Siebenzehntes Kapitel.

Ästhetische Gefühle.

    Die Gefühle, die an unsere Vorstellungen gebunden sind, bewegen sich zwischen den Gegensätzen des Gefallens und Mißfallens. Sie gehen, gleich den sinnlichen Gefühlen, aus der Eigenschaft des Bewußtseins hervor, durch seinen Inhalt in der Form kontrastierender Zustände bestimmt zu werden. Wie nun die Vorstellung selbst auf einer Mehrheit von Empfindungen beruht, die nach psychologischen Gesetzen zusammenhängen, so ist auch das ästhetische Gefühl nicht etwa eine Summe sinnlicher Einzelgefühle, sondern es entspringt aus der Verbindungsweise der Empfindungen, und der Gefühlston der letzteren bildet nur den sinnlichen Hintergrund, auf welchem das ästhetische Gefühl sich erhebt. Dieses befindet sich in vielen Fällen dem Indifferenzpunkt zwischen seinen Gegensätzen so nahe, daß wir uns desselben nicht deutlich bewußt werden. Aus diesem Grunde pflegt man das ästhetische Gefühl auf das Gebiet der im engeren Sinne so genannten ästhetischen Wirkungen einzuschränken. Doch sind bei den letzteren jene Gefühle, welche an und für sich alle Vorstellungen begleiten, nur zu größerer Stärke entwickelt. Die psychologische Untersuchung muß den Begriff in seinem weiteren Sinne nehmen. Trotzdem wird es angemessen sein, auch hier von der ästhetischen Wirkung in ihrer gewöhnlichen Bedeutung auszugehen, weil bei ihr die Bedingungen der an die Vorstellung gebundenen Gefühle der Beobachtung deutlicher vorliegen. Bei allen Vorstellungen vollzieht sich die Verbindung der Empfindungen in dem allgemeinen Rahmen der beiden Anschauungsformen, der Zeit und des Raumes. Auf den Zeit- und Raumverhältnissen der Vorstellungen müssen daher die elementaren Bedingungen der ästhetischen Gefühle beruhen. Das Gehör, als zeiterweckender Sinn, gibt durch die zeitliche Verbindung seiner Vorstellungen, das Gesicht, als wichtigstes Organ der Raumanschauung, durch die räumliche Beziehung derselben zu Gefühlen Anlaß, und beide Quellen vereinigen sich in der Bewegung.
    Indem der Gehörssinn teils die gleichzeitigen teils die auf einander folgenden Eindrücke ordnet, ergeben sich für ihn zwei Grundformen ästhetischer Gefühle: Harmonie und Disharmonie, Rhythmus und Arrhythmie. Die Grundlage der Harmonie ist, wie ausführlich gezeigt wurde, die Koinzidenz bestimmter Teiltöne verschiedener Klänge1). Die Harmonie ist am vollkommensten bei jenen Intervallen, bei welchen die Übereinstimmung der Teiltöne hinreicht, um die Verwandtschaft deutlich empfinden zu lassen, und doch durch differente Klangbestandteile das Zusammenfließen zum Einklang verhindert ist. Gefallen entsteht also, wenn bei gleichzeitigen Klängen Übereinstimmung und Verschiedenheit neben einander bestehen. Vermöge der ersteren fassen wir den Zusammenklang als eine Einheit, vermöge der letzteren doch nebenbei als eine Mannigfaltigkeit auf. Seine bestimmtere Färbung gewinnt aber das Harmoniegefühl erst durch die besondere Art der Klangverbindung. Der Dur-Akkord, zusammengehalten durch den als Kombinationston wahrgenommenen Grundklang, erscheint unmittelbar als eine Klangeinheit. Der Moll-Akkord entbehrt dieser Verbindung. An die Stelle des Zusammenhalts durch den Grundklang tritt durch den koinzidierenden Oberton ein Abschluß auf der entgegengesetzten Seite der Tonreihe. Dazu kommt als sinnlicher Hintergrund der Akkordwirkung der kraftvolle Charakter der tiefen Töne, der durch den Grundklang sich dem Durdreiklang mitteilt, und der im Moll durch den entgegengesetzten Charakter des übereinstimmenden Obertons ersetzt wird. So kommt es, daß wir nur beim Durakkord in dem positiven Gefühl der Harmonie befriedigt ruhen, während der Mollakkord vielmehr ein Streben nach der Harmonie als diese selbst ausdrückt. Er erhält dadurch jenen sehnenden Charakter, der die Molltonarten zur Schilderung gewisser Gemütslagen so außerordentlich geschickt macht. Zwischen die volle Harmonie, welche die Abrundung in einem zusammenfassenden Grundklang verlangt, und die Disharmonie, welche jeder Vereinigung widerstrebt, tritt als vermittelndes Glied der Mollakkord. In ihm wird das Harmoniegefühl in einer unerwarteten Weise erreicht, durch Zustreben nach einem gemeinsamen hohen Ton statt durch Aufbau von einem Grundton aus. Die Disharmonie selbst ertragen wir nur als Übergangsstimmung: sie muß sich in Harmonie auflösen, damit die befriedigende Wirkung der letzteren um so reiner hervortrete. Verstärkt wird diese Wirkung durch die Dissonanz, die der störenden Wirkung, welche die Unvereinbarkeit der Einzelvorstellungen auf unser Bewußtsein ausübt, die unmittelbare Störung der Klangempfindungen hinzufügt2).

1) Kap. XIII.
2) Vergl. Kap. IX und XII.

    Der Rhythmus erregt Gefallen durch intensiv oder qualitativ verwandte Eindrücke, die in dem Wechsel verschiedener Gehörsvorstellungen meist nach regelmäßigen Zeiträumen sich wiederholen. Gleiche Eindrücke in gleichen Pausen stattfindend wirken ermüdend, aber niemals rhythmisch. Damit ein ästhetisches Gefallen entstehe, müssen mindestens zwei verschiedene Eindrücke, Hebung und Senkung des Klangs, wie im 2/8 Takt, in regelmäßigem Wechsel einander folgen. Ebenso hört das rhythmische Gefühl auf, wenn die Reihe verschiedenartiger Eindrücke so groß wird, daß die Wiederholung des Ähnlichen nicht mehr empfunden werden kann wie im 9/4 Takt oder in andern die Grenze der Übersichtlichkeit überschreitenden Formen3). Durch die Zusammenfügung der Takte zu rhythmischen Reihen, der Reihen zu Perioden, endlich der musikalischen Perioden zu den Abteilungen der Melodie kann das rhythmische Gefühl auch noch über größere Aufeinanderfolgen ausgedehnt werden. Wie die Harmonie, so beruht also auch der Rhythmus auf der leicht überschaubaren Verbindung der Vorstellungen. Innerhalb der allgemeinen Regelmäßigkeit der Sukzession werden dann durch die verschiedene Taktgliederung, die schnellere oder langsamere Folge der Eindrücke mannigfaltige Formen des Gefallens möglich, die sich noch unendlich erweitern, indem sie sich in der Melodie mit den Gesetzen der harmonischen Klangverbindung vereinigen. In dem Ganzen der musikalischen Wirkung ist es die Harmonie, welche der Gemütsstimmung ihre Richtung gibt, der Rhythmus, welcher das Wechseln und Wogen der Gefühle schildert. Beide Formen des Ausdrucks werden aber zusammengehalten durch das Prinzip der das Mannigfaltige beherrschenden Einheit.

3) Vergl. Kap. XIII.

    Bei den Gesichtsvorstellungen hat man der Kombination verschiedener neben einander stattfindender Farbenempfindungen eine besondere, den Klangverbindungen analoge Wirkung zugeschrieben. Eine unbefangene Beobachtung muß jedoch in dieser Beziehung bei der Bemerkung stehen bleiben4), daß Kontrastfarben gegenseitig in ihrer sinnlichen Wirkung sich heben, eine Regel, welche übrigens weit entfernt ist, gleich dem Harmoniegesetz der Töne, für die Farbenverbindung bestimmend zu werden, da die letztere vor allem nach den in der Natur gegebenen Verhältnissen und nach der sinnlichen Wirkung der einzelnen Farben sich richten muß. Aber selbst jene Hebung der Kontrastfarben beruht ganz und gar auf ursprünglichen Eigenschaften der Empfindung. Das ästhetische Gefühl im psychologischen Sinne ist daher von Farbe und Beleuchtung unabhängig, womit keineswegs gesagt sein soll, daß diese für die komplizierte ästhetische Wirkung gleichgültig seien. Vielmehr bildet hier die Farbe in ähnlicher Weise einen bedeutungsvollen sinnlichen Hintergrund wie der einzelne Ton im Gefüge der Harmonie und Melodie. Und in dieser Beziehung ist denn auch die Verbindung der Farben nicht ohne Einfluß. Die hebende oder störende Wirkung der einzelnen Farben auf einander ist der sinnlichen Wirkung der Konsonanz und Dissonanz zu vergleichen, wobei freilich nicht übersehen werden darf, daß die Störung, die sich im Zusammenklang mit großer Gewalt geltend macht, durch das extensive Nebeneinander der Eindrücke ermäßigt wird, und daß überdies die Anschauung der Natur und die durch sie entstandene Gewöhnung an mannigfache, nicht ganz befriedigende Farbenverbindungen unsere Empfindung mehr abgestumpft hat als bei der in freierer Selbstschöpfung sich bewegenden Klangwelt. So bleibt denn beim Gesichtssinn das ästhetische Gefühl selbst lediglich an die räumliche Form der Vorstellung gebunden. Jeder Gegenstand wirkt auf uns ästhetisch durch seine Gestalt. Die Farbe kann, wo sie hinzutritt, solche Wirkung verstärken, indem sie entsprechende sinnliche Gefühle wachruft. Aber die ästhetische Wirkung kann auch unabhängig von dieser Zugabe der reinen Empfindung entstehen, wie die bloß gestaltenden Künste, Plastik, Architektur und zeichnende Kunst, beweisen.

4) Vergl. Kap. X.

    Um die objektiven Bedingungen festzustellen, an welchen die ästhetische Wirkung der Gestalten haftet, bieten sich zwei Wege dar. Man kann zunächst einfache in freier Konstruktion erzeugte Formen in Bezug auf das Gefallen oder Mißfallen prüfen, das sie hervorbringen, ein Weg, der ganz und gar dem bei der Untersuchung der Klangverbindungen eingeschlagenen entspricht. Oder man kann hineingreifen in die lebendige Wirklichkeit der Natur und der sie nachahmenden Kunst, um an ihren Werken das Gefallende und Mißfallende aufzufinden. Hier sehen wir uns dann auf einem neuen Wege, den man bei den Gesichtsvorstellungen vielfach sogar für den einzigen hielt, während es Niemandem einfallen würde, dem Gesang der Vögel oder dem Rollen des Donners zu lauschen, um die Bedingungen der musikalischen Schönheit aufzufinden. Hierin zeigt sich eben die ungeheuere Macht, welche bei der Gestaltenwirkung die unmittelbare Wahrnehmung äußert, wogegen das Gehör vollkommen frei nach den subjektiven Gesetzen der Empfindung und Vorstellung waltet. Da nun das ästhetische Gefühl in der Wirkung der Vorstellungen auf unser Bewußtsein besteht, so werden wir sicherlich an jenen Kunstgebilden, welche, unbeengt durch äußeren Zwang, lediglich unter Führung des Gefühls selber entstanden sind, leichter die allgemeinen Bedingungen des Ästhetischen auffinden können. Hierin liegt der große Vorzug der Musik für Psychologie und Ästhetik, da sich in ihr die elementaren Bedingungen des Wohlgefallens ohne weiteres auf mathematische Verhältnisse zurückführen lassen. Aber auch bei der psychologischen Analyse der Gestaltenwirkung wird man darum gut tun, von jenen einfachen Fällen geometrischer Schönheit auszugehen, welche ebenfalls den Vorteil bieten, daß sie vollkommen frei erzeugt werden und eine Zurückführung auf mathematische Verhältnisse in Aussicht stellen. Es soll nicht bestritten werden, daß die ästhetische Wirkung solcher Formen eine sehr geringe ist. Sie ganz zu leugnen würde aber gegen alle Kunsterfahrung verstoßen, da doch die Ornamentik überall von derselben Gebrauch macht.
    Als nächstes Resultat ergibt nun die Beobachtung einfacher Gestalten zweifellos, daß wir das Regelmäßige dem Unregelmäßigen vorziehen. Der einfachste Fall der Regelmäßigkeit, die Symmetrie, begegnet uns daher an allen Formen, bei denen eine gewisse ästhetische Wirkung beabsichtigt ist, und bei denen nicht die Nachbildung asymmetrischer Naturformen eine Abweichung vorgeschrieben hat. Die Symmetrie ist aber vorzugsweise eine horizontale: so namentlich bei den frei erzeugten Gebilden der Architektur und Ornamentik. In vertikaler Richtung treten viel häufiger andere Größenverhältnisse an deren Stelle. Jene Bevorzugung beruht wohl auf der Gewöhnung an die Naturformen, wo namentlich bei den organischen, den Pflanzen und Tieren, vor allem beim Menschen selbst, ebenfalls eine horizontale oder, wie man sich ausdrückt, bilaterale Symmetrie besteht. Es sind nun aber keineswegs etwa alle einfach symmetrischen Figuren einander ästhetisch gleichwertig. Wir ziehen z. B. entschieden einem Kreis oder Quadrat ein symmetrisches Kreuz oder sogar einem Quadrat mit horizontaler Grundlinie ein solches vor, dessen Ecken durch die Horizontale und Vertikale halbiert werden. Der einfache Kreis gewinnt an ästhetischer Wirkung, wenn er mittelst einer Anzahl von Durchmessern in gleiche Sektoren geteilt ist, und diese Wirkung erhöht sich noch, wenn außerdem in jedem Sektor die Sehne gezogen wird. Geometrischer Formen dieser Art bedient sich daher nicht selten schon die Ornamentik, die von den einfachen Figuren kaum jemals Gebrauch macht. Wir können diese Erfahrungen dahin zusammenfassen, daß symmetrische Formen wohlgefälliger werden, wenn in ihnen eine größere Zahl einzelner Teile verbunden ist. Die nackte Symmetrie ohne weitere Gliederung der Form ist zu arm, um unser Gefühl merklich anzuregen. Dies weist uns bereits darauf hin, daß nicht sowohl die Symmetrie an sich es ist, die gefallt, als die durch sie hergestellte ordnende Verbindung einer Mannigfaltigkeit einzelner Teile der Vorstellung.
    Die Symmetrie ist die einfachste Weise, in der solche Zusammenfassung geschehen kann, aber nicht die einzige. Noch andere Gliederungen der Form erscheinen uns, namentlich wenn sie innerhalb der Höhendimension liegen oder sich auf das Verhältnis der Breite zur Höhe beziehen, wohlgefällig. Alle Proportionen der Formen bewegen sich zwischen zwei Extremen, zwischen der vollständigen Symmetrie 1:1 und dem Verhältnis 1:, wo x eine so große Zahl bedeutet, daß  sehr klein im Verhältnis zu 1 wird. Eine Proportion, welche die Symmetrie in eben merklicher Weise überschreitet, ist weniger wohlgefällig als eine solche, die von dem Verhältnis 1:1 etwas weiter abliegt, denn sie erscheint eben nur als eine ungenaue Symmetrie und fordert als solche zu ihrer Verbesserung auf. Anderseits wird die Proportion 1:, bei welcher die kleinere Dimension an der größeren nicht mehr anschaulich gemessen werden kann, entschieden ungefällig. Zwischen beiden Grenzen müssen also die gefallenden Verhältnisse liegen. Eines derselben ist die Teilung nach dem goldenen Schnitt, bei welcher das Ganze zum größeren Teil sich verhält wie dieser zum kleineren (x + 1 : x = x : 1). Diese Proportion, die nach ZEISING5) das ganze Gebiet der Kunstformen beherrschen und sogar der Symmetrie überlegen sein soll, wird in der Tat, wie fechner's experimentelle Ermittelungen zeigen, bei der Untersuchung des Verhältnisses der verschiedenen Dimensionen einer Form, also z. B. der Höhe und Breite eines Quadrates, bestätigt gefunden6). Zweifelhafter ist es, ob dasselbe auch für die Gliederung einer einzigen Dimension, für welche die Symmetrie vorzugsweise bestimmend ist, eine dieser nahestehende Bedeutung habe. Jedenfalls kann es hier nur als eine mittlere Norm betrachtet werden, von der aus nach beiden Seiten in gewissem Umfang Abweichungen möglich sind. Dies liegt offenbar daran, daß das Verhältnis 1 : 1 überhaupt das einzige ist, welches wir im Augenmaß sicher und scharf aufzufassen vermögen, während wir alle andern Proportionen nur höchst ungenau abschätzen. Hier ist dann allerdings der goldene Schnitt eine der Proportionen, die noch eine verhältnismäßig einfache Anschauung zulassen, aber dieselbe ist vor einigen andern wie 1 : 2 oder l : 3, an sich vielleicht nicht einmal bevorzugt. In der Tat scheint es, daß die letzteren Verhältnisse oder ihnen angenäherte ebenfalls bei der Gliederung der Form einen wohlgefälligen Eindruck hervorbringen können. Hiernach dürfte sich für alle neben der Symmetrie möglichen Proportionen überhaupt die Regel aufstellen lassen, daß sie ästhetisch um so wirksamer sind, je mehr sie eine messende Zusammenfassung begünstigen. Es läßt sich nun nicht verkennen, daß in dieser Beziehung der goldene Schnitt die Eigentümlichkeit besitzt, das Ganze zugleich als Proportionalglied zu enthalten, wodurch allerdings die Zusammenfassung der Teile in ein Ganzes erleichtert sein könnte. Im Vergleich mit der Auffassung der musikalischen Verhältnisse ist der Gesichtssinn durch die viel unvollkommnere Messung der räumlichen Größen im Nachteil, und außerdem durch die Gewöhnung an Naturformen, die an ästhetische Normen nicht gebunden sind, von subjektiven Regeln freier. Dagegen entspringen hieraus gewisse Bedingungen der Übereinstimmung des ästhetisch Eindrucksvollen mit den Naturformell, welche uns zu einer zweiten wichtigen Quelle der ästhetischen Gefühle überführen.
    Daß die Schönheit einer menschlichen Gestalt nicht bloß aus der Regelmäßigkeit ihrer Form hervorgeht, wird Niemand bestreiten. Ein regelmäßiges Kreuz oder Sechseck wäre ihr sonst an ästhetischem Wert weit überlegen. Doch ebenso wenig wird man behaupten können, daß die Regelmäßigkeit hier vollkommen gleichgültig sei. Die menschliche Gestalt ist bilateral symmetrisch; sie ist in ihrer Höhe nach Verhältnissen gegliedert, die der allgemeinen Regel folgen, daß sie sich innerhalb der Grenzen leicht überschaubarer Maße bewegen, und die zwar innerhalb einer gewissen Breite schwanken, von deren Durchschnittswerten aber doch nicht allzu weit abgegangen werden darf. Mehr jedoch als diese abstrakten Proportionen dürfte zu der ästhetischen Auffassung der Menschengestalt und der Pflanzen- und Tierformen die Wiederholung homologer Teile beitragen, welche innerhalb der vertikalen Gliederung eine Symmetrie zusammengesetzterer Art hervorbringt. Ober- und Vorderarm, Ober- und Unterschenkel, Arme und Beine, Hände und Füße, Hals und Taille, Brust und Bauch treten uns sogleich als formverwandte Teile entgegen. In den Armen und Händen wiederholen sich in feinerer und vollkommenerer Form die Beine und Füße. Die Brust wiederholt in gleicher Art die Form des Bauches. Indem sich dieser nach unten zur Hüfte, jene nach oben zum Schultergürtel erweitert, den beiden Stützapparaten der Extremitätenpaare, vollendet sich die Symmetrie der homologen Gebilde. Während aber alle andern Teile nur zweimal in der vertikalen Gliederung der Gestalt wiederholt sind, in einer unteren massiveren und in einer oberen leichteren Form, ist auf jene beiden Glieder des Rumpfes als ein dritter homologer Teil noch das Haupt gefügt, welcher damit unmittelbar als der entwickeltste des ganzen Leibes erscheint, der die übrigen symmetrischen Teile erst in eine Einheit abschließt. Ähnliche Betrachtungen würden an jede Tier- und Pflanzenform sich anknüpfen lassen. Sie würden ergeben, daß die ästhetische Wirkung aller organischen Gestalten nicht sowohl von einem abstrakten Formgesetz abhängt als von jener Symmetrie in der Wiederholung homologer Teile und von der Vervollkommnung, die sich hierbei gleichzeitig in dem Aufbau der Formen zu erkennen gibt. Von hier gehe man nun zur Anschauung landschaftlicher Schönheiten oder der Werke der bildenden Kunst über. Auch da gilt im allgemeinen die Regel, daß sich die Verhältnisse der Dimensionen und ihrer Teile von der Eintönigkeit der vollständigen Symmetrie und der Grenze inkommensurabler Proportionen gleich weit entfernen. Es ist daher begreiflich, daß man, weil zudem in der Wahl der Einteilungspunkte einige Freiheit besteht, eine Regel leicht bestätigt finden kann, die, wie der goldene Schnitt, diese Mitte einhält. Doch der formale Grund des Gefallens liegt offenbar wieder viel weniger in solchen abstrakten Maßgesetzen als in jener Symmetrie, welche die freie Wiederholung analoger Formen mit sich führt. Die Meisterwerke der bildenden Kunst zeigen darin eine Analogie mit der Schönheit organischer Naturformen, namentlich der menschlichen Gestalt, daß sie von unten nach oben vervollkommnend sich aufbauen und einem das Ganze beherrschenden Teil zustreben. In der Tat ist nun diese Art der Schönheit der organischen Natur und des Kunstwerkes, die in der Wiederholung und Veredlung ähnlicher Formen besteht, der Schönheit des geometrisch Regelmäßigen unendlich überlegen. Über den Grund dieses Unterschieds geben uns aber schon die Erfahrungen an dem geometrisch Regelmäßigen einigermaßen Rechenschaft. Dem einfachen ziehen wir den in Sektoren gegliederten Kreis, und so überhaupt dem einfach Symmetrischen das Mannigfaltige vor, das durch Symmetrie zu einer geordneten Einheit sich abschließt. Auch die Musik bietet nahe liegende Vergleichungspunkte. Den Takt wird Niemand als Element der musikalischen Schönheit leugnen. Seine Wirkung wächst aber, wenn er einen mannigfaltigeren Wechsel der Klangeindrücke beherrscht, und ihm weit überlegen, wenn auch ihn voraussetzend, ist das rhythmische Gefüge der Melodie, das in der größeren Freiheit, mit der es sich bewegt, an die freiere Symmetrie der höheren Naturformen und der Werke der bildenden Kunst erinnert. Dies also ist überall die Bedingung wirkungsvollerer Schönheit, daß das Ganze, das zu einer Einheit zusammengefügt ist, zugleich in seiner Mannigfaltigkeit fühlbar werde. Je bunter diese ist, um so befriedigender wird die Verbindung, die erst eine Auffassung und Ordnung des Einzelnen möglich macht.

5) Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers. Leipzig 1854. Das Normalverhältnis der chemischen und morphologischen Proportionen. Ebend. 1856.

6) Fechner, zur experimentalen Ästhetik. Abhandl. der sächs. Ges. d. Wiss. XIV. S. 555 f. Bei dem Verhältnis verschiedener Dimensionen findet FECHNER, daß die Proportion 1:1 entschieden zu den ungefälligen gehört. Dies dürfte mit den früher besprochenen Ungleichheiten vertikaler und horizontaler Entfernungen im Augenmaß zusammenhängen, vermöge deren uns in diesem Fall die wirkliche Symmetrie wie eine ungenaue Symmetrie erscheint.

    Aber freilich ist mit diesem Resultat, auf welches die Zergliederung der allgemeinen äußeren Bedingungen des Gefallens hinführt, noch keineswegs die Tiefe des ästhetischen Gefühls ausgemessen. Wäre dasselbe nur durch die Zeit- und Raumverhältnisse der Vorstellungen bestimmt, so ließe sich wohl begreifen, wie ein Gefallen verschiedenen Grades entstehen kann, aber die unendliche qualitative Mannigfaltigkeit der Gefühle bliebe unerklärt. Die Verhältnisse der Vorstellungen begründen nur die allgemeinen Formen des Gefallens und Mißfallens. Vorstellungen, die sich durch symmetrische und proportionale Gliederung in eine leicht überschaubare Einheit zusammenfügen, befriedigen uns, andere, die einer solchen Ordnung widerstreben, mißfallen uns. Seine spezifischen Färbungen empfängt aber das ästhetische Gefühl jedesmal durch den besonderen Inhalt der Vorstellungen. So ist es zweifellos, daß bei der Schönheit der menschlichen Gestalt nicht bloß die Symmetrie der Formen, sondern vor allem die besondere Bedeutung, die wir denselben in Gedanken beilegen, von Wirkung ist. Bei der Stellung der Glieder denken wir an die Funktion, die denselben als stützenden Trägern des Leibes zukommt. Eine mechanisch unmögliche Stellung mißfällt uns daher selbst bei der sorgfältigsten Einhaltung normaler Proportionen. Mißverhältnisse der Dimensionen sind uns nicht zum kleinsten Teile deshalb anstößig, weil sie der Bestimmung der Organe zu widerstreben scheinen. Vollends das Haupt muß Gedanken zum Ausdruck bringen, und ein Reflex dieses Ausdrucks muß auf die Haltung aller übrigen Teile zurückstrahlen. So ist in der bloßen Gliederung der Gestalt die Schönheit nur in rohen Umrissen angelegt, und erst die Belebung der Formen durch den Inhalt unserer Vorstellungen vollendet die ästhetische Wirkung. Dies legt nun den Gedanken nahe, daß auch jene ganz abstrakten Verhältnisse, wie sie uns in den geometrisch regelmäßigen Figuren oder in dem Taktmaß der Melodie als Normen des Gefallens begegnen, ihre ästhetische Wirkung einem Gedankeninhalt verdanken, der zwar nicht in ihnen selbst eigentlich liegt, den aber wir in sie hineinlegen. Das Rhythmische und das Symmetrische gefällt uns, weil die Gesetze der Verbindung des Mannigfaltigen, die sie enthalten, den Gedanken an zahllose Vorstellungen ästhetischer Gegenstände in uns anklingen lassen. Jene abstrakten Formverhältnisse sind daher ästhetische Objekte von unbestimmtem Inhalt, aber sie sind nicht inhaltsleer. Darum eben sind sie geeignet Träger der zusammengesetzteren ästhetischen Wirkungen zu werden, wobei nur, wenn unser Gefühl befriedigt werden soll, die Form dem Inhalt entsprechen muß. In einer solchen Gesamtwirkung sind daher jene abstrakten Verhältnisse der Harmonie, des Rhythmus und der Symmetrie zugleich die äußeren Formbedingungen, welche die Zusammenfassung des ästhetischen Inhalts ermöglichen.
    Erst die Erfüllung dieser Formen mit einem Inhalte macht es aber möglich, daß Gefallen und Mißfallen in eine große Zahl einzelner Bestimmungen aus einander treten, die in den Benennungen Schön, Erhaben, Häßlich, Niedrig, Komisch u. a. nur nach ihren wichtigsten Gattungen unterschieden sind. Beim Schönen sind wir uns der Verbindung zusammenstimmender Vorstellungen klar bewußt: Beim Erhabenen erreicht oder überschreitet der vorgestellte Gegenstand durch seine Größe die Grenze, wo er leicht in eine Vorstellung zusammengefaßt werden kann, während doch seine Beschaffenheit solches verlangt. Beim Komischen und Lächerlichen stehen die einzelnen Vorstellungen, welche ein Ganzes der Anschauung oder des Gedankens bilden, unter einander oder mit der Art ihrer Zusammenfassung teils im Widerspruch, teils stimmen sie zusammen. So entsteht ein Wechsel der Gefühle, bei welchem jedoch die positive Seite, das Gefallen, nicht nur vorherrscht, sondern auch in besonders kräftiger Weise zur Geltung kommt, weil es, wie alle Gefühle, durch den unmittelbaren Kontrast gehoben wird7). Die nähere Begriffsbestimmung dieser Formen des Gefallens der Ästhetik überlassend, haben wir hier nur noch auf die psychologisch bedeutsamen Beziehungen derselben zu den sinnlichen Gefühlen und Affekten hinzuweisen. Daß ein Hintergrund sinnlicher Gefühle jede ästhetische Wirkung in größerer oder geringerer Stärke begleitet, wurde schon mehrfach hervorgehoben. Nicht minder kommt der Affekt zu Hilfe, um die Teilnahme des ganzen Gemüts vollständig zu machen. Der schöne Gegenstand befriedigt in dem Einklang seiner Formen unsere Erwartung; das Mißfallen an dem Häßlichen verbindet sich mit dem Affekt des Abscheus. Das Erhabene hat als sinnlichen Hintergrund starke Innervationsgefühle, indem wir die Spannung unserer Muskeln nach der Kraft des Eindrucks zu steigern suchen. Wo das Erhabene zum Ungeheuren anwächst, da verengern sich reflektorisch die Hautgefäße und bewirken so die sinnliche Empfindung des Schauderns, mit der sich zugleich leise der Affekt der Furcht kombiniert. Darin ist die Hinneigung des Erhabenen zu Unlustgefühlen angedeutet, die es auch als ästhetisches Gefühl schon enthält, insofern in ihm eben die Grenze der Verbindung des Mannigfaltigen erreicht oder sogar überschritten wird. Das Häßliche erregt gleichzeitig Schaudern und Abscheu. Beim Komischen aber wechseln beide in rascher Folge mit den Gefühlen sinnlicher Lust und befriedigter Erwartung. Auf sinnlichem Gebiet entspricht diesem Wechsel das eigentümliche Gefühl des Kitzels, dessen Empfindung uns Lachen verursacht, eine stoßweise Respirationsbewegung, die bekanntlich auch durch den physischen Reiz des Kitzelns verursacht wird. Wie ewald HECKER wahrscheinlich macht, zieht hierbei die intermittierende Wirkung des Reizes eine intermittierende Erregung der Gefäßnerven nach sich, welche auf das Zentralorgan der Atembewegungen zurückwirkt8). Das Komische erregt nun, wie alle stärkeren ästhetischen Gefühle, ebenfalls die Gefäßnerven, wobei aber vermöge der rasch wechselnden Natur des Gefühls, wie beim physischen Kitzel, eine intermittierende Reizung entsteht. So bestätigt es sich überall, daß die sinnlichen Gefühle, welche den ästhetischen Wirkungen zum Hintergrund dienen, in ihrer Natur den einzelnen ästhetischen Gefühlen verwandt sind; und das nämliche gilt von den Affekten, die sich hinzugesellen.

7) Vergl. Kap. X.
8) E. Hecker, die Physiologie und Psychologie des Lachens und des Komischen. Berlin 1873.

    Alle Vorstellungen, die den Inhalt ästhetischer Wirkungen ausmachen, sind zunächst immer Einzelvorstellungen. Aber unser Gefallen oder Mißfallen erregen dieselben erst, indem sie sich gewissen Allgemeinvorstellungen, die unserm Bewußtsein disponibel sind, unterordnen. Wo der Gegenstand zusammengesetzter ist, da gibt derselbe zu einer Reihe mit einander verbundener Allgemeinvorstellungen Anlaß, die sich in der Form eines zusammenhängenden Gedankens aussprechen lassen. Dies ist es, was man in der geläufigen Regel auszudrücken pflegt, daß der ästhetische Gegenstand Träger einer Idee sein müsse. Ganz ohne Idee ist selbst die einfache Schönheit des Taktes oder des geometrisch Regelmäßigen nicht. Denn es verbindet sich damit der Gedanke eines harmonischen Gleichmaßes, der in den höheren Gestaltungen der Schönheit nur in entwickelteren Formen wiederkehrt. Da nun aber die Gedanken, welche der einzelne ästhetische Gegenstand in uns wachruft, nicht nur von ihm sondern auch von der augenblicklichen wie von der dauernden Disposition unseres Bewußtseins abhängen, so begreift sich einerseits die Unbestimmtheit der ästhetischen Ideen, anderseits ihre Abhängigkeit von dem anschauenden Subjekt. Derselbe Gegenstand kann in verschiedenen Menschen mannigfach wechselnde Gedanken wachrufen, und der ästhetisch gebildete Geist sogar kann bald diese bald jene Idee mit einem gegebenen Objekte verbinden, da die Anschauung unsern Gedanken nur ihre allgemeine Richtung anweist, die besondere Gestaltung derselben aber vollkommen frei läßt. So sehen wir die ästhetischen Gefühle überall aus der unmittelbaren Wirkung der Einzelvorstellungen auf das Bewußtsein hervorgehen. Diese Wirkung äußert sich aber in der Einordnung des Einzelnen in den vorhandenen Vorrat allgemeiner Vorstellungen. Das nächste Motiv des Gefallens liegt immer in der Leichtigkeit, mit welcher der Gegenstand unserer Wahrnehmung den bereit liegenden Formen der Zeit- und Raumanschauung sich einfügt; daher das gleichförmige Zeitmaß des Rhythmus, die leicht überschaubaren Verhältnisse der symmetrischen und proportionalen Gliederung des Räumlichen die einfachsten Bedingungen des Gefallens enthalten. Nicht minder wird man in der Befriedigung, welche wir bei der Lösung einer Aufgabe oder bei dem einfachen Verstehen eines gehörten Satzes empfinden, ein ästhetisches Gefühl anerkennen müssen; ja die elementarste Form desselben begegnet uns ohne Zweifel schon bei dem Wiedererkennen eines einmal wahrgenommenen Gegenstandes, bei der einfachen Erinnerung an ein gehörtes Wort u. dergl. In allen diesen Fällen liegt aber die Ursache des Gefühls in der Einordnung der Vorstellungen in den Vorrat der unserm Bewußtsein verfügbaren Formen. Beim Ästhetischen im engeren Sinne begegnen uns die nämlichen Vorgänge; nur der Wert der durch den Eindruck wachgerufenen Gedanken ist ein anderer. Denn die Wirksamkeit der höheren ästhetischen Vorstellungen beruht überall auf der Erweckung sittlicher und religiöser Begriffe. Indem wir uns dieser als unseres besten Besitztums bewußt sind, legen wir dem angeschauten Gegenstand in dem Maße höheren Wert bei, als das Gefühl, das er erweckt, jene höchsten Begriffe aus dem Dunkel der Seele emporzieht, und als er dadurch auf uns selbst veredelnd zurückwirkt. Die äußeren Maßverhältnisse, in denen sich der im höheren Sinne ästhetische Gegenstand darbietet, sind nur das äußere Gewand, das, wo es seines bedeutsamen Inhalts beraubt wird, wenig mehr als jene gemeinere psychologische Form des ästhetischen Gefühls zurückläßt, die an jede Aufnahme der Vorstellungen gebunden ist, höchstens insofern der letzteren überlegen, als schon das Gleichmaß der Teile einer Vorstellung in uns Gedanken anklingen läßt, denen ein ethischer Wert zukommen kann. Teils durch diese Gedanken teils durch die erleichterte Zusammenfassung wird das Regelmäßige, das symmetrisch Gegliederte zu einem so wirkungsvollen Gewande für die höheren Formen des Ästhetischen.
    Seiner psychologischen Natur nach läßt sich hiernach das ästhetische Gefühl allgemein als die unserm Bewußtsein eigentümliche Reaktion auf die in dasselbe eintretenden Vorstellungen bestimmen. Die besondere Färbung des Gefallens und Mißfallens ist aber ganz und gar von dem Inhalt der durch die Vorstellung erweckten Gedanken abhängig, und nach dem Wert der letzteren ermessen wir auch die des Gefühls. So tritt uns im Gebiet der ästhetischen Gefühle zum ersten Mal die Tatsache einer Wertschätzung entgegen, die bei den sinnlichen Gefühlen noch ganz und gar fehlte. Trotzdem stimmen beide Formen ihrer allgemeinen Natur nach überein. Wie das sinnliche Gefühl die Reaktion des Bewußtseins auf die Empfindung, so ist das ästhetische Gefühl seine Rückwirkung auf die Vorstellung. Da nun in die Vorstellung Empfindungen als ihre Bestandteile eingehen, so ist die überall nachweisbare Verbindung ästhetischer mit sinnlichen Gefühlen begreiflich. Anderseits bleibt aber auch die Vorstellung nicht ruhend im Bewußtsein, sondern sie wird aufgenommen in den Verlauf innerer Vorgänge, auf welchen das Gefühl unmittelbar einwirkt und so, wie wir bald sehen werden, den Affekt hervorbringt. Wie daher das ästhetische von sinnlichen Gefühlen getragen wird, so leitet es selbst unvermerkt in den Affekt über.

    Die psychologische Untersuchung der ästhetischen Gefühle hat bis jetzt noch immer unter dem Umstande zu leiden gehabt, daß die Anregung zu derselben ganz und gar von jenem Ästhetischen im engeren Sinne ausging, mit welchem sich die Theorie der schönen Künste und die aus ihr unter dem Namen der Ästhetik hervorgegangene Wissenschaft beschäftigt. So ist es gekommen, daß man jene einfachsten Fälle des Gefallens und Mißfallens ganz aus dem Auge verlor, welche doch für die psychologische Theorie die Grundlage sind, von der aus auch die komplizierteren ästhetischen Wirkungen erklärt werden müssen. Eine weitere erschwerende Bedingung lag darin, daß die erste Begründung der Ästhetik von dem logischen Formalismus der WOLFF'schen Schule beherrscht war. Statt direkt nach den Motiven des ästhetischen Gefühls zu suchen, behandelte man ohne weiteres die ästhetische Auffassung als eine Form des Erkennens und suchte nun nach dem Begriff, aus dessen Verwirklichung das ästhetische Gefühl hervorgehen sollte. kant, der diese Auffassung beseitigte, ist doch selbst noch von ihr beeinflußt, indem er das Ästhetische der Urteilskraft zuweist, die in der logischen Stufenfolge der Seelenvermögen zwischen Verstand und Vernunft das Mittelglied bildet, und indem er dem Begriff der Wahrheit, in dessen dunkle Erkenntnis die älteren Ästhetiker das ästhetische Gefühl versetzen, den der Zweckmäßigkeit substituierte. Erst dadurch lenkt kant auf einen völlig neuen Weg ein, daß er beim ästhetischen Geschmacksurteil die Zweckmäßigkeit als eine ganz und gar subjektive hinstellt, die niemals auf einen objektiven Zweck sich beziehen könne9), und daß er dem Zweck eine eigentümliche Mittelstellung zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriff anweist, die der Mittelstellung der Urteilskraft zwischen Verstand und Vernunft entspricht. Hierin liegt nun nach KANT'scher Auffassung hauptsächlich der Wert des Ästhetischen, daß es für uns zwischen den Gebieten der Natur und der Sittlichkeit die natürliche Brücke bildet10). Die idealistische Ästhetik, die auf kant gefolgt ist, knüpft an diesen Gedanken an, indem sie denselben zu größerer Reinheit und Allgemeinheit entwickelt. Sie setzt das Ästhetische überall in die Verwirklichung der Idee, also eines geistigen Inhalts. Da nun aber diese Anschauung das Reale überhaupt als eine lebendige Entwicklung des Geistigen oder, wie sie sich ausdrückt, der absoluten Idee ansieht, so muß sie das engere Gebiet des Ästhetischen in jene künstlerische Tätigkeit verlegen, welche die Idee ohne die Trübungen und Schranken zu realisieren sucht, die sie in der Natur erfährt. So kommt es, daß hier einerseits die ganze Naturbetrachtung wesentlich zu einer ästhetischen wird, wie das Beispiel schelling's zeigt, und daß sich anderseits die Betrachtung des Ästhetischen im engeren Sinne ganz und gar auf das Gebiet der Kunst zurückzieht, wie an hegel zu sehen ist. So vieles auch die Ästhetik dieser Richtung verdankt, die Psychologie geht dabei im Ganzen leer aus. Es ist nicht zu leugnen, daß die letztere aus dem im schroffen Gegensatz zu den idealistischen Systemen entstandenen Bestreben HERBART's, die objektiven Bedingungen des ästhetischen Urteils aufzufinden, mehr Anregung geschöpft hat. Aber auch diesem Philosophen ist es nicht gelungen eine haltbare Theorie des ästhetischen Gefühls zu finden. Er bleibt bei der Bemerkung stehen, daß das ästhetische Gefühl auf Verhältnissen der Vorstellungen beruhe. Der Unterschied vom sinnlich Angenehmen und Unangenehmen bestehe nur darin, daß uns beim ästhetischen Gegenstand jene Verhältnisse selbst in der Vorstellung gegeben sind, daher sie zugleich in der Form eines Urteils dargestellt werden können11). Näher durchgeführt hat HERBART diese Theorie nur bei den musikalischen Intervallen, wo seine Betrachtungen in starken Widerspruch mit den physikalischen und physiologischen Tatsachen geraten. Er mißt die Harmonie der Zusammenklänge nach dem Verhältnis, in welchem sie einerseits zum vollen Gegensatz, anderseits zur vollen Übereinstimmung stehen. Die Oktave soll als voller Gegensatz zweier Töne die vollkommenste Konsonanz gewähren, nächst ihr die Quinte, weil sie zwischen Gegensatz und Übereinstimmung genau die Mitte halte u. s. w. 12). Man hat solche Betrachtungen auch auf andere Verhältnisse, wie die Farbenintervalle, auszudehnen gesucht. Aber der Ausgangspunkt dieser Spekulationen ist ganz willkürlich. Die Oktave, weit entfernt der reine Gegensatz zum Grundton zu sein, ist vielmehr dem vollständigen Einklang am meisten verwandt. Warum die Oktave als reine Hemmung und die Quinte als Mittleres zwischen Hemmung und Verschmelzung einander am nächsten stellen sollen, wird nirgends nachgewiesen. Es könnte nun allerdings trotz dieser mißlungenen Versuche die Theorie im allgemeinen richtig sein. Aber wir müssen auch dies bestreiten. Wenn herbart überall den ästhetischen Eindruck auf einem Zusammenwirken einfacher Formverhältnisse beruhend glaubt, so liegt darin das Verdienst einer Hinweisung auf gewisse, bis dahin zwar nicht übersehene, doch von den philosophischen Theorien vernachlässigte objektive Bestimmungsgründe des Ästhetischen, aber es enthält diese Behauptung eine doppelte Übertreibung. Die eine entspringt daraus, daß HERBART bei der Bildung seiner ästhetischen Begriffe offenbar von der Musik ausging, die, vollkommen frei in der Behandlung ihres Materials, in der Tat auf den einfachen Verhältnissen der harmonischen Intervalle und des Rhythmus ihr ganzes Gebäude errichtet. Aber schon sie bietet in dem melodischen Gefüge des Kunstwerks ein Ganzes dar, das sich in jene einfachsten Bestandteile nicht ohne Rest auflösen läßt, und bei den Werken der bildenden Kunst treten die einfachen Formverhältnisse der Teile gegen die Bedeutung des Ganzen noch mehr in den Hintergrund. Die erste Einseitigkeit herbart's besteht also darin, daß er ein rein äußerliches Verhältnis zum Bestimmungsgrund des ästhetischen Gefühls macht, indem er die unerwiesene Behauptung aufstellt, daß das Ganze vollständig in einfache Formverhältnisse aufgelöst werden könne. Damit hängt der zweite Fehler nahe zusammen. Jene Formverhältnisse sollen durch die Verhältnisse der Verschmelzung und Hemmung der Einzelvorstellungen, die sie hervorbringen, unmittelbar das ästhetische Gefühl erzeugen. Davon, daß Gefallen und Mißfallen wesentlich von dem Gedankeninhalt abhängen, den wir in die Formen hineinlegen, oder den sie in uns anregen, wird ganz abgesehen. Überdies ist hErbart auch hier den Beweis schuldig geblieben, daß Verhältnisse der Vorstellungen ein Gefühl erzeugen können. An und für sich sind solche Verhältnisse ganz gleichgültig. Gefallen und Mißfallen deuten aber, wie jedes Gefühl, auf eine Reaktion des Bewußtseins gegen den Eindruck. Diese Reaktion ist nun bei allen Formen der ästhetischen Wirkung von dem Inhalt an Vorstellungen abhängig, welcher dem Bewußtsein verfügbar ist. Nicht sowohl das Verhältnis der gegebenen Vorstellungen selbst, als vielmehr ihr Verhältnis zu dem Vorstellungsinhalt unseres Bewußtseins bestimmt also das ästhetische Gefühl. In einer Beziehung findet sich übrigens bei HERBART eine richtige Einsicht, in der Rückbeziehung sittlicher auf ästhetische Wertbestimmungen. Hinsichtlich der psychologischen Entstehung der Gefühle wenigstens hat es damit in der Tat seine Richtigkeit. Die sittliche Regung, die religiöse Erhebung des Gemüts und endlich die intellektuelle Befriedigung beruhen alle auf Gefühlen gleicher Art. Im Gebiet der eigentlichen Ästhetik darf man wohl eine Ausgleichung der oben berührten Gegensätze hoffen, seitdem neuere Verfechter der realistischen Richtung, wie namentlich LOTZE13), die Grundgedanken der idealistischen Ästhetik anerkannt haben, während von der andern Seite die Hauptvertreter der letztern, wie F. th. VISCHER14), der Aufsuchung der objektiven ästhetischen Formverhältnisse ihre relative Berechtigung zugestehen. Den so sich nähernden Standpunkten dürfte die hier entwickelte psychologische Theorie nicht ferne stehen, abgesellen davon, daß sie dem ästhetischen Gefühle notwendig eine Erweiterung geben muß, die über das Ästhetische im engeren Sinne hinausgeht.

9) Kritik der Urteilskraft, S. 16, 29.
10) a. a. O., S. 39, 229.
11) Psychologie als Wissenschaft II. Werke Bd. 6, S. 93. Vergl. a. Bd. S, S. 394.
12) Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. Werke Bd. 7, S. 7 f.
13) Geschichte der Ästhetik in Deutschland. München 1868. S. 232, 323 u. a.
14) Kritische Gänge. 5. Heft. S. 140.