen wieder dem vulgären Dualismus mit allen seinen Widersprüchen anheimfallen, sobald der Versuch gemacht wird, für das Problem der Wechselwirkung eine Erklärung zu finden. Bei leibniz ist die Seele als herrschende Monade so unendlich erhaben über den dienenden Monaden des Leibes, daß es für WOLFF nur eines kleinen Schrittes bedurfte, der ihn vollständig zum Dualismus zurückführte, um so mehr, als er die echt dualistische Hypothese der prästabilierten Harmonie bei LEIBNIZ schon vorfand. HERBART machte mehr Ernst mit dem Problem der Wechselwirkung. Naturphilosophie und Psychologie sollen bei ihm aus den nämlichen wechselseitigen Störungen und Selbsterhaltungen einfacher Wesen abgeleitet werden. Aber auch er bleibt bei der Anschauung, die Seele sei ein einziges einfaches Wesen unter vielen ihr untergeordneten. In der Selbsterhaltung gegen die Störungen, die sie von andern Monaden empfängt, besteht die Vorstellung; aus Verhältnissen der Vorstellungen geht der ganze Tatbestand der innern Erfahrung hervor. Diese Ansicht würde am leichtesten mit einer Hypothese über den Zusammenhang des Nervensystems vereinbar sein, wie sie descartes schon aufstellte. In irgend einem Funkt des Gehirns, z. B. in der Zirbeldrüse, müßte die Seele sitzen, und in dem gleichen Punkte müßten von allen Seiten Fasern zusammenlaufen, durch deren Erregungen ihr die Zustände aller andern Hirnteile mitgeteilt wurden. Diese Vorstellung widerstreitet aber so sehr den physiologischen Erfahrungen, daß in neuerer Zeit Niemand mehr daran gedacht hat, von ihr Gebrauch zu machen. Man hilft sich also damit, daß man der Seele einen beweglichen Sitz im Gehirn anweist. Sie soll hierhin und dorthin wandern, damit die Veränderungen der verschiedenen Hirnprovinzen auf sie einwirken können. Die Ergebnisse der physiologischen Psychologie würden nun nicht nur ein viel umfangreicheres Wandern der Seele erforderlich machen, als die Urheber dieser Theorie wohl vermutet haben, sondern man würde auch kaum der Annahme entgehen, daß sich eine und dieselbe Seele gleichzeitig an verschiedenen Punkten befinde. Denn bei jeder einzelnen Vorstellung wirken zahllose elementare Empfindungen zusammen, die unmöglich an einem und demselben Punkte des Zentralorgans lokalisiert sein können. Fragt man aber nach dem Grunde, welcher die Seelenmonade in jedem Moment gerade an die Orte verpflanzt, wo sie nötig ist, um die Einwirkungen des Leibes in sich aufzunehmen, so bleibt man ohne Antwort. Das Wunder der übernatürlichen Assistenz oder der prästabilierten Harmonie ist auch hier stillschweigend hinzugedacht.
    Solchen Schwierigkeiten gegenüber entsteht denn doch die Frage, ob auch die Grundlage, auf welcher sich alle diese Gedanken entwickelt haben, hinreichend sicher steht. Woher schöpft man die Überzeugung, daß die Seele ein einfaches Wesen sei? Augenscheinlich aus dem einheitlichen Zusammenhang der Zustände und Vorgänge unseres Bewußtseins. Für den Begriff der Einheit setzt man also den der Einfachheit. Aber ein einheitliches Wesen ist darum noch durchaus kein einfaches. Auch der leibliche Organismus ist eine Einheit, und doch besteht er aus einer Vielheit von Organen. Hier ist es der Zusammenhang der Teile, welcher die Einheit ausmacht. So treffen wir auch in dem Bewußtsein sowohl sukzessiv wie gleichzeitig eine Mannigfaltigkeit an, die auf eine Vielheit seiner Grundlage hinweist.
    Die Seele ist also eine Einheit. Aber diese Einheit beruht nicht auf der Einfachheit ihrer Substanz, sondern vermutlich auf einem Zusammenhang vieler einfacher Wesen. In ihrem inneren Sein ist sie eine ähnliche Einheit wie für die äußere Auffassung der leibliche Organismus, und die durchgängige Wechselwirkung zwischen Seele und Leib führt notwendig zu der Vorstellung, daß die Seele das innere Sein der nämlichen Einheit ist, die wir äußerlich als den zu ihr gehörigen Leib anschauen. An die herrschenden Organe des Leibes, die Zentralorgane des Nervensystems, sind auch die Äußerungen der Seele gebunden. Wie die körperlichen, so sind die psychischen Funktionen auf verschiedene Zentralgebiete verteilt, und jeder äußern Veränderung entspricht eine Veränderung des inneren Zustandes. Eine Selbstauffassung dieses inneren Zustandes oder ein Bewußtsein wird aber erst da möglich, wo jener Zusammenhang, der die Grundlage des äußern und innern Organismus bildet, die Bedingungen zur selbständigen Wiedererneuerung der Vorgänge und zur Verbindung gegenwärtiger und früherer Zustände in sich enthält. Es gibt daher Wesen, die nie ein Bewußtsein entwickeln, und nicht alle Organe, die einem mit Bewußtein begabten Wesen zugehören, nehmen an dem Bewußtsein Teil.
    Diese Auffassung des Problems der Wechselwirkung führt unvermeidlich zu der metaphysischen Voraussetzung, daß die Welt aus einfachen Wesen besteht, die in mannigfache Verbindungen unter einander gesetzt; und deren äußere Veränderungen stets von Veränderungen ihrer inneren Zustände begleitet sind. Zur Empfindung und Vorstellung werden diese aber erst, wo die Verbindungen einfacher Wesen vollkommen genug sind, um den inneren Zuständen Dauer und Zusammenhang zu sichern, eine Stufe, die, so viel wir wissen, in vorbereitender Entwicklung im Bewußtsein der Tiere erreicht ist, doch im Bewußtsein des Menschen erst sich vollendet. So bildet das menschliche Bewußtsein einen Knotenpunkt im Naturlauf, in welchem die Welt sich auf sich selbst besinnt.
    Aber so unvermeidlich von dieser Seite die genetische Auffassung des psychologischen Tatbestandes dahin führt, das menschliche Bewußtsein als ein Entwicklungsprodukt des Naturlaufs anzusehen, so sicher weckt auf der andern Seite die psychologische Untersuchung die Überzeugung, daß die Selbstauffassung des Menschen das Fundament ist, auf welchem alle Erkenntnis ruht. Das nächste Resultat dieser Selbstauffassung, das fester steht als die Gewißheit der äußern Welt, die wir nur durch das Medium unseres Bewußtseins anschauen, ist dies, daß wir uns als ein einheitliches Wesen empfinden. Nur ein unendlich kleiner Punkt der Welt ist es, den unser Bewußtsein in seinem innern Sein erfaßt. Wir können nicht annehmen, daß die Welt außer uns dieses inneren Seins ermangle. Wollen wir aber dasselbe uns denken, so können wir unmöglich es anders denken als in der Form unserer Selbstauffassung und der auf ihr sich erhebenden Auffassung der Menschheit im Ganzen: als einen einheitlichen Zusammenhang, sich gliedernd in selbständige Einheiten verschiedener Ordnung, die sich nach inneren Zwecken entwickeln. So kann der psychologischen Erfahrung nur eine monistische Weltanschauung gerecht werden, die das Individuelle zur Geltung bringt, ohne daß sie dieses in die inhaltsleere Form einer einfachen Monade auflöst, in die erst durch das Wunder übernatürlicher Beihilfe die Mannigfaltigkeit der Dinge hineinkommt. Nicht als einfaches Sein, sondern als geordnete Einheit vieler Elemente ist die menschliche Seele was LEIBNIZ sie nannte: ein Spiegel der Welt.