Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Ausdrucksbewegungen.

    Indem sich die Gemütsbewegungen fortwährend in äußeren Bewegungen spiegeln, werden die letzteren zu einem Hilfsmittel, durch welches sich verwandte Wesen ihre inneren Zustände mittheilen können. Alle Bewegungen, welche einen solchen Verkehr des Bewußt-seins herstellen helfen, nennen wir Ausdrucksbewegungen. Diese bilden aber nicht etwa eine Bewegungsform von besonderem Ursprung, sondern sie sind immer zugleich Reflex- oder Willkürbewegungen. Es ist also einzig und allein der symptomatische Charakter, welcher sie auszeichnet. Sobald eine Bewegung ein Zeichen innerer Zustände ist, welches von einem Wesen ähnlicher Art verstanden und möglicher Weise beantwortet werden kann, wird sie damit zur Ausdrucksbewegung. Indem durch sie das Bewußtsein des einzelnen Menschen Teil nimmt an dem Entwicklungsprozeß einer Gesamtheit, bildet sie den Übergang von der individuellen Psychologie zur Psychologie der Gesellschaft.
    Die Tiere sind, so viel wir wissen, großen Teils beschränkt auf die Äußerung von Gemütsbewegungen1). Erst die höhere Entwicklung des Bewußtseins, welche der Mensch erreicht, macht zum Ausdruck mannigfacher Vorstellungen und Begriffe fähig. Noch das Kind in der ersten Lebenszeit und der Blödsinnige, dessen Verstand unentwickelt geblieben ist, lassen nur Affekte und Triebe erkennen. Es liegt daher die größte Wahrscheinlichkeit vor, daß sich überall die Gedankenäußerung aus der Äußerung der Gemütsbewegungen entwickelt habe.

1) Dies schließt nicht aus, daß nicht einzelne Tiere auch bestimmte Vorstellungen zu äußern vermögen. In der Tat beobachten wir solches zweifellos in einem gewissen Grade bei unsern intelligenteren Haustieren. Der Hund z. B. gibt durch nicht zu mißdeutende Gebärden zu verstehen, daß er spazieren gehen will, daß man ihm eine Tür öffnen soll, u. dergl. Wenn nun gleich diese Äußerungen von Affekten ausgehen, so enthalten sie doch auch gleichzeitig eine Beziehung auf Vorstellungen. Die gewöhnlich gehörte Behauptung, daß das Tier ganz auf die Äußerung von Gefühlen beschränkt sei, geht also jedenfalls zu weit. Vergl. meine Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele II S. 388. Manche Beobachtungen an den in Gesellschaft lebenden Insekten, Ameisen, Termiten u. s. w., scheinen ebenfalls auf eine Mitteilung von Vorstellungen hinzuweisen. Siehe ebend. II S. 200 f.

    Alle Äußerungen der Gemütsbewegungen geschehen ursprünglich unbewußt und unwillkürlich; sie gehören also vollständig in das Gebiet der Reflexe. Allmälig kann sich aber der Wille einzelner Bewegungen bemächtigen, sie hervorbringen oder unterdrücken. Indem der Kulturmensch den Ausdruck seiner Affekte nach den Andern richtet, von denen er sich beobachtet weiß, sucht er Geberden und Mienen dieser Rücksicht anzupassen. Er sucht gewisse Affekte zu verbergen und andere auszudrücken. So sind das konventionelle Lächeln in Gesellschaft und die mancherlei Höflichkeitsgeberden bald moderierte bald übertriebene bald willkürlich fingierte Äußerungen. Dieser Einfluß des Willens wird aber in der Regel ohnmächtig, wenn die Gemütsbewegung zu hohen Graden anwächst. Auch gelingt es ihm meistens nur das Innere zu verschleiern, selten es ganz zu verhüllen, da die innere Bewegung mit der Macht einer Naturgewalt sich zu äußern strebt und dies unfehlbar tut, sobald die Aufmerksamkeit erschlafft, oder die Stärke des Affektes den zügelnden Einfluß des Willens durchbricht.
    Die Ausdrucksbewegungen der Gemütszustände sind in verschiedener Weise klassifiziert worden. Man hat entweder den physiologischen Gesichtspunkt angewandt, indem man den Ausdruck, dessen die einzelnen Körperteile, Auge, Mund, Nase, Arme u. s. w., fähig sind, zergliederte; oder man hat die Äußerungsformen der einzelnen Affekte nach der psychologischen Verwandtschaft der letzteren neben einander gestellt. Aber diese beiden Wege werfen, so interessant sie für die praktische Menschenkenntnis sein mögen, doch auf das Wesen der Ausdrucksbewegungen höchstens ein indirektes Licht. Wir wollen es daher versuchen, dieselben nach ihrem eigenen, unmittelbaren Ursprung in gewisse Gruppen zu sondern. In dieser Beziehung lassen sich nun, wie ich glaube, alle von Affekten oder Trieben ausgehenden Bewegungen auf drei Prinzipien zurückführen, die übrigens sehr häufig zusammenwirken, so daß eine einzelne Bewegung gleichzeitig aus mehreren erklärt werden muß. Wir können dieselben kurz bezeichnen als das Prinzip der direkten Innervationsänderung, der Assoziation analoger Empfindungen und der Beziehung der Bewegung zu Sinnesvorstellungen.
    Unter dem Prinzip der direkten Innervationsänderung verstehen wir die Tatsache, daß starke Gemütsbewegungen eine unmittelbare Rückwirkung auf die Zentralteile der motorischen Innervation ausüben, wodurch bei den heftigsten Affekten eine plötzliche Lähmung zahlreicher Muskelgruppen, bei geringeren Erschütterungen aber zunächst eine Erregung entsteht, die erst späterhin der Erschöpfung Platz macht. Dieses Prinzip tritt um so reiner hervor, je stärker die Gemütsbewegung ist. Mit dem Steigen der letzteren nimmt zugleich die Ausbreitung der Innervationsänderung zu, so daß Unterschiede des Ausdrucks, an denen sich die Qualität des Affektes erkennen ließe, nicht mehr wahrzunehmen sind2). Ist die Gemütsbewegung weniger heftig, so kommen aber gleichzeitig die andern Prinzipien des Ausdrucks zur Geltung. Neben der allgemeinen Muskelerschütterung ist nun deutlich die Beschaffenheit der Gefühle oder die Richtung der Sinnesvorstellungen, welche den Affekt erzeugten, in Mienen und Geberden zu lesen.

2) Vergl. Kap. XX. Anm. Nr. 6.

    Die dem Prinzip der direkten Innervationsänderung folgenden Ausdrucksbewegungen sind unter allen am meisten der Herrschaft des Willens entzogen. So ordnen sich denn auch die im Kap. XX. besprochenen Wirkungen der Affekte auf die unwillkürlichen Muskeln des Herzens und der Gefäße und auf die Absonderungsorgane vor allem diesem Prinzip unter. Namentlich sind es die Verengerungen und Erweiterungen der Blutgefäße, das Erblassen und Erröten, und der Erguß der Tränen, welche einen wichtigen Bestandteil des Ausdrucks starker Affekte zu bilden pflegen. Diese unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen sind zugleich spezifisch menschliche3), und sie scheinen verhältnismäßig spät von der Gattung Homo erworben zu sein, da Kinder in der ersten Zeit ihres Lebens weder weinen noch erröten. Doch scheinen ähnliche Veränderungen in der Haut, wie sie beim Erblassen vorkommen, auch bei Tieren sich einzustellen, da das Aufrichten der Haare, das beim Menschen die Totenblässe der Angst zuweilen begleitet, weitverbreitet bei Tieren gefunden wird4). Das Erröten begleitet im allgemeinen mäßigere Affekte, Scham, Verlegenheit, seltener, und dann in der Regel mit dem Erblassen abwechselnd, die Aufwallungen des Zorns. Da die Scham, dieser zum Erröten vorzugsweise disponierende Gemütszustand, von welchem er auf die andern Affekte vielleicht erst übertragen wurde, eine durchaus menschliche Eigentümlichkeit ist, so erklärt sich wohl hinreichend die Beschränkung desselben auf das Menschengeschlecht, bei dem es übrigens eine ganz allgemeine Ausdrucksweise zu sein scheint5). Die meist vorhandene Beschränkung des Errötens auf die Gesichtshaut dürfte wohl von derselben Ursache herrühren, die bei allen das Herz stark erregenden Affekten die Rückwirkung der gesteigerten Herzaktion am stärksten an den Blutgefäßen des Kopfes uns fühlen läßt. Durch ihre anatomische Lage sind die Kopfschlagadern der heranstürzenden Blutwelle am meisten ausgesetzt. Nun beruht das Erröten auf einem augenblicklichen Nachlaß der Gefäßinnervation, welcher als kompensierender Vorgang die gleichzeitig durch den Affekt bedingte Herzerregung begleitet6). Da diese kompensierende Innervationsänderung sich ohne Zweifel nach den Bedürfnissen reguliert hat, so ist es begreiflich, daß sie vorzugsweise jene Gebiete trifft, welche der Wirkung der Herzaktion am meisten ausgesetzt sind7). Der Erguß der Tränen ist eine Sekretion, die als rein mechanischer Reflex bei Reizungen der Bindehaut des Auges und zuweilen auch der Retina sich einstellt. Heftige Zusammenziehungen der Augenschließmuskeln, wie sie bei starken Exspirationen und auch beim Weinen vorkommen, pflegen zwar beim Menschen einige Tränen zu erpressen; dies kann aber um so weniger der Grund der Sekretion sein, als die gleichen Bewegungen bei Tieren zu finden sind, welche nicht weinen. Auch die reiche Menge des Sekretes läßt sich nur aus einer direkten Reflexwirkung auf die Absonderungsnerven der Drüse erklären. Man darf wohl vermuten, daß die Bedeutung, welche diese Sekretion beim Menschen erlangt, mit der lange dauernden Wirkung, die gerade bei ihm tiefere Gemütsaffekte hervorbringen, zusammenhängt. Den Gefahren, mit denen diese Wirkung das Nervensystem bedroht, wird durch die anhaltende Innervation der Tränendrüsen begegnet, welche, wie jede nach außen gerichtete Erregung, eine Ableitung und Lösung der hoch angewachsenen inneren Spannung mit sich führt. Als Sekretion hat sie nur diese lösende, nie die verstärkende Wirkung auf den Affekt, welche den Muskelbewegungen unter Umständen zukommen kann8). Schwieriger ist die Frage, wie gerade die Tränendrüsen zu dieser Rolle schmerzlindernder Ableitungsorgane kommen. Vielleicht hängt dies mit der Bedeutung zusammen, welche die Gesichtsvorstellungen für das menschliche Bewußtsein gewinnen. Die Tränen sind zunächst ein Sekret, das zum Schutze des Auges gegen mechanische Insulte bestimmt ist. Von fremden Körpern, wie Staub, Insekten u. dergl., befreit sich das Auge durch den reflektorisch eintretenden Tränenerguß. Nun wird unser drittes Prinzip lehren, daß Bewegungen, die ursprünglich durch bestimmte Empfindungsreize geweckt wurden, dann auch durch Vorstellungen, welche nicht einmal in der Anschauung gegeben sein müssen, sondern nur eine jenen Empfindungen analoge Wirkung auf das Bewußtsein äußern, hervorgerufen werden können. Der Tränenerguß ließe sich demnach als eine Wirkung leidvoller Gesichtsvorstellungen auffassen, welche dann allmälig zur Äußerungsform des Schmerzes überhaupt geworden ist. Sollte diese Erklärung richtig sein, so wäre das Weinen nach seiner ursprünglichen Bedeutung dem Prinzip der Beziehung der Bewegung zu Sinnesvorstellungen unterzuordnen, und erst unter der Wirkung der Vererbung wäre es zu einer direkten Innervationsänderung geworden9). Es ist dies übrigens ein Vorgang, der sich bei fast allen Ausdrucksbewegungen wiederholt. Je fester diese sich durch Generationen hindurch eingewurzelt haben, um so leichter erfolgen sie mit der mechanischen Sicherheit des einfachen Reflexes, ohne daß sich die anfänglich die Bewegung herbeiführenden Bedingungen in merklichem Grade geltend zu machen brauchen. Die Wichtigkeit, welche hierbei der Vererbung zukommt, leuchtet hinreichend aus der bekannten Tatsache hervor, daß gewisse Mienen und Gebärden bei verschiedenen Gliedern einer Familie beobachtet werden, und dies sogar in solchen Fällen, wo Nachahmung nicht wohl in's Spiel kommen kann10). Trotzdem sind solche Ausdrucksbewegungen; ebenso wenig wie die Instinkte, erklärt, wenn man sie einfach als vererbte Gewohnheiten betrachtet. Jeder angenommenen Gewohnheit liegt eine psychologische Ursache zu Grunde, welche sich auf irgend eines oder auf mehrere der hier erörterten Prinzipien des Ausdrucks wird zurückführen lassen, und die nämliche Ursache, welche die Bewegung ursprünglich herbeiführte, wird in einem gewissen Grade auch noch bei ihrer Wiedererzeugung wirksam sein. Nur so wird es erklärlich, daß selbst derartige individuell beschränkte Gebärden doch immer an bestimmte Gemütsaffekte gebunden sind.

3) Nur der Elefant soll bei heftigen Gemütsbewegungen zuweilen Tränen vergießen. S. Darwin, der Ausdruck der Gemütsbewegungen. Deutsch von J. V. CARUS. Stuttgart 1872. S. 168.
4) DARWIN, ebend. S. 96 f.
5) DARWIN a. a. 0. S. 322.
6) Vergl. Kap. V.

7) Auch bei Tieren, namentlich Kaninchen, beobachtet man, daß sich bei gesteigerter Herzaktion die Gefäße am Kopf, besonders die Ohrarterien, erweitern. Ohne Zweifel sind also die sensibeln Fasern des Herzens mit den die Blutgefäße an Kopf und Hals regulierenden Hemmungsvorrichtungen in innigere Verbindung gesetzt. Aus diesen Gründen scheint mir die Hypothese DARWIN's, daß die Aufmerksamkeit auf das Gesicht die Ursache jener Beschränkung des Errötens sei (a. a. O. S. 344) mindestens entbehrlich. Auch widerspricht ihr die Tatsache, daß das Erröten gerade zu jenen Ausdrucksformen gehört, die dem Einfluß des Willens, und also auch der Aufmerksamkeit, am wenigsten zugänglich sind.

8) Vergl. Kap. XX.

9) Darwin (a. a. O. S. 177) vermutet, daß das Weinen durch den mechanischen Druck hervorgebracht werde, welchem das Auge bei der Mimik des starken Schreiens ausgesetzt sei. Aber dem widerspricht, wie ich glaube, die Tatsache, daß Tiere und selbst ganz junge Kinder auf das heftigste schreien können, ohne Tränen zu vergießen.

l0) Darwin a. a. O. S. 84.

    Die direkte Innervationsänderung ist fast immer begleitet von einer bedeutenden Rückwirkung des Affektes auf die Apperzeption. Nicht bloß die plötzliche Lähmung oder Erregung der Muskeln bei starken Affekten, sondern auch jene schwächeren Anwandlungen, die sich nur am Herzschlag, am Erbleichen oder Erröten der Wangen verraten, sind sehr gewöhnlich mit einer Verwirrung des Gedankenlaufs verbunden, die ihrerseits auf den Affekt selbst und seine körperlichen Folgen verstärkend zurückwirken kann. Der Furchtsame oder Verlegene stottert, nicht bloß weil ihm die Zunge mechanisch den Dienst versagt, sondern zugleich weil ihm die Gedanken stille stehen. Auch hierin verrät sich also wieder der nahe Zusammenhang der motorischen Innervation mit dem Apperzeptionsvorgang.
    Das Prinzip der Assoziation analoger Empfindung stützt sich auf das mehrfach hervorgehobene Gesetz, daß Empfindungen von ähnlichem Gefühlston leicht sich verbinden und gegenseitig verstärken11). Zunächst kommen hier die Haut- und Muskelgefühle in Betracht, die mit allen Ausdrucksbewegungen verbunden sind. So können schon die energischen Bewegungen, welche, heftige Affekte begleitend, zunächst eine Wirkung der direkten Innervationsänderung sind, nebenbei auch darauf bezogen werden, daß die starke Gemütsbewegung starke Tast- und Muskelgefühle als sinnliche Grundlage verlangt. Unwillkürlich paßt daher die Spannung der Muskeln, die sich bei der Ausdrucksbewegung beteiligen, dem Grad des Affektes sich an. Deutlicher aber kommt unser Prinzip bei den mimischen Bewegungen zur Geltung. Der Druck der Wangenmuskeln richtet sich offenbar, wie harless mit Recht bemerkt, nach den Qualitäten des zum Ausdruck kommenden Gefühles12). So sehen wir die mimische Bewegung zwischen der schmerzvollen Verzerrung bei leidvollen Affekten, dem wohltuenden Druck befriedigten Selbstgefühls und der festen Spannung energischer Stimmungen mannigfach wechseln. Zu der vielseitigsten Verwendung aber kommt das Prinzip der analogen Empfindungen bei den mimischen Bewegungen des Mundes und der Nase. Beide entstehen zunächst als reine Reflexwirkungen auf Geschmacks- und Geruchsreize. Am Munde unterscheiden wir deutlich den Ausdruck des Sauren, Bittern und Süßen. Die beiden ersteren sind im allgemeinen unangenehme Empfindungen, welche gemieden werden, das dritte ist eine angenehme, von dem Geschmacksorgan aufgesuchte Empfindung. Unsere Zunge ist aber an den verschiedenen Stellen ihrer Oberfläche für diese verschiedenen Geschmacksreize in verschiedenem Grade empfindlich, die hinteren Teile des Zungenrückens und der Gaumen vorzugsweise für das Bittere, die Zungenränder für das Saure, die Zungenspitze für das Süße. So kommt es, daß wir bei der Einwirkung saurer Stoffe den Mund in die Breite ziehen, wobei sich Lippen und Wangen von den Seitenrändern der Zunge entfernen. Bittere Stoffe verschlucken wir, während der Gaumen stark gehoben und die Zunge niedergedrückt wird, damit beide möglichst wenig den Bissen berühren. Kosten wir dagegen süße Stoffe, so werden Lippen und Zungenspitze denselben in schwachen Saugebewegungen entgegengeführt, um möglichst mit dem angenehmen Reiz in Berührung zu kommen13). Diese Bewegungen haben sich nun so fest mit den betreffenden Geschmacksempfindungen assoziiert, daß ein reproduziertes Bild der letzteren ohne die tatsächliche Einwirkung eines Geschmacksreizes, durch die Bewegung selbst schon entsteht. Sobald daher Affekte in uns aufsteigen, die mit den sinnlichen Gefühlen, welche an jene Empfindungen gebunden sind, eine Verwandtschaft haben, so werden nun unwillkürlich die nämlichen Bewegungen ausgeführt, die dem Affekte in der analogen Empfindung im Gebiet des Geschmacksorganes einen sinnlichen Hintergrund geben. Alle jene Gemütsstimmungen, welche auch die Sprache mit Metaphern wie bitter, herbe, süß bezeichnet, kombinieren sich daher mit den entsprechenden mimischen Bewegungen des Mundes14). Einförmiger ist die Mimik der Nase. Hier wechseln nur Öffnen und Schließen der Nasenlöcher, um bald die Aufnahme angenehmer, bald die Abwehr unangenehmer Geruchseindrücke zu unterstützen, Bewegungen, die dann in ähnlicher Weise wie die mimischen Reflexe des Mundes auf alle möglichen Lust- und Leidaffekte übertragen werden15).

11) Vergl. Kap. X., Kap. XVII.
12) HARLESS, plastische Anatomie S. 126 f.
13) Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele II S. 348.
14) PIDERIT, wissenschaftliches System der Mimik und Physiognomik. Detmold 1867. S. 69.
15) Ebend, S. 90 f.

    Das Prinzip der Beziehung der Bewegung zu Sinnesvorstellungen beherrscht wohl alle die Mienen und Gebärden, die sich auf die zwei vorigen Grundsätze nicht zurückführen lassen. So werden die Ausdrucksbewegungen der Arme und Hände vor allem durch dieses Prinzip bestimmt. Wenn wir mit Affekt von gegenwärtigen Personen und Dingen sprechen, weisen wir unwillkürlich mit der Hand auf sie hin. Ist aber der Gegenstand unserer Vorstellung nicht anwesend, so fingieren wir wohl denselben irgendwo in unserm Gesichtsraum, oder wir deuten nach der Richtung, in der er sich entfernt hat. Gleicherweise bilden wir in affektvollem Sprechen oder Denken Raum- und Zeitverhältnisse nach, indem wir das Große und Kleine durch Erhebung und Senkung der Hand, Vergangenheit und Zukunft durch Rückwärts- und Vorwärtswinken andeuten. In der Empörung über eine Beleidigung ballen wir die Faust, selbst wenn der Beleidiger gar nicht anwesend ist, oder wir doch nicht entfernt die Absicht haben, ihm persönlich zu Leibe zu gehen; ja der Erzähler, der Ereignisse einer fernen Vergangenheit berichtet, braucht wohl die gleiche Bewegung, wenn ein ähnlicher Affekt in ihm aufsteigt. Nach DARWIN's Ermittelungen scheint übrigens diese Gebärde nur bei Völkern heimisch zu sein, welche mit den Fäusten zu kämpfen pflegen16). Bei heftigem Zorn kann sich die nämliche Bewegung mit der Entblößung der Zähne verbinden, als sollten auch diese zum Kampfe verwendet werden. Als Gegensatz zu dem aggressiven Emporrecken des Halses, wie es dem Zorn und energischen Mut eigen ist, erscheint das Achselzucken, eine ursprünglich wohl dem ängstlichen Verbergen und andern zweifelhaften Gemütslagen eigentümliche Gebärde, die bei uns zum gewöhnlichen Ausdruck der Unentschiedenheit geworden ist. Wir können es als eine unwillkürliche Rückzugsbewegung, oder wo es sich, wie oft beim eigentlichen Zweifel, mehrmals wiederholt, als einen Wechsel zwischen Angriff und Rückzug auffassen. Von ähnlicher Bedeutung sind die Gebärden der Bejahung und Verneinung. Bei der ersteren neigen wir uns einem fingierten Objekte zu, bei der letzteren wenden wir uns mehrmals von demselben ab. Endlich fällt unter dieses Prinzip fast die ganze Mimik des Auges. Bei gespannter Aufmerksamkeit ist der Blick fest und fixierend, auch wenn das Objekt, dem sich unser aufmerksames Nachdenken zuwendet, nicht gegenwärtig ist. Ferner öffnet sich das Auge weit im Moment der Überraschung; es schließt sich plötzlich beim Erschrecken. Der Verachtende wendet den Blick zur Seite, der Niedergeschlagene kehrt ihn zu Boden, der Entzückte nach oben. Von den Bewegungen des Auges hängt zugleich der mimische Ausdruck seiner Umgebung ab. So legt sich bei lebhaft geöffnetem Auge die Stirn in horizontale, bei erst fixierendem Blick in vertikale Falten. Die senkrechte Stirnfurchung verbunden mit dem gespannten Blick wird durch ihre Übertragung auf verschiedenartige Vorstellungen ein sehr verbreiteter mimischer Zug, welcher angestrengtes Nachdenken, Sorge, Kummer, Zorn ausdrücken kann. Erst die übrigen Ausdrucksbewegungen können in diesem Fall Licht werfen auf die besondere Richtung der Stimmung.

16) Darwin a. a. O. S. 252.

    Es wurde schon bemerkt, daß die drei hier erörterten Prinzipien des Ausdrucks zu einem gemeinsamen Effekt sich kombinieren können. So sind denn in der Tat meistens die Äußerungen der Gemütsbewegungen von zusammengesetzter Art und bedürfen daher einer Zergliederung in ihre Elemente. Diese Untersuchung der einzelnen mimischen Formen liegt außerhalb unserer Aufgabe17), bei der es sich bloß um die Nachweisung der allgemeinen psychologischen Gesetze handelt, die hier zur Geltung kommen. Nur auf zwei kompliziertere Bewegungen dieser Art wollen wir hinweisen, welche die stärksten Ausdrucksmittel der entgegengesetzten Lust- und Leidaffekte darstellen: das Lachen und Weinen. Der Gesichtsausdruck des Weinens besteht, wie bei dem sauren Geschmacksreiz, in einer Erweiterung der Mundspalte, die sich zuweilen mit dem bittern Zug mehr oder minder deutlich kombiniert. Zugleich werden die Nasenlöcher geschlossen, die Nasenwinkel herabgezogen, wie bei der Abwehr unangenehmer Geruchsreize. Das Auge ist halb geschlossen, als solle ein empfindlicher Lichtreiz fern gehalten werden, und die Spannung der das Auge umgebenden Muskeln wird entsprechend der Stärke des Affektes vermehrt: in Folge dessen legt sich die Stirn in senkrechte Falten. Auch die Stimmmuskeln nehmen, namentlich bei Kindern, leicht an der verbreiteten motorischen Erregung Teil. Durch direkte Innervationsänderung ergießen sich die Tränen, der Herzschlag wird beschleunigt, und die Blutgefäße verengern sich. Wahrscheinlich ist es die dauernde Kontraktion der kleinen Arterien, die eine Reizung des Zentrums der Exspiration herbeiführt. Das Schreien wird daher zu einem natürlichen Begleiter der krampfhaften Ausatmungsanstrengungen, die in Folge der Dyspnö, die sie herbeiführen, von einzelnen Inspirationsstößen unterbrochen werden. So stellt das Schluchzen als natürliche Folge heftigen Weinens sich ein. Das Lachen unterscheidet sich vom Weinen hauptsächlich durch die verschiedene Mimik der Nase und des Auges. Beide Sinnesorgane sind in der Regel weit geöffnet, wodurch die Stirn in horizontale Falten gelegt wird; auch der Mund ist geöffnet, als sollten alle Sinne den erfreulichen Eindruck aufnehmen. Dabei findet auch beim Lachen eine direkte Innervation der Gefäße statt. Sie ist aber nicht, wie beim Weinen, eine dauernde, sondern, gemäß der Natur der Lachreize, des Kitzels und des Komischen, höchst wahrscheinlich eine intermittierende18). So tritt denn auch eine intermittierende Reizung des Exspirationszentrums ein. Das Lachen macht sich daher von Anfang an in einzelnen durch Einatmungen getrennten Exspirationsstößen Luft. Bekanntlich kann bei heftigem Lachen die so bewirkte heftige Erschütterung des Zwerchfells sehr anstrengend werden. Dann nimmt das Auge die Mimik der Anstrengung an, fest gehaltenen Blick verbunden mit senkrechten Stirnfalten. Daher die merkwürdige Ähnlichkeit, welche Lachen und Weinen in ihren äußersten Graden darbieten.

l7) Man vergleiche hierüber namentlich die angeführten Werke von Darwin und PlDERIT.
18) E. HECKER, die Physiologie und Psychologie des Lachens und des Komischen. S. 7 f. Vergl. oben S. 701.

    Unter dem dritten Prinzip der Ausdrucksbewegungen sind uns bereits Gebärden entgegengetreten, in denen nicht bloß ein innerer Affekt zur Wirkung gelangt, sondern wobei sich die Bewegung zugleich auf bestimmte äußere Vorstellungen bezieht. Den Gegenstand, der unser Gefühl erregt, deuten wir an, indem wir auf ihn hinweisen, ihn anblicken oder, wenn er nicht unmittelbar gegeben ist, seine zeitlichen und räumlichen Beziehungen irgendwie durch Bewegungen kenntlich machen. Hierdurch geht die Affektäußerung unmittelbar über in die Gedankenäußerung, als deren einfachste Form die Gebärdensprache sich darstellt. Alle Gebärden, welche zur Äußerung und Mitteilung von Vorstellungen dienen können, lassen sich dem dritten Prinzip der Ausdrucksbewegungen unterordnen. Ursprünglich gehen sie ohne Zweifel, wie alle Ausdrucksbewegungen, aus Affekten hervor. Ein unwiderstehlicher Trieb zwingt uns, den Gemütsbewegungen Luft zu machen, und unwillkürlich werden dabei die Vorstellungen, welche unser Gemüt erregen, angedeutet oder nachgebildet. So wird die Vorstellung durch die Gebärde ausgedrückt, ohne daß ursprünglich eine besondere Absicht der Mitteilung im Spiele wäre. Aber der Mensch findet sich von Anfang an unter andern Menschen. Die Gebärde, die eine reine Affektäußerung ist, wird von gleichgearteten Wesen verstanden und so unversehens zum Hilfsmittel der Mitteilung, das sich nun von selbst in der Gesellschaft, die sich einmal dessen bemächtigt hat, befestigen und vervollkommnen muß. Je öfter die gleiche Gebärde gebraucht wurde, um so mehr geht sie in ein konventionelles Zeichen für die Vorstellung über, welches nun auch bloß in der Absicht der Mitteilung, ohne einen besonderen Antrieb des Affektes, benutzt wird. Indem der Gesichtskreis des Sprechenden sich erweitert, sucht er dann nach Zeichen, durch welche er verwandte Vorstellungen von einander scheide. So greift, in dem Maße als die Gebärden Hilfsmittel der Mitteilung für eine denkende Gemeinschaft werden, mehr und mehr auch der Wille in den Gebrauch derselben ein. Nie freilich kann der Wille in der Entwicklung der natürlichen Gebärdensprache an sich bedeutungslose Zeichen hervorbringen. Immer muß dem individuell erzeugten Symbol das Verständnis von Seiten des Andern, an den die Mitteilung geht, entgegenkommen, was nur so lange möglich ist, als eine Beziehung der Gebärde zu der Vorstellung, die sie bedeuten soll, existiert. Da nun die menschliche Natur aller Orten die nämliche ist, so begreift es sich, daß unter den verschiedensten Umständen, wo eine reine Gebärdensprache sich ausbilden kann, bei den Taubstummen verschiedener Länder, zwischen wilden Stämmen, die ohne gemeinsame Lautsprache verkehren, im wesentlichen immer wieder ähnliche Zeichen für ähnliche Vorstellungen gebraucht werden. Die Mitteilung durch Gebärden ist also eine wahre Universalsprache, in der es übrigens immerhin an einzelnen, so zu sagen dialektischen Verschiedenheiten nicht fehlt, die den besondern Bedingungen, unter denen sie sich ausbildet, entsprechen19).

19) E. B. TYLOR, Forschungen über die Urgeschichte der Menschheit, S. 44 f.

    Die einfachste Weise, in welcher eine Vorstellung ausgedrückt werden kann, ist die unmittelbare Hinweisung auf den Gegenstand. Dieses Hilfsmittel ist aber in der Regel nicht anwendbar, wenn der Gegenstand abwesend ist. Hier hilft sich daher die Gebärde mit der Nachbildung desselben. Sie zeichnet seine Umrisse in die Luft, oder sie nimmt irgend eines seiner Merkmale heraus, das sie andeutet. Solche nachbildende Zeichen werden dann auch gebraucht, um allgemeine Vorstellungen auszudrücken. So pflegt bei den Taubstummen das Zeichen für "Mann" die Bewegung des Hutabnehmens zu sein; für "Weib" wird die geschlossene Hand auf die Brust gelegt; für "Kind" wird der rechte Ellbogen auf der linken Hand geschaukelt; für "Haus" werden mit beiden Händen die Umrisse von Dach und Mauern in die Luft gezeichnet, u. s. w.20). Wir können also zweierlei Gebärdezeichen unterscheiden, demonstrierende, unmittelbar hinweisende, und malende, solche die den Gegenstand oder hervorstechende Merkmale desselben nachbilden. Beiderlei Zeichen können aber in allen möglichen grammatischen Bedeutungen gebraucht werden. Die natürliche Gebärdensprache kennt keinen Unterschied von Nomen und Verbum, die Hilfszeitwörter und überhaupt alle abstrakten Redeteile fehlen ihr. Sie ist, wenn man will; eine reine Wurzelsprache; ihre ganze Fähigkeit besteht in der Aneinanderreihung von Vorstellungszeichen. Selbst die Reihenfolge, in der dies geschieht, ist keine fest bestimmte. Alles, was man die Syntax der Gebärdensprache nennen könnte, reduziert sich darauf, daß die Vorstellungszeichen in derjenigen Ordnung sich aneinander schließen, in welche das Interesse des Sprechenden sie bringt21).

20) Tylor a. a. O, S. 25.
21) Vgl. STEINTHAL, in PRUTZ' deutschem Museum. 1851, I. S. 922.

    Die Hauptzeichen der Gebärdensprache, jene demonstrierenden und malenden Gebärden, die den Wurzeln der Lautsprache verglichen werden können, ordnen sich zwar sämtlich dem dritten Prinzip der Ausdrucksbewegungen unter. Aber darum sind die beiden andern Gesetze, namentlich das zweite, auch für die Gedankenäußerung keineswegs bedeutungslos. Indem das Mienenspiel des Gesichts fortwährend die Gefühle und Affekte andeutet, welche mit den ausgedrückten Zeichen verbunden werden, wird die Bedeutung dieser Zeichen selbst verständlicher. Auf diese Weise bildet besonders die Mimik des Mundes einen fortlaufenden, wenn auch nur auf Gefühle hinweisenden Kommentar zu dem was Auge, Hand und Finger direkter ausdrücken. Diese Begleitung durch Gefühlsausdrücke fehlt auch bei der Lautsprache keineswegs; sie pflegt nur ungleich lebendiger zu sein bei der Gebärdensprache, die kein Hilfsmittel entbehren kann, das zu größerer Verdeutlichung dienen mag.
    Der Sprachlaut entspringt gleich der Gebärde aus dem unwiderstehlichen Trieb, der in den Menschen gelegt ist, seine Vorstellungen mit Bewegungen zu begleiten, welche zu denselben in unmittelbarer Beziehung stehen, und so den sinnlichen Eindruck, den der wahrgenommene Gegenstand hervorbringt, durch subjektiv erzeugte analoge Empfindungen zu verstärken. Ursprünglich entstehen zweifellos alle diese Bewegungen in der Form eines Reflexes, und erst allmälig bemächtigt sich derselben die sichere Lenkung des Willens. Wie wir eine gereizte Stelle unserer Haut reflektorisch belasten, so weist der Naturmensch unwillkürlich auf das Objekt hin, das seine Aufmerksamkeit fesselt, und begleitet diese Bewegung mit einem Laut, welcher die stumme Gebärde verstärkt. Oder er weckt eine reproduzierte Vorstellung zu größerer Lebendigkeit, indem er den Gegenstand derselben durch malende Pantomimen nachbildet und wieder einen gleich bedeutungsvollen Laut hinzufügt. Noch heute können wir diesen Prozeß zuweilen an Menschen von lebhafter Phantasie beobachten, wenn sie ihre einsamen Gedanken mit Gestikulationen und Worten begleiten. Nur das Wort finden sie in der Sprache bereits vor, das jener erste Naturmensch, wie wir ihn hier voraussetzen, gleichfalls in der Form einer natürlichen Gebärde hervorstieß. Aber die ursprüngliche Klanggebärde unterscheidet sich von der stummen Pantomime wesentlich dadurch, daß sich in ihr die Bewegung mit der Schallempfindung verbindet. Sie bietet also der äußern Vorstellung, an die sie sich anschließt, eine doppelte subjektive Verstärkung dar, und hierdurch schon muß sie die stumme Gebärde an versinnlichender Kraft hinter sich lassen. Als begleitende Bewegung kann auch der Taubstumme die Klanggebärde gebrauchen, indem er für bestimmte Vorstellungen bezeichnende Laute hat, die ihm selbst nur als Bewegungsgefühle bewußt sind22). Aber das weitaus überwiegende Element der Klanggebärde ist vermöge der hohen Entwicklung des Gehörsinns der Klang, der, wie das Beispiel der musikalischen Wirkungen zeigt, unendlich mannigfaltiger Formen des Ausdrucks fähig ist. Wie in der Musik der Klang benutzt wird, um das Wechseln und Wogen der Gefühle zu schildern, so wird er in dem Sprachlaut zum Symbol der Vorstellung. Ebendeshalb bedarf dieser einer Bestimmtheit, die der musikalische Klang nicht nur entbehren kann sondern entbehren muß, wenn er die ganze Wirkung entfalten soll, deren er fähig ist. Der Sprachlaut muß unzweideutig die Vorstellung angeben, für die er gebraucht wird. Nur hierdurch kann er aus einem individuellen Gefühlsausdruck zum Hilfsmittel der Mitteilung und so zum Organ gemeinsamen Denkens werden. Für diesen Zweck ist es durchaus wesentlich, daß er dem Gebiet der konstanten Klangverwandtschaft angehört23). Denn damit ist die allgemeine Möglichkeit geboten, daß für verschiedene Vorstellungen wohl unterscheidbare Laute existieren. Die Zahl der Sprachsymbole, die auf solche Weise auseinander gehalten werden können, erweitert sich dann ins unermeßliche durch die zahllosen Kombinationen verschiedener Lautelemente. Die wirkliche Bildung der Klanggebärde ist aber freilich mit dieser Möglichkeit einer Bildung wohl unterscheidbarer Lautsymbole von genügender Zahl noch nicht erklärt. Denn die Sprache ist keine willkürliche Erfindung, sondern in gewissem Sinne ein Naturprodukt, da sie ursprünglich, wie jede Ausdrucksbewegung, als ein unmittelbarer Reflex des Eindrucks entsteht, welchen die Vorstellung auf das Bewußtsein hervorbringt. Es muß also der Sprachlaut, wie jede Gebärde, dem Sprechenden als ein natürliches Zeichen der Vorstellung erscheinen und von Andern als ein solches verstanden werden. Hierzu bieten sich nun zwei Wege dar. Zunächst wird zwischen der Vorstellung und dem Laut sowohl wie dem Bewegungsgefühl, das bei dessen Erzeugung entsteht, eine Verwandtschaft vorhanden sein. Diese ist am augenfälligsten in den allerdings seltenen Fällen unmittelbarer Schallnachahmung. Eine viel wichtigere Rolle als diese direkte Onomatopoiesis spielt ein Vorgang, den wir die indirekte Onomatopoiesis nennen können, und der auf der Übersetzung anderer Sinneseindrucke in Klangempfindungen beruht; eine Übersetzung, die durchaus im Gebiet des Gefühls vor sich geht, da jene Analogien der Empfindung, auf welche sie zurückführt, ganz und gar aus übereinstimmenden Gefühlen hervorgehen24). Gerade der unendliche Reichtum des Gehörsinns macht ihn fähig, den verschiedensten Vorstellungen anderer Sinne sich anzuschmiegen. Unter diesen kommt dem Gesichtssinn gewiß eine wichtige Rolle zu, doch liegt kein Grund vor ihn für den einzigen zu halten, von welchem der Sprachreflex ausgeht. Alle Sinne des Menschen sind den äußern Eindrücken geöffnet. So wird denn bald dieser bald jener den klangerzeugenden Trieb anregen. Immer kann natürlich durch die Klanggebärde nur ein einzelnes Merkmal der Vorstellung herausgegriffen werden, das gerade dem Bewußtsein des spracherzeugenden Naturmenschen am lebhaftesten sich einprägt. Indem aber der Andere, an den die Rede sich richtet, unter den nämlichen Bedingungen äußerer Anregung und innerer Aneignung sich befindet, wird auch ihm das durch den Laut bevorzugte Merkmal leicht als das zutreffendste erscheinen und so das Verständnis seiner Bedeutung von selbst erwecken. Ein zweites naturgemäß sich darbietendes Hilfsmittel, welches diese Verständigung erleichtert, ist sodann die Verbindung des Sprachlauts mit andern Gebärden. Noch heute können wir beobachten, wie der sprechende Naturmensch das Wort mit lebendigen Pantomimen begleitet, welche dasselbe auch dem der Sprache nicht mächtigen Zuhörer verständlich machen. Erst allmälig, durch Sitte und Kultur hat diese innige Verschwisterung von Sprache und Gebärde sich abgeschwächt, und ist die erstere als das mächtigere Hilfsmittel der Gedankenmitteilung fast allein übrig geblieben.

22) Vgl. oben Kap. XVI. und STEINTHAL in Prutz' deutschem Museum. 1851, 1. S. 917.
23) Vgl. Kap. XIII.

24) Siehe oben Kap. XVI. und Kap. X. Außerdem vgl. hierzu die Erörterungen von LAZARUS, Leben der SeeleII, S. 92 f. und Steinthal Abriß der Sprachwissenschaft. Berlin 1872. I, S. 376.

    Die Ursprache des Menschen war somit eine Reihe mit Gebärden begleiteter Wörter, von denen jedes einzelne als ein ein- oder mehrsilbiger Laut25) eine konkrete Vorstellung ohne weitere grammatische Beziehung bedeutete, ähnlich wie heute noch die stumme Gebärde in der natürlichen Sprache der Taubstummen. Es ist bekannt, daß unter den lebenden Sprachen manche, namentlich das Chinesische, Annäherungen an diese vorgrammatische Sprachstufe darbieten. Die so entstandene Klanggebärde hat, sobald sie Eigentum einer redenden Gemeinschaft geworden ist, die Eigenschaft einer Sprachwurzel. Es können nun jene mannigfachen Wandlungen, Verbindungen mit andern Wurzeln, flektionale Abschweifungen und Lautverschiebungen, vor sich gehen, in denen sich die Weiterentwicklung der Sprache betätigt. Dabei verliert naturgemäß der Laut von seiner ursprünglichen Lebendigkeit. In gleichem Maße aber gewinnt er an Fähigkeit, von konkreten Vorstellungen allmälig auf abstrakte Begriffe übertragen zu werden. So wird die Sprache zu einem immer bequemeren Instrument des Denkens. Dieser innern Metamorphose geht die äußere parallel. Überall deutet die Entwicklung der Sprachen darauf hin, daß dieselben mehr und mehr an Härte und an mechanischer Schwierigkeit für den Redenden einbüßen. Für die Ursprache, die darnach ringt jede Vorstellung durch einen treffenden Laut auszudrücken, fallen die Schwierigkeiten der Lautbildung wenig in's Gewicht. Diese machen sich erst geltend, sobald der Laut die sinnlich lebendige Bedeutung verloren hat, die ihm einst zukam.

25) Nach vielen Sprachforschern sind alle Sprachen aus monosyllabischen Wurzeln aufgebaut (W. v. Humboldt, über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues. Werke Bd. 6, S. 386, 405. Max MÜLLER, Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache I. Leipzig 1863, S. 220). Aber diese Regel ist nur von einzelnen Sprachstämmen, namentlich dem indogermanischen, abstrahiert worden. Gewisse Wurzeln können, wie W. Bleek bemerkt, schon deshalb nicht einsilbig sein, weil sie mehrsilbige Schalleindrücke nachahmen (Bleek, über den Ursprung der Sprache. Weimar 1868. S. 55.)

    Das ursprüngliche Zusammengehen von Sprachlaut und Gebärde läßt vermuten, daß die Wurzeln der Lautsprache in die nämlichen Gruppen sich scheiden, wie die Zeichen der Gebärdensprache. Wie es demonstrierende und malende Bewegungen gibt, so wird auch die Sprache hinweisende und nachahmende Laute enthalten. In der Tat dürfte mit dieser Einteilung die linguistische Klassifikation in demonstrative und prädikative Wurzeln zusammenfallen26). Die an Zahl überwiegenden prädikativen Wurzeln wären dann als die Analoga der nachbildenden Gebärde anzusehen. Nur bei ihnen wäre jene direkte oder indirekte Onomatopoiesis wirksam, welche den sinnenfälligsten Bestandteil der Vorstellung herausgreift, um ihn durch einen charakteristischen Laut zu bezeichnen. Bei der demonstrativen Wurzel fehlt diese Beziehung. Wörter wie "Ich, Du, hier, dort" u. s. w. können auch in der Ursprache mit keiner unmittelbaren oder mittelbaren Lautnachahmung des Gegenstandes zusammenhängen, da diesen abstrakten Symbolen überhaupt der bestimmte Gegenstand fehlt. Wahrscheinlich beruht hier der Laut, gleich der begleitenden Gebärde, nur auf einer hinweisenden Bewegung, die mit Hand und Auge auch das Sprachorgan ergreift, und es mag sein, daß diese hinweisende Bedeutung viel mehr dem Bewegungsgefühl als dem Laut innewohnt, der hier nur ein unerläßlicher Begleiter der Bewegung ist.

26) M. Müller a. a. O., S. 211 f.

    Nicht unter die Wurzeln der Sprache pflegt man die Interjektionen zu rechnen, die bekanntlich schon durch ihre Gleichförmigkeit in verschiedenen Sprachen sich auszeichnen. Als reine Gefühlsausbrüche ohne Beziehung auf bestimmte Vorstellungen sind sie auch psychologisch wesentlich von der eigentlichen Klanggebärde verschieden. Während die letztere, gleich den Zeichen der natürlichen Gebärdensprache, vollständig unsern dritten Prinzip der Ausdrucksbewegungen untergeordnet ist, haben die Interjektionen die Bedeutung von Stimmreflexen, welche auf einer direkten Innervationsänderung beruhen, dabei aber gleichzeitig in ihrer Form durch die mimischen Bewegungen bestimmt sind, die den Analogien der Empfindung gemäß durch den betreffenden Eindruck erregt werden. So ist auf die Interjektion der Verwunderung das plötzliche Öffnen des Mundes, welches diesen Affekt begleitet, auf die Interjektion des Abscheus die Ekelbewegung der Antlitzmuskeln von Einfluß, u. s. w. Bei diesen reinen Gefühlsausdrücken der Sprache wirken also regelmäßig das erste und zweite Prinzip der Ausdrucksbewegungen zusammen.
    Die Sprachäußerung ist in höherem Grade als irgend eine andere Form der Ausdrucksbewegungen an den Vorgang der Apperzeption gebunden. Keine Vorstellung wird durch Sprache und Gebärde bezeichnet, die nicht zuvor apperzipiert, d. h. aus den zahlreichen Vorstellungen, die das Bewußtsein erfüllen, in den inneren Blickpunkt gehoben wäre. Unter den Bestandteilen der apperzipierten Vorstellung wird aber wieder jener am schärfsten innerlich wahrgenommen, welcher den Sprachlaut nach sich bestimmt. Es erweist auch hier jene Enge des Bewußtseins sich wirksam, vermöge deren in der Regel nur eine Empfindung oder höchstens wenige auf einmal sich im innern Blickpunkt befinden können. Sprachlaut und Gebärde sind Reflexe des Apperzeptionsorgans. So kommt bei dieser höchsten Lebensäußerung des Menschen wieder die Tatsache zur Geltung, daß die Apperzeption in einer aktiven Vollendung der sinnlichen Auffassung durch motorische Innervation besteht. Der nämliche Vorgang, der die Vorstellung und namentlich die sinnenfälligsten Empfindungsbestandteile derselben in den inneren Blickpunkt hebt, bringt zugleich jene Bewegungen hervor, welche als Sprachlaut und Gebärde in dem Redenden selbst die sinnliche Kraft der Vorstellung verstärken und in dem Andern, an den sich die Rede wendet, die nämliche Vorstellung wachrufen.
    Die sinnliche Lebendigkeit des Urmenschen, welcher einst die Sprache erzeugte, haben wir eingebüßt. Dennoch regt sich etwas von jener sprachbildenden Kraft noch in jedem von uns. Sie äußert sich in dem Taubstummen, der selbst ohne Erziehung sich in der Gebärde ein beschränktes Hilfsmittel des Ausdrucks schafft; sie äußert sich in dem Kinde, an welchem wir zur Zeit wo es sprechen lernt einen lebhaften Trieb zur Sprachäußerung bemerken, der sich manchmal in ganz neuen und wunderlichen Wortgebilden Luft macht. Sicherlich ist es nur dieser Trieb, der das Kind überhaupt zum Sprechenlernen befähigt. Es empfängt zwar die Sprache als eine fertige, aber der Trieb, in Laut und Gebärde Vorstellungen zu äußern, liegt in ihm.
    Daß die Tiere nicht sprechen lernen, obgleich manchen von ihnen die erforderlichen physiologischen Eigenschaften der Stimmwerkzeuge nicht fehlen, ist wahrscheinlich ein Resultat mannigfacher, freilich wieder unter einander zusammenhängender Verhältnisse. Wir haben schon bemerkt, daß manche intelligente Tiere, z. B. Affen und Hunde, nicht bloß Gefühle sondern auch gewisse einfache Vorstellungen pantomimisch zu äußern vermögen27). Aber die Stimmlaute, die sie dabei hervorbringen, sind bloße Gefühlsausdrücke. Die Gebärdensprache ist bei diesen Tieren offenbar etwas mehr entwickelt als die Lautsprache, in der sie sich auf einige Interjektionen beschränkt sehen. Der Vorzug des Menschen besteht demnach erstens in dem überhaupt unendlich reicheren Ausdruck von Vorstellungen und zweitens in dem ihm allein eigentümlichen Besitz einer Lautsprache. Gewiß ist es nicht zureichend, wenn man diese Unterschiede einfach auf die höhere geistige Entwicklung des Menschen oder gar auf ein besonderes, nur ihm eigenes Seelenvermögen zurückfuhrt. Der Sprachlaut ist ursprünglich nur Vorstellungszeichen. Vorstellungen haben aber zweifellos auch die Tiere. Es fragt sich also nur, warum sie meist ihre Vorstellungen nicht einmal durch Gebärden, niemals durch Laute ausdrücken können. Sind wir nun auch nicht im Stande, in das Innere der Tiere hineinzusehen, so kann uns doch gerade die mangelnde oder sehr mangelhafte Gedankenmitteilung einigermaßen Aufschluß geben, wie es in diesem Innern aussieht. Die mechanische Regulierung der Bewegungen nach den Sinneseindrücken vollzieht sich in ihrem Gehirn ebenso sicher wie in dem des Menschen. Aber der Vorgang der Apperzeption, als dessen Reflex die Sprache erscheint, muß höchst mangelhaft vonstatten gehen. Die Vorstellungen werden daher in ihrem Bewußtsein weniger deutlich von einander sich scheiden, so daß jene aufmerksame Erfassung des Einzelnen, die zur Bezeichnung durch Gebärde und Sprachlaut erfordert wird, fast gänzlich fehlt. Auch hier bietet das Bewußtsein des Kindes in frühester Lebenszeit, dem die meisten in seinem Sehbereich auftauchenden Gegenstände in ein Ganzes zusammenfließen28), noch eine gewisse Annäherung an den tierischen Zustand. Der Sprachtrieb regt sich beim Kinde ohne Zweifel zuerst in dem Moment, wo sich ihm die Objekte deutlicher zu sondern beginnen, so daß sich das Einzelne seiner Aufmerksamkeit aufdrängt. Für die Entwicklung einer Lautsprache fehlen aber den Tieren außerdem noch die besonderen Verbindungen der Stimm- und Gehörnervenfasern innerhalb des Zentralorgans der Apperzeption, Verbindungen, welche beim Menschen in der Entwicklung des den Insellappen und die Grenzen der Sylvischen Spalte einnehmenden Rindengebietes zu erkennen sind29). Da wir die Sprache nicht mehr als ein dem Menschen anerschaffenes Wunder, sondern nur noch als ein notwendiges Entwicklungsprodukt seines Geistes betrachten können, so müssen wir annehmen, daß mit der allmäligen Vervollkommnung des Organs der Apperzeption, wie sie sich in der reicheren Entfaltung des Vorderhirns kundgibt, auch jene zentralen Vorrichtungen, die der Apperzeption ihren kräftigsten Ausdruck in der Lautsprache schufen, allmälig sich ausgebildet haben.

27) Vergl. Anm. 2).
28) Vergl. Kap. XVIII.
29) Vergl. Kap. V.

    Ist die Sprache entstanden, so hat sie nun aber nicht mehr bloß die Bedeutung eines unmittelbaren Erzeugnisses des Bewußtseins, das für die Ausbildung des letzteren, seiner unterscheidenden und kombinierenden Tätigkeit, ein unmittelbares Maß abgibt, sondern sie ist zugleich das wichtigste Werkzeug des Denkens. Dies spricht vor allem in der Fortentwicklung der Sprache selber sich aus. Doch hat hier die Aufgabe der physiologischen Psychologie ihr Ende erreicht. Ihr lag es ob, die äußeren und inneren Bedingungen nachzuweisen, unter denen die Sprache als die höchste Form menschlicher Lebensäußerung aus dem Innern hervorbricht. Der vergleichenden Sprachforschung und Völkerpsychologie kommt es zu, die Gesetze der Weiterentwicklung der Sprache und ihre Rückwirkungen auf das Denken des Einzelnen und der Gesellschaft zu schildern.

    Die Versuche, zwischen dem Äußern des Menschen, namentlich seinen Gesichtszügen und seinem Innern gewisse Gesetze der Beziehung aufzufinden, sind zwar uralt, denn sie gründen sich auf die allgemeine Wahrnehmung der Wechselwirkung zwischen Geist und Körper; doch sind diese Versuche, wie sie namentlich in den früheren Arbeiten über Physiognomik vorliegen, von geringem Werte. Sie leiden alle an dem Fehler, daß sie bleibende Verhältnisse der Form, welche auf dem Knochenbau oder andern Eigenschaften der ursprünglichen Bildung beruhen, als bedeutungsvolle Symbole des geistigen Charakters ansehen, und sie ergehen sich meistens in einer ganz willkürlichen Vergleichung menschlicher Züge mit Tierformen, indem sie sich für berechtigt halten, daraus auf eine Verwandtschaft des Temperamentes oder sonstiger Eigentümlichkeiten zu schließen30). Im Mittelalter hatte die Physiognomik, analog der Chiromantik, den Charakter einer geheimnissvollen Kunst angenommen. lavater’s Arbeiten waren nicht geeignet, ihr diesen Charakter zu rauben. Er selbst sagt, mit der Physiognomie sei es wie mit allen Gegenständen des menschlichen Geschmacks; man könne ihre Bedeutung empfinden aber nicht ausdrücken31). lichtenbebg, der gegen die enthusiastischen Ergießungen lavater's die Pfeile seiner Satire richtete, hat zugleich schon vollkommen richtig die wissenschaftliche Aufgabe bezeichnet, die hinter jenen physiognomischen Verirrungen versteckt lag, die Untersuchung der an die Affekte gebundenen Ausdrucksbewegungen32). Dieses Ziel faßten denn auch J. J. ENGEL33), carl BELL34), HUSCHKE35) u. A. in's Auge, ohne daß sie jedoch zu hinreichend sichern Resultaten gelangt wären, obgleich namentlich die Arbeiten von engel und bell manche richtige Beobachtungen darbieten. Die meisten Physiologen und Psychologen verhielten sich aber gänzlich skeptisch gegen solche Versuche, die oft mit der Cranioskopie auf eine Linie gestellt wurden36). Erst in einigen neueren Arbeiten ist mit der Zurückführung der Ausdrucksbewegungen auf bestimmte psychologische Prinzipien ein Anfang gemacht worden. So stellt HARLESS37) den Satz auf, daß die Gesichtsmuskeln stets solche Spannungsempfindungen herbeiführen, welche dem vorhandenen Affekte entsprechen, ein Satz, der, wie wir sahen, innerhalb gewisser Grenzen richtig und unserm Prinzip der Assoziation analoger Empfindungen zu subsumieren ist, aber nicht das ganze Gebiet der Ausdrucksbewegungen umfaßt. PIDERIT38) sucht nachzuweisen, daß die durch Geisteszustände verursachten mimischen Muskelbewegungen sich teils auf imaginäre Gegenstände, teils auf imaginäre Sinneseindrücke beziehen. Dieses Gesetz, welches teilweise mit unserm dritten Prinzip zusammenfällt, umfaßt zwar viele Ausdrucksbewegungen, aber keineswegs alle. Endlich hat DARWIN39)alle Ausdrucksbewegungen bei Tieren und Menschen drei allgemeinen Prinzipien subsumiert, welche jedoch von den oben aufgestellten wesentlich verschieden sind. Das erste nennt er das Prinzip zweckmäßig assoziierter Gewohnheiten. Gewisse komplizierte Handlungen, die unter Umständen von direktem oder indirektem Nutzen waren, sollen in Folge von Gewohnheit und Assoziation auch dann ausgeführt werden, wenn kein Nutzen mit ihnen verbunden ist. Das zweite Prinzip ist das des Gegensatzes. Wenn gewisse Seelenzustände mit bestimmten gewohnheitsmäßigen Handlungen verbunden sind, so sollen die entgegengesetzten Zustände sich aus bloßem Kontrast mit den entgegengesetzten Bewegungen verbinden. Nach dem dritten Prinzip endlich werden Handlungen von Anfang an unabhängig von Willen und Gewohnheit durch die bloße Konstitution des Nervensystems verursacht. Ich kann nicht verhehlen, daß mir diese drei Gesetze weder richtige Verallgemeinerungen der Tatsachen zu sein, noch die letzteren vollständig genug zu enthalten scheinen. Ein wirklicher oder scheinbarer Nutzen läßt sich bei den Ausdrucksbewegungen natürlich schon deshalb in gewissem Umfang beobachten, weil sie ursprünglich Reflexe sind und als solche dem Gesetz der Zweckmäßigkeit und der Anpassung unterworfen40). Sie sind dies aber, wenigstens bei dem Individuum, schon vermöge der Konstitution des Nervensystems. Hier fließen also darwin's erstes und drittes Prinzip in einander. Über die Ursachen, weshalb solche zweckmäßige Reflexe auch auf andere Sinneseindrücke übertragen werden, wo von einem Nutzen derselben nicht mehr die Rede sein kann, darüber geben jedoch DARWIN's Sätze keinen Aufschluß. Hier kommt nun teils das Gesetz der Verbindung analoger Empfindungen teils das Gesetz der Beziehung der Bewegung zu Sinnesvorstellungen zur Anwendung, die beide in DARWIN's Aufstellung nicht enthalten sind. So ist denn auch bei diesem das Gesetz des Kontrastes ein offenbarer Notbehelf. Dafür daß eine Ausdrucksbewegung als Kontrast zu einer andern auftrete, muß doch ein psychologischer Grund aufgefunden werden. Ein solcher führt aber immer wieder auf die von uns oben formulierten Prinzipien des Ausdrucks und damit auf positive Gründe für die betreffende Bewegung zurück. Wenn z. B. der Hund, seinen Herren liebkosend, eine Haltung darbietet, die jener, wo er sich einem andern Hunde feindlich naht, gerade entgegengesetzt ist41) , so hat dies seinen Grund teils in den Eigenschaften der Tast- und Muskelempfindungen, die das Wedeln des Schwanzes und die Windungen des Körpers begleiten, teils in der Furcht vor dem Herrn, die sich in der gebückten Stellung kundgibt, also in Bewegungen, die wieder in Analogien der Empfindung und in der Beziehung zu Vorstellungen begründet sind. Abgesehen von dieser unzureichenden psychologischen Ausführung seiner Theorie hat übrigens darwin das Verdienst, ein außerordentlich reiches Material von Beobachtungen gesammelt und die Bedeutung der Vererbung auch auf diesem Gebiet durch zahlreiche Beispiele nachgewiesen zu haben.

30) Aristoteles, physiognomica cap. 4 seq. J. B. porta, de humana physiognomia. Hanoviae 1593. Die Vorstellungen über tierische Verwandlungen des Menschen hängen mit diesen Ansichten nahe zusammen. Vgl. Plato, Timäos 44.

31) Lavater's physiognomische Fragmente. Verkürzt herausgegeben von ARMBRUSTER. 3 Bde. Winterthur 1783–87. Bd. 1, S. 101.
32) LICHTENBERG's vermischte Schriften. Ausgabe von 1844. Bd. 4 S. 18 f.
33) Ideen zu einer Mimik. 2 Thle. Berlin 1785—86.
34) Essays on anatomy of expression. 1806. 3. Aufl. 1844.
35) Mimices et physiognomices fragmenta. Jen. 1821.
36) J. MÜLLER, Handbach der Physiologie II, S. 92.
37) Lehrbuch der plastischen Anatomie. S. 131.
38) System der Mimik und Physiognomik S. 25.
39) Der Ausdruck der Gemütsbewegungen. Deutsche Ausg. S. 28.
40) Siehe Kap. XXI.
41) Darwin a. a. O. S. 51 f.

    Das Problem des Ursprungs der Sprache mußte notwendig so lange im Dunkeln bleiben, als die Ausdrucksbewegungen überhaupt ein psychologisches Rätsel waren, da eben die Sprache nur die vollendetste Form der Ausdrucksbewegung ist. Der früheren Sprachphilosophie ist sie bald ein Geschenk Gottes bald eine Erfindung des menschlichen Verstandes, bald eine einfache Lautnachahmung der Schalleindrücke 42). Erst mit W. v. Humboldt beginnt das Problem in den Kreis wissenschaftlicher Forschung zu treten43). Aber Humboldt selbst vermag, wie STEINTHAL44) mit Recht bemerkt, den Boden, dem seine historische Einsicht zuerst die Stützen entzog, mit seiner eigenen Metaphysik noch nicht zu verlassen. So findet sich bei ihm ein eigentümlicher ungelöster Widerstreit der Gedanken. Die Sprache ist ihm ein notwendiges Entwicklungsprodukt des menschlichen Geistes, aber ihr Ursprung aus diesem wird von ihm nirgends näher nachgewiesen45). Die vergleichende Sprachforschung ist diesen psychologischen Grundfragen meistens skeptisch gegenübergestanden, indem sie dieselben wenigstens als vorläufig sich der Beantwortung entziehend hinstellt. Eine Reihe fruchtbarer Gesichtspunkte verdanken wir aber den Arbeiten von LAZARUS46) und STEINTHAL47). Namentlich haben sie den Begriff der Onomatopoiesis erweitert und auf die Wichtigkeit jenes Vorgangs schon hingewiesen, den wir oben als indirekte Onomatopoiesis bezeichneten. Auch die Bedeutung der Apperzeption wurde von beiden Forschern hervorgehoben. Doch schließen sie sich in der Auffassung dieses Vorgangs an die HERBART'sche Psychologie an. Die psychologische Bedeutung der Gesichtsvorstellungen für die Sprachentwicklung hat L. Geiger48) betont. Indem ihm so der ursprüngliche Sprachlaut ein Reflexschrei ist, der auf Gesichtseindrücke erfolgt, hat er wohl die notwendig vorauszusetzende Verwandtschaft zwischen der Natur des Lautes und der Vorstellung zu wenig beachtet und daher dem Zufall eine zu große Bedeutung eingeräumt49). Und doch ist jene Beziehung zwischen Laut und Vorstellung eine wesentliche Bedingung des Verständnisses. Sie ist aber um so weniger zufällig, als sie ohne Zweifel innig an die eng begrenzten Bedingungen der Gemeinschaft, innerhalb deren eine Ursprache entsteht, gekettet ist. Für die genetische Auffassung der Sprachbildung ist endlich von wesentlichem Belang, daß die Sprache den allgemeinen psychologischen Gesetzen der Ausdrucksbewegungen unterliegt, und daß sie in der Gedankenäußerung durch Gebärden ihr einfacheres Vorbild hat.

42) Vgl STEINTHAL, der Ursprung der Sprache im Zusammenhang mit den letzten Fragen alles Wissens 2te Aufl. Berlin 1858.
43) W. v. Humboldt, über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Ges. Werke. Bd. 6.
44) a. a. O. S. 78.
45) Humboldt a. a. O. S. 37 f., 53 f.
46) Leben der Seele. II, S. 3 f.
47) Abriß der Sprachwissenschaft. Bd. 1. Berlin 1872.
48) Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache und Vernunft. Stuttgart 1868.
49) a. a. O., S. 22, 134.