Sechszehntes Kapitel.

Komplexe Vorstellungen, Allgemeinvorstellungen und Anschauungsformen.

    Aus den Einzelvorstellungen gehen alle zusammengesetzteren psychischen Gebilde hervor. Der letzteren lassen sich aber drei Klassen unterscheiden: 1) Verbände verschiedenartiger Einzelvorstellungen oder komplexe Vorstellungen, 2) Schemata, die sich aus einer zusammengehörigen Gruppe von Einzelvorstellungen aussondern, oder Allgemeinvorstellungen, und 3) gemeinsame Formen, welche alle Einzelvorstellungen umfassen, die Anschauungsformen, Zeit und Raum.
    Sobald mit einer gewissen Regelmäßigkeit Wahrnehmungen verschiedener Sinne zusammen vollzogen werden, vereinigen sich dieselben zu einer komplexen Vorstellung. Das Dasein einer solchen Verbindung pflegt sich durch die Reproduktion zu verraten. Wenn nämlich in einem gegebenen Fall einer der Sinneseindrücke, welche die komplexe Vorstellung bilden, hinwegbleibt, so wird derselbe trotzdem hinzugedacht, ähnlich wie dies schon in Bezug auf fehlende Bestandteile der Einzelvorstellung bei der physiologischen Illusion geschieht1). Die meisten unserer Vorstellungen sind so in Wirklichkeit komplexe Vorstellungen, da im allgemeinen jedes Ding mehrere disparate Merkmale besitzt, die zu ebenso vielen Einzelvorstellungen Veranlassung geben. Dabei sind aber allerdings diejenigen Bestandteile, welche nicht direkt aus Sinneseindrücken hervorgehen, oft sehr schwach und unbestimmt, so z. B. wenn sich mit dem Gesichtsbild eines Körpers eine undeutliche Vorstellung seiner Härte und Schwere, mit dem Anblick eines musikalischen Instrumentes ein leises Klangbild verbindet u. s. w. Diese Phantasiebestandteile werden stärker, wenn die unmittelbare Sinneswahrnehmung schon eine Hindeutung auf die Beschaffenheit der übrigen Empfindungen enthält. Auf diese Weise bilden sich namentlich zwischen gewissen Gesichtswahrnehmungen und Tastempfindungen festere Verbände. So erweckt der Anblick einer scharfen Spitze, einer rauen Oberfläche, eines weichen Samtstoffs unwillkürlich die entsprechenden Tastempfindungen in nicht zu verkennender Deutlichkeit. Ähnlich können sich Gehörseindrücke mit Tast- und Gemeingefühlen verbinden, wie denn z. B. sägende Geräusche manchen Menschen durch die begleitenden Empfindungen unerträglich sind. In dieser Verbindung der höheren Sinneseindrücke mit Einbildungsempfindungen des Tastsinnes liegt die Ursache der zum Teil sehr heftigen Gefühle, die sich an gewisse an sich durchaus objektive Wahrnehmungen und Vorstellungen knüpfen. Die nahe Beziehung der Tastempfindungen zu den sinnlichen Gefühlen macht diese Erscheinung begreiflich. Der Zuschauer einer schmerzhaften Verletzung empfindet tatsächlich selbst den Schmerz, den er einem Andern zufügen sieht, wenn auch nur im abgeschwächten Phantasiebilde. Ja noch mehr, schon die drohend emporgehobene Schußwaffe, der gezückte Dolch, wenn sie nicht einmal gegen uns selbst gerichtet sind, oder wenn wir, wie auf dem Theater, wissen, daß die Flinte nicht geladen ist, wecken noch immer ein schwaches Phantasiebild von Verletzungen am eigenen Leibe. In diesen Erscheinungen liegt eine rein sinnliche Quelle unseres Mitgefühls an Schmerz und Gefahr Anderer.

1) Vergl. Kapitelende.

    Eine zweite wichtige Ursache komplexer Vorstellungen bilden die Verbindungen der Sinneseindrücke mit eigenen Bewegungen. Wie sich an den Einzelvorstellungen des Tast- und Gesichtssinns Bewegungen beteiligen, so sind solche auch bei der Kombination verschiedenartiger Sinnesvorstellungen wirksam, und oft fallen beiderlei Bewegungen mit einander zusammen. Dieselben Tastbewegungen der Hände, welche die Lokalisation der Gefühlseindrücke vermitteln helfen, ergänzen zugleich das Gesichtsbild eines Gegenstandes zur komplexen Vorstellung. Aber auch wo ein objektiver Eindruck gar nicht gegeben ist, kann die Bewegung den nur in der Einbildung vorhandenen Gegenstand gleichsam fingieren, indem Auge und Hand sich demselben zuwenden oder seine Umrisse umschreiben. Dadurch erhält das Phantasiebild wenigstens einen Teil jener sinnlichen Lebendigkeit, die sonst nur der unmittelbaren Wahrnehmung zukommt.
    Hierin liegt die große Bedeutung der pantomimischen und mimischen Bewegungen. Mit der Entstehung dieser Ausdrucksbewegungen werden wir uns später2) beschäftigen; hier muß ihrer nur als einer wichtigen Hilfe für die Verbindung der Vorstellungen gedacht werden. Die Pantomime und der mimische Gesichtsausdruck sind subjektive Reflexe bestimmter Vorstellungen. Sie sind teils unmittelbare Äußerungen eines Gefühls oder Affektes, teils Nachbildungen bestimmter Tast- und Gesichtsvorstellungen. So verrät sich der Abscheu vor einem widrigen Gegenstand in Abwehrbewegungen, der Zorn gegen denselben in auf ihn eindringenden Verfolgungsbewegungen. Außerdem können sich lebhafte Vorstellungen unwillkürlich mit solchen Pantomimen verbinden, welche die ungefähren Umrisse des vorgestellten Gegenstandes wiederholen. Alle diese Bewegungen, die übrigens nur beim Naturmenschen in ihrer ursprünglichen Lebendigkeil zu beobachten sind, können sowohl von Anschauungs- wie von Einbildungsvorstellungen ausgehen. In beiden Fällen kombiniert sich mit der äußern Vorstellung das Bild der eigenen Bewegung mittelst der an dieselbe geknüpften Innervations- und Tastempfindungen. So stellen sich feste Verbände zwischen bestimmten Vorstellungen und den durch sie erweckten Ausdrucksbewegungen her. Die objektive Vorstellung ruft nun die zu ihr gehörige subjektive Bewegung und hinwiederum diese die erstere wach. Hierdurch eben wird die Gebärde im Verkehr der Menschen zum Ausdrucksmittel der Vorstellungen, und nachdem sie einmal diese Bedeutung erlangt hat, wird dann in Folge dessen wiederum die feste Verbindung bestimmter Gebärdezeichen mit Vorstellungen begünstigt. Die Sprache ist nur eine Form der Gebärde. Sie entwickelt sich, gleich der Pantomime, teils als affektartige teils als nachahmende Bewegung. Selbst der Taubstumme, der seine eigenen Laute nicht zu hören vermag, begleitet daher seine Stimmungen und sogar einzelne Vorstellungen mit Sprachgebärden3). Wenn wir von dieser unartikulierten Sprache der Taubstummen, die von den letzteren selbst nur als Bewegung wahrgenommen wird, absehen, so führt jeder Sprachlaut eine doppelte Komplikation mit sich. Es verbindet sich nämlich die Vorstellung sowohl mit der Bewegungsempfindung der Sprachorgane wie mit dem Schalleindruck. Beide, Bewegungsempfindung und Laut, müssen notwendig in den Anfängen der Sprachbildung in einer gewissen inneren Affinität stehen zu der Vorstellung. Diese, die zu ihr gehörige Ausdrucksbewegung und der Sprachlaut, bilden zusammen eine Komplikation verwandter Vorstellungen. Nun sind die Vorstellungen, die durch Pantomime oder Sprachlaut ausgedrückt werden, selbst in der Regel schon komplexe Vorstellungen, welche Gegenständen mit disparaten Merkmalen entsprechen. Gebärde und Sprache knüpfen aber notwendig an ein solches Merkmal an, für das im Gebiet der Bewegungs- und Schallempfindungen ein verwandter Eindruck gefunden werden kann. Für die Sprache liegt diese Verbindung sehr nahe, wenn das Hauptmerkmal des Gegenstands selbst dem Gehörssinne angehört: der Schalleindruck wird, wie in allen Sprachen nachweisbar ist, durch einen Sprachlaut bezeichnet, der ihm ähnlich ist4). In diesem Fall bilden aber der Laut und die ihm entsprechende Vorstellung nicht mehr eine Verbindung disparater, sondern gleichartiger und möglichst übereinstimmender Vorstellungen. Eine solche Verbindung steht auf der Grenze zwischen Komplikation und Verschmelzung5). Denn die Schallvorstellung und der ihr nachgebildete Sprachlaut sind einander so ähnlich, daß der letztere fast nur wie eine Wiederholung der ursprünglichen Vorstellung erscheint. Identische Vorstellungen können aber nur zu einer einzigen Vorstellung verschmelzen. Dennoch behält auch in diesem Fall die Verbindung insofern immer den Charakter der Komplikation, als der Sprachlaut zugleich die eigene Bewegung als einen besonderen Bestandteil enthält. Entfernter ist die Verwandtschaft des Sprachlauts und der Vorstellung, wenn diese aus andern Sinneseindrücken stammt. Hier spielen dann zweifellos die in Kap. X besprochenen Analogien der Empfindung eine wichtige Rolle6). Sie machen die Übersetzung der verschiedenartigsten Sinneseindrücke in die eine Form der Gehörempfindungen möglich. Der Ursprung jener Analogien aus dem sinnlichen Gefühl erklärt einerseits die Unbestimmtheit der Verwandtschaft zwischen Sprachlaut und Vorstellung, anderseits den nahen Zusammenhang der Sprachbildung mit Gefühl und Affekt. In den ausgebildeten Sprachen ist diese Beziehung allmälig abgeblaßt, wenn auch in Wörtern wie "hart, mild, süß, sanft" u. s. w. immerhin noch eine Spur derselben erhalten scheint7). Zumeist ist aber die ursprüngliche Bedeutung der Sprachwurzeln durch die Umwandlung derselben in konventionelle Vorstellungssymbole verloren gegangen. Indem bei der Umbildung der Sprache vorzugsweise die physiologische Bequemlichkeit des Sprechenden zur Geltung kommt, und indem bei der Übertragung der Sprachsymbole auf neue Vorstellungen Assoziationen eine Rolle spielen, die in den besonderen historischen Erlebnissen der Völker ihren Grund haben, muß immer mehr die sinnliche Bedeutung der Laute verwischt werden. Dieser Prozeß, durch den die Sprache gewiß unendlich viel von ihrer einstigen Lebendigkeit einbüßte, ist für ihre Befähigung Ausdrucksmittel abstrakter Begriffe zu sein von großer Wichtigkeit geworden; denn dazu ist es gerade erforderlich, daß der Sprachlaut seine ursprüngliche, noch durchaus an die sinnliche Vorstellung gekettete Bedeutung verliere. Ein ähnlicher Prozeß hat sich bei der Entwicklung der Schrift vollzogen, Das natürlichste Hilfsmittel, um den Gegenstand durch ein lautloses Symbol zu bezeichnen, ist die Nachbildung seiner Form: wie die darstellende Pantomime die Umrisse des Gegenstandes in der Luft nachzeichnet, so fixiert ihn die Schrift im Bilde. Der natürliche und allgemeine Ausgangspunkt der Schrift ist daher die Bilderschrift8). Sobald aber die Sprache die Stufe des abstrakten Gedankens erreicht hat, zwingt sie auch die Schrift ihr zu folgen. Das Schriftbild wird zum konventionellen Lautzeichen. Dieses, anfangs noch das einzelne Wort bedeutend, zieht sich endlich, um dem Reichtum des sprachlichen Ausdrucks folgen zu können, zurück auf die alphabetischen Elemente der Sprachlaute. Obgleich bekanntlich jedes einzelne unserer Schriftzeichen, wie sich historisch nachweisen läßt, noch die Spuren seines Ursprungs aus der Bilderschrift an sich trägt, so ist uns doch hier mehr noch als beim Sprachlaut jene sinnliche Bedeutung verloren gegangen, da die Umwandlung der Schrift in ein System von Zeichen offenbar zum großen Teil das Produkt wirklich zweckmäßiger Absicht und Übereinkunft gewesen ist. Sprachlaut und Schriftzeichen sind durch ihre im Ganzen analoge Entwicklung zu Vorstellungssymbolen geworden, die nur noch vermöge der gewohnheitsmäßigen Verbindung mit dem Gegenstand, den sie bedeuten, in eine komplexe Vorstellung zusammenfließen. Diese Verbindung bleibt aber darum doch eine ausnehmend innige. Wir denken zwar nicht immer in Sprachlauten, wir können uns wirklich erlebte oder geträumte Vorgänge leicht in der Form des bloßen Gesichtsbildes vergegenwärtigen; aber unser Denken greift regelmäßig zum Wort, sobald es sich abstrakten Begriffen zuwendet, ja im letzteren Fall gesellt sich zum Wort nicht selten unwillkürlich das Schriftzeichen. Ob uns die Komplikation der drei Elemente, Vorstellung, Sprachlaut und Schriftzeichen, vollständig zum Bewußtsein kommt, dies hängt außerdem davon ab, welches dieser Elemente etwa unmittelbar sinnlich auf uns einwirkt. Die Vorstellung kann unter Umständen isoliert bleiben; der Sprachlaut ruft regelmäßig das Vorstellungsbild herbei, das Schriftzeichen erweckt den Sprachlaut samt dem Vorstellungsbilde. Hierin wiederholt sich also die Entwicklungsfolge, in welcher die Bestandteile der komplexen Vorstellung an einander gefügt wurden. Doch macht der abstrakte Begriff eine Ausnahme. Ihm entspricht in der Vorstellung überhaupt nur das gesprochene oder geschriebene Wort, das bei ihm zum vollständigen Äquivalent der sinnlichen Vorstellung wird. Den sinnlich nicht zu konstruierenden Begriffen substituiert es vorstellbare Zeichen, die sich nun auf das innigste verbinden, so daß nicht nur mit dem Schriftzeichen das Wort, sondern in der Regel auch umgekehrt mit dem Wort das Schriftzeichen vorgestellt wird. Bei Menschen, die an abstraktes Denken und an dessen Ausdruck in Sprache und Schrift gewöhnt sind, überträgt sich diese Substitution des Symbols für den Begriff in gewissem Grade sogar auf das sinnliche Gebiet. In dem Verlauf ihrer Gedanken treten manchmal selbst die Einzelvorstellungen hinter ihren Sprach- und Schriftzeichen zurück. Wie viel in allen diesen Fällen die gewohnheitsmäßige Verbindung gewisser Vorstellungen leistet, die ursprünglich durchaus beziehungslos neben einander bestehen können, dies zeigt auch die Erlernung der Sprache. Je öfter der Gegenstand und sein Zeichen zusammen vorgestellt worden sind, um so fester verbinden sie sich. Etwas von jenem Glauben des Naturmenschen, der in dem Bild den Mann, den es vorstellt, zu verletzen oder mit dem Namen die Eigenschaften der Person, die ihn trug, einem Andern mitzuteilen glaubt, ist noch auf uns übergegangen, wenn dem naiven Bewußtsein die Laute der Muttersprache den Dingen, die sie bedeuten, vorzugsweise verwandt zu sein scheinen9).

2) Kap. XXII.

3) Von der erwähnten Laura Bridgeman wird berichtet, daß sie nicht nur für ihre Affekte, sondern auch für bestimmte Vorstellungen, wie für Essen und Trinken, für ihre nächsten Bekannten, bestimmte Laute besaß.

4) Man denke an Wörter wie schnurren, zischen, brausen, rasseln u. s. w.

5) Die Ausdrücke Komplikation und Verschmelzung sind von HERBART in die Psychologie eingeführt. (Psychologie als Wissenschaft. Werke Bd. 5, S. 361.) Wir adoptieren sie, ohne den weiteren Annahmen HERBART's über die Wirkungen solcher Komplexionen und Verschmelzungen auf den Mechanismus der Vorstellungen zu folgen. Vergl. Kap. XIX.

6) Vergl. Kap. X.

7) Wenn L. Geiger sagt, die Sprache sei nicht Nachahmung des Schalls, sondern durch den Schall, wobei er auf die herrschende Bedeutung der Gesichtsvorstellungen auch für den sprachlichen Ausdruck hinweist (Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache und Vernunft. Stuttgart 1868. Bd I, S. 22 f.), und wenn Lazarus (Leben der Seele II, S. 101) von einem metaphorischen Gebrauch der Lautformen redet, so ist damit offenbar der nämliche Vorgang gemeint, den wir hier psychologisch auf die Analogien der Empfindung zurückführen.

8) Nachweise hierzu vergl. bei E. B. Tylor, Forschungen zur Urgeschichte der Menschheit. A. d. Engl. von Müller. Kap. V, S. 105 f.
9) Vergl. LAZARUS, das Leben der Seele II, S. 77.

    Allgemeinvorstellungen bilden sich aus einer Anzahl von Einzelvorstellungen, die in mehreren ihrer Bestandteile übereinstimmen. Da jedes Element einer Vorstellung um so leichter reproduziert wird, je öfter dasselbe schon im Bewußtsein vorhanden gewesen ist, so müssen die übereinstimmenden Elemente der Vorstellungen in unsern Erinnerungs- und Phantasiebildern eine größere Stärke besitzen. Aber auch bei neuen sinnlichen Eindrücken werden Elemente, die schon oft reproduziert sind, am leichtesten erweckt, indem sich ihnen vorzugsweise die sinnliche Aufmerksamkeit zuwendet. So genügen die Reproduktionsgesetze vollständig, um die Entstehung der Allgemeinvorstellungen zu begreifen, und es ist nirgends ein zureichender Grund gegeben, dieselben mit der älteren Psychologie auf eine besondere Abstraktionskraft der Seele zurückzuführen10).

10) Von Herbart und BENEKE ist das erkannt worden. Ihre Erklärung der Allgemeinvorstellungen und Begriffe leidet an dem andern Fehler, daß sie dieselben tatsächlich aus einer bloßen Wechselwirkung der Vorstellungen hervorgehen lassen, HERBART aus der Abstoßung ungleichartiger, Beneke aus der Anziehung gleicharliger Elemente. (Herbart Werke Bd. 6. S. 164 f., Beneke, psychologische Skizzen II S. 158 f.) Aber nicht die Vorstellungen ziehen sich an oder stoßen sich ab, sondern das Bewußtsein wird durch häufige Wiederholung derselben in höherem, durch seltene in geringerem Grade zur Reproduktion disponiert. Vergl. hierüber Kap. XIX, wo wir ausführlicher auf die Theorien der zwei genannten Psychologen zurückkommen werden.

    Gemäß dieser Entstehungsweise sind die Allgemeinvorstellungen Schemata der Einzelvorstellungen. Je bestimmter wir uns aber eine allgemeine Vorstellung, z. B. Haus oder Baum, im Bewußtsein vergegenwärtigen wollen, um so mehr nimmt sie spezielle Merkmale an und geht dadurch in eine wirkliche Einzelvorstellung über. Aber diese unwesentlicheren Elemente verschwinden auch leicht wieder, andere treten aus unserem Erinnerungsvorrat an deren Stelle. Indem so die eine Einzelvorstellung von der andern abgelöst wird, vollzieht sich ein eigentümlicher Zerfließungsprozeß der Vorstellungen. Im Grunde ist es erst dieser Vorgang, durch welchen uns die Allgemeinvorstellung als solche bewußt wird. Durch ihn fassen wir die Einzelvorstellungen als eine zusammengehörige Gruppe auf. Dieser ganze Prozeß beruht aber auf den allgemeinen Assoziationsgesetzen. Die schematischen Elemente der Allgemeinvorstellung ziehen andere Bestandteile, mit denen sie oft verbunden gewesen sind, mit sich in das Bewußtsein, ähnlich wie wir dies bei der physiologischen Illusion bereits kennen lernten11). In der Tat begünstigt dieselbe Anlage, welche die Illusion begründet, auch den Zerfließungsprozess. Das Kind erklärt einen auf Papier gezeichneten Kreis abwechselnd für einen Teller, für einen Teich, für den Mond u. s. w., während der Erwachsene in der Figur eben immer nur das Schema des Kreises sieht. So geht, je frischer die Reproduktion ist, um so mehr das Bewußtsein vollständig in Einzelvorstellungen auf. Je mehr dagegen durch oft wiederholte Eindrücke sich feste Schemata für ähnliche Gegenstände gebildet haben, um so mehr nähert sich jedes einzelne Phantasiebild der Allgemeinvorstellung. Bei gleicher Disposition zerfließt die letztere schwerer, wenn ihre gleichartigen Bestandteile groß, ihre ungleichartigen Bestandteile klein an Zahl sind. Die geometrischen Vorstellungen, wie Kreis, Quadrat, Dreieck u. s. w., bei denen diese zwei Bedingungen im höchsten Maß zutreffen, pflegen sich daher ohne weiteres in einem bestimmten Schema zu fixieren, während solche Allgemeinvorstellungen, die, wie Mensch, Baum, Stuhl u. dergl., sehr variable Objekte umfassen, sich leichter in eine große Reihe einzelner Phantasiebilder auflösen oder, wenn dies nicht geschieht, nur als ein sehr unbestimmtes Schema der Einbildung vorschweben. Wo der mögliche Umfang der Einzelvorstellungen zu groß wird, da findet eben hierin der Zerfließungsprozeß wieder ein Hindernis. Jetzt nimmt daher abermals eine fixe, aber zugleich sehr unbestimmte Einzelvorstellung die Stelle der Allgemeinvorstellung ein. So ist z. B. die Vorstellung Grün wegen ihres engen Umfangs wenig zerfließlich, die Vorstellung Farbe dagegen kommt der Grenze nahe, wo die große Verschiedenheit der darunter fallenden Einzelvorstellungen ein Zerfließen unmöglich macht. Hier treten dann leicht schon an die Stelle einer wirklich unterzuordnenden Einzelvorstellung der Sprachlaut und das Schriftzeichen als Stellvertreter, was bei der Transformation der eigentlichen Begriffe in die Vorstellung regelmäßig stattfindet.

11) Vergl. Kap. XV.

    Allgemeinvorstellung und Begriff dürfen nicht mit einander verwechselt werden. Als bestimmtes psychisches Gebilde, ähnlich der Empfindung oder Vorstellung, existiert der Begriff überhaupt nicht. In unserm Bewußtsein haben wir jeweils nur die Substitute des Begriffs, den Sprachlaut oder das Schriftzeichen, die ihn andeuten, begleitet von einem Gefühl, welches meistens sehr allgemeiner und unbestimmter Natur ist. Der Prozeß der Begriffsbildung kann daher auch psychologisch nur insofern untersucht werden, als sich die Frage stellen läßt, wie denn jene von Gefühl begleiteten Zeichen entstehen. Indem die Allgemeinvorstellung fortwährend in Einzelbilder zerfließt, werden wir uns um so deutlicher der ungenügenden Erfassung aller unter das allgemeine Schema fallenden Gegenstände bewußt, je umfassender dasselbe ist. Zugleich bemerken wir, daß, so unbestimmte Umrisse auch die Vorstellung vor ihrem Zerfließen besitzen mag, alle darin enthaltenen Bestandteile einzeln sich ändern können, ohne daß die Allgemeinvorstellung zu existieren aufhört. So entsteht das Postulat einer Allgemeinvorstellung, die erstens nur diejenigen Bestandteile schematisch enthält, welche allen ihr unterzuordnenden Einzelvorstellungen gemeinsam sind, und die zweitens in alle diese Einzelvorstellungen durch einen vollständigen Zerfließungsprozeß übergehen kann. Ein solches Postulat nennen wir nun einen Begriff. Daß derselbe ein bestimmtes psychisches Gebilde wie etwa die Vorstellung nicht ist, geht aus dieser Entstehungsweise ohne weiteres hervor. In der Natur der Allgemeinvorstellungen liegt nur die Nötigung solche Forderungen zu erheben. Sobald aber der Begriff zu einem einzelnen Akt des Bewußtseins wird, so muß unvermeidlich demselben entweder die Allgemeinvorstellung, d. h. jenes unvollkommene und überdem mit unwesentlichen Merkmalen ausgestattete Schema, das sich zunächst nach den Reproduktionsgesetzen aus den Einzelvorstellungen hervorgebildet hat, oder sogar irgend eine Einzelvorstellung substituiert werden. Nun sind aber regelmäßig unsere Vorstellungen Komplexe, in welche auch Sprachlaut und Schriftzeichen eingehen. Je unbestimmter die übrigen Bestandteile der Vorstellung sind, um so mehr drängen sich daher diese letzteren in den Vordergrund. So entsteht eine Vertretung der Begriffe durch ihre Zeichen, welche ihrerseits die Loslösung des Begriffs von der Einzelvorstellung begünstigt.
    Fast alle Vorstellungen sind in einem gewissen Grade schematisch. Sobald wir denselben Gegenstand in verschiedenen Raum- und Zeitverhältnissen auffassen, entsteht ein Totalbild desselben, welches sich mit keiner einzigen der Vorstellungen, aus denen es hervorgegangen ist, vollständig deckt. Hierin liegt die allgemeine Disposition unserer Vorstellungen zur Bildung von Begriffen begründet. Das nicht sprechende Tier und der Mensch, so lange er der Sprache unfähig ist, erheben sich ohne Zweifel nie über jene Allgemeinvorstellungen, welche eine größere Zahl einzelner Objekte unter sich fassen, wobei aber fortwährend die einzelnen Klassen unterschiedener Objekte sich gegen einander verschieben. Wir beobachten etwas von diesem Ineinanderfließen der Vorstellungsschemata noch deutlich beim Kinde, welches ein und dasselbe Bild je nach den gerade zur Reproduktion bereit liegenden Elementen sukzessiv für die verschiedensten Dinge halt. Hier hilft dann erst allmälig die Sprache die einzelnen Allgemeinvorstellungen sicherer von einander abgrenzen. So lange die Auffassung noch eine vorwiegend sinnliche ist, wird sich daher der Begriff wohl nur als ein unbestimmtes Gefühl geltend machen, daß die jeweils im Bewußtsein vorhandene schematische Vorstellung nicht vollständig jenen Einzelvorstellungen genüge. Das entwickeltere Bewußtsein aber beschränkt sich nicht mehr darauf, die Objekte seiner Erfahrung nach den in der Empfindung gegebenen Merkmalen zu sondern. Vielmehr beginnen nun die mannigfachen Beziehungen und Wechselwirkungen, in welchen die Objekte stehen, ebenfalls eine Wirkung auszuüben. Diese Beziehungen der Objekte treten, wie vorhin die Objekte selber, in bestimmte Klassen aus einander. Doch zwischen beiden Vorgängen stellt sich ein wesentlicher Unterschied heraus. Von den Klassen der Objekte können wir uns allgemeine Schemata in der Vorstellung bilden: dies sind eben die Allgemeinvorstellungen. Von den verschiedenen Formen der Beziehung können wir uns aber in der Vorstellung gar kein wirkliches Bild machen. Hier tritt daher von vornherein der Begriff in der ihm wesentlichen Gestalt auf, nämlich als Forderung ein gewisses Gebiet von Beziehungen der in der äußern Anschauung gegebenen oder auch der rein mentalen Objekte zu umfassen. Solche Begriffe, die keine Allgemeinvorstellung zur Grundlage haben, bezeichnet man nun als abstrakte Begriffe. Für sie ist der sprachliche Ausdruck ein unentbehrliches Erfordernis. Denn kein psychisches Gebilde kann in uns existieren und wirken, ohne sich in einer bestimmten Vorstellung zu verkörpern. So treten denn für die abstrakten Begriffe regelmäßig ihre sprachlichen Bezeichnungen ein. Neben dem Laut- und Schriftbild haben sie nur ein allgemeines Gefühl zum Begleiter, welches hauptsächlich bei solchen Begriffen, die dem Gebiet ästhetischer, sittlicher, religiöser Vorstellungen angehören, eine merkliche Intensität erreicht. Diese Gebundenheit an den sprachlichen Ausdruck beweist, daß vor der Entwicklung der Sprache abstrakte Begriffe nicht existieren können, daß also die Tiere und der Mensch in seiner frühesten Lebenszeit derselben nicht fähig sind. Umgekehrt läßt sich aber auch schließen, daß die Symbole, die unsere Sprache heute für die abstrakten Begriffe gebraucht, ursprünglich nicht solche sondern nur allgemeine Vorstellungen bedeutet haben, welche erst durch einen den Forderungen der Begriffsentwicklung nachkommenden Bedeutungswechsel, bei welchem die sinnliche Beziehung zwischen Wort und Gegenstand sich verwischte, in eigentliche Begriffszeichen übergegangen sind. In der Tat bestätigt sich dieser Entwicklungsgang sowohl an den einzelnen Ausdrücken für abstrakte Begriffe, so weit deren Bedeutung zurückverfolgt werden kann, als an dem Entwicklungsprozeß der Sprache im Ganzen. Die natürliche Gebärdensprache vermag nur allgemeine Vorstellungen auszudrücken; alle abstrakten Redeteile fallen in ihr hinweg oder müssen in's Konkrete übersetzt werden12). Ähnlicher Art müssen wir uns offenbar die ursprüngliche Lautsprache denken. Aber in ihr ist dann allmälig dem Konkreten eine abstrakte Bedeutung beigelegt worden. In jenen agglutinativen Sprachen, welche, wie die amerikanischen und tatarischen Idiome, in der Regel mit den allgemeineren eine große Zahl spezieller Vorstellungen verbinden, indem sie komplexe Wortganze bilden, scheint zugleich der Prozeß des Zerfließens der Allgemeinvorstellungen noch unmittelbar in dem Aufbau der Sprache angedeutet. Auch die Flexion unserer höher entwickelten Sprachen erinnert noch an diesen Vorgang. Doch hat sich hier anderseits der Übergang zur reinen Begriffssprache am deutlichsten ausgeprägt, indem die Flexionssilben ihre Bedeutung als selbständige Allgemeinvorstellungen gänzlich verloren und als rein begriffliche Beziehungen fixiert wurden13).

12) STEINTHAL, in PRUTZ'deutschem Museum. Jahrg. 1851 S. 904 f. TYLOR, Forschungen über die Urgeschichte der Menschheit. S. 17 f.
13) VergL hierzu meine Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele II, S. 379.

    Genetisch unterscheidet sich nach dem Vorangegangenen der abstrakte von dem empirischen Begriff wesentlich dadurch, daß dieser unmittelbar aus einer größeren Zahl gleichartiger, jener erst aus den übereinstimmenden Wechselbeziehungen verschiedenartiger Vorstellungen hervorgeht. Die Entstehung der wichtigsten abstrakten Begriffe dürfte hiernach wohl in folgender Weise anzunehmen sein. Indem der Zwang der äußeren Anschauung im Gegensatz zu den freier verlautenden Erinnerungsbildern empfunden wird, setzt sich das wirkliche dem gedachten Objekt gegenüber: das Ding wird unterschieden von der Vorstellung, das Sein vom Denken. Wird dann aber auch das Gedachte als ein Seiendes erfaßt, so schreitet der Begriff des Seins zu seinem abstrakten Gegensatz, dem Nichtsein oder der Negation überhaupt fort. Indem ferner sowohl die Anschauungs- wie die Erinnerungsbilder bald erscheinen bald verschwinden, entstehen die weiteren Wechselbegriffe des Werdens und Vergehens, des Beharrens und der Veränderung. Sobald die zwei letzteren auf verschiedene Eigenschaften eines und desselben Objekts bezogen werden, wandeln sie in den Gegensatz des Substantiellen und des Accidentellen sich um. Treten endlich die Vorstellungsobjekte in solche Beziehung, daß das eine das andere herbeizuführen scheint, so bilden sich die Begriffe von Mittel und Zweck, von Ursache und Wirkung. Wo die Verkettung der Vorstellungen nicht von außen gegeben ist, sondern sich in uns selber vollzieht, da ist sie stets ein Ausfluß unserer willkürlichen Bewegung. Denn verschiedene Vorstellungen stehen nur dann in einer innerlich durchschaubaren Wechselwirkung, wenn wir durch unser eigenes Handeln absichtlich die eine in die andere überführen: dies ist aber das Verhältnis von Mittel und Zweck. Beide Begriffe können wir daher auch nur insofern auf das äußere Geschehen übertragen, als wir in den Objekten entweder wirklich oder symbolisch ein ähnliches absichtliches Handeln voraussetzen, wie wir es in uns selbst finden. In der Tat beobachten wir diese Stufe bei dem Kind und bei dem Naturmenschen, welchen leicht jeder Gegenstand als ein belebtes und persönliches Wesen erscheint14). Bei den Begriffen der äußeren Kausalität, Ursache und Wirkung, haben wir auf diese Nebenvorstellung einer in den Dingen liegenden Absicht verzichtet; sie verraten hierin schon ihre spätere Entwicklung. Mit Zweck und Ursache stehen Notwendigkeit und Zufall in naher Beziehung. Beide unterscheiden wir zunächst nur in Bezug auf unsere inneren Vorstellungen. Solche Vorstellungen, die deutlich durch unsern Willen herbeigeführt worden sind, müssen als notwendig aufgefaßt werden gegenüber jenen, die durch das unwillkürliche Spiel des psychischen Mechanismus im Bewußtsein aufzutauchen scheinen. So kommt es, daß mit dem Begriff des Zwecks sich derjenige der Notwendigkeit innig verbindet. Auf die Ursache und Wirkung übertragen findet nun dieser Begriff in der regelmäßigen Verbindung gewisser Vorgänge in der Natur eine selbständige Stütze, die ihn noch fortbestehen läßt, nachdem sich die äußere Kausalität vollständig von der inneren geschieden hat.

14) Völkerpsychologische Belege hierfür vergl. in meinen Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele II. Vorl. 44 u. f.

    Die umfassendsten der oben angeführten theoretischen Begriffe pflegt man als Kategorien zu bezeichnen, weil sie die allgemeinsten Aussagen sind, die von den Gegenständen unseres Denkens gemacht werden können. Indem diese sämtlich den Bestimmungen des Seins und Nichtseins, der Substanz und des Akzidens, der Ursache und Wirkung u. s. w. sich unterordnen, wird der Versuch nahe gelegt, sie in eine systematische Ordnung zu bringen, welche den ganzen Umfang unseres begrifflichen Denkens umfasse. Die Ausführung dieser Ordnung ist ein logisches Geschäft, wie es denn auch kant aufgefaßt hat, dessen Tafel der Kategorien jedoch ihre Form zum Teil dem Streben nach einer rein äußerlichen Symmetrie verdankt, die mit der inneren Notwendigkeit der Begriffe nichts zu tun hat15). Psychologisch hat eine solche Ordnung überhaupt keine Bedeutung, da es keine bestimmte Reihenfolge gibt, in welcher die allgemeinsten Begriffe in uns entstehen. Nur ein Zusammenhang muß in dieser Beziehung festgehalten werden: jeder abstrakte Begriff hat seinen Korrelatbegriff, mit dem er auch psychologisch gleichzeitig entstehen muß. Der Begriff der Realität läßt sich nicht ohne den der Negation, der Begriff der Ursache nicht ohne den der Wirkung denken u. s. w.16). Der Schwierigkeit, daß die abstrakten Begriffe psychische Gebilde im eigentlichen Sinne des Worts nicht sind, sondern an sich nicht vorstellbare Postulate, denen zum empirischen Denkgebrauch ein Vorstellungssymbol substituiert wird, sucht der Idealismus dadurch zu begegnen, daß er dieselben als a priori in unserm Bewußtsein bereit liegende Formen ansieht, unter welche sich alle Erfahrungen von selbst fügen. Dabei kann man entweder mit KANT17) die Kategorien als rein subjektive Formen unseres Erkennens ansehen, welche über die Beschaffenheit der Dinge an sich nichts aussagen, oder mit HEGEL18) als die objektiven Bestimmungsgründe des Seins. Den entscheidenden Beweis für eine der Erfahrung vorausgehende Existenz des Begriffs pflegt man darin zu sehen, daß derselbe den Charakter der Notwendigkeit an sich trägt, was bei der bloß empirischen Synthese der Erscheinungen niemals der Fall sein könnte. Schon kant hat für die Führung dieses Beweises hauptsächlich den Kausalbegriff als Beispiel gewählt. SCHOPENHAUER19), der eine in der neueren Naturwissenschaft verbreitete Richtung vertritt20), die in dieser Beziehung wieder auf einen LEIBNITZ-WOLFF'schen Grundsatz zurückgreift, hat dann den Kausalbegriff als den einzigen Stammbegriff betrachtet, aus dem alle andern hervorgehen sollen. In der Tat läßt sich nicht verkennen, daß dem Kausalbegriffe ganz besonders jene Notwendigkeit innewohnt, die man als das wesentliche Merkmal von Begriffen oder Grundsätzen a priori ansieht. Auch lassen sich alle Kategorien in einem gewissen Sinn dem Kausalbegriff unterordnen, weil sie sich eben auf die Verbindung unserer Vorstellungen beziehen, welche Verbindung den Charakter der Gesetzmäßigkeit an sich trägt. Damit ist freilich noch nicht bewiesen, daß die Kausalität wirklich die herrschende Kategorie sei. Denn andere Kategorien. können wieder von einer andern Seite her die übrigen Begriffe umfassen, so z. B. die Realität, die Substanz. kant selbst führt die Notwendigkeit, obgleich sie schon in andern Stammbegriffen verborgen liegt, doch auch als eine besondere Kategorie auf. Da dieser Begriff der Angelpunkt aller Beweise des Idealismus ist, so wird es sich fragen, ob nicht für ihn selbst ein psychologischer Ursprung sich nachweisen läßt. Sollte dies der Fall sein, so würde damit auch die Annahme von Begriffen a priori, wenigstens im gewöhnlich angenommenen Sinne, überflüssig werden. Denn für alle andern Kategorien werden nun in den von Niemandem geleugneten psychologischen Motiven, die ihrer jedesmaligen Anwendung vorausgehen, nicht bloß Gelegenheitsursachen dieser Anwendung, wie kant behauptete, sondern wirkliche Bestimmungsgründe der Entstehung gesucht werden können, sofern sich nur zeigen läßt, daß zugleich für die Verbindung mit dem psychologisch entstandenen Begriff der Notwendigkeit Motive vorliegen. Solche Motive sind in der Tat durch die genetische Beziehung gegeben, in welcher dieser Begriff zu dem Zweckbegriff steht. kant hatte sich die Einsicht in den Zusammenhang beider durch seinen logischen Schematismus verschlossen, in welchem die mechanische Kausalität zu den reinen Verstandesbegriffen gestellt war, während der Zweck an einer ganz andern Stelle des Systems als ein Prinzip der praktischen Vernunft auftauchte21). Über die Schwierigkeit der tatsächlichen Existenz einer teleologischen Erklärung der Natur half er sich mit der Behauptung hinweg, daß dieselbe immer nur reflektierender und subjektiver, nicht aber, wie das Prinzip der Ursache, objektiver und bestimmender Art sei; ein möglicher Zusammenhang beider Prinzipien wurde dann im Übersinnlichen statuiert. Es bedarf kaum des Hinweises, wie wenig dieser Schematismus auf die natürliche Entwicklung der Begriffe Rücksicht nimmt. Man braucht nicht einmal auf die Naturauffassung des Kindes und des Naturmenschen, sondern nur auf eine frühere Stufe der Wissenschaft zurückzugeben, um sich zu überzeugen, daß der Begriff der mechanischen sich allmälig erst von dem der teleologischen Kausalität losgelöst hat. Als nächste und klarste Ursache äußerer Bewegung finden wir unsere eigenen nach Zwecken bestimmten Handlungen vor. Bei diesen müssen wir die Wirkung als eine notwendige Folge der Ursache auffassen, weil die erstere in der letzteren vorausgesehen ist. Denn dies liegt überall im Begriff der Notwendigkeit, daß ein bestimmter Erfolg vorausgesagt werden kann. Solches geschieht aber bei jeder Handlung nach Zwecken, indem der Zweck die Handlung selbst in der Vorstellung antizipiert. Schreiten wir nun zum Begriff der äußeren Kausalität fort, so lassen wir die Annahme einer in der Ursache liegenden Vorstellung oder Wirkung fallen, ohne jedoch auf den ursprünglich der inneren Kausalität entstammenden Begriff der Notwendigkeit zu verzichten, der aus der bloßen Regelmäßigkeit der Erscheinungen zwar schwerlich, wie HUME glaubte, entstehen könnte, aber immerhin, nachdem er entstanden ist, in derselben eine wesentliche Stütze findet. Zu der auf unser eigenes Handeln bezogenen Notwendigkeit ist die Freiheit die Ergänzung. Den Begriff der subjektiven Notwendigkeit bilden wir, indem wir die einzelne Handlung ausschließlich mit Bezug auf den Zweck betrachten, den sie herbeiführte; bei der Freiheit bringen wir dieselbe Handlung zugleich mit andern Zwecken zusammen, die sich als möglich vorstellen lassen.

15) Kritik der reinen Vernunft, Werke Bd. 2 S. 79.

16) Bei KANT macht sich der verunstaltende Einfluß der äußeren Symmetrie auf die Anordnung der Kategorientafel auch darin geltend, daß jene Korrelatbegriffe zum Teil unter, zum Teil neben einander gestellt werden, ersteres bei der Quantität und Qualität, letzteres bei der Relation und Modalität. Realität und Negation, Einheit und Vielheit sind aber ebenso gut Korrelatbegriffe wie Ursache und Wirkung.

17) a. a. O. S. 102 f.
18) Wissenschaft der Logik. 2. Thl. Werke Bd. 5 S. 20.
19) Die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. 3te Aufl. S. 4.

20) Vergl. Helmholtz, physiologische Optik S. 453. ZOELLNER, über die Natur der Kometen S. 344 f. Siehe auch die anonyme Schrift: Ursache und Wirkung. Ein Versuch. Kassel u. Göttingen 1867. S. 4.

21) Kritik der Urteilskraft, Werke Bd. 4. S. 36 f., 258 f.

    Mit dem Zweck, der Notwendigkeit und Freiheit sind wir in ein Gebiet von Begriffen getreten, die man auch als praktische Begriffe zu bezeichnen pflegt, weil sie die Handlung zu ihrem Ausgangs- und Mittelpunkte haben. Sie beziehen sich entweder unmittelbar auf die in dem menschlichen Handeln zu Tage tretenden Zwecke oder auf die Natur und ihre künstlerische Nachbildung, die nach in ihr vorausgesetzten Zwecken beurteilt wird. So entstehen die sittlichen und ästhetischen Begriffe. Der ästhetische verhält sich zu dem sittlichen Begriff analog wie die äußere Kausalität zu dem Zweck; doch hat im Gebiet des Ästhetischen die Kausalität den teleologischen Charakter bewahrt. Auch diese Begriffe bewegen sich in Gegensätzen, wie Böse und Gut, Schön und Häßlich, Erhaben und Niedrig u. s. w. Einer eigentümlichen Verbindung theoretischer und praktischer Begriffe entstammen endlich die religiösen Ideen. Kausalität und Zweck, ursprünglich von einem Punkt ausgegangen, führen in ihrer letzten Entwicklung zu Postulaten, die nach entgegengesetzten Richtungen hinweisen; indem diese Postulate sich zu Begriffen verdichten, entsteht die Idee einer ersten Ursache und die eines letzten Zwecks oder Endzwecks. Analoge Forderungen bilden sich bei der Realität, der Substanz. Wie die erste Ursache nicht mehr Wirkung einer anderen Ursache, der letzte Zweck nicht mehr Mittel zu einem weiteren Zweck sein soll, so erheben sich die Forderungen einer absoluten Realität und einer absoluten Substanz, bei denen ebenfalls die Korrelatbegriffe der Negation und des Akzidentellen ausgeschlossen gedacht werden. Zu diesen treten die entsprechend gebildeten absoluten Begriffe der praktischen Sphäre, des absolut Guten, Schönen , Erhabenen. Jeder der Begriffe des Absoluten schließt nun zugleich die Forderung in sich, daß die andern ihm zugehören. Absolute Realität kann nur die absolute Substanz haben, welche zugleich erste Ursache und letzter Zweck sowie Träger aller ethischen und ästhetischen absoluten Begriffe ist, weil nur ihnen die Eigenschaft zukommt, in ihrem Wesen unverändert zu beharren. So kommt es, daß schließlich alle absohlten Begriffe als Bestandteile einer absoluten Substanz sich darstellen. Übrigens hat sich die Idee des Absoluten auf praktischem Gebiet ursprünglich weniger rein ausgebildet, wahrscheinlich weil sich eine Verbindung der verschiedenen ethischen und ästhetischen Begriffe schwieriger vollzog. So erklärt es sich, daß gerade in praktischer Beziehung alle Religionen das Bedürfnis empfunden haben, den Begriff des Absoluten nach verschiedenen Richtungen zu spalten. Der Polytheismus mit seinen in mannigfacher Weise sittlich angelegten Gottheiten ist die Versinnlichung dieser Begriffsscheidung, die häufig auch dazu führt, die Gegensatzbegriffe des Schlechten, Häßlichen in's Absolute zu erheben, indem sie die verneinenden Götter, einen Ahriman oder Teufel, schafft. Ihr Korrektiv haben diese negativen Ideale immer erst in dem rein theoretisch gebildeten Begriff der absoluten Substanz.
    Die Eigenschaft zu Idealbildern umgestaltet, d. h. in einzelnen Vorstellungen versinnlicht zu werden, kommt hauptsächlich den praktischen Begriffen zu. Auch die religiösen Idealbilder, die einzelnen Göttervorstellungen, sind daher immer der praktischen Sphäre entnommen. Wir haben gesehen, daß der abstrakte Begriff als konkretes psychisches Gebilde überhaupt nur existieren kann, wenn ihm ein vorstellbares Zeichen substituiert wird, eine Rolle, die im allgemeinen den Sprachlauten zufällt. Aber es gibt noch eine zweite Form der Versinnlichung: diese besteht darin, daß der Begriff an konkreten Vorstellungen, die unter ihn fallen, exemplifiziert wird, ein Vorgang, der bei den empirischen Begriffen regelmäßig stattfindet. Bei den abstrakten Begriffen der theoretischen Sphäre tritt derselbe ganz in den Hintergrund. Es kommt zwar vor, daß wir z. B. mit dem Begriff Ding unwillkürlich die undeutliche Vorstellung eines Körpers, mit dem des Akzidens die einer oberflächlichen Eigenschaft wie der Farbe verbinden u. s. w. Aber solche exemplifizierende Vorstellungen sind, wo sie existieren, außerordentlich blaß. Anders bei den praktischen Begriffen. Zum Begriff des Guten denken wir uns sehr leicht irgend eine gute Handlung, den des Schönen verkörpern wir uns etwa in einer schönen Gestalt, den des Erhabenen in einem gewaltigen gotischen Dome. Eine solche exemplifizierende Vorstellung praktischer Begriffe nennen wir im psychologischen Sinne ein Idealbild. Es hat mit der künstlerischen Idealform gemein, daß auch letztere eine Exemplifikation des Begriffs ist, und zwar darf man wohl annehmen, daß sich dieselbe jedesmal aus psychologischen Idealbildern entwickele. Alle praktischen Begriffe existieren nun ursprünglich ohne Zweifel nur in der Form von Idealbildern. Während sich nämlich auf theoretischem Gebiete die Begriffe als Postulate des Denkens entwickeln, die an sich selbst in der Vorstellung nicht verwirklicht werden können, treten sie innerhalb der praktischen Sphäre notwendig als Postulate des Handelns auf, sei es des eigenen bewußten, sei es des unbewußt in der Natur vorausgesetzten. Solche Postulate finden zwar auch nicht eine einzige und allgemeingültige Verwirklichung in der Vorstellung, aber sie lassen doch immerhin nicht nur eine klare Exemplifikation zu, sondern drängen geradezu auf eine solche hin. So hat sich denn der praktische Begriff einer sinnlicheren Stufe der menschlichen Entwicklung unmittelbar in der Form des Idealbildes eingeprägt. Ehe der Mensch das Gute und Schöne auch nur zu benennen wußte, hatte er sich in seinen Göttern Idealbilder dieser Begriffe geschaffen, aus denen sich langsam die Begriffe selber entwickelten. Auch dann existierten aber die praktischen sowohl wie die theoretischen Begriffe zunächst nur als höchst unbestimmte Forderungen im menschlichen Bewußtsein, ein Stadium, aus welchem sie erst die wissenschaftliche Reflexion, unterstützt durch die fixierende Gewalt der sprachlichen Begriffssymbole, emporhob.
    Die praktischen Begriffe sind stets mit deutlichen Gefühlen verbunden. Diese, ursprünglich dem Idealbilde anhaftend, erhalten sich, während das letztere fast ganz dem Begriffszeichen Platz macht, mehr in ihrer Stärke. So kommt es, daß schon die Worte Gut, Schön, Erhaben u. s. w. in uns die entsprechenden Gefühle anregen. Es sind aber alle die sittlichen, ästhetischen, religiösen Begriffe von im wesentlichen übereinstimmenden Gefühlen begleitet, die wir ebendeshalb als ästhetische Gefühle zusammenfassen. Die Griechen haben in ihrem cal òV c àyaJ òV diese Erstreckung des ästhetischen Gefühls über das Sittliche und Religiöse instinktiv empfunden. Bei den theoretischen Begriffen bleibt, ähnlich wie bei den entsprechenden objektiven Vorstellungen, der Gefühlston so sehr im Hintergrund, daß wir ihn nicht beachten. Ob derselbe wirklich ganz fehlt, möchte aber doch zu bezweifeln sein. Bei der Gegenüberstellung der Realität und der Negation, der Substanz und des Akzidens u. s. w. kommt, wie ich glaube, jedesmal dem ersten dieser Korrelatbegriffe in uns ein Gefühl entgegen, welches mit der Empfindung intellektueller Befriedigung eine gewisse Verwandtschaft hat, wogegen der zweite negierende oder begrenzende Begriff das gegensätzliche Gefühl wachruft. Schon darin treffen übrigens die Begriffe mit den Gefühlen zusammen, daß sie sich in Gegensätzen bewegen, eine Eigenschaft, die sonst keinem einzigen psychischen Produkte zukommt.
    Nachdem die abstrakten Begriffe entstanden sind, treten sie nicht nur unter einander, wie oben schon angedeutet wurde, sondern auch mit den empirischen Begriffen in mannigfache Wechselwirkung. Die letzteren, anfangs noch wenig verschieden von unbestimmten Allgemeinvorstellungen, erhalten dadurch erst den Charakter eigentlicher Begriffe im wissenschaftlichen Sinne. Wir fragen uns z. B., was an einem Naturkörper, der Gegenstand empirischen Begriffs geworden ist, das Substantielle, was bloß akzidentell, was Ursache, was Wirkung sei u. s. w. Die nähere Schilderung dieser Verwebung der Begriffe und ihrer Resultate gehört in das Gebiet der Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre; ebenso bleibt die Analyse und die Kritik der praktischen Begriffe der Ästhetik, Ethik und Religionsphilosophie überlassen. Hier hatten wir nur auf die psychologischen Fundamente derselben hinzuweisen.

    Die Anschauungsformen haben sowohl mit den Allgemeinvorstellungen wie mit den Begriffen gewisse psychologische Momente gemein. Sie gehen aus Einzelvorstellungen hervor, indem die Zeit dem Totaleindruck der inneren, der Raum dem der äußeren Ordnung der Vorstellungen entspricht. Beide Ordnungen können aber an sich selbst nicht vorgestellt werden, sondern sie sind Postulate, gleich den Begriffen. Doch sind sie von den letzteren wieder dadurch verschieden, daß sie nie durch ein bloßes Begriffszeichen dargestellt werden können, sondern sich in unserm Bewußtsein stets in einen besonderen Zeitverlauf oder in einen besonderen Raum umsetzen, die nun als sinnliche Substitute der Zeit und des Raumes überhaupt gedacht werden. Durch diese Gebundenheit an die Einzelvorstellungen erklärt es sich, daß das natürliche Bewußtsein und mit ihm übereinstimmend die ältere Philosophie die Zeit und den Baum für außer uns liegende Wesen halten, von denen alle Dinge umfaßt werden. Die Bemerkung, daß auch unsere rein innerlichen Vorstellungen den nämlichen Formen sich fügen, gab dann zur Unterscheidung einer subjektiven und objektiven Zeit- und Raumform Anlaß. leibnitz brachte beide durch seine prästabilierte Harmonie in Verbindung. Zeit und Raum sind nach ihm Ordnungen der wirklichen Dinge, denen sich zugleich unsere Vorstellungen anpassen22). Durch kant erst wurde nachgewiesen, daß die Anschauungsformen an und für sich subjektiver Natur sind. Damit war die Aufgabe gestellt, sie psychologisch zu erklären, sobald man über die von kant selbst noch festgehaltene Ansicht hinausging, Raum und Zeit seien in uns bereit liegende Formen, denen sich die sinnlichen Empfindungen ohne weiteres einordnen23).

22) Über den Zeit- und Raumbegriff in der vorkantischen Philosophie vergl. J. J. BAUMANN, die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik in der neueren Philosphie. 2 Bde. Berlin 1868 und 69.

23) Kant, Kritik der reinen Vernunft, transzendentale Ästhetik. Werke Bd. 2 S. 31. Prolegomena einer jeden künftigen Metaphysik. Werke Bd. 3, S. 35.

    Die Zeitanschauung entsteht durch die Aufeinanderfolge verschiedener Vorstellungen, von denen jede einzelne dem Bewußtsein disponibel bleibt, wenn eine neue in dasselbe eintritt. Das Wesen der Zeitvorstellung besteht aber nicht sowohl in der wirklichen Reproduktion der Vorstellungen als in der Vorstellung, daß sie reproduziert werden können. Dies ist psychologisch nur dann möglich, wenn jede Vorstellung bei ihrem Verschwinden aus dem Bewußtsein eine Nachwirkung zurückläßt, welche neben den neu hinzutretenden Vorstellungen andauert. Eine solche unmittelbare Nachwirkung braucht sich durchaus nicht auf alle überhaupt reproduzierbaren Vorstellungen zu erstrecken. Vielmehr haben wir bei der zeitlichen Auffassung der Gehörseindrücke Tatsachen kennen gelernt, welche auf einen ziemlich engen Umfang der unmittelbaren Zeitvorstellung hinweisen24). Dieser wird nämlich offenbar durch jene Grenzen angegeben, welche das einfachste rhythmische Gebilde, der Takt, einhalten muß, um noch in ein Ganzes vereinigt zu werden. Bei der Auffassung der zusammengesetzteren rhythmischen Formen findet sich schon eine Reproduktion solcher Vorstellungen, deren unmittelbare Nachwirkungen bereits aus dem Bewußtsein verschwunden sind, und denen nur die allgemeine Eigenschaft geblieben ist, daß sie leicht reproduziert werden können. Hiernach ist also unsere Zeitvorstellung weit entfernt von jener unendlichen Ausdehnung, die wir der Zeit dem Begriffe nach beilegen. Diese ist wie jeder Begriff ein Postulat, welches von der Vorstellung niemals erreicht wird. Es liegt natürlich am nächsten, sich die für die Zeitanschauung geforderten Nachwirkungen der Vorstellungen als abgeblaßte Bilder oder Reste derselben zu denken. Aber eine Reihe gleichzeitiger starker und schwacher Vorstellungen ist noch keine Zeitreihe. Auch die Annahme, daß sich die Vorstellungen in der ursprünglich gegebenen Zeitfolge reproduzieren müssen, wie sie z. B. HERBART aus seiner Theorie der sukzessiven Verschmelzung der Vorstellungsreste ableitet, hilft nicht weiter, da sie eben wieder nur zu einer Sukzession von Vorstellungen führt, welche, wie herbart selbst bemerkt, noch keine Vorstellung der Sukzession ist25).

24) Kap XIII.

25) Herbart sieht daher in den von ihm § 86 und 112 seiner Psychologie als Wissenschaft (Werke Bd. 5, S, 433 und Bd. 6, S. 123) entwickelten Gesetzen der Reihenbildung nur psychologische Motive zur Bildung der Zeitvorstellung, nicht diese selbst. Damit wirklich die Anschauung der Zeitstrecke zu Stande komme, müsse der Anfangs- und Endpunkt derselben mit gleicher Klarheit im Bewußtsein gegeben sein. Werde also am Ende einer Reihe wohl verschmolzener sukzessiver Wahrnehmungen die erste und letzte wiederholt, so reproduziere jede von beiden das Zwischenliegende, aber jede in abweichender Art. Der Endpunkt stelle die ganze Reihe auf einmal vor Augen, doch mit rückwärts abnehmender Stärke, der Anfangspunkt wirke zwar ebenfalls auf alle Glieder gleichzeitig, doch lasse er die früheren eiliger als die späteren hervorkommen. In solchem Zustand soll dann die ganze Reihe schwebend erhalten werden (Bd. 6, S. 142, 143). Es fehlt aber hier der Beweis erstens, daß das so Beschriebene wirklich die Zeitvorstellung sei, und zweitens daß bei jeder Zeitvorstellung Anfangs- und Endpunkt mit gleicher Klarheit im Bewußtsein gegeben sein müssen. Die psychologische Beobachtung macht die letztere Annahme mindestens bei der unbestimmten Zeitvorstellung (siehe unten) kaum zulässig. Auch enthält, wie wir sehen werden, die Zeitvorstellung überhaupt gar keine Sukzession.

    Eine unerläßliche äußere Bedingung ihrer Entstehung findet die Zeitvorstellung ursprünglich jedenfalls in der Aufeinanderfolge der Sinneseindrucke. Nehmen wir an, um mit dem einfachsten Fall zu beginnen, gleiche Schalleindrücke, z, B. Pendelschläge, folgten in regelmäßigen Pausen auf einander, und das Bewußtsein sei zugleich frei von allen andern Vorstellungen. Ist der erste Pendelschlag vorübergegangen, so wird ein Phantasiebild desselben bestehen bleiben, bis der zweite erfolgt. Dieser reproduziert unmittelbar den ersten nach dem allgemeinen Assoziationsgesetz, daß identische oder ähnliche Vorstellungen sich wachrufen; zugleich trifft er aber mit dem während der Pause bestandenen Erinnerungsbilde zusammen. Sowohl der neue Pendelschlag wie das Erinnerungsbild werden auf die vorangegangene Wahrnehmung bezogen. Der wiederholte Eindruck ruft dieselbe in ihrer ursprünglichen Stärke hervor, das Erinnerungsbild liefert nur den der Einbildungsvorstellung eigentümlichen Nachklang der Empfindung. Es muß sich daher unmittelbar die aktuelle Vorstellung von ihrer Nachwirkung trennen. Zugleich liefert diese einfache Wiederholung eines vorangegangenen Eindrucks alle Elemente der Zeitvorstellung: der erste Schall ist der Zeitanfang, der zweite das Zeitende und das dazwischenliegende Phantasiebild repräsentiert die Zeitstrecke. Im Moment des zweiten Eindrucks existiert die ganze Zeitvorstellung auf einmal, denn hier sind alle drei Elemente gleichzeitig gegeben, der zweite Eindruck und das Phantasiebild unmittelbar, der erste Eindruck durch die Reproduktion. Aber gleichzeitig sind wir uns bewußt eines Zustandes, in welchem nur der erste Eindruck stattfand, und eines andern, in welchem nur das Phantasiebild desselben existierte. Dieses Bewußtsein macht eben die Zeitvorstellung aus. Im Zeitverlauf ist der Anfang, im Zeitende sind Verlauf und Anfang vorausgesetzt, aber der Zeitanfang setzt gar nichts voraus. Ebendeshalb hat die Zeit nur eine einzige Richtung. Wir können zwar in Gedanken eine Zeitreihe rückwärts verfolgen, aber wir werden uns dabei doch immer bewußt, daß die wirkliche Richtung der Zeit umgekehrt worden ist. Der Satz, daß die Sukzession der Vorstellungen noch nicht die Vorstellung der Sukzession sei, muß also dahin ergänzt werden, daß in der Zeitvorstellung selbst nicht einmal eine Sukzession der Vorstellungen vorkommt.
    Die einfachsten Bedingungen, wie sie hier angenommen wurden, können sich nun verwickelter gestalten, indem erstens der Endpunkt durch einen andern Eindruck als der Anfangspunkt bezeichnet wird, und indem zweitens zwischen beiden Punkten keine Pause, sondern eine Reihe anderer Eindrücke liegt. Auch jetzt wird das Erinnerungsbild des ersten Eindrucks die Vorstellungen, welche die Zeitstrecke ausfüllen, begleiten. Im Moment, wo der Endeindruck geschieht, ist aber ein Doppeltes möglich: es kann derselbe entweder dem Anfangseindruck verwandt sein, so daß dieser wie oben reproduziert wird; dann entsteht abermals die Vorstellung der bestimmt abgegrenzten Zeitstrecke. Oder es kann kein Anlaß zu solcher Reproduktion gegeben sein; dann entsteht die Vorstellung des unbestimmten Zeitverlaufs. Eine weitere Verwickelung führen die zwischen Anfangs- und Endpunkt gelegenen Eindrücke mit sich. Jeder derselben dauert nach seinem Entschwinden ebenfalls im Erinnerungsbilde fort. So wird jeder zwischenliegende Eindruck zum Anfangspunkt einer untergeordneten Zeitstrecke. Wenn nun der letzte den ersten Eindruck nach den Assoziationsgesetzen reproduzieren muß, so treten alle diese eingeschalteten und einander superponierten Zeitstrecken hinter die Hauptstrecke zurück, welche durch ihren Anfangs- und Endpunkt fest bezeichnet ist. Geschieht solche Reproduktion nicht, so sind alle Zeitstrecken einander gleichwertig, aber alle sind zugleich unbestimmt. Der Zustand, in welchem sich dabei das Bewußtsein befindet, entspricht jedenfalls nur einem sehr dunkeln Zeitgefühl. Doch liegt wohl in diesem gerade ein Motiv zur Bildung des Zeitbegriffs, in welchem die Vorstellung der unbestimmt begrenzten zur Forderung einer unbegrenzten Zeitreihe erhoben wird. Anderseits würden jedoch solche unbestimmte Zeitvorstellungen an und für sich, wenn nicht neben ihnen noch bestimmte existierten, nicht zum Zeitbegriff führen, da dieser die klare Anschauung des Verlaufs der Zeit voraussetzt. Letztere ist aber in der unbestimmten Zeitvorstellung noch nicht enthalten. Das Hinzutreten des neuen Eindrucks zu den Erinnerungsbildern erweckt nur im allgemeinen die Vorstellung eines Vorangegangenen. Indem jedoch der neue Eindruck nicht einen bestimmten ihm vorangegangenen reproduziert, fehlt vollständig die Vorstellung der Zeitstrecke, welche als Element in den Verlauf der Zeit eingeht. Denn jeder bestimmte Zeitverlauf besteht aus Zeitstrecken, welche durch Anfangs- und Endpunkte markiert sein müssen. Hierauf beruht die große Bedeutung, welche der Rhythmus für die Ausbildung der Zeitvorstellung hat. Jeder Taktteil bildet eine einfache Zeitstrecke, die mit andern zu einer größeren Zeitreihe zusammengesetzt wird. Der Verlauf derselben wird unmittelbar übersehen, weil durch die gleichförmige Reproduktion des Vorangegangenen Anfang und Ende jeder einfachen Zeitstrecke sowie der ganzen Reihe deutlich sich einprägen. In diesem Fall wird daher auch unmittelbar die Anschauung zur Messung der Zeit. Die auf einander folgenden Takte werden als Zeitgrößen aufgefaßt, welche durch die in ihnen enthaltenen Hebungen und Senkungen des Rhythmus weiter eingeteilt werden. So enthält vorzugsweise die rhythmische Zeitvorstellung die Bedingung zur Entstehung zweier wichtiger Begriffe, des Zahlbegriffs und des Größenbegriffs.

    Jeder Wechsel von Vorstellungen kann zum Zahlbegriff führen. Indem die Vorstellungen in der Zeitform aufgefaßt werden, wandelt sich im Bewußtsein ihr Wechsel in die auf einmal übersehene Zeitreihe um, in der nun jede Vorstellung als ein diskretes mentales Objekt erscheint. Indem die Vor-stellungen zu Gruppen vereinigt auf einander folgen, entwickeln sich die Kategorien der Einheit, Vielheit und Allheit. Die erste entspricht der einzelnen Vorstellung, die zweite den mehreren Vorstellungen in der Zeitreihe, die letzte faßt alle Vorstellungen einer Zeitstrecke zusammen. Da aber jede Zeitstrecke auf eine vorangegangene und nachfolgende hinweist, so verbindet sich auch mit der Zahl der Begriff des Unbegrenzten. Der Fortschritt von einer Vorstellung zur andern ist das Vorbild der Addition, der Rückschritt in der Zeitreihe das Vorbild der Subtraktion. Während diese einfachsten Gestaltungen des Zahlbegriffs bei jedem beliebigen Wechsel der Vorstellungen entstehen können, sind die komplizierteren Formen des progressiven und regressiven Verfahrens psychologisch kaum ohne die rhythmische Gliederung der Zeitreihe denkbar. Jedes zusammengesetzte rhythmische Gebilde zerfällt in einfachere Bestandteile. Die Erzeugung des Taktes aus seinen Elementen, der rhythmischen Reihe aus den Takten entspricht der Multiplikation, die Zerlegung der Division. In dem Verhältnis der einfachsten Taktelemente zur rhythmischen Reihe und Periode liegt endlich das Vorbild zu Wiederholungen dieser Verfahrungsweisen, welche zu den Begriffen der Potenz und der Wurzel führen.
    Ein oft gebrauchtes Bild vergleicht die Zeit mit einer ausdehnungslosen Linie. Durch dieses Bild hat man sich verführen lassen, der Zeit eine wesentliche Eigenschaft des Raumes, die Stetigkeit, ebenfalls zuzuschreiben. Aber die Zeit an sich ist ein diskretes Gebilde. Sie besteht aus einzelnen Vorstellungen, die sich an einander fügen; ein einziges unverändert andauerndes Vorstellen könnte niemals zur Zeitanschauung führen. Eben darum ist die Zahl, welche nach ihrer ursprünglichen Bedeutung nur auf diskrete Objekte bezogen werden kann, ein zunächst aus der Zeitanschauung hervorgehender Begriff. Diese ursprüngliche Bedeutung der Zahl ist vollständig mit den sogenannten rationalen Zahlen erschöpft, welche die positiven und negativen, die ganzen und gebrochenen Zahlen und damit die oben angegebenen arithmetischen Grundoperationen in sich fassen. Indem wir aber den Begriff der Zeit bilden, abstrahieren wir in diesem von jedem besonderen Vorstellungsinhalte, und kommen dadurch zu der Annahme, daß die Zeit eine in jedem Augenblick gleichbeschaffene allgemeine Form sei, welche neben den Vorstellungen hergeht. So entsteht jenes Bild einer unbegrenzt vor- und rückwärts stetig verlaufenden geraden Linie. In der Zeitvorstellung hat dieses Bild gar keine Wirklichkeit. Die von Vorstellungen freien Zustände des Schlafes und der Ohnmacht sind für uns vollständig zeitlos. Die in abstracto stetig gedachte Zeit führt jedoch auf einen besonderen Zahlbegriff, der, ganz seiner Entstehung gemäß, erst von der abstrakten Mathematik entwickelt worden ist, nämlich auf den der irrationalen Zahlen. Diese entstehen notwendig dann, wenn die Objekte des Vorstellens nicht diskret sind, sondern stetig in einander übergehen, ein Fall, der, wie wir unten zeigen werden, überall bei den räumlichen Größen eintritt, daher auch die irrationalen Zahlen erst bei den Raumobjekten ihre Anwendung finden. Aber für die Entstehung des Zahlbegriffs und der Zeitvorstellung ist es sehr charakteristisch, daß für solche stetige Zahlen ein geschlossener Ausdruck nicht möglich ist, was eben in der ursprünglich diskreten Natur der Zahl und der Zeit seinen Grund hat26).

26) Die stetigen Zahlen, die eben deshalb, weil sie keinen geschlossenen Ausdruck zulassen, irrationale genannt werden, lassen sich bekanntlich nur annähernd, durch unendliche Reihen, Kettenbrüche oder nicht geschlossene Dezimalbrüche in der Zahlform ausdrücken. Für einzelne irrationale Zahlen, die öfter gebraucht werden, hat man daher Buchstabensymbole gewählt, z. B.

    Indem wir verschiedene Zeitstrecken, die in verschiedener Weise mit vorgestellten Objekten erfüllt sind, vergleichen, entsteht die Vorstellung der Größe. Die Größenvorstellung ist also im Gebiete der Zeit erst auf die Zahlvorstellung gegründet. Auch für die Entwicklung des Größenbegriffs sind psychologisch die rhythmischen Zeitvorstellungen von wesentlicher Bedeutung. In dem Verhältnis der rhythmischen Reihe zum Takte, des Taktes zu seinen Bestandteilen liegen unmittelbar Größenbeziehungen. Diese gestalten sich aber in doppelter Weise. Es können zwei Zeitstrecken in Bezug auf die Zahl der Elemente verglichen werden, von denen sie ausgefüllt sind: so entsteht die Zahlgröße. Oder es können zwei Zeitstrecken in Bezug auf ihre eigene Größe verglichen werden: dies führt zur Zeitgröße. Nun bedarf aber unsere natürliche Zeitmessung, wenn wir von der Anwendung räumlicher, der äußern Bewegung entnommener Maße abstrahieren, zur Bestimmung dieser letzteren Größe notwendig wieder der Vorstellungen, von welchen die zu messenden Zeitstrecken ausgefüllt sind. Sogar wenn wir die ganz leere Zeit, die zwischen zwei Eindrücken liegt, mit andern Zeiträumen vergleichen wollen, müssen wir sie uns von Vorstellungen ausgefüllt denken. Angenommen z. B., wir wollen zwei Zeitstrecken a b und a c vergleichen, von denen a c größer ist als a b, so denken wir uns a c durch eine Vorstellung b in zwei Strecken a b und b c geteilt. Dasselbe Verfahren wiederholt sich, wenn nun ferner auch a b und b c ihrer Größe nach verglichen werden sollen. Im Fortgang dieser Einteilung bleiben wir schließlich bei dem schnellsten, unserem Bewußtsein nach möglichen Zeitwechsel stehen. Als Element der Zeitgröße können wir also bei der psychologischen Zeitmessung nur die eben noch vorstellbare Sukzession zweier Vorstellungen benutzen.
    Die Zahl besteht, gleich der Zeit, aus der sie hervorgeht, zunächst aus einzelnen Zeitvorstellungen. Erst der Eindruck des Gleichartigen an den Vorstellungen führt zu dem Zahlbegriff, dem sich die Begriffe der arithmetischen Verfahrungsweisen, der Addition, Subtraktion u. s. w.. unterordnen. Alle diese Begriffe müssen in der Vorstellung in konkrete Beispiele übersetzt werden. Um trotzdem die allgemeine Natur der Zahloperationen anzudeuten, hat daher die mathematische Analysis der Zahl das Buchstabenzeichen substituiert, welches den Zahlbegriff in einer einzelnen Vorstellung fixiert, ohne mit der letzteren eine bestimmte Zahlbedeutung zu verbinden.

    Die Raumanschauung entwickelt sich, wie die Analyse der einzelnen räumlichen Vorstellungen dargetan hat27), stets aus einer Mehrheit verschiedenartiger Eindrücke, von denen jeder einzelne unmittelbar als zugehörig einem stetig abgestuften System von Empfindungen aufgefaßt wird. Hierin liegt schon die Anlage zu zwei charakteristischen Merkmalen des Raumes, zur Mehrheit und zur Stetigkeit seiner Dimensionen. Als drittes Merkmal kommt dazu die Gleichartigkeit der letzteren, welche in sich schließt, daß ein beliebiges räumliches Gebilde bewegt oder gedreht werden kann, ohne daß sich seine räumlichen Eigenschaften verändern. Diese Gleichartigkeit entspringt daraus, daß die Ordnung der Sinneseindrücke, die durch ihre Lokalzeichen zunächst ein Kontinuum von mehreren Dimensionen bilden, mittelst der Innervationsgefühle geschieht, welche ebenfalls stetig sind, aber nur die eine Dimension der Intensität besitzen. Da die Bewegungsempfindungen stetig sind, während doch zugleich Anfang und Ende der Bewegung durch diskrete Tastendrücke getrennt werden, vereinigen sich Raum und Zeit in der Bewegungsvorstellung. Die Raumvorstellung aber geht aus einer Synthese hervor, bei der das ungleichartige Kontinuum der Lokalzeichen vermittelst der Beziehung auf die Dimension der Innervationsgefühle in ein gleichartiges Kontinuum verwandelt wird. Dasselbe hat zwei Dimensionen, weil jedes der räumlich auffassenden Sinnesorgane eine Fläche ist. Der so in der Vorstellung gebildete Flächenraum hat jedoch wegen der wechselnden Beziehung der Eindrücke zum Anschauenden eine veränderliche Form. Vermöge der Bewegungsgesetze wird ferner Überall die Gerade zum Messungselement des Raumes. Diese beiden Bedingungen schließen in sich, daß unser Anschauungsraum ein ebener Raum von drei Dimensionen ist28).

27) Kap. XII und XIV.
28) Vergl. Kap. XII und Kap. XIV.

    Auch die Raumanschauung existiert in unserm Bewußtsein nur als einzelne räumliche Vorstellung. Die reine Raumanschauung ist ein Begriff, der in die Vorstellung übersetzt immer zur einzelnen Vorstellung wird. Indem aber jedes räumliche Bild ein Objekt im Raume ist, d. h. andere räumliche Vorstellungen außerhalb der gegebenen voraussetzt, muß der Raum, gleich der Zeit, im Begriff als unbegrenzt gedacht werden. Die messende Vergleichung der Raumgebilde führt zur Vorstellung der Raumgröße. Als Maßeinheit dient dabei die Gerade, die Auge oder Hand bei der Bewegung verfolgen können. Flächen- und Körpergrößen führen wir daher stets zurück auf lineare Größen.
 
    Die Raumgrößen sind vermöge der Natur des Raumes stetig veränderlich. Aus der unmittelbaren Anschauung hervorgehend sind sie völlig unabhängig von der Zahlvorstellung, die erst nachträglich auf sie übertragen wird. Dies geschieht hier in doppelter Weise. Es kann erstens eine Mehrheit diskreter räumlicher Objekte als Zahl aufgefaßt, und zweitens die stetige Raumgröße selbst der Messung nach Zahlgrößen unterworfen werden. Dort entsteht der gemeine Zahlbegriff mit den Operationen der gewöhnlichen Arithmetik, hier die irrationale Zahl. In beiden Fällen muß aber die Vorstellung der Raumgröße der Zahlvorstellung vorausgehen. Bei der irrationalen Zahl ist dies ohne weiteres klar, da die irrationale Natur derselben gerade in der Übertragung des an sich diskreten Zahlbegriffs auf den stetigen Raum ihren Grund hat. Aber auch diskrete Raumobjekte können nur vorgestellt werden, insofern alle zusammen in einer stetigen Raumgröße enthalten sind und erst durch ein sukzessives Zählen, also durch ein in Wahrheit der Zeitvorstellung angehörendes Verfahren, in die gewöhnliche Zahlvorstellung gebracht werden. Zeit- und Raum können demnach beide die Zahl- und Größenvorstellung erwecken. Aber im Gebiet der Zeit entsteht die Größe aus der Zahl, im Gebiet des Raumes die Zahl aus der Größe. In den irrationalen Zahlen ist der Zahlbegriff seines einen wesentlichen Attributs, der diskreten Beschaffenheit, entkleidet worden. Eine zweite, gleich wesentliche, weil aus der Natur der Zeit stammende Eigenschaft ist ihm geblieben: auch die irrationale Zahl hat nur eine Dimension. Sie kann zu- oder abnehmend und, wenn man von einem bestimmten Punkte aus den Vor- oder Rückschritt nimmt, positiv oder negativ, sie kann aber nicht nach verschiedenen Richtungen fortschreitend gedacht werden. Diese letzte Anwendung des Zahlbegriffs auf die Raumgröße vollzieht sich erst in der imaginären Zahl. Denken wir uns neben den gewöhnlichen Zahleinheiten + 1 und - 1 eine neue Einheit i, für welche die Proportion gilt + 1 : i = i : - 1, so kann diese Einheit zwar durch das Zeichen Ö - 1 auf die gewöhnlichen Zahlsymbole zurückgeführt werden, aber innerhalb der auf die Zeitvorstellung gegründeten arithmetischen Operationen bedeutet dieses Zeichen stets ein Verfahren, welches nicht ausgeführt werden kann. Dies will eben sagen, daß es innerhalb der Zeitvorstellung außer + 1 und - 1 keine weitere Einheit gibt. Geben wir jedoch dem + 1 und - 1 die Bedeutung, daß sie die Einheiten einer geraden Linie bedeuten, welche von einem Nullpunkte aus nach entgegengesetzten Richtungen genommen sind, so findet die neue Einheit i alsbald ihre reelle Bedeutung als mittlere geometrische Proportionale zwischen + 1 und - 1. Sie ist nun die lineare Einheit in der auf der ursprünglichen Geraden im Nullpunkt errichteten Senkrechten. Zugleich ersieht man unmittelbar, daß i, ebenso wie die gewöhnliche Zahleinheit, in doppelten Sinne, als + i und - i, genommen werden muß, um die verschiedene Lage der Einheiten auf der im Nullpunkt errichteten Senkrechten auszudrücken (Fig. 150). Durch + 1 und - 1, + i und - i werden demnach die zwei Dimensionen einer Ebene bezeichnet, deren einzelne Punkte sämtlich durch komplexe Zahlen bestimmt werden, welche aus Produkten gewöhnlicher und imaginärer Einheiten gebildet sind. Will man den Zahlbegriff nicht bloß auf die Ebene sondern auf jede beliebig gekrümmte Oberfläche oder auf den ebenen Raum von drei Dimensionen anwenden, so führt dies auf Produkte der gewöhnlichen Einheit mit drei imaginären Einheiten29). Die Schwierigkeiten, welche teilweise schon die irrationalen noch mehr aber die imaginären und die aus ihnen abgeleiteten komplexen Zahlen darbieten, sind eine unmittelbare Folge der psychologischen Tatsache, daß der Zahlbegriff ursprünglich der Zeitvorstellung entstammt, welche, da sie ihrer Natur nach diskret ist, nur die rationale Zahl zuläßt, und welche, da sie nur eine Richtung hat, nur eine einzige Form der Einheit möglich macht. Bei den irrationalen Zahlen denken wir uns aber ein stetiges Fortschreiten, bei den imaginären eine Bewegung innerhalb einer Mehrheit von Dimensionen. Ein Gebilde, in welchem solche Bewegung stattfindet, ist eben der Raum, dem bei dieser Übertragung des Zahlbegriffs gleichsam eine stetige und nach mehreren Dimensionen angelegte Zeit als imaginäres Gebilde substituiert wird.

29) Diese Produkte sind die Quaternionen W. R. Hamiltons (Elements of Quaternions. London 1866), in denen die von GAUSS (Werke II S. 109 u. 174) den imaginären Zahlen angewiesene geometrische Bedeutung ihre konsequente Weiterbildung gefunden hat.

    Die imaginäre Zahl ist, wie aus diesen Betrachtungen hervorgeht, im eigentlichen Sinne imaginär nur so lange, als man an der ursprünglichen Bedeutung der Zahl als dem diskreten Objekt in der Zeit festhält; sie gewinnt aber eine reelle Bedeutung, sobald man sie als Objekt im Raume bestimmt. Wie man nun hierbei dem Raume eigentlich eine imaginäre Zeit von zwei oder drei Dimensionen substituiert, so kann man weiterhin bei dem so gedachten Gebilde noch Eigenschaften voraussetzen, die über unsere wirkliche Raumanschauung hinausgehen. Auf diese Weise gelangt man zu dem Begriff eines imaginären oder transzendenten Raumes, wie ihn namentlich GAUSS und RIEMANN untersacht haben30).

30) GAUSS, disquisitiones circa superficies curvas. Werke IV, p. 219. RIEMANN, über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. Abhandl. der Gott. Gesellsch. d. Wiss. XIII. S. 133. Vergl. ferner Lobatschewsky in Crelle's Journal f. Mathematik XVII, S. 295. Helmholtz, Göttinger gel. Nachrichten. Juni 1868. F. Klein, ebend. August 1871.

    Die gewöhnliche Geometrie bezieht sich, da sie auf die Raumanschauung gegründet ist, auf den gewöhnlichen Raumbegriff als den eines ebenen Kontinuums von drei Dimensionen, welche letztere überdies beliebig mit einander vertauscht werden können. In diesem Raum ist die Größenbeziehung irgend welcher Strecken unabhängig von der zu Grunde gelegten Einheit. Jede Figur bleibt also, wenn sie nach allen Dimensionen im gleichen Maße vergrößert oder verkleinert gedacht wird, sich selbst ähnlich, und zwei kongruente Figuren bleiben einander kongruent, wie man sie auch im Raume verschoben denken mag. Eine spezielle Folgerung dieses Satzes, an deren Zutreffen aber die ebene Beschaffenheit des Raumes am unmittelbarsten erkannt werden kann, ist das Axiom; daß parallele Linien mit einer und derselben Geraden Winkel von gleicher Größe bilden. In dem gewöhnlichen Raum wird eine Dimension durch eine gerade Linie und werden zwei Dimensionen durch eine Ebene bezeichnet. Die drei Dimensionen können daher durch drei Gerade von verschiedener Richtung oder auch durch eine Ebene und eine gerade Linie ausgedrückt werden. Eben deshalb bezeichnet man den gewöhnlichen Raum als ein ebenes Kontinuum, indem man das Merkmal gewisser anderer Kontinua darin sieht, daß sich in ihnen zwei Dimensionen nicht durch eine Ebene, sondern nur durch eine gekrümmte Oberfläche darstellen lassen. Von dem Raume, wie er in unserer Anschauung besteht und Gegenstand der gewöhnlichen Geometrie ist, kann nun ein beliebiges Kontinuum in dreifacher Weise sich unterscheiden: 1) Es können die einzelnen Dimensionen des Kontinuums nicht mit einander vertauschbar sein. Ein derartiges Kontinuum mit drei nicht vertauschbaren Dimensionen haben wir z. B. in den Tönen, insofern sie nach Höhe, Intensität und Dauer bestimmt werden, kennen gelernt. Keine dieser drei Dimensionen kann an Stelle der andern gesetzt werden. Wir können uns z. B. die Dauer eines Tones hinwegdenken: dies ist dann etwas ganz anderes, als wenn das gleiche mit der Höhe oder Stärke des Tons geschieht; beim Raum dagegen entsteht eine Ebene von demselben geometrischen Charakter, von welcher der drei Dimensionen wir auch abstrahieren mögen, und eine Gerade von derselben Beschaffenheit, welche Dimension wir als letzte übrig behalten wollen. Räume nennen wir daher nur solche Kontinua, deren Dimensionen, wie beim gewöhnlichen Raum, gleichartig sind. 2) Die Zahl der Dimensionen eines Kontinuums kann größer oder kleiner als drei sein. Ein Kontinuum von geringerer Zahl der Dimensionen können wir uns ohne Schwierigkeit vorstellen, z. B. einen Raum, der im übrigen die Beschaffenheit des gewöhnlichen Raumes besäße, aber nur zwei Dimensionen oder nur eine einzige hätte. In der Tat abstrahiert die ebene Geometrie durchweg von der dritten Dimension. Einen Raum oder überhaupt ein Kontinuum von mehr als drei Dimensionen können wir uns zwar denken, aber nicht mehr vorstellen. Nichts desto weniger kann einem solchen Kontinuum eine reale Bedeutung zukommen, wie gerade das Beispiel einzelner psychischer Mannigfaltigkeiten zeigt. Denken wir uns z. B. die Lichtempfindungen nach Qualität, Intensität und zeitlicher Dauer bestimmt, so bilden sie, da die Qualität allein durch ihre Zerlegbarkeit in Farbenton und Sättigungsgrad schon zwei Dimensionen umfaßt, ein Kontinuum von vier Dimensionen31). 3) Das Kontinuum kann ein nicht-ebenes sein. Dies bedeutet, daß die einzelnen Dimensionen desselben nicht durch gerade, sondern durch gekrümmte Linien, und daß demnach die zwei ersten Dimensionen nicht durch eine Ebene, sondern durch eine gekrümmte Oberfläche darstellbar sind. In dem ebenen Kontinuum ist das Krümmungsmaß überall gleich null. Wenn dasselbe ein Raum ist, d. h. wenn die einzelnen Dimensionen vertauschbar gedacht werden, so kann man sich die Gebilde dieses Raumes beliebig verschoben oder gedreht denken, ohne daß sie aufhören mit sich selbst kongruent zu sein: nur in einem solchen Raum gelten daher die Sätze über die Kongruenz und die Ähnlichkeit der Figuren, auf denen die gewöhnliche Geometrie beruht. In einem nicht-ebenen Kontinuum ist das Krümmungsmaß nicht gleich null, sondern hat einen bestimmten Wert, der entweder von konstanter Größe oder veränderlich sein kann. Ist das Krümmungsmaß konstant, so entspricht den zwei ersten Dimensionen die Kugeloberfläche; ist es nicht konstant, so bilden dieselben eine krumme Oberfläche von variabler Krümmung. Diese dritte Bestimmung des Kontinuums nach seinem Krümmungsmaß hängt nun mit der zweiten, nach der Zahl der Dimensionen nahe zusammen. In unserm Anschauungsraum als einem ebenen Raum von drei Dimensionen kann nämlich eine krumme Oberfläche dargestellt werden: die zwei ersten Dimensionen eines Kontinuums, dessen Krümmungsmaß nicht gleich null ist, sind uns also vorstellbar; wir müssen aber zu dieser Vorstellung die dritte Dimension unseres ebenen Raumes hinzunehmen. Dagegen übersteigt die dritte Dimension eines nicht-ebenen Kontinuums die Grenzen unserer Anschauung. Wir können uns ferner sogar einen nicht-ebenen Raum denken, von dem nur die erste Dimension anschaulich ist: falls nämlich diese erste Dimension durch eine Kurve von doppelter Krümmung darstellbar wäre. Bei einer stetigen Mannigfaltigkeit, deren erste Dimension in einer Kurve von dreifacher Krümmung gegeben ist, würde uns nicht einmal diese vorstellbar sein. Jedem nicht-ebenen Kontinuum können wir demnach ein ebenes von höherer Dimensionenzahl substituieren, und zwar muß an die Stelle des nicht-ebenen Kontinuums von n Dimensionen ein ebenes von n + 1 Dimensionen treten, wenn die einzelne Dimension eine einfache konstante oder variable Krümmung besitzt. Dagegen muß das stellvertretende ebene Kontinuum n + 2, n + 3 u. s. w. Dimensionen haben, wenn die einzelne Dimension eine doppelte, dreifache u. s. w. Krümmung besitzt. Auch diese Betrachtungen haben ihre reale Bedeutung, wie abermals an dem Beispiel der Farbenempfindungen sich zeigen läßt. Wir haben gesehen, daß die Abstufungen der Farben und Sättigungsgrade, wenn sie in ihrer überhaupt denkbaren Mannigfaltigkeit, abgesehen von den durch die Reizbarkeit unserer Sinnesorgane oder gar durch die Sättigungsgrade der spektralen Farbentöne gesetzten Schranken, konstruiert werden sollen, zur Darstellung auf einer gekrümmten Oberfläche führen, von welcher die gewöhnliche Farbenkurve nur ein bestimmter Durchschnitt ist. Das System der Lichtqualitäten bildet also in seiner allgemeinsten Form ein nicht-ebenes Kontinuum von zwei Dimensionen, zu dessen geometrischer Darstellung wir der drei Dimensionen unseres ebenen Raumes bedürfen. Die dritte Dimension der Lichtempfindung, die Intensität, läßt sich demnach, sobald wir diese allgemeinste Form der Farbenfläche wählen, nicht mehr geometrisch verwirklichen. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß wir bei allen diesen Darstellungen, mögen sie nun das System der Töne oder der Farben oder irgend andere nach Qualität und Intensität unterscheidbare Empfindungen treffen, immer Kontinua mit ungleichartigen Dimensionen vor uns haben, welche bei der räumlichen Versinnlichung des unterscheidenden Charakters ihrer einzelnen Dimensionen verlustig gehen. Jede geometrische Darstellung besteht darin, daß wir ein beliebiges Kontinuum in einen Raum von der entsprechenden Zahl der Dimensionen verwandeln, d. h. daß wir demselben sein ihm korrespondierendes Kontinuum mit gleichartigen Dimensionen, als das allgemeinste, welches für alle stetigen Mannigfaltigkeiten von der gleichen Form das Schema abgibt, substituieren. Die geometrische Darstellung der Empfindungssysteme ist daher ein Prozeß, welcher dem Vorgang, durch den sich der Raumbegriff bildet, unmittelbar gleicht: denn dieser entsteht ja, indem die einzelnen Dimensionen der als Zustände unseres Bewußtseins gegebenen Empfindungen ihre besondere Bestimmtheit verlieren.

31) Vergl. Kap. IX.

    Die Untersuchungen der imaginären Geometrie führen von mathematischer Seite zu einem ähnlichen Resultate wie die physiologische Analyse der räumlichen Vorstellungen. Jene Untersuchungen zeigen, daß der Raum als eine stetige Mannigfaltigkeit gleichartiger Dimensionen ein allgemeiner Begriff ist, der unsere Raumanschauung als besondere Form in sich enthält. Die physiologische Analyse hat aber gezeigt, daß die besondere Form des ebenen Raumes von drei Dimensionen in bestimmten Bedingungen unserer Organisation ihren Grund hat. Weiter läßt sich jedoch auf Grund jener mathematischen Betrachtungen nicht gehen. Vermutungen wie solche, daß die wirkliche Welt vielleicht einem Raum von nicht-ebenem Krümmungsmaß zugehöre32), sind nicht zulässig. Denn welche Ansicht man auch von der Beziehung unserer Vorstellungen zu den wirklichen Dingen hegt, niemals läßt sich die Behauptung rechtfertigen, die wirklichen Dinge müßten in einer andern Form vorgestellt werden, als wir sie überhaupt vorstellen können. Die Theorien über die Natur der Materie, zu welchen die Wissenschaft geführt wird, können möglicher Weise weit abliegen von dem in der unmittelbaren Wahrnehmung sich darbietenden Scheine, wie sie es denn tatsächlich tun; sie können aber niemals zu Voraussetzungen führen, die nicht unsern allgemeinen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit konform sind. Aus dem Unvorstellbaren kann niemals das Vorstellbare hervorgehen. Eine in gewissem Sinn reelle Bedeutung haben die imaginären Raumformen nur insofern, als der Raum die Form ist, in der wir überhaupt stetige Mannigfaltigkeiten darstellen, es aber, wie wir gesehen haben, Kontinua gibt, z. B. dasjenige der Farben, die in unserm gewöhnlichen Raum nicht konstruiert werden können.

32) Vergl. ZOELLNER, über die Natur der Kometen, S. 305.

    Die Frage, ob der Raum eine bloß subjektive Form unserer Vorstellungen, oder inwiefern er zugleich objektiv begründet ist, gehört nicht vor das Forum der Psychologie. Die letztere muß als empirische Wissenschaft nachweisen, wie wir dazu kommen, das im Raum gegebene in räumlicher Form aufzufassen, ebenso wie sie zu den Vorstellungen Objekte als ihre Bedingungen voraussetzt. Am Schlusse ihrer Untersuchung gelangt nun aber die Psychologie zu dem Resultate, daß die subjektiven Bedingungen unseres Vorstellens unsere Auffassung der Welt wesentlich mitbedingen, und damit regt sie unmittelbar die metaphysische Frage nach dem wirklichen, von der Form unserer Empfindungen und Vorstellungen unabhängigen Sein der Dinge an. In Bezug auf den Raum hat kant, obgleich mit den spezielleren subjektiven Gründen der räumlichen Vorstellung noch unbekannt, doch das nächste Resultat psychologischer Untersuchung bereits klar hingestellt, indem er dem Raum, wie der Zeit, eine transzendentale Idealität zuschrieb, d. h. einen subjektiven Ursprung, zugleich aber eine objektive Gültigkeit für alle Erfahrung33). Die Psychologie kann über dieses allgemeine Resultat nicht hinausgehen. Ob aber unsere Erkenntnis der Welt überhaupt bei demselben stehen bleiben müsse, ist eine Frage, die nicht mehr der Psychologie, sondern der Naturphilosophie zugehört.

33) TRENDELENBURG hat bekanntlich behauptet, Kant habe nur die Alternative gestellt, ob Raum und Zeit bloß subjektiv oder bloß objektiv begründet seien, aber das dritte übersehen, daß sie beides zugleich sein könnten. (Logische Untersuchungen, 2. Aufl., I, S. 164, Historische Beiträge zur Philosophie, III, S. 226.) Diesen Vorwarf weist, wie mir scheint, Kuno Fischer (Geschichte der neueren Philosophie, III, Vorwort, S. V) mit Recht zurück. Im Sinne des transzendentalen Idealismus ist eben das objektiv Bestimmende in der subjektiven Raumanschauung zugleich enthalten.