Vierzehntes Kapitel.

Gesichtsvorstellungen.

Der optische Apparat des Auges, welcher aus den hinter einander gelegenen durchsichtigen Medien der Hornhaut, der wässerigen Feuchtigkeit, der Kristalline und des Glaskörpers besteht, bewirkt eine solche Brechung der von äußeren Objekten ausgehenden Lichtstrahlen, daß auf der Netzhaut ein umgekehrtes verkleinertes Bild entworfen wird1). Dieses Bild zeigt gewisse Ungenauigkeiten, von denen wir hier absehen, da sie im allgemeinen auf die Bildung der Wahrnehmung ohne wesentlich störenden Einfluß sind2). Dasselbe fällt ferner nur dann genau auf die Netzhaut, wenn sich die Gegenstände in einer bestimmten, dem jeweiligen Brechungszustand der optischen Medien entsprechenden Entfernung befinden. Mittelst der Akkommodation, bei welcher die Kristalllinse, namentlich an ihrer vordern Fläche, stärker gewölbt wird, kann aber das Auge seinen Brechungszustand innerhalb gewisser Grenzen verändern und auf diese Weise sukzessiv auf Objekte von verschiedener Entfernung sich einstellen3).

1) Über die optischen Eigenschaften des Auges und die Lichtbrechung in demselben vergl. mein Lehrbuch der Physiologie. 3. Aufl. § 109 u. f.
2) Vergl. ebend. § 113—115.
3) Ebend. § 112.

Die Existenz des Netzhautbildes ist die Grundbedingung für die durch das Sehorgan vermittelte Auffassung der Welt in räumlicher Form. Jeder einzelne Punkt der Netzhaut empfindet die Stärke und Wellenlänge der ihn treffenden Lichtschwingungen gemäß den früher aufgestellten Gesetzen als Intensität und Qualität des Lichtes4). Alle diese elementaren Empfindungen werden aber in Bezug auf den Sehenden räumlich geordnet. Hierin besteht das Wesen der Gesichtsvorstellung. Jene räumliche Ordnung vollzieht sich bei allen Formen der Netzhauterregung, selbst bei solchen, welche gar nicht durch die Lichtausstrahlung äußerer Objekte verursacht sind, wie bei den Druckbildern und elektrischen Lichtfiguren, die von mechanischer und elektrischer Reizung des Auges herrühren, sowie bei den entoptischen Erscheinungen, bei denen wir die Schatten im Auge vorhandener undurchsichtiger Teile wahrnehmen5). Ebenso verlegen wir die Nachbilder nach außen, gleich als wenn sie unmittelbar in äußeren Gegenständen ihre Ursache hätten6). Indem wir nun untersuchen, wie diese regelmäßige Beziehung der Netzhautbilder auf einen äußeren Raum und auf ausgedehnte Gegenstände in demselben entsteht, wollen wir vorläufig die Existenz einer nach drei ebenen Dimensionen angeordneten Außenwelt als gegeben voraussetzen. Unsere Aufgabe ist es, nachzuweisen, wie wir vermittelst der Netzhautbilder diese Außenwelt rekonstruieren. Wir werden also vorerst davon absehen, daß die Existenz der Außenwelt selbst einen wesentlichen Teil ihrer Beglaubigung den Gesichtsvorstellungen entnimmt. Um die einzelnen Momente, welche bei der Bildung der letzteren zusammenwirken, möglichst zu trennen, wollen wir 1) das Netzhautbild des ruhenden Auges und die in diesem zur Bildung der Vorstellung gelegenen Motive erwägen; hieran soll sich 2) die Betrachtung des bewegten Auges und des Einflusses der Augenbewegungen anschließen, worauf endlich 3) die durch die Existenz zweier in Gemeinschaft funktionierender Sehorgane gegebenen Bedingungen des Sehens zergliedert werden. Es braucht übrigens kaum der Bemerkung, daß diese Trennung durchaus künstlich und nur durch die Übersichtlichkeit der Untersuchung geboten ist. Das Auge ist von Anfang an ein bewegtes Organ, und es funktioniert normaler Weise stets als Doppelauge.

4) Kap. VIII und IX.
5) Lehrb. der Physiol. § 115, 117.
6) Siehe oben Kap. IX. S. 397 f.

Das Netzhautbild des ruhenden Auges kann naturgemäß nur dadurch Veränderungen erfahren, daß die äußeren Gegenstände sich bewegen und wechseln. Dies kann aber in doppelter Weise geschehen: es kann erstens ein und dasselbe Objekt sich bewegen und so auch im Netzhautbilde seine Stelle ändern; und es kann zweitens vor einem bisher gesehenen Objekte ein anderes auftauchen, durch welches das erste ganz oder teilweise verdeckt wird.
    Die Lage des Netzhautbildes wird, ebenso wie die Größe desselben, durch Linien bestimmt, welche man sich von allen Punkten des Objektes durch einen für jeden Accommodationszustand fest bestimmten optischen Kardinalpunkt des Auges, den Knotenpunkt, nach der Netzhaut gezogen denkt7). Diese Linien sind die Richtungsstrahlen. Der Punkt, wo ein Richtungsstrahl die Netzhaut trifft, ist der dem betreffenden Objektpunkt entsprechende Bildpunkt. Denken wir uns nun einen einzelnen leuchtenden Objektpunkt im äußern Raume wandern, so muß auch der ihm zugehörige Bildpunkt auf der Netzhaut, und zwar im entgegengesetzten Sinne, sich bewegen. Hierbei kann die Empfindung nicht vollkommen ungeändert bleiben, da jeder Lichteindruck, wenn man von der Mitte der Netzhaut auf die Seitenteile übergeht, an intensiver Wirkung abnimmt, so daß sich die Empfindung schließlich in Schwarz umwandelt8). Dieser Veränderung der Empfindlichkeit geht nun eine ebensolche in der Schärfe der räumlichen Auffassung parallel. Auch hier zeigt die Mitte der Netzhaut, welche wegen der gelblichen Färbung, die sie beim Menschen zeigt, der gelbe Fleck (macula lutea) oder, da sie etwas vertieft ist, die Zentralgrube (fovea centralis) genannt wird, einen sehr auffallenden Vorzug vor den Seitenteilen, deren Auffassungsschärfe um so mehr abnimmt, je weiter sie von der Zentralgrube entfernt liegen. Aus diesem Grunde sagt man von Objekten, die sich auf dem gelben Fleck der Netzhaut abbilden, daß sie direkt gesehen werden, während man alle seitlich gelegenen Bilder als indirekt gesehene bezeichnet. Denjenigen direkt gesehenen Punkt, dessen Bild genau in der Mitte der Zentralgrube liegt, nennt man den Fixations- oder Blickpunkt. Der dem Fixationspunkt entsprechende Richtungsstrahl wird die Gesichtslinie genannt. Objekte direkt zu sehen steht vollkommen in der Macht unseres Willens, da wir dieselben zu diesem Zweck nur zu fixieren brauchen; alle Willkürlichkeit unserer Augenbewegungen besteht aber darin, daß wir den Fixationspunkt des Auges im Raume bestimmen. Schwieriger ist es, die auf den Seitenteilen der Netzhaut sich abbildenden Objekte zu beobachten, weil wir gewohnt sind, die Gegenstände, auf welche sich unsere Aufmerksamkeit richtet, zugleich zu fixieren, und umgekehrt alles was wir nicht direkt sehen, unbeachtet zu lassen. Beim indirekten Sehen muß man diese natürliche Verbindung von Aufmerksamkeit und Fixation der Objekte zu lösen suchen, indem man ein Objekt fixiert, während man gleichzeitig einem andern, das im Bereich des indirekten Sehens liegt, seine Aufmerksamkeit zuwendet. Vergleicht man nun auf diese Weise zwei Objekte von gleicher Beschaffenheit, z. B. zwei weiße Punkte auf schwarzem oder zwei schwarze auf weißem Grunde, so bemerkt man, daß der indirekt gesehene vom direkt gesehenen Punkt sich ähnlich unterscheidet, wie das Bild im nichtaccommodierten und im accommodierten Auge. Der indirekt gesehene Punkt erscheint verwaschen, der Unterschied seiner Helligkeit von derjenigen des Grundes ist vermindert. Größere Objekte können daher in Bezug auf ihre Form, Größe und Begrenzung im indirekten Sehen nur sehr undeutlich aufgefaßt werden, im allgemeinen viel undeutlicher als bei mangelnder Accommodation, bei der nur die Grenzlinien verwaschen erscheinen, während hier das Ganze getrübt, wie durch einen Schleier gesehen wird. Eine genauere Vergleichung des indirekten mit dem direkten Sehen läßt sich so ausführen, daß man zwei dunkle Fäden oder Punkte vor einem hellen Hintergrunde anbringt und deren Distanz allmählich vermindert, bis die Grenze erreicht ist, wo dieselben in einen Faden oder in einen Punkt zusammenzufließen scheinen. Statt dessen kann man auch die Distanz der Objekte ungeändert lassen, dagegen das Auge allmälig in so große Entfernung bringen, daß in Folge der abnehmenden Bildgröße auf der Netzhaut die Objekte verschmelzen9). Hierbei müssen die Objekte selbst immer größer genommen werden, auf je weiter seitlich gelegene Teile der Netzhaut man ihr Bild fallen läßt, damit dieselben noch wahrnehmbar seien. Man findet so, daß für ein geübtes Auge zwei um 1 Mm. von einander abstehende Linien in direktem Sehen erst in einer Entfernung von 2,5–3,5 Meter verschmelzen10). Dies entspricht einem Winkel der Richtungsstrahlen von ungefähr 90–60 Sekunden oder einer Bildgröße von 0,006–0,004 Mm. Durch längere Übung kann jedoch diese Grenzdistanz noch etwas vermindert werden.

7) Streng genommen existieren zwei Knotenpunkte, von denen bei der Einrichtung des Auges für unendliche Entfernung der erste durchschnittlich 0,7580, der zweite 0,3602 Mm. vor der Hinterfläche der Kristalllinse gelegen ist. Da aber hiernach die beiden Knotenpunkte einander sehr nahe liegen, so kann man denselben, für die meisten Zwecke mit ausreichender Genauigkeit, einen einzigen substituieren, welcher auch als Kreuzungspunkt der Richtungsstrahlen bezeichnet wird, und welchen man nach listing 0,4764 Mm. vor der Hinterfläche der Linse annimmt. Legt man zwei Knotenpunkte zu Grunde, so müssen jedem Richtungsstrahl zwei Linien substituiert werden, von denen die erste den Objektpunkt mit dem ersten Knotenpunkt verbindet und die zweite der ersten parallel vom zweiten Knotenpunkt zur Netzhaut geführt wird.

8) Vgl. Kap. VIII und Kap. IX.

9) Statt der Fäden, die man am zweckmäßigsten vertikal ausspannt, hat HELMHOLTZ für die Bestimmung der Genauigkeit des indirekten Sehens ein Drahtgitter angewandt, dessen einzelne Drähte eine Entfernung von 1,083 Mm. hatten; der Beobachter entfernte sich so weit, bis die einzelnen Drähte verschmolzen. (Helmholtz, physiol. Optik. S. 217.) Zur Messung der indirekten Sehschärfe verwendet man am besten nach dem Vorgang von AUBERT und FOERSTER zwei schwarze Kreisscheiben von mehreren Mm. Durchmesser, die man auf weißem Grund einander bis zum Verschmelzen nähert. (AUBERT, Physiologie der Netzhaut, S. 235 f.)

10) Meinem eigenen Auge verschmelzen Linien von 3,8 Mm. Breite und 1,083 Mm. Distanz in 2870 Mm. Entfernung, was einem Gesichtswinkel von 77,7'' entspricht. Nimmt man die Fäden feiner, so nimmt dadurch der Gesichtswinkel, unter welchem sie noch getrennt werden können, zu. VOLKMANN konnte daher sehr feine Spinnwebfäden erst unterscheiden, als ihr Gesichtswinkel 80,4–147,8" betrug. Die nämliche Regel fand AUBERT für anders geformte Objekte, z. B. Quadrate, bestätigt (Physiologie der Netzhaut, S. 228). Als Grund dieser Erscheinung muß wohl der Umstand angesehen werden, daß feinere Objekte sich minder deutlich von ihrem Hintergrund abheben.

Viel größere Zwischenräume müssen zwischen den Netzhautbildern zweier Objekte gelegen sein, wenn diese im indirekten Sehen von einander getrennt werden sollen. So fand AUBERT, daß zwei Quadraten, die aus 1 Meter Distanz betrachtet wurden, und deren jedes eine Seitenlänge von 2 Mm. hatte, im Netzhautbilde folgende gegenseitige Entfernungen gegeben werden mußten, wenn sie noch eben getrennt werden sollten11):

                Abstand der Bilder von der                     Gegenseitige Entfernung
                            Netzhautmitte                                         der Bilder
                                2° 40'                                                     3' 27"
                                3° 30'                                                     6' 53"
                                5°                                                         17' 11"
                                7°                                                         34' 22"
                                8° 30'                                                     1° 9'

11) Der Abstand der Bilder voll der Netzhautmitte ist durch den Winkel ausgedrückt, welchen der nach der fovea centralis gezogene Richtungsstrahl mit dem nach dem Mittelpunkt der indirekt gesehenen Objekte gezogenen einschließt, die gegenseitige Entfernung der Bilder durch den Winkel, den die beiden Richtungsstrahlen, welche nach den einander zugekehrten Grenzlinien der Objekte gezogen sind, mit einander bilden. AUBERT a. a. O. S. 248.

    Hieraus geht hervor, daß mit der Entfernung von der Netzhautmitte die Unterscheidungsfähigkeit rasch abnimmt12). Dies geschieht übrigens nach den verschiedenen Meridianen, die man sich durch die Netzhautmitte gelegt denken kann, mit etwas verschiedener Geschwindigkeit, und pflegen in dieser Beziehung sogar die beiden Augen eines und desselben Beobachters von einander abzuweichen: im allgemeinen ist der horizontale Netzhautmeridian in weiterem Umfang einer gewissen Schärfe der Unterscheidung fähig als der vertikale13). Außerdem bemerkt man beim indirekten in noch höherem Grade als beim direkten Sehen, daß sich die Unterscheidungsschärfe durch Übung vervollkommnet.

12) Doch ist die letztere im indirekten Sehen in noch etwas höherem Grade als im direkten von der Größe und Deutlichkeit der einzelnen Objekte, welche unterschieden werden sollen, abhängig. So können z. B. nach AUBERT nicht nur größere Quadrate noch in einer Distanz unterschieden werden, in der kleinere bereits zusammenfließen, sondern es sind auch Linien vor Quadraten, deren Seite gleich der Breite der Linien ist, bevorzugt. A. a. O. S. 248.

13) AUBERT, a. a. O. S. 246.

    Es liegt nahe, die bedeutenden Unterschiede, welche so die verschiedenen Stellen der Netzhaut in der Auffassung der auf ihnen entworfenen Bilder darbieten, mit den Strukturunterschieden in Zusammenhang zu bringen. In der Gegend des gelben Flecks sind als einzige perzipierende Elemente Zapfen zu finden, welche hier dicht gedrängt neben einander stehen, so daß der Zwischenraum zwischen zwei Zapfen sehr klein ist im Vergleich mit dem Querdurchmesser eines einzigen. Gegen die Seitenteile nehmen die Zapfen ab, es treten Stäbchen an deren Stelle, zwischen denen nun das nicht-nervöse Stützgewebe einen größern Raum einnimmt. Es kann hiernach die Schärfe der Unterscheidung auf zweierlei Strukturbedingungen zurückgeführt werden, welche in der Tat wahrscheinlich beide von Einfluß sind: 1) auf die dichter gedrängte Lage der perzipierenden Elemente in der Gegend des Netzhautzentrums, und 2) auf die verschiedene Beschaffenheit der Elemente selber. Da aus jedem Zapfen mehrere Nervenfasern hervorkommen, während ein Stäbchen immer nur eine einzige entsendet14), so wird man zugeben müssen, daß möglicher Weise im Gebiet eines einzigen Zapfens eine räumliche Unterscheidung geschehen kann. In der Tat scheinen hierauf Versuche von volkmann hinzudeuten, nach welchen wir unter geeigneten Umständen sogar noch Größenunterschiede wahrnehmen, welche einem Netzhautbilde von 0,0007 Mm. entsprechen. Da nun nach den Messungen von H. müller und M. schultze der Durchmesser eines Zapfenquerschnitts immer mindestens 0,0015–0,0025 Mm. beträgt, so würden Unterschiede, die nur 1/21/3 eines Zapfendurchmessers ausmachen, noch aufgefaßt werden können15). Anderseits ist es zweifellos, daß bei ungeübten Augen und schwer erkennbaren Objekten, wo die kleinsten Unterschiede im Netzhautbild einen Winkel von 150" erreichen, stets mehrere Zapfen zwischen den unterschiedenen Bildpunkten gelegen sein müssen. Hiernach läßt sich nicht wohl annehmen, daß die Auffassung räumlicher Unterschiede im direkten Sehen durch den Durchmesser der Zapfen unveränderlich bestimmt sei. Doch scheint dieser allerdings, wie die Ermittelungen der verschiedensten Beobachter zeigen, in der Regel die Grenze der Unterscheidungsfähigkeit annähernd zu bezeichnen16). Das Sinken der letzteren auf den Seitenteilen der Netzhaut erklärt sich daher hauptsächlich durch die Überhandnahme des zwischen den perzipierenden Elementen gelegenen interstitiellen Gewebes. Die zahllosen kleinen Lücken, welche hierdurch die Mosaik empfindender Elemente durchbrechen, werden aber nicht etwa als Lücken im Sehfelde wahrgenommen, sondern über jede erstreckt sich die Empfindung der Elemente, zwischen welchen sie gelegen ist; sie vermindern also nur nach Maßgabe ihrer Größe die Schärfe der Auffassung.

14) Vergl. Kap.IX.
15) Volkmann, physiologische Untersuchungen im Gebiete der Optik I, S. 65 f.

16) Insofern die Netzhautgrube eine gewisse Ausdehnung besitzt, werden übrigens auch in ihr schon Unterschiede der Unterscheidungsfähigkeit vorkommen. Hierauf dürfte in der Tat die von BERGMANN (Zeitschr. f. rat. Med. 3. R. II, S. 88) und HELMHOLTZ (physiol. Optik S. 217) beobachtete Erscheinung hindeuten, daß man ein Gitter aus schwarzen Stäben, wenn es der Entfernung sich nähert, wo die Unterscheidbarkeit aufhört, zuweilen wie ein schachbrettartiges Muster aussieht, indem einzelne Teile der Stäbe schon zusammenfließen, während andere noch getrennt werden.

    In dieser Beziehung gleicht ihnen jene große Lücke im Sehfelde der Netzhaut, die der Eintrittsstelle des Sehnerven entspricht, der blinde Fleck. Diese Stelle, an der die Stäbchen und Zapfen sowie alle andern nervösen Elemente mit Ausnahme der Opticusfasern vollständig fehlen, hat einen ungefähren Durchmesser von 6° oder 1,5 Mm., und ihre Mitte liegt etwa 15° oder 4 Mm. gerade nach innen vom Zentrum des gelben Flecks entfernt17). Wegen der umgekehrten Lage des Netzhautbildes werden daher Objekte, die in der entsprechenden Entfernung nach außen vom Fixationspunkte liegen, nicht wahrgenommen, sobald sie in das Bereich des blinden Flecks fallen. Fixiert man z. B., während das rechte Auge geschlossen ist, mit dem linken das Kreuzchen in Fig. 101, und hält das Buch in etwa 1 Fuß Entfernung, so verschwindet der Kreis vollständig. Sobald man nur um weniges das Auge näher oder ferner bringt, so taucht derselbe wieder auf. Hierbei werden aber meistens nicht etwa bloß diejenigen Teile des letzteren gesehen, die eben aus dem Bereich des blinden Flecks heraustreten, sondern man glaubt plötzlich den ganzen Kreis wieder wahrzunehmen. E. H. weber hat bemerkt, daß, wenn man eine regelmäßige Figur, z. B. eine Kreislinie, in der an einer Stelle eine Lücke geblieben ist, im indirekten Sehen betrachtet, man die vollständige Kreislinie zu sehen glaubt, sobald die Lücke in den blinden Fleck fällt18). Ähnlich glaubt man, wenn man Druckschrift betrachtet, auch die Stelle des blinden Flecks mit solcher ausgefüllt zu sehen, selbst wenn dieselbe absichtlich mit einem weißen Papier bedeckt wurde. Allerdings ist bei diesen Versuchen die Wahrnehmung noch unsicherer, als sonst im indirekten Sehen. Man ist also natürlich niemals im Stande bestimmte Buchstaben zu erkennen, die im Gebiet des blinden Flecks zu liegen scheinen, und auch bei der Wahrnehmung regelmäßiger Figuren, die teilweise in das Bereich desselben fallen, findet sich eine eigentümliche Unsicherheit, die bei angestrengter Aufmerksamkeit nicht, wie sonst im indirekten Sehen, abnimmt sondern größer wird. Aber die Tatsache, daß wir die durch den blinden Fleck in unserm Sehfeld vorhandene Lücke im allgemeinen mit den Empfindungen der in ihrer Umgebung gereizten Netzhautpunkte ausfüllen, läßt sich deshalb doch nicht bestreiten19). In dieser Hinsicht verhält sich also der blinde Fleck vollständig analog jenen kleineren Lücken im Sehfelde, welche von der spärlicheren Anordnung der empfindenden Elemente herrühren.

17) Genauere Maßangaben siehe bei Helmholtz, physiolog. Optik S. 212, und AUBERT, Physiologie der Netzhaut S. 258.
18 E. H. Weber, Sitzungsber. der Leipz. Ges. der Wissensch. 1853. S. 149. VOLKMANN, ebend. S. 27. v. Wittich, Archiv f. Ophthalmologie, IX, 3. S. 9.

19) AUBERT (Physiologie der Netzhaut S. 257), dem sich auch Helmholtz (physiol. Optik S. 575; anschließt, hat gegen diese Ausfüllung des blinden Flecks bemerkt, es sei ihm bei aufmerksamster Beobachtung überhaupt unmöglich, irgend etwas über die Teile der Objekte, die auf den blinden Fleck fallen, auszusagen. Helmholtz berichtet, er habe anfangs ebenfalls in der Weise, wie es weber beschreibt, die Ergänzung der Objekte zu sehen geglaubt, sich aber nach anhaltender Übung überzeugt, daß er mit der Stelle des blinden Flecks in der Tat nichts sehe, und er bringt daher diese in vollständige Analogie mit derjenigen Lücke des Sehfeldes, die sich hinter unserm Rücken befindet (a. a. O. S. 577). Aber es scheint mir, daß man hier die Resultate, welche sich bei fortgesetzter Aufmerksamkeit auf die blinde Stelle ergeben, nicht gegen die Erscheinungen, die das natürliche, im Fixieren wohlgeübte Auge wahrnimmt, in's Feld führen darf. Bei fortgesetzten Versuchen dieser Art ergibt sich nämlich, indem man mit den sonstigen Wahrnehmungen im indirekten Sehen vergleicht, eine steigende Unsicherheit, welche namentlich in solchen Fällen sich äußert, wo der Versuch an und für sich eine Zweideutigkeit einschließt, wie z. B. wenn eine rote und gelbe Linie im blinden Fleck sich kreuzen, wo man unmöglich darüber in's Reine kommen kann, ob Rot oder Gelb oben aufliegt. Selbst darüber, ob eine einfache Linie durch die blinde Stelle sich fortsetzt, kann man schließlich in Ungewißheit kommen; niemals greift diese aber dann Platz, wenn das ganze Sehfeld oder ein großer Teil desselben gleichförmig ausgefüllt ist. Beim Anblicke einer gleichfarbigen Fläche wird man also niemals im Zweifel sein, ob auch der blinde Fleck an der Färbung teilnehme, und hierin unterscheidet sich derselbe denn doch wesentlich von dem Gesichtsfeld hinter unserm Rücken. Ähnlich verhalten sich Druckschriften oder sonst gleichförmige Muster, wo man zwar die im Bereich des blinden Flecks liegenden Buchstaben oder Teile des Musters nur unbestimmt sieht, ohne daß man sich jedoch von der Vorstellung einer gleichförmigen Erfüllung des Sehfeldes losmachen kann.

    Die Erscheinungen des indirekten Sehens sowie die Beobachtungen über den blinden Fleck lehren, daß das empfundene Netzhautbild noch weit größere Ungenauigkeiten darbietet als das auf der Netzhautfläche entworfene, welches von dem objektiven Beobachter wahrgenommen werden kann. Jenes subjektive Netzhautbild, welches uns allein zur Auffassung der Außenwelt dient, ist nur an der Stelle der Netzhautgrube ziemlich genau; seitlich davon wird es immer verwaschener, und an einer Stelle, der des blinden Flecks, ist es in ziemlich weitem Umfange ganz unterbrochen. Wenn diese Ungenauigkeiten wenig unsere Wahrnehmung stören, so verdanken wir dies in erster Linie den nachher zu schildernden Bewegungen des Auges, bei denen wir diejenigen Gegenstände, denen sich unsere Aufmerksamkeit zuwendet, sukzessiv fixieren, so daß sie auf jener Stelle des schärfsten Sehens sich abbilden. Von wesentlicher Bedeutung ist aber außerdem die soeben hervorgehobene Ausfüllung der nicht reizbaren Stellen mit den Empfindungen, welche von den zwischen ihnen gelegenen reizbaren Elementen ausgehen. Obgleich in unserer Netzhaut die empfindenden Elemente mosaikartig angeordnet und stellenweise weit durch nicht-empfindende Teile getrennt sind, so erscheint uns doch unser Sehfeld in ununterbrochenem Zusammenhang. Aus dieser Erfahrung folgt notwendig, daß unsere Lichtempfindung nicht unmittelbar schon die räumliche Form besitzen kann. Wäre letzteres der Fall, so müßten die nicht reizbaren Stellen der Netzhaut entweder als Lücken im Sehfelde wahrgenommen werden, oder bei der räumlichen Auffassung der Gesichtsobjekte ganz außer Betracht bleiben. Daß ersteres nicht geschieht, lehrt, wie gesagt, die unmittelbare Erfahrung. Dagegen ist letzteres zuweilen behauptet worden. Hierbei übertrug man die Annahme von Empfindungskreisen in dem früher besprochenen Sinne vom Tastorgan auf das Auge, indem man jeden Empfindungskreis als äquivalent einem äußeren Raumpunkt betrachtete; die kleinste erkennbare Distanz sollte dann ebenfalls überall dieselbe Raumgröße darstellen. Aber wie im Gebiete des Tastsinns, so widerspricht auch beim Auge die Erfahrung durchaus jener Annahme20). Wir sind weit entfernt, die Distanzen je zweier Linien, die im direkten und im indirekten Sehen noch eben unterschieden werden können, für gleich zu halten, vielmehr erkennen wir deutlich die indirekt gesehene als größer an, ja wir sprechen ihr annähernd dieselbe Größe wie bei direkter Fixation zu. Ebenso erscheinen uns zwei gleich große Kreisflächen im direkten und indirekten Sehen ungefähr gleich groß, während doch die indirekt gesehene viel kleiner erscheinen müßte, wenn wirklich jedes empfindende Element einem Raumpunkte äquivalent wäre, alle nicht empfindenden Teile aber in der Anschauung ignoriert würden. Ganz dem entspricht es endlich, wenn wir die Ränder des blinden Flecks nicht im Sehfelde aneinander rücken, sondern diesen Fleck mit der Empfindung der ihn umgebenden Elemente ausfüllen 21). —

20) Vergl. Kap. XII.
21) Das einzige Argument, das zu Gunsten der Annahme fester, in der Empfindung gegebener Raumeinheiten beigebracht werden kann, besteht darin, daß bei der Vergleichung bestimmter Distanzen mit Teilen von verschiedener Unterscheidungsschärfe Abweichungen zu Gunsten des schärfer empfindenden Teils vorzukommen pflegen, so also daß dieser eine bestimmte Entfernung größer schätzt. Aber die Erfahrungen, die hierher gehören, sind fast nur dem Tastsinne entnommen. Beim Auge vermag ich, ebenso wenig wie AUBERT und HELMHOLTZ, mit Bestimmtheit zu erkennen, ob ein und dasselbe Objekt im direkten und indirekten Sehen verglichen Größenunterschiede zeigt; jedenfalls sind dieselben so unbedeutend, daß sie gegen die sonstige Ungenauigkeit des indirekten Sehens zurücktreten. Es soll damit nicht geleugnet werden, daß für manche Augen auch hier Differenzen der Größenschätzung, ähnlich wie sie am Tastorgane vorkommen, wahrnehmbar sind. Das Aneinanderdrücken der Gesichtsobjekte, welches einige Beobachter zuweilen an den Rändern des blinden Flecks sahen, durch welches übrigens immer nur ein kleiner Teil des letztern zum Verschwinden kommt, gehört wohl ebenfalls hierher. Alle diese Erscheinungen bezeugen zwar, daß die Zahl empfindender Elemente, welche von einem Eindruck getroffen wird, auf die Schätzung der Größe desselben einen gewissen Einfluß besitzt, doch sie beweisen zugleich, daß dieser Einfluß sehr unbedeutend, ja in manchen Fällen verschwindend klein ist. Dies spricht aber durchaus gegen die Ansicht, daß die Zahl der gereizten Punkte das primär bestimmende Moment der räumlichen Größenauffassung sei.

    Das Bild im ruhenden Auge kann, wie oben bemerkt wurde, außer durch seine Bewegung auf der Netzhautfläche, auch dadurch Veränderungen erfahren, daß vor dem gesehenen Objekte ein zweites auftaucht, durch welches das erste verdeckt wird. Angenommen, die beiden Objekte seien punktförmig, so wird, wenn das Auge sich auf den zweiten Punkt akkommodiert, der Zerstreuungskreis des ersten Punktes, auf welchen es nicht mehr accommodiert ist, von allen Seiten den zweiten umgeben. Nun wird der in das Auge fallende Lichtkegel durch die als Blendung wirkende Iris begrenzt: der Zerstreuungskreis hat daher die Form der Pupille, und die Mitte desselben, welche bei accommodiertem Auge den Bildpunkt abgibt, entspricht gleichzeitig dem Mittelpunkt der Pupille. Wird daher ein ferner Punkt so durch einen näheren verdeckt, daß jener nur noch im Zerstreuungskreise gesehen werden kann, so müssen offenbar beide Punkte in einer Linie liegen, die durch den Bildpunkt auf der Netzhaut und den Mittelpunkt der Pupille gelegt ist. In der gleichen Richtung müssen wir aber die Punkte nach außen verlegen. Aus diesem Grunde nennt man die genannte Linie eine Visierlinie. Alle in einer Visierlinie gelegenen Punkte decken sich im Netzhautbilde mit den Mittelpunkten ihrer Zerstreuungskreise. Diejenige Visierlinie, welche vom Netzhautzentrum ausgeht, nennen wir die Hauptvisierlinie; sie fällt mit der Gesichtslinie, dem Hauptrichtungsstrahl, so nahe zusammen, daß der Unterschied für die meisten Zwecke vernachlässigt werden kann. Den Mittelpunkt der Pupille, in welchem sich alle Visierlinien schneiden, nennt man auch den Kreuzungspunkt der Visierlinien. Derselbe ist, wie man hieraus sieht, von dem Kreuzungspunkt der Richtungsstrahlen verschieden. Wahrend durch die Richtungsstrahlen die Lage und Größe des Bildes auf unserer Netzhaut, wird durch die Visierlinien die Richtung bestimmt, in welcher wir jenes Bild nach außen verlegen. Die Grenzpunkte eines Objekts a b (Fig. 102), das ein Bild a b auf der Netzhaut entwirft, sehen wir also nicht bei a und b, sondern bei a' und b', gemäß der Richtung der Visierlinien. Für ferne Objekte fallen übrigens die Richtungsstrahlen und die Visierlinien so nahe zusammen, daß der Unterschied vernachlässigt werden kann. Den Winkel a' v b', welchen die von den Grenzpunkten des Netzhautbildes gezogenen Visierlinien mit einander bilden, nennt man den Gesichtswinkel22). Er ist für uns im allgemeinen das Maß der Größe eines Gegenstandes. Denn Objekten, die unter gleichem Gesichtswinkel gesehen werden, entsprechen Netzhautbilder von gleicher Größe. Die Erfahrung lehrt nun aber, daß wir trotzdem keineswegs alle Objekte von gleichem Gesichtswinkel für gleich groß halten. Vielmehr erscheint uns von verschiedenen Objekten mit gleichem Gesichtswinkel dasjenige größer, welches wir in weitere Entfernung verlegen. Wird z. B. dasselbe Netzhautbild a b (Fig. 102) zuerst nach a' b' und dann nach a" b" verlegt, so erscheint es im ersten Fall kleiner, im zweiten größer als das wirkliche Objekt a b. Die Vorstellung der Größe setzt also außer dem Gesichtswinkel die Hilfsvorstellung der Entfernung des Gegenstandes voraus. Zur Gewinnung der letzteren steht aber dem visierenden Auge nur ein sehr unsicheres Mittel zu Gebote, die Accommodation. Indem wir sukzessiv für Gegenstände von verschiedener Entfernung accommodieren, können wir einigermaßen den näheren von dem ferneren unterscheiden. Aber erstens besitzen wir dieses Hilfsmittel nur innerhalb der Accommodationsgrenzen, und zweitens ist dasselbe sehr mangelhaft, wie daraus hervorgeht, daß das bloß auf seine Accommodation angewiesene Auge Entfernungsunterschiede viel unvollkommener als das ohne solche Beschränkung funktionierende Sehorgan auffaßt23).

22) Häufig ist mit diesem Namen auch der Winkel a k b, welchen die zu den Grenzpunkten des Objektes gezogenen Richtungsstrahlen mit einander bilden, bezeichnet worden. Beide Winkel sind natürlich, namentlich für ferne Objekte, so wenig verschieden, daß ihr Unterschied nicht in Betracht kommt. Da man aber den Gesichtswinkel durch Visieren zu bestimmen und als Grundelement der Größenvorstellung zu betrachten pflegt, so ist es angemessen , darunter den Winkel der Visierlinien zu verstehen. Wo im obigen der Gesichtswinkel im älteren Sinne zur Anwendung kommt, z. B. bei der Messung der kleinsten erkennbaren Distanzen oder kleinsten Bildgrößen auf der Netzhaut, haben wir ihn darum meistens ausdrücklich als Winkel der Richtungsstrahlen bezeichnet. Auf die Messung des letzteren kommt es natürlich überall da an, wo es sich darum handelt, zu einem Objekt von gegebener Größe das Netzhautbild zu finden, der Gesichtswinkel im eigentlichen Sinne steht dagegen in Frage, wo umgekehrt zu einem gegebenen Netzhautbild die scheinbare Lage und Größe des äußern Gegenstandes gefunden werden soll.

23) Um den Einfluß der Akkommodation auf das Entfernungsgefühl zu bestimmen, brachte ich vor einem gleichförmig weißen Hintergrunde in verschiedenen Distanzen einen schwarzen Faden an, auf welchen das Auge durch eine innen geschwärzte Röhre blickte. (Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, S. 105 f.) Es zeigte sich, daß, wie zu erwarten, überhaupt nur innerhalb der Accommodationsgrenzen ein richtiges Urteil über Annäherung und Entfernung möglich war. Dabei war das Gefühl für die Annäherung feiner, was offenbar damit zusammenhängt, daß nur von fern auf nah eine aktive Accommodationsanstrengung staltfindet. Folgendes sind die Zahlen einer so gewonnenen Versuchsreihe.

Unterscheidungsgrenze für Entfernung                             Annäherung             Entfernung
250 cm                                             12                                 12
220 cm                                             10                                 12
200 cm                                               8                                 12
180 cm                                               8                                 12
100 cm                                               8                                 11
  80 cm                                               5                                   7
  50 cm                                               4,5                                6,5
  40 cm                                               4,5                                4,5
Das untersuchte Auge hatte ein beschränktes Akkommodationsvermögen: sein Fernpunkt lag 230, sein Nahepunkt 40 cm entfernt. Die hier gefundenen Grenzwerte der Unterscheidung sind nun außerordentlich groß, wenn man sie mit denjenigen vergleicht, welche die andern Hilfsmittel der Entfernungsschätzung, z. B. die Konvergenz der Gesichtslinien, die stereoskopische Verschiedenheit der beiden Netzhautbilder, zulassen. (Siehe hierüber weiter unten.)

    Die Fläche, in welche das ruhende Auge alle gleichzeitig sichtbaren Punkte in der Richtung der Visierlinien verlegt, nennen wir das Sehfeld des ruhenden Auges. In ihm wird der Abstand der einzelnen Punkte von einander durch den Gesichtswinkel bemessen. Aber da die Entfernung, in welche sich die einzelne Visierlinie erstreckt, unbestimmt bleibt, so ist dieses Sehfeld an sich eine Fläche von unbestimmter Form, welche nur nach den Seiten hin wegen der abnehmenden Empfindlichkeit der Netzhaut bestimmte Grenzen hat. Diese Grenzen sind, von der den gelben Fleck mit der Mitte der Pupille verbindenden Hauptvisierlinie an gerechnet, nach den Messungen von aubert und FOERSTER:
                                                    nach außen 90°             nach oben 40°
                                                    nach innen 50°              nach unten 65°
Die Stelle des deutlichsten Sehens liegt demnach nicht vollständig in der Mitte des Gesichtsfeldes, sondern nach innen und oben von derselben; dagegen nimmt der blinde Fleck ziemlich genau die Mitte ein. Nach innen wird der Umfang des Sehfeldes durch die vortretende Nase beschränkt24).

24) AUBERT, Physiologie der Netzhaut. S. 234.

    Obgleich die bisher besprochenen Eigenschaften des ruhenden Auges zweifellos wesentliche Hilfsmittel der Gesichtsvorstellung in sich schließen, so sind sie doch für sich allein genommen nicht genügend, dieselbe zu vermitteln. Weder enthält die Lage des optischen Bildes auf der Netzhaut noch die Richtung der Visierlinien, die wir aus der Verbindung sich deckender Punkte im Sehfelde gewinnen, hierfür zureichende Motive. Denn das empfundene Netzhautbild, wenn wir damit die Mosaik von Lichtempfindungen bezeichnen dürfen, welche aus der Erregung der einzelnen reizbaren Netzhautelemente entsteht, ist durchaus verschieden von demjenigen Bild des Gegenstandes, welches unsere Vorstellung in den äußeren Raum zeichnet. Die letztere füllt die Lücken des empfundenen Bildes aus, und sie übersieht großenteils die Ungenauigkeiten desselben in den peripherischen Teilen des Sehfelds. Der Gesichtswinkel aber ist nur ein Element der räumlichen Größenvorstellung, welches für sich genommen wirkungslos bleibt. Alles dies weist darauf hin, daß unsere Vorstellung weiterer Hilfsmittel bedarf, welche vor allem in der Bewegung des Auges gegeben sind.
    Die Bewegungen des Auges sind im allgemeinen Drehungen um einen in der Augenhöhle fest liegenden Punkt. Dislokationen des Augapfels, durch die Auspolsterung der Augenhöhle mit Fett, Bindegewebe und anderen schwer komprimierbaren Massen erschwert, können nur ausnahmsweise stattfinden, so daß sie bei den normalen Bewegungen außer Betracht bleiben. Der Drehpunkt des Auges liegt nach den Messungen von donders 13,54 Mm. hinter dem Hornhautscheitel, demnach etwa 1,29 Mm. hinter der Mitte der vom Hornhautscheitel durch den Knotenpunkt gelegten optischen Augenachse25). Die Drehungen um diesen Punkt werden durch sechs Muskeln bewerkstelligt, von denen je zwei, welche als Antagonisten wirken, ein Muskelpaar bilden. Die drei Muskelpaare, welche man auf diese Weise unterscheidet, sind: der äußere und innere gerade Muskel (Rectus externus und internus), der obere und untere gerade Muskel (Rectus superior und inferior), und der obere und untere schräge Muskel (Obliquus superior und inferior). Das erste dieser Muskelpaare, gebildet durch den äußeren und inneren geraden Muskel (re, rit Fig. 103), liegt nahezu in der durch den Drehpunkt des Auges gelegten Horizontalebene26). Beide Muskeln zeigen eine genaue Symmetrie der Lage und darum auch der Wirkung. Die Achse, um welche dieselben für sich das Auge drehen würden, steht im Drehpunkt auf der annähernd horizontalen Muskelebene senkrecht. Der äußere dreht um diese Achse den Augapfel nach außen, der innere nach innen; dabei behält der durch die Netzhaut gelegte horizontale Meridian, den wir, da er noch öfter zur Feststellung der Orientierung des Auges Verwendung findet, kurz den Netzhauthorizont nennen wollen, seine horizontale Richtung bei. Der obere und untere gerade Muskel (rs, rif Fig. 104), welche zusammen das zweite Muskelpaar bilden, liegen ebenfalls fast vollkommen in einer Ebene, also annähernd wieder symmetrisch, aber diese Ebene hat eine schräge Lage, indem der Ansatz der Muskeln am Augapfel weiter nach außen gelegen ist als ihr Ursprung am Rande des Sehnervenlochs (rs Fig. 103). Ihre Drehungsachse fällt darum nicht mit der durch den Drehpunkt gelegten Horizontallinie zusammen, sondern weicht von derselben um ungefähr 30° ab (Fig. 105)27). Demnach behält auch der Netzhauthorizont, während der obere Muskel das Auge nach oben, der untere nach unten dreht, seine Lage nicht bei, sondern er wird gleichzeitig gegen die Horizontalebene gedreht, so daß er mit seiner schläfenwärts gerichteten Hälfte sich im ersten Fall über den Horizont erhebt, im zweiten Fall unter denselben sinkt. Eine solche Drehung, bei der die Gesichtslinie (gg' Fig. 105) als fest bleibende Achse erscheint, bezeichnet man nun als Rollung oder Raddrehung des Auges, und der Winkel, welchen dabei der Netzhauthorizont mit seiner ursprünglichen horizontalen Lage bildet, ist der Rollungs- oder Raddrehungswinkel. Denken wir uns also den oberen oder unteren geraden Muskel allein wirksam, so würde mit der Hebung und Senkung des Augapfels, die sie bewirken, immer zugleich eine Rollung desselben verbunden sein. Am meisten weicht endlich die Lage der beiden schrägen Muskeln ab (os, oi). Die Drehungsachse derselben bildet nämlich ungefähr einen Winkel von 52° mit der durch den Drehpunkt gelegten Horizontallinie28), liegt also von dieser weiter entfernt als von der gerade nach vorn gerichteten Gesichtslinie, mit der sie nur einen Winkel von etwa 38° einschließt (Fig. 105). Beide Muskeln unterscheiden sich ferner dadurch, daß derjenige Ursprungspunkt des oberen schiefen Muskels, der für seine Wirkung allein in Betracht kommt, nämlich die Stelle, wo derselbe über seine Rolle gleitet (u Fig. 103), nach vorn vom Ansatzpunkt seiner Sehne am Augapfel gelegen ist; ebenso entspringt der untere schiefe Muskel an einer nach vorne liegenden Stelle des Bodens der Augenhöhle (oi Fig. 104). Bei den schrägen Muskeln ist also das Verhältnis der Ursprungs- und Ansatzpunkte genau das umgekehrte wie bei den geraden. In Folge dessen verhalten sie sich auch in Bezug auf die Hebung und Senkung des Augapfels entgegengesetzt den entsprechend gelagerten geraden Muskeln: der Obliquus superior senkt das Auge, und der Obliquus inferior hebt dasselbe. Dabei dreht zugleich der erstere den Netzhauthorizont im selben Sinne wie der obere gerade, der zweite im selben Sinne wie der untere gerade Muskel. Demnach läßt sich das Verhältnis der Obliqui zu dem oberen und unteren geraden Muskel kurz so sich feststellen: der Obliquus superior unterstützt den Rectus inferior bei der Senkung der Gesichtslinie, aber er wirkt ihm entgegen in Bezug auf jene Rollung des Auges um die Gesichtslinie, welche sich an der Schrägstellung des Netzhauthorizonts zu erkennen gibt; der Obliquus inferior unterstützt den Rectus superior bei der Hebung des Auges, aber er wirkt ihm entgegen bei der Rollung um die Gesichtslinie. Man übersieht diese Verhältnisse am einfachsten, wenn man auf einem durch den Drehpunkt m (Fig. 105) gehenden Horizontalschnitt des Augapfels die Drehungsachsen der zwei bei der Hebung und Senkung wirkenden Muskelpaare zeichnet. Die Drehungsachse des äußern und innern geraden Muskels muß man sich als eine auf der Ebene des Papiers im Drehpunkt senkrecht stehende Linie denken. Von den beiden andern Drehungsachsen kann man annehmen, daß sie vollständig innerhalb der Horizontalebene liegen, da in Wirklichkeit ihre Abweichung von derselben nur wenige Winkelgrade beträgt 29). Nennt man diejenige Hälfte einer jeden Drehungsachse, in Bezug auf welche bei der Kontraktion eines bestimmten Muskels die Drehung im Sinne des Uhrzeigers stattfindet, die Halbachse des betreffenden Muskels, so ist mrs die Halbachse für den Rectus superior, mri für den Rectus inferior, mos ist die Halbachse für den Obliquus superior, moi für den Obliquus inferior. Für den Rectus internus liegt die Halbachse über, für den externus unter der Papierebene. Die, Lageänderung, die jeder einzelne Muskel durch Drehung um seine Halbachse zu Stande bringt, läßt sich nun durch die Fig. 106 veranschaulichen. Man denke sich das linke Auge so vor die Ebene des Papiers gehalten, daß es den Mittelpunkt der Figur fixiert, und daß die Entfernung des Drehpunktes von demselben gleich der Lange der Linie dd ist, so werden durch die in jenem Mittelpunkt sich kreuzenden Linien die Bahnen dargestellt, in welchen jeder einzelne Muskel; wenn er eine Drehung von 10,20 bis 50° um seine Halbachse bewirkt, die Gesichtslinie bewegen muß. Durch den am Ende jeder Bahn angebrachten dickeren Strich ist zugleich die in Folge der Drehung eingetretene Lage des Netzhauthorizontes angedeutet. Aus dieser Darstellung geht unmittelbar hervor, daß, um von der Anfangsstellung aus das Auge gerade nach außen oder innen zu bewegen, die Wirkung eines einzigen Muskels, des Rectus externus oder internus genügt30). Anders ist dies bei den Bewegungen nach oben und unten. Kein einziger Muskel vermag, wie man sieht, den Augapfel geradlinig zu heben oder geradlinig zu senken. Dagegen kann dies durch die Kombination der zwei entsprechend wirkenden Muskeln erreicht werden. Der Rectus superior und Obliquus inferior werden, da die Bogen, in welchen sie die Gesichtslinie drehen, in entgegengesetztem Sinne verlaufen, bei geeigneter Kompensation der Muskelkräfte eine geradlinige Bahn hervorbringen können; ebenso bei Senkung des Auges der Rectus inferior und Obliquus superior. Dabei werden zugleich die Drehungen des Netzhauthorizonts sich ganz oder teilweise kompensieren, so daß das Auge in ähnlicher Weise wie bei den Bewegungen nach außen und innen seine ursprüngliche Orientierung behalten kann. Bewegt sich die Gesichtslinie in schräger Richtung, z. B. von der Anfangsstellung aus nach innen und oben, so kann man eine solche Drehung in jedem Momente aus einer Bewegung nach innen und aus einer solchen nach oben zusammengesetzt denken. Demnach werden hier nicht zwei sondern drei Muskeln beteiligt sein, nämlich der Rectus internus als Einwärtswender, der Rectus superior und Obliquus inferior als Heber des Augapfels. In ähnlicher Weise ist bei den Drehungen nach außen und oben der Rectus externus mit den zwei eben genannten Muskeln, bei den in schräger Richtung abwärts gehenden Bewegungen jedesmal der Rectus inferior und Obliquus superior mit dem betreffenden äußeren und inneren geraden Muskel wirksam.

25) Nach Volkmann's Messungen liegt der Drehpunkt 11,18 Mm. hinter der Mitte der Pupille (Sitzungsber. der sächs. Ges. 1869, S. 36), ein Resultat, welches mit dem von DONDERS erhaltenen sehr gut übereinstimmt, da der Abstand des Hornhautscheitels von der Pupillenmitte etwa 2,36 Mm. beträgt.

26) Die Ursprungspunkte beider Muskeln liegen übrigens bei vollkommen horizontaler Haltung des Kopfes ein wenig höher als die Ansatzpunkte, nach VOLKMANN'S Messungen um 0,6 Mm. Daraus folgt, daß die Muskelebene mit ihrem vordern Ende etwas unter die Horizontalebene geneigt ist.

27) So nach den neueren Bestimmungen von VOLKMANN (a. a. O. S. 56), während die älteren Messungen von RUETE (ein neues Ophthalmotrop S. 36) nur eine Abweichung von 19° ergaben.

28) Nach den in dieser Beziehung übereinstimmenden Messungen von Ruete und Volkmann.

29) Genauer ergeben sich die Lageverhältnisse der sechs Augenmuskeln aus der folgenden nach Volkmann's Messungen entworfenen Tabelle (a. a. O. S. 52), in welcher die Ursprungs- und Ansalzpunkte der Muskeln durch ein System rechtwinkliger Koordinaten bestimmt sind, die sich im Drehpunkte kreuzen. Die x-Achse liegt horizontal, die z-Achse vertikal, und die y-Achse fällt mit der Gesichtslinie zusammen: die Richtung der positiven x geht nach außen, der positiven y nach hinten, der positiven z nach oben; die Zahlen bedeuten Millimeter.
 
 
Ursprünge
Ansätze
Muskeln
x
y
z
x
y
z
Rectus superior ....
—16
31,76
3,6
0,0
—7,63
10,48
Rectus inferior ....
—16
31,76
— 2,4
0,0
—8,02
—10,24
Rectus externus ....
—13
34,0
0,6
10,08
—6,50
0,0
Rectus internus ....
—17
30,0
0,6
—9,65
—8,84
0,0
Obliquus superior ...
—15,27
— 8,24
12,25
2,90
4,41
11,05
Obliquus inferior . . .
—11,10
—11,34
—15,46
8,71
7,18
0,0

Wir fügen diesen Zahlen sogleich die von volkmann ermittelten Werte der Länge und des Querschnitts der einzelnen Augenmuskeln hinzu, da dieselben für die Beurteilung der Muskelleistungen von Bedeutung sind. Die direkt gemessenen Längen sind in Mm., die durch Division des Volums mit der Länge berechneten Querschnitte in ô Mm. angegeben (a. a. O. S. 57).

        Rectus sup.         Rectus inf.         Rectus ext.         Reclus int.         Obliquus sup.         Obliquus inf. Länge             41,8                         40,0                     40,6                     40,8                         32,2                             34,5             Querschnitt   11,34                         15,85                  16,73                   17,39                         8,36                              7,89

30) Da in Folge der hierdurch hervorgebrachten Lageänderung des Augapfels auch die Ansatzpunkte der andern Muskeln Verschiebungen erfahren, beziehungsweise diese Muskeln sich verkürzen oder verlängern müssen, so werden allerdings bei den oben genannten Bewegungen außer dem Hauptmuskel immer auch noch andere contrahiert sein; doch kann hier von allen jenen Lageänderungen, welche auf die Drehung des Augapfels nicht von direktem Einflusse sind, abgesehen werden, da sie jedenfalls sehr unbedeutend sind und nur bei der Erwägung der Bewegungswiderstände einigermaßen in's Gewicht fallen.

    Die Frage, wie bei allen diesen Bewegungen des Auges die Kräfte der einzelnen Augenmuskeln zusammenwirken, läßt auf die einfachste Weise sich prüfen, indem man die jedesmalige Stellung des Netzhauthorizontes ermittelt. Findet man z. B., daß bei der Drehung nach oben und unten der Netzhauthorizont keine Drehung erfährt, so wird man daraus schließen dürfen, daß die auf- und abwärts drehenden Muskeln in der Weise, wie es oben als möglich vorausgesetzt wurde, wirklich sich kompensieren. Die unmittelbarste Methode aber, um sich über etwaige Richtungsänderungen des Netzhauthorizontes zu unterrichten, besteht darin, daß man durch längeres Fixieren einer horizontalen farbigen Linie ein komplementäres Nachbild hervorbringt, das auf eine ebene Wand entworfen wird, und dessen Richtungsänderungen bei der Bewegung des Auges nun unmittelbar über die Richtungsänderungen des Netzhauthorizontes Aufschluß geben. Bei der Ausführung dieses Versuchs findet man, daß es eine bestimmte Ausgangsstellung gibt, von welcher an das ursprünglich horizontale Nachbild nicht nur bei der Bewegung nach innen und außen sondern auch bei der Bewegung nach oben und unten horizontal bleibt. Die auf diese Weise ausgezeichnete Stellung, welche man die Primärstellung nennt, entspricht aber bei den meisten Augen einer Lage der Gesichtslinie, bei welcher diese etwas unter die Horizontalebene geneigt ist. Dies hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß auch die Ebene des äußeren und inneren geraden Augenmuskels nicht genau horizontal ist31). Es scheint also der Netzhauthorizont und demnach das ganze Auge bei der Drehung nach innen und außen seine Orientierung dann beizubehalten, d. h. keine Rollung zu erfahren, wenn die Gesichtslinie annähernd in der Muskelebene des Rectus externus und internus sich bewegt. Dann geschehen aber in der Tat diese Drehungen auf die einfachste Weise, indem sie lediglich durch die Wirkung der beiden genannten, ohne merkliche Anstrengung anderer Muskeln hervorgebracht werden können. Da nun auch bei der Bewegung nach oben und unten das Auge gleich orientiert bleibt; so müssen hierbei die Wirkungen des oberen und unteren geraden sowie der schiefen Muskeln in einem solchen Verhältnisse stehen, daß sich die entgegengesetzten Drehungen des Netzhauthorizontes, welche durch je zwei zusammenwirkende Muskeln hervorgebracht werden, genau kompensieren. Nun bewirken, eine gleich große Bewegung vorausgesetzt, die Obliqui eine viel stärkere Raddrehung als die ihnen verbundenen Recti, wie man unmittelbar aus Fig. 106 ersieht. Es muß daher, wenn jene Kompensation stattfinden soll, bei einer gegebenen Hebung und Senkung der gerade Muskel mit größerer Kraft wirken als der ihm beigegebene schräge Muskel. Hiermit steht denn auch im Einklang, daß die Obliqui viel schwächere Muskeln sind als die Recti, so daß, wenn einem geraden und einem schrägen Muskel die gleiche Innervation zugeführt wird, dadurch von selbst die richtige Kompensation ihrer Wirkungen eintreten kann. Diese Erwägungen machen es wahrscheinlich, daß bei den Hebungen und Senkungen des Auges dasselbe Prinzip wie bei den Seitwärtswendungen in Anwendung kommt: daß nämlich jede Bewegung die möglichst einfache Innervation voraussetzt. Man könnte sich freilich fragen, warum, wenn dieses Prinzip bei der Anordnung der Augenmuskeln befolgt ist, nicht auch die Hebung und Senkung gleich der Seitwärtswendung bloß durch zwei symmetrisch gelagerte gerade Muskeln geschieht. Die größere Komplikation, welche durch die Beigebung der Obliqui als Hilfsmuskeln herbeigeführt wird, steht aber offenbar damit in Zusammenhang, daß die Hebungen und Senkungen des Auges nicht bloß von der Ruhestellung mit gerade nach vorn gerichteten Gesichtslinien sondern von jeder beliebigen andern Stellung aus, bei der die Gesichtslinien ein- oder auswärts gekehrt sind, erfolgen können. Der obere und untere gerade Muskel sind nämlich so gelagert, daß, wenn sie sich nach außen drehen, diejenige Komponente ihrer Zugkraft, welche Hebung und Senkung der Gesichtslinie bewirkt, ab-, bei der Drehung nach innen dagegen zunimmt; die schrägen Muskeln haben umgekehrt einen solchen Verlauf, daß sich bei der Drehung nach außen ihre Wirkung auf Hebung und Senkung vermehrt, bei der Drehung nach innen vermindert32). Es erhellt dies unmittelbar aus der Fig. 105, wenn man sich die Achse hh', um welche die Drehung nach oben und unten stattfindet, unverrückt denkt, während das Auge samt den Muskelachsen rs ri, os oi sukzessiv nach außen und innen gedreht wird. Bei der Drehung der Gesichtslinie gg nach außen nähert sich os oi, bei der Drehung nach innen rs ri der Achse hh'. Da nun, wie oben bemerkt wurde, die Recti eine größere Wirkungsfähigkeit besitzen, so erhellt außerdem, daß die Hebung und Senkung erleichtert wird, wenn die Gesichtslinie zugleich nach innen gedreht ist. Diese Begünstigung der Konvergenz ist, wie wir unten sehen werden, für die Funktionen des Doppelauges von großer Bedeutung.

31) Vergl. Anm. 26.
32) WUNDT, Archiv f. Ophthalmologie VIII 2. S. 62, 77.

    Wenn man von der Primärstellung aus das Auge nicht einfach hebt oder senkt oder seitwärts wendet, sondern in schräger Richtung bewegt, so kann man, um sich über die in der zweiten Stellung eintretende Orientierung des Auges zu unterrichten, ein Nachbild benutzen, das zu der Bewegungsrichtung, welche die Gesichtslinie nimmt, in derselben Weise orientiert ist wie bei den vorigen Versuchen das horizontale oder vertikale Nachbild, nämlich entweder die gleiche Richtung hat wie der Weg, den die Gesichtslinie einschlägt, oder zu demselben senkrecht ist. Der Versuch zeigt hier dasselbe Resultat wie vorhin: auch bei der schrägen Bewegung behält das zum Merkzeichen dienende Nachbild seine Richtung bei; das Auge verändert also, wenn es sich von der Primärstellung aus dreht, seine ursprüngliche Orientierung nicht, in welcher Richtung die Drehung auch geschehen möge. Aus diesem Satze ergibt sich unmittelbar die mechanische Folgerung, daß alle Bewegungen aus der Primärstellung um feste Achsen geschehen, deren jede zu der Ebene, welche die Gesichtslinie bei der Drehung beschreibt, im Drehpunkte senkrecht steht, und die sämtlich in einer einzigen zur Primärstellung der Gesichtslinie im Drehpunkte senkrechten Ebene liegen. Dieses Prinzip der Drehungen wird nach seinem Urheber als das LISTING'sche Gesetz bezeichnet33).

33) Listing selbst (RUETE, Lehrb. d. Ophlhalmologie, 2te Aufl. S. 37) hat das Prinzip nur als eine Vermutung hingestellt. Die Primärstellung wurde von Meissner gefunden (Beitrage zur Physiologie des Sehorganes. Leipzig 1854. Archiv f. Ophthalmologie ll, 1), der allgemeine Nachweis des Prinzips aber erst von HELMHOLTZ gegeben (Arch. f. Ophthalmol. IX, S. 153. Physiol. Optik S. 457 f.). In mechanischer Hinsicht hat dasselbe nur eine annähernde Gültigkeit, da namentlich bei extremen Stellungen des Auges nicht unerhebliche Abweichungen davon stattfinden, überdies, wie ich beobachtet habe, die wirkliche Bewegung des Auges meistens nicht um feste Achsen zu erfolgen scheint. Erzeugt man nämlich durch kurze Betrachtung eines leuchtenden Punktes in der Dunkelheit ein positives Nachbild, so bemerkt man, daß dieses im allgemeinen nur bei der Hebung und Senkung und bei der Seitwärtswendung annähernd gerade Linien im dunkeln Gesichtsfelde zurücklegt, bei allen schrägen Bewegungen aber, auch wenn diese von der Primärstellung ausgehen, gekrümmte Bahnen beschreibt. Da jedoch bei den Gesichtswahrnehmungen sowohl extreme Stellungen des Augapfels wie rasche Bewegungen desselben nicht in Betracht kommen, so können wir hier das LISTING'sche Gesetz als vollständig zutreffend ansehen.

    Um dieses Gesetz im allgemeinen zu bestätigen, verfährt man am besten in folgender Weise. Man befestigt einen großen Karton, der durch vertikale und horizontale Linien in gleiche Quadrate eingeteilt ist, in solcher Weise an einer fernen Wand, daß er mit hinreichender Reibung um seinen Mittelpunkt drehbar ist, um jede Lage, in die. man ihn dreht, beizubehalten. Im Mittelpunkte bringt man ein rechtwinkliges Kreuz aus farbigem Papier an. Man stellt sich nun in möglichst großer Entfernung dem Karton gegenüber so auf, daß bei aufrechter Haltung des Kopfes die gerade nach vorn gerichteten und (der Primärstellung entsprechend) ein wenig nach unten geneigten Gesichtslinien den Mittelpunkt des farbigen Kreuzes fixieren. Ist dies lange genug geschehen, daß ein komplementärfarbiges Nachbild entstehen konnte, so bewegt man zuerst das Auge gerade nach innen und außen, dann, wieder vom Fixationspunkte aus, nach oben und unten. In beiden Fällen decken sich die Schenkel des Nachbildes mit den vertikalen und horizontalen Linien des Kartons. Um nun das Gesetz auch in Bezug auf schräge Bewegungen der Gesichtslinie zu prüfen, dreht man zuerst den Karton, bis die vertikalen oder horizontalen Linien in diejenige Richtung kommen, in welcher man die Gesichtslinie bewegen will. Es ist dann auch das Kreuz in der Mitte entsprechend gedreht worden: das Nachbild desselben behält nun, wenn man die Gesichtslinie sich entlang den vorgezeichneten Linien bewegen läßt, wiederum seine Richtung bei.
    Dreht man bei diesem Versuch den Karton nicht, sondern läßt man mit dem aufrecht stehenden Nachbild die Gesichtslinie wandern, so nehmen die beiden Schenkel desselben in den Schrägstellungen eine schiefe Lage an. Bei der Bewegung nach rechts oben hat z. B. das Nachbild die Stellung a angenommen; in den übrigen Bewegungsrichtungen zeigt es die andern in Fig. 107 dargestellten Abweichungen. Diese Verschiebungen rühren aber nicht etwa von einer Rollung des Auges her, sondern von der perspektivischen Projektion des Netzhautbildes auf die ebene Wand, wie schon der Umstand vermuten läßt, daß der vertikale und der horizontale Schenkel des Kreuzes im entgegengesetzten Sinne gedreht erscheinen. Offenbar wird nämlich, wenn das Auge aus einer ersten in eine zweite Stellung übergeht, ein Netzhautbild von unveränderlicher Form nur dann wieder in derselben Weise nach außen verlegt werden, wenn die Ebene, auf die es projiziert wird, ihre Lage zum Auge beibehält. Wenn also die Gesichtslinie aus der geraden Stellung a b (Fig. 108), in welcher die Ebene der Wand A B annähernd senkrecht zu derselben ist, in eine schräge Stellung a c übergeht, so müßte das Nachbild wieder auf eine zur Gesichtslinie senkrechte Ebene A B' projiziert werden, wenn der vertikale Schenkel a b des Kreuzes wieder vertikal, der horizontale g d horizontal erscheinen sollte. Nun verlegen wir aber das Netzhautbild nicht auf die Ebene A' B', sondern auf die unverändert gebliebene A B. Um die Form zu finden, welche auf diese bezogen das nach außen verlegte Netzhautbild annimmt, müssen wir zu jedem einzelnen Punkt desselben eine Visierlinie ziehen: der Punkt, wo diese Linie die Wand A B trifft, entspricht dem Punkt des auf die Ebene A B bezogenen Bildes. Auf diese Weise sind in Fig. 108 von a aus, wo der Mittelpunkt der Pupille des beobachtenden Auges gedacht ist, die vier den Grenzpunkten des Kreuzes entsprechenden Visierlinien a a ', a b ', a g' und a d' gezogen worden. Die Figur, welche dieselben begrenzen, ist das schiefwinklige Kreuz a ' b ' g' d ', welches ganz dem Kreuz a in Fig. 107 entspricht. Durch ähnliche Konstruktionen findet man die andern in Fig. 107 angegebenen Drehungen des Nachbildes. Nebenbei bemerkt folgt aus diesen Beobachtungen, daß das Netzhautbild durchaus nicht immer Gesichtsvorstellungen erzeugt, die mit seiner eigenen Form übereinstimmen. Auf unserer Netzhaut existiert in den beschriebenen Versuchen das Nachbild zweifellos als ein rechtwinkliges Kreuz; trotzdem sehen wir es nicht immer rechtwinklig, sondern seine Form ist ganz und gar von der Vorstellung abhängig, die wir von der Lage der Ebene im äußern Raum, auf welche das Bild projiziert wird, besitzen34). Auf diese Seite der Erscheinung werden wir später zurückkommen.

34) Daß es hierbei nicht auf die wirkliche Lage einer solchen Ebene ankommt, sondern auf diejenige, die wir derselben in unserer Vorstellung anweisen, folgt einfach daraus, daß wir überhaupt von ihrer wirklichen Lage nur durch unsere Vorstellung etwas wissen. Man kann sich hiervon aber auch experimentell überzeugen, indem man auf der Projektionsebene eine perspektivische Zeichnung anbringt, durch welche eine falsche Vorstellung ihrer Lage erweckt wird. Man projiziert dann gemäß dieser falschen Vorstellung. Einen hierher gehörigen Versuch siehe bei VOLKMANN, physiologische Untersuchungen im Gebiete der Optik. Leipzig 1863. I, S. 156.

    Wenn das Auge nicht von der Primärstellung, sondern von irgend einer andern, einer sogenannten Sekundärstellung aus sich bewegt, so behält es im allgemeinen seine konstante Orientierung nicht bei: ein horizontales oder vertikales Nachbild zeigt nun eine wirkliche Neigung gegen seine ursprüngliche Richtung, welche davon herrührt, daß, während die Gesichtslinie aus einer ersten in eine zweite Lage übergegangen ist, zugleich das ganze Auge eine Rollung um die Gesichtslinie erfahren hat. Man kann sich hiervon leicht überzeugen, wenn man in dem vorhin beschriebenen Versuch bei der Erzeugung des Nachbildes den Kopf vor- oder rückwärts beugt, so daß sich die Gesichtslinie nicht in der Primärstellung befindet, die Wand aber, wie früher, zur Gesichtslinie annähernd senkrecht ist. Verfolgt man nun mit dem Blick die auf dem Karton gezogenen Linien, so zeigt das Nachbild Drehungen gegen dieselben, die aber für den vertikalen und horizontalen Schenkel des Kreuzes von gleicher Größe und Richtung, nicht, wie bei den von der Projektion herrührenden Verschiebungen, ungleich sind. Die auf diese Weise entstehenden Raddrehungen sind übrigens sehr klein, so lange das Auge nicht in extreme Stellungen übergeht, welche normaler Weise, wo alle umfangreichen Drehungen durch den Kopf mitbesorgt werden, kaum vorkommen; ihrer Größe nach stimmen sie zu der Voraussetzung, daß auch die Drehungen von Sekundärstellungen aus um Achsen erfolgen, welche in der vorhin bezeichneten Achsenebene, d. h. in derjenigen Ebene, die auf der Primärstellung der Gesichtslinie im Drehpunkte senkrecht steht, gelegen sind35). Es ist an und für sich klar, daß, wenn alle Drehungsachsen in dieser Ebene liegen, bei den Bewegungen von Sekundärstellungen aus Rollungen um die Gesichtslinie eintreten müssen, weil eben in diesem Fall die Drehungsachse nicht senkrecht stehen kann auf der Ebene, in welcher sich die Gesichtslinie bewegt, einen einzigen Fall ausgenommen: wenn nämlich die Ebene der Drehung den durch die Primärstellung gelegten Meridiankreisen angehört oder, mit andern Worten, wenn die Gesichtslinie eine solche Bewegung ausführt, die man sich ohne Wechsel der Drehungsachse von der Primärstellung ausgehend oder in sie fortgesetzt denken kann.

35) Helmholtz, physiologische Optik, S. 467. Archiv f. Ophthalmologie IX, 2 S. 206.

    Das Gesetz der Drehung um konstante, in einer Ebene gelegene Achsen schließt unmittelbar das weitere Prinzip in sich, daß die Orientierung des Auges für jede Stellung der Gesichtslinie eine konstante ist, welche wiederkehrt, auf welchen Wegen man auch die Gesichtslinie in diese Stellung übergeführt haben mag. Man kann sich von der Richtigkeit dieses Prinzips, welches als das Gesetz der konstanten Orientierung bezeichnet wird36), mittelst derselben Methode überzeugen, welche zur Prüfung des LISTING'schen Gesetzes dient. Das Nachbild des Kreuzes, welches man in der Primär- oder in irgend einer andern Ausgangsstellung erzeugt hat, zeigt bei einer bestimmten Stellungsänderung der Gesichtslinie immer dasselbe Lageverhältnis zu den Orientierungslinien der Wand, auf welche Weise man auch die Gesichtslinie aus der ersten in die zweite Stellung übergeführt haben mag. Doch kommen von diesem Prinzip kleine Ausnahmen vor. Erstens nämlich findet man, daß zuweilen bei der ersten Einstellung eine abnorme Rollung besteht, die dann erst bei dauernder Fixation der normalen Orientierung der Netzhaut Platz macht37); und zweitens ist, wie hering gefunden hat, die Orientierung eines jeden Auges, außer von der Lage seiner eigenen Gesichtslinie, auch von derjenigen des andern Auges in gewissem Grad abhängig. Bleibt nämlich die Gesichtslinie des einen Auges fest, während die des andern sich ein- oder auswärts dreht, so daß der gemeinsame Fixationspunkt näher oder ferner rückt, so erfährt das ruhende Auge kleine Rollungen im selben Sinne wie das bewegte38).

36) Dasselbe wurde bereits vor Kenntnis des LISTINS'schen Gesetzes von donders gefunden (Holländische Beitrage zu den anatomischen u. physiol. Wissenschaften. 1847. I, S. 104, 384).

37) Helmholtz, Archiv f. Ophthalmologie IX, 2 S. 190 f. Physiol. Optik S. 475 f. Solche abnorme Rollungen, welche nach den Beobachtungen von Helmholtz unter Umständen auch durch den Einfluß des Willens hervorgebracht werden können, wenn in der Vereinigung von Doppelbildern dazu ein Motiv gegeben ist, sind übrigens meistens sehr gering. Von HERING (die Lehre vom binokularen Sehen S. 60) wird die Möglichkeit willkürlicher Rollungen überhaupt bestritten.

38) Hering, a. a. O., S. 57, 94.

    Die Bewegungen des Auges werden, wie uns die Zergliederung seiner Muskelwirkungen wahrscheinlich gemacht hat, hauptsächlich durch die Verteilung der Muskelkräfte bestimmt. Eine gegebene Bewegung wird mit möglichst geringem Aufwand von Kraft geschehen, je mehr dabei überflüssige Nebenwirkungen vermieden sind39). Solche würden aber stattfinden, wenn das Auge stärkere Rollungen um die Gesichtslinie erführe. Das LISTING'sche Gesetz, welches solche ausschließt, hat wahrscheinlich hierin seine mechanische Bedeutung. Noch entschiedener spricht sich diese Ursache der Bewegungsgesetze in dem Prinzip der konstanten Orientierung aus. Könnte das Auge aus einer ersten in eine zweite Stellung auf verschiedene Weisen gleich ungehindert übergehen, so wäre nicht abzusehen, warum nicht in der Tat die Bewegung auf verschiedene Weise sollte geschehen können. Wenn eine Bewegungsform ausschließlich gewählt wird, so muß diese durch die mechanischen Bedingungen bevorzugt sein. Unser Auge verhält sich in dieser Hinsicht nicht anders als andere Bewegungswerkzeuge. Übung und Gewohnheit werden gewiß auch hier von Bedeutung sein. Wir wollen darum nicht bestreiten, daß die Bedürfnisse des Sehens in den Gesetzen der Augenbewegung ihren Ausdruck gefunden haben; aber ihr Einfluß wird gerade darin sich äußern müssen, daß er auf die mechanischen Bedingungen der Bewegung bestimmend einwirkt. Auch läßt sich die Frage, ob die mechanischen oder die physiologischen Vorbedingungen als die früheren anzusehen seien, nicht sofort im einen oder andern Sinne beantworten. In der individuellen Ausbildung sind jedenfalls die mechanischen Verhältnisse die ursprünglicheren. Wie das Auge des Neugeborenen, schon bevor das Sehorgan seine Funktion beginnt, zur Erzeugung optischer Bilder zweckmäßig konstruiert ist, so besitzt es auch einen vollkommen ausgebildeten Bewegungsmechanismus. Wir werden daher jedenfalls mit größerer Wahrscheinlichkeit sagen dürfen, daß sich das Sehen unter dem Einfluß der mechanischen Bewegungsgesetze des Auges gebildet habe, als umgekehrt. Dies schließt aber allerdings nicht aus, daß in einer weiter zurückreichenden generellen Entwicklung umgekehrt die Bedürfnisse des Sehens auf die Organisation, wie des Auges überhaupt, so auch seiner Bewegungswerkzeuge eingewirkt haben. Wir werden auf diese Frage später zurückkommen, nachdem die Erscheinungen, in denen sich der Einfluß der Bewegungsgesetze auf die Gesichtsvorstellungen äußert, besprochen sind.

39) Man vergleiche über dieses Prinzip: fick, Zeitschr. f. rat. Medicin. N. F. IV, S. 101 und in MOLESCHOTT'S Untersuchungen V, S. 198. WUNDT, Archiv f. Ophthalmologie VIII, 2 S. 1.

    Es wurde oben bemerkt, daß für das ruhende Auge keine zureichenden Motive existieren, vermöge deren es sein Sehfeld als eine Fläche von bestimmter Form wahrnehmen müßte. Trotzdem pflegt dasselbe eine bestimmte Form zu besitzen: es erscheint uns, sobald speziellere Gründe fehlen, welche auf eine andere Ordnung seiner Punkte hinweisen, als innere Oberfläche einer Kugelschale. An einer solchen scheinen uns daher die Gestirne verteilt zu sein, und der Himmel selbst erscheint unserm Auge noch heute als das, wofür kindlichere Zeiten ihn wirklich hielten, als ein kugelförmiges Gewölbe. In der unter dem Horizont gelegenen Hälfte des Sehfeldes hört diese Kugelform auf, weil hier durch die Bodenebene und die auf ihr befindlichen Gegenstände andere und im Ganzen wechselndere Bedingungen gegeben sind. Der naheliegende Grund jener Anschauung ist aber die Bewegung des Auges. Bei dieser beschreibt der Fixationspunkt fortwährend größte Kreise, die einer Hohlkugelfläche angehören. Als Mittelpunkt des kugelförmigen Sehfeldes, das wir beim Mangel sonstiger Motive erblicken, ist daher der Drehpunkt des Auges zu betrachten. Da nun auch das ruhende Auge sein Sehfeld kugelförmig sieht, so liegt eigentlich hierin schon ein Grund für die Annahme, daß die ursprünglichsten Raumvorstellungen unter dem Einfluß der Bewegung entstanden sind. Es ließe sich jedoch dem entgegenhalten, möglicher Weise besitze die Netzhaut eine ihr innewohnende Energie, ihre Bilder auf ein kugelförmiges Sehfeld zu beziehen. Vielleicht, könnte man denken, weil sie selbst kugelförmig gekrümmt ist, obgleich sich freilich Gründe für einen solchen Zusammenhang nicht angeben lassen. Hier tritt nun aber eine Reihe von Beobachtungen entscheidend ein, welche zeigen, daß das Auge nicht nur im allgemeinen seine Netzhautbilder auf eine Fläche im äußern Raum verlegt, die der Form seiner Bewegung entspricht, sondern daß auch die einzelne Anordnung der Punkte auf dieser Fläche ganz und gar durch die Bewegungsgesetze des Auges bestimmt ist.
    Nennen wir die Fläche, auf welcher der Fixations- oder Blickpunkt bei seinen Bewegungen hin- und hergeht, das Blickfeld, so können wir die oben besprochene allgemeine Erfahrung in dun Satz zusammenfassen: das Sehfeld des bewegten sowohl wie des ruhenden Auges hat im allgemeinen die nämliche Form wie das Blickfeld. Um nun weiterhin den Einfluß der Bewegung auf die Anordnung der Punkte im Sehfelde zu ermitteln, denken wir uns am zweckmäßigsten die Veränderungen, die am Auge vor sich gehen, vollständig in das Blickfeld hinübergetragen. Die Linie, welche den Blickpunkt mit dem Drehpunkt des Auges verbindet, heißt die Blicklinie; sie liegt der Gesichtslinie, dem Richtungsstrahl des Blickpunktes, sowie der Hauptvisierlinie so nahe, daß man sie als mit diesen beiden zusammenfallend betrachten kann. Jede Bewegung der Blicklinie wird im allgemeinen einer vom Blickpunkt beschriebenen Kurve entsprechen. Denjenigen Blickpunkt, welcher der Primärstellung der Gesichtslinie angehört, nennen wir den Hauptblickpunkt. Von der Primärstellung aus erfolgen alle Drehungen so, daß der Blickpunkt größte Kreise beschreibt, die sich im Hauptblickpunkt durchschneiden. Stellen wir uns das Blickfeld als eine ganze Kugel vor, so schneiden sich diese Kreise, welche man die Meridiankreise des Blickfeldes nennen kann, noch in einem zweiten dem Hauptblickpunkt gerade gegenüber liegenden Punkt der Kugeloberfläche, dem Occipitalpunkt. Der Hauptblickpunkt und der Occipitalpunkt sind somit entgegengesetzte Endpunkte eines Durchmessers. Die Fig. 109 zeigt diese Einteilung des Blickfeldes in perspektivischer Ansicht. A ist das Auge, H der Hauptblickpunkt, O der Occipitalpunkt, die Linie HO liegt, gemäß der Primärstellung, etwas unter der Horizontalebene; durch H und O sind die Meridiankreise gezogen40). Denken wir die letztern vom Drehpunkt, als dem Mittelpunkt des kugelförmigen Blickfeldes, aus auf eine Ebene projiziert, welche auf der Primärstellung der Gesichtslinie senkrecht steht, so bilden sie sich hier als gerade Linien ab, welche sich im Fixationspunkte durchschneiden; die horizontale dieser Linien entspricht dem Netzhauthorizont. Wir wollen diese Projektion das ebene Blickfeld und die geraden Linien, welche in ihm als Projektionen der Meridiankreise vom Hauptblickpunkte auslaufen, die Richtlinien nennen.

40) Um die Lage irgend eines Punktes im Blickfeld oder Sehfeld genau zu bestimmen, kann man dasselbe außer in Meridiankreise noch in Breitekreise einteilen, welche sich sämtlich in zwei Punkten schneiden, die in dem durch den Netzhauthorizont gelegten Meridian rechts und links um 90° vom Blickpunkt und Occipitalpunkt abliegen. Es erfolgt nun die Lagebestimmung ganz nach Analogie der geographischen Ortsbestimmung. Aber für die Bewegung des Auges haben nur die Meridiankreise eine Bedeutung, als die Wege, die nach dem LISTING'schen Gesetz der Blickpunkt von der Primärstellung aus einschlägt.

    Wenn sich nun das Auge von der Primärstellung aus dreht, so muß sich die Gesichtslinie in Meridiankreisen oder auf dem ebenen Blickfeld in Richtlinien bewegen. Hierbei bleibt nach dem LISTING'schen Gesetz das gegenseitige Lageverhältnis der Meridiankreise im kugelförmigen Blickfeld ungeändert. Wenn der Blickpunkt von H zuerst auf a und dann auf b (Fig. 109) übergeht, so kommt beim zweiten Akt dieser Bewegung der Bogen ab genau auf dieselbe Stelle der Netzhaut zu liegen wie vorher der Bogen Ha. Denken wir uns das in Fig. 109 dargestellte, der Primärlage entsprechende Blickfeld fixiert und dann das Sehfeld des ruhenden Auges in ganz derselben Weise in Meridiankreise geteilt, so daß in der Primärstellung Blickfeld und Sehfeld zusammenfallen, so können wir uns vorstellen, bei den Bewegungen verschiebe sich das Sehfeld gegen das Blickfeld wie eine Kugelschale gegen eine ihr konzentrische vom gleichen Radius. Es verschiebt sich dann bei allen Drehungen von der Primärstellung aus derjenige Meridiankreis des Sehfeldes, in welchem die Blicklinie liegt, genau in demjenigen Meridiankreis des Blickfeldes, mit welchem er in der Primärstellung zusammenfiel: beide Meridiankreise decken einander während der ganzen Bewegung. Wäre das LISTING'sche Gesetz nicht erfüllt, erführe das Auge bei jeder Drehung zugleich eine Rollung um die Gesichtslinie, so würde eine solche fortwährende Deckung der einander entsprechenden Meridiankreise nicht stattfinden können, sondern es würde zugleich in Folge der Rollung des Auges der Meridiankreis des Sehfeldes gegen den ihm entsprechenden des Blickfeldes sich drehen, und er würde so fort und fort mit andern Meridiankreisen des letzteren zusammenfallen. Bei denjenigen Bewegungen des Auges, welche nicht von der Primärlage ausgehen, wird dies wegen der hierbei stattfindenden Rollungen auch in der Tat der Fall sein. Die Bewegungen von der Primärlage aus sind also insofern bevorzugt, als bei ihnen die Auffassung der Richtungen im kugelförmigen Blickfeld durch die gleichförmige Orientierung des Auges begünstigt wird. Denn eine sichere Bestimmung der Richtungen ist nur möglich, wenn die Wahrnehmungen, welche bei der Bewegung des Blicks stattfinden, mit der Auffassung des ruhenden Auges übereinstimmen. Eine Linie, bei deren Verfolgung sich der Blick in einem Meridiankreise bewegt, muß dem ruhenden Auge im selben Meridiankreise erscheinen, wenn sich kein Widerspruch zwischen beiden Wahrnehmungen herausstellen soll. Das ist aber nur möglich, wenn zwischen dem ruhenden Blickfeld und dem bewegten Sehfeld jene Übereinstimmung besteht, welche sich aus dem LISTING'schen Gesetze ergibt. Bei den Bewegungen, welche nicht von der Primärlage ausgehen, wird dann allerdings die Auffassung der Richtungen eine mangelhaftere sein. In der Tat lehrt die Erfahrung, daß wir, wo es sich um eine genaue Abmessung der Richtung von Linien handelt, dem Auge unwillkürlich eine etwas zum Horizont geneigte, der Primärlage entsprechende Stellung geben.
    Jene Übereinstimmung der von dem Blick verfolgten Richtungen im Blick- und Sehfeld besteht nur, wenn wir uns das Netzhautbild auf eine kugelförmige Blick- und Sehfeldfläche bezogen denken; sie hört auf, sobald wir irgend eine andere Form, z. B. eine Ebene an ihre Stelle setzen. Denken wir uns die in der Primärstellung zur Gesichtslinie senkrechte Ebene als unveränderliches Blickfeld, und nehmen wir als wechselndes Sehfeld eine andere Ebene an, die in der Primärstellung wieder mit dem Blickfeld zusammenfällt, aber mit der Gesichtslinie wandert, so daß sie in allen Lagen des Auges zu dieser senkrecht bleibt. Die Richtlinien dieser beiden Ebenen, die in der Ausgangsstellung sich decken, werden sich jetzt nur noch bei der Bewegung in zwei Richtungen innerhalb der gleichen Meridiankreise verschieben, wenn nämlich die Drehung von der Primärlage aus gerade nach oben und unten oder gerade nach außen und innen gerichtet ist. Bei diesen beiden Bewegungen werden die vertikal und horizontal liegenden Richtlinien beider Ebenen vom Auge aus gesehen in vollständiger Deckung bleiben. Sobald dagegen das Auge eine andere Stellung annimmt, so müssen dem Auge die Richtlinien des Blickfeldes und Sehfeldes gegen einander geneigt erscheinen; denn denkt man sich nun durch den Drehpunkt und die betreffende Richtlinie des Sehfeldes eine Ebene gelegt, so trifft die letztere das Blickfeld nicht mehr in derjenigen Richtlinie, welche in der Ausgangsstellung mit ihr zusammenfällt. In der Tat haben wir uns davon in den früher beschriebenen Nachbildversuchen durch die unmittelbare Projektion der Netzhautbilder nach außen bereits überzeugt (Fig. 108). Die in der Primärstellung zur Gesichtslinie senkrechte Wand A B entspricht dem ebenen Blickfeld. Denken wir uns diese Wand bei den Drehungen des Auges mit der Gesichtslinie, immer senkrecht zu derselben, bewegt, so ist die wandernde Ebene A' B' das ebene Sehfeld. Ein Nachbild, welches in der Primärstellung mit einer der Richtlinien zusammenfällt, deckt in irgend einer Sekundärstellung wieder die nämliche Richtlinie des ebenen Sehfeldes, auf das unveränderliche Blickfeld projiziert schließt es aber mit der Richtlinie, mit der es ursprünglich zusammenfiel, einen bestimmten Winkel ein. Die Fig. 107, welche die Neigung dieses Winkels bei den vier schrägen Stellungen für ein ursprünglich vertikales und horizontales Nachbild angibt, stellt also zugleich das Lageverhältnis dar, welches die Richtlinien des Sehfeldes zu denen des Blickfeldes besitzen, wenn man das letztere als eine zur Primärstellung senkrechte Ebene annimmt und sich das Sehfeld auf dieses Blickfeld projiziert denkt.
    Wenn nun das Auge ein auf seiner Netzhaut oder in seinem Sehfelde rechtwinkliges Kreuz in seinem Blickfelde schiefwinklig sehen kann, so wird umgekehrt ein im Sehfelde schiefwinkliges Kreuz auf das Blickfeld bezogen rechtwinklig erscheinen können. Die Richtigkeit dieses Salzes läßt sich leicht auf folgende Weise bestätigen. Man nehme einen großen Bogen weißen Papiers, in dessen Mitte man einen schwarzen Punkt anbringt, der als Fixationspunkt dient. Dieser Bogen, in der Primärstellung senkrecht zur Blicklinie gehalten, repräsentiert das Blickfeld, d. h. diejenige Fläche, welche der Blickpunkt sukzessiv durchwandern kann. Nun bringe man seitlich vom Fixationspunkt zwei schwarze Papierschnitzel, die genau in einer Vertikallinie liegen, auf demselben Bogen an. Man wird bemerken, daß dieselben nur dann in einer Vertikallinie zu liegen scheinen, wenn ihre Richtung entweder mit der durch den Blickpunkt gelegten Vertikalen zusammenfällt oder zu der durch den Blickpunkt gelegten Horizontalen senkrecht ist. In den übrigen Teilen des Blickfeldes dagegen muß man den Objekten in Wirklichkeit eine schräge Lage geben, wenn sie im indirekten Sehen vertikal erscheinen sollen, und zwar muß in allen schrägen Lagen das in vertikaler Richtung vom Blickpunkt entferntere Objekt auch nach der horizontalen weiter von demselben weggeschoben werden. Die Lage, welche den beiden Papierschnitzeln in den verschiedenen Meridianen des Blickfeldes gegeben werden muß, wenn sie in einer vertikalen Linie liegend erscheinen sollen, entspricht also ganz derjenigen Richtung, welche nach Fig. 107 ein vertikales Nachbild annimmt, wenn der Blick auf der ursprünglichen, zur Primärstellung senkrechten Blickebene hin- und herwandert41). Bestimmt man in ähnlicher Weise die Lage der im indirekten Sehen horizontal erscheinenden Punkte, so findet man, daß diese in den schräg geneigten Meridianen wieder, diesmal aber nach der entgegengesetzten Richtung abweichen, ganz wie es nach Fig. 107 der Neigung entspricht, die ein in der Primärstellung horizontales Nachbild beim Wandern des Blicks annimmt. Gibt man dem Papierbogen eine andere, der Primärstellung nicht entsprechende Lage, so werden auch die Richtungen, die man den indirekt gesehenen Punkten geben muß, um sie vertikal oder horizontal erscheinen zu lassen, andere als vorhin, immer aber fallen sie mit jenen Richtungen zusammen, welche bei wanderndem Blick ein vertikales und horizontales Nachbild in seiner Projektion auf die Ebene des Papiers hat42).

41) Man kann leicht konstatieren, daß die Verschiebungen der indirekt gesehenen Objekte auch ihrer Größe nach den Richtungsanderungen des Nachbildes entsprechen. Zu diesem Zweck bringe man, nachdem diejenige Lage der Objekte festgestellt ist, bei der sie indirekt gesehen in den verschiedenen Meridianen des Blickfeldes vertikal erscheinen, im Fixationspunkte einen vertikalen farbigen Streifen an und lasse, sobald das komplementär gefärbte Nachbild entwickelt ist, den Blick über die verschiedenen Teile des Blickfeldes wandern: man wird nun bemerken, daß das Nachbild überall dieselbe Richtung annimmt, in welche man vorhin die beiden Objekte bringen mußte.

42) Beobachtet sind die hier beschriebenen Erscheinungen zuerst von RECKLINGHAUSEN (Archiv f. Ophtlialmologie V, 2 S. 127), ihren Zusammenhang mit den Bewegungsgesetzen hat Helmholtz nachgewiesen (Physiol. Optik, S. 548). Ich habe oben eine etwas andere Form des Versuchs gewählt, indem ich die Beobachtung über die Abweichung der Richtungen im indirekten Sehen mit Nachbildversuchen kombinierte, wodurch, wie ich glaube, der Zusammenhang mit den Bewegungsgesetzen besonders schlagend wird.

    Diese Erscheinungen zeigen, daß die Eindrücke, die wir bei bewegtem Auge empfangen, auf die Abmessungen im Sehfeld des ruhenden Auges übertragen werden. Wenn sich das Auge von der Primärstellung aus in eine Lage a (Fig. 107) bewegt, so bilden sich auf dem vertikalen und horizontalen Meridian der Netzhaut nicht mehr eine im Blickfeld vertikale und horizontale sondern zwei geneigte Linien ab, die nämlichen, in deren Richtung das Auge ein ursprünglich vertikales und horizontales Nachbild projiziert. Demnach erscheinen denn auch dem ruhenden, auf seinen Hauptblickpunkt eingestellten Auge jene geneigten Linien als senkrechte, und solche, die in Wirklichkeit senkrecht zu einander sind, erscheinen geneigt. Wenn das Auge den Punkt a selbst fixiert, so verschwindet die Täuschung, indem die im Blickpunkt und in dessen Umgebung befindlichen Objekte immer in das jeweilige Sehfeld mit Rücksicht auf die Lage, welche unsere Vorstellung dem letzteren anweist, verlegt werden. Wir können daher die obigen Erfahrungen auch folgendermaßen ausdrücken: Nur die direkt gesehenen Objekte erscheinen uns im allgemeinen in ihrer wirklichen Lage, alle indirekt gesehenen dagegen in derjenigen, die sie annehmen würden, wenn ihr Netzhautbild in den Blickpunkt und seine unmittelbare Umgebung verlegt würde.
    Da nicht nur die allgemeine Form des Sehfeldes, sondern auch das gegenseitige Lageverhältnis der Objekte in demselben mittelst der Bewegungen des Auges festgestellt wird, so ist ohne die letzteren eine räumliche Gesichtvorstellung überhaupt nicht denkbar. Denn ein unbestimmtes räumliches Sehen, wie man es zuweilen angenommen, bei dem nur die allgemeine Form des Nebeneinander ohne jede Raumbestimmung der einzelnen Objekte zu einander gegeben wäre, ist eine Fiktion, der ebenso wenig Wirklichkeit zukommen kann wie einer Zeitreihe ohne Inhalt. Eine schöne Bestätigung dieses Einflusses der Bewegung gewähren die Veränderungen, welche in der räumlichen Beziehung der Gesichtsobjekte in Folge von Lähmung einzelner Augenmuskeln eintreten43). Wird z. B. der äußere gerade Augenmuskel, etwa in Folge einer Verletzung, plötzlich wirkungslos, so bleibt nichts desto weniger die Tendenz bestehen, das Auge gelegentlich nach außen zu drehen; die hierzu aufgewandte Innervationsanstrengung ist aber ohne Erfolg. Man bemerkt nun in solchem Fall, daß sich das Auge nach allen andern Richtungen im Blickfelde richtig zu drehen vermag und auch die Lage der Dinge richtig wahrnimmt. Sobald es sich aber nach außen zu drehen strebt, tritt eine Scheinbewegung der Objekte ein: diese scheinen sich nun nach derselben Seite zu bewegen, nach welcher das Auge vergebliche Innervationsanstrengungen macht. Offenbar rührt dies davon her, daß der Patient das Auge, obgleich es stille steht, für bewegt hält. Wenn aber ein normales Auge, welches z. B. nach rechts bewegt wird, dabei immer dieselben Gegenstände sieht, so müssen sich diese ebenfalls nach rechts bewegen; das gelahmte Auge objektiviert also sein Innervationsgefühl, und da es selbst stille steht, so scheinen sich ihm die Gegenstände zu drehen. Ist die Lähmung des Rectus externus eine unvollständige, so kann das Auge zwar einen nach außen liegenden Gegenstand fixieren, aber es ist dazu eine größere Innervationsanstrengung erforderlich. Demgemäß wird denn auch der Gegenstand weiter nach außen verlegt, als er sich in der Tat befindet. Soll der Patient nach demselben greifen, so greift er außen daran vorbei44). Diese Erscheinungen beweisen, daß unser Urteil über die Lage eines Gegenstandes im Raum wesentlich durch das Innervationsgefühl bestimmt wird, welches jeden Antrieb zur Bewegung begleitet.

43) Vergl. A. v. Graefe, Archiv f. Ophthalmologie 1, 1 S. 18. Alfr. Graefe, ebend. XI, 2 S. 6. Nagel, das Sehen mit zwei Augen. Leipzig und Heidelberg 1861. S. 124 f. A. v. GRAEFE, Symptomenlehre der Augenmuskellähmungen. Berlin 1867. S. 10, 95.

44) In der Regel wird in diesen Fällen das Sehen auch noch durch die Doppelbilder gestört, welche in Folge der gestörten Harmonie der Bewegungen zwischen dem gelähmten und dem gesunden Auge auftreten. Will man bloß den Effekt der Muskellähmung beobachten, so ist es daher notwendig, bei den Versuchen das normale Auge zuzubinden.

    Aus demselben Prinzip erklären sich zahlreiche Erscheinungen im Gebiet des normalen Sehens, die man zu den Gesichtstäuschungen oder pseudoskopischen Erscheinungen zu zählen pflegt45). Wir können die hier einschlagenden Erfahrungen in zwei Klassen bringen. Die erste umfaßt Abweichungen in der Ausmessung geradliniger Distanzen, welche von der Richtung der letzteren abhängig sind; in die zweite gehören Täuschungen des Augenmaßes, welche von der Art der Ausfüllung des Sehfeldes herrühren.

45) Im engeren Sinne pflegt man mit WHEATSTONE nur die Täuschungen über das Relief, also das Sehen von Vertiefungen an Stelle von Erhabenheiten und umgekehrt, oder auch das körperliche Sehen flacher Figuren, als pseudoskopische Erscheinungen zu bezeichnen. Aber da der Wortbedeutung nach Pseudoskopie und Gesichtstäuschung identisch sind, so gebrauchen wir im folgenden beide Ausdrücke in übereinstimmendem Sinne.

    Wir können Distanzen im Gesichtsfelde nur dann mit einiger Genauigkeit vergleichen, wenn sie gleiche Richtung haben. Wenn wir z. B. einer gegebenen Geraden eine zweite gleich machen wollen, so müssen wir derselben die nämliche Richtung geben. Auch dann finden noch kleine Ungenauigkeiten statt, welche sich um so mehr vermindern, je mehr wir mit dem bewegten Auge die Distanzen vergleichend abmessen. Dagegen wird bei Ausschluß der Bewegung, z. B. bei momentaner Beleuchtung durch den elektrischen Funken, die Größenschätzung sehr viel unsicherer. Auch bei den mittelst der Bewegung ausgeführten Beobachtungen sind übrigens außerdem noch mehrere Versuchsbedingungen von wesentlichem Einflusse. So ergeben sich bei der Vergleichung zweier Distanzen, die sich in ungleicher Entfernung vom Auge befinden, gewisse Fehler, die von der verschiedenen Größe der beiden Netzhautbilder herrühren. Bei dieser Vergleichung bringt man nämlich im allgemeinen die Entfernung vom Auge in Rechnung: man sieht also zwei gleich große Distanzen annähernd gleich, auch wenn die eine weiter entfernt ist als die andere. Aber der Fehler, den man bei der Schätzung begeht, ist größer, als wenn beide Distanzen gleich weit entfernt sind, und zwar wechselt er bei verschiedenen Individuen, indem die Einen die nähere, die Andern die entferntere Distanz größer zu schätzen geneigt sind46). Diese Abweichungen sind offenbar dadurch verursacht, daß hier die gewöhnliche Unsicherheit des Augenmaßes noch durch die Ungenauigkeiten kompliziert wird, welche die Inbetrachtnahme der Entfernung vom Beobachter verursacht, und zwar scheinen manche Individuen den Einfluß der Entfernung auf die Größe des Netzhautbildes zu überschätzen, andere zu unterschätzen. Ferner finde ich, daß man den Abstand zweier Punkte, z. B. zweier Zirkelspitzen, ungenauer schätzt als die Größe einer Linie. Dies hängt mit einer Erscheinung zusammen, die uns nachher beschäftigen wird, damit nämlich, daß leere Abstände im Gesichtsfeld kleiner erscheinen als solche, bei denen dem Auge fortwährend ein Fixationspunkt geboten wird; im letzteren Fall gewinnt dann das Augenmaß zugleich an Sicherheit. Will man daher Distanzen gleicher Richtung unter gleichförmigen Bedingungen vergleichen, so müssen sie sich 1) in gleicher Entfernung vom Auge befinden, und sie müssen 2) entweder beide in der Form von geraden Linien oder beide als Punktdistanzen gegeben sein, wobei zugleich der erstere Fall die günstigere Bedingung für das Augenmaß darbietet47).

46) Fechner, Elemente der Psychophysik II, S. 312.

47) Manche Unterschiede, die sich zwischen den Resultaten einzelner Beobachter herausstellten, erklären sich wohl hauptsächlich daraus, daß im einen Fall Liniengrößen, im andern Punktdistanzen verglichen wurden.

    Unter Voraussetzung der obigen Bedingungen läßt sich nun die Genauigkeit des Augenmaßes nach folgenden Methoden bestimmen: 1) man ermittelt diejenige Differenz zweier Linien oder Punktdistanzen bei welcher ein Größenunterschied derselben eben merklich wird; 2) man sucht die eine Distanz der andern gleich zu machen und bestimmt dann aus einer größeren Zahl von Versuchen den mittleren Fehler; 3) man wählt die Abstände so, daß ihr Unterschied nicht mehr deutlich zu merken ist, und bestimmt wieder in einer Reihe von Beobachtungen die Zahl der richtigen und falschen Fälle. Es bieten sich also auch hier die allgemeinen psychophysischen Maßmethoden zur Untersuchung dar48). Die Versuche von Fechner und Volkmann, welche hauptsächlich nach der zweiten und zum Teil auch nach der ersten dieser Methoden angestellt sind, zeigen nun, daß das Augenmaß bei der Vergleichung geradliniger Abstände im allgemeinen dem WEBER'schen Gesetze entspricht, daß also der eben merkliche Unterschied oder der mittlere Fehler einen konstanten Bruchteil der Normaldistanz ausmacht, mit der eine andere verglichen wurde, oder der man eine andere gleich zu machen suchte. So fand volkmann, daß bei einer Sehweite von 340 Mm. für Distanzen, die von 4,21 bis 101,04 Mm. variierten, der mittlere Fehler sehr nahe ein konstanter Bruchteil, nämlich ungefähr 1/100, der beobachteten Distanz war; die Resultate der einzelnen Versuchsreihen schwanken zwischen 1/99 und 1/11949) . Etwas größer fand denselben fechner, nämlich = 1/62,5 50), was zum Teil davon herrühren mag, daß derselbe Punktdistanzen bestimmte, während volkmann Liniengrößen verglich. Viel größer sind aber die Abweichungen zwischen verschiedenen Individuen bei der Methode der eben merklichen Unterschiede, wo die Verhältniszahl mindestens zwischen 1/40 und 1/90 zu schwanken scheint51); dies hat in der früher erörterten Unsicherheit dieser Methode seinen naheliegenden Grund52). Nimmt man die verglichenen Distanzen erheblich kleiner, als oben angegeben ist, so bleibt das psychophysische Gesetz nicht mehr gültig, sondern es wird nun der mittlere Fehler immer größer. So fand volkmann bei einer Sehweite von 340 Mm. in zwei Versuchsreihen folgende relative Ausgleichungsfehler bei Distanzen von 5 Mm. an abwärts53).
            I.             5             4             3             2             1 Mm.
                                1/107         1/101         1/97         1/87          1/86
            II.         1,4            1,2           1,0          0,8          0,6         0,4         0,2 Mm.
                                1/73          1/68           1/68          1/63            1/55             1/42             1/19
48) Vergl. Kap. VIII.
49) VOLKMANN, physiolog. Untersuchungen im Gebiete der Optik I, S. 123, 133.
50) Fechner, Elemente der Psychophysik I, S. 217. Daselbst sind 3 altere Versuchsreihen Volkmann's mitgeteilt, welche 1/88,6, 1/92,5 und 1/103,1 ergaben.
51) FECHNER (a. a. O. I, S. 234) fand 1/40 , KRAUSE (bei VOLKMANN, S. 130) bei 200 Mm. Sehweite und 0,5–1,3 Mm. Distanz 1/90.
52) Vgl. Kap. VIII.
53) a. a. 0. S. 133, 134.

    Man kann bei dieser unteren Grenze des psychophysischen Gesetzes an zwei Ursachen denken: entweder könnte das Netzhautbild, welches dem eben merklichen Unterschied oder dem begangenen Fehler entspricht, zu klein werden, um noch einen Größeneindruck hervorzubringen; oder es könnten die Innervationsgefühle, die bei der Abmessung der Distanzen wirksam sind, keine Unterschiede mehr erkennen lassen, wenn die Bewegungen sehr klein werden. Wäre die erste dieser Erklärungen richtig, so müßte, sobald die Abweichung von dem Gesetze beginnt, die absolute Größe des mittleren Fehlers oder des eben merklichen Unterschieds konstant bleiben, denn sie würde eben dem kleinsten noch als Größenelement wahrnehmbaren Netzhautbilde entsprechen. Dies ist aber nicht der Fall, vielmehr verkleinert sich der absolute Wert jener Größe immer noch, während der relative schon zunimmt. Für die zweite Erklärung spricht die Tatsache, daß wir eine so feine Distanzunterscheidung, wie sie bei diesen Versuchen geschieht, überhaupt nur mit dem bewegten Auge ausführen können. Die vorliegende Abweichung vom psychophysischen Gesetze ordnet sich dann einfach jenen Abweichungen unter, welche allgemein im Gebiet der Intensitätsmessung der Empfindung stattfinden, wie sich überhaupt die ganze Gültigkeit des Gesetzes für das Augenmaß aus seiner Gültigkeit für das Intensitätsmaß der Empfindungen herleitet. Außerdem lassen sich für diese Auffassung noch folgende Beobachtungen beibringen. Man blicke durch einen in einem aufrecht stehenden Brett angebrachten horizontalen Schlitz mit beiden Augen nach einer weißen Wand in der Ferne. Zwischen dieser und den Augen kann ein vertikal aufgehängter und durch ein Gewicht gespannter schwarzer Faden hin- und hergeschoben werden. Derselbe befindet sich in der Medianebene, so daß sich die beiden Augen in symmetrischer Konvergenz auf ihn einstellen. Man bestimmt nun in den verschiedensten Distanzen vom Auge durch kleine Verschiebungen des Fadens diejenige Konvergenzänderung, bei welcher eben die Annäherung oder Entfernung bemerkt wird54). Die Resultate sind in der folgenden kleinen Tabellen enthalten, in welcher unter S die absolute Entfernung des Fadens vom Beobachter, unter A die eben merkliche Verschiebung desselben in cm verzeichnet ist; s gibt die zu S gehörigen Werte des Winkels an, den jede Gesichtslinie mit der horizontalen Verbindungslinie beider Drehpunkte bildet, a die aus A berechneten kleinen Änderungen dieses Winkels; die letzte Reihe v enthalt das Verhältnis der eben merklichen Annäherung zur absoluten Entfernung.

                                    S     —         s             —         A     —         a         —         v
                                 180    —     89°  2,5'     —         3,5   —         68"     —     1/50

             170   —      88° 59'       —         3       —         66"     —     1/55
             160   —      80° 55,5"   —         3       —         73"     —     1/54
             150   —      88° 51'      —          3       —         85"     —     1/48
             130   —      88° 40,5'   —          2       —         74"     —     1/64
             110   —      88° 26'      —          2       —       104"     —     1/54
               80   —      87° 51'      —          2       —       199"     —     1/39
               70   —      87° 32,5'   —          1,5    —       193"     —     1/45
               60   —      86° 34'      —          1       —       252"     —     1/50
54) Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, S. 195, 415. Ich habe diese Versuche, um den Einfluß zu beseitigen, welchen die Verschiebung des Netzhautbildes ausübt, so ausgeführt, daß die Augen, nachdem sie im Moment der Bewegung des Fadens auf kurze Zeit geschlossen waren, immer zuerst auf die entfernte Wand und dann auf den näher gerückten Faden sich einstellten. Der Umstand, daß man hierbei einen gegenwärtigen Eindruck mit einem im Gedächtnis zurückgebliebenen vergleicht, begründet keinen Unterschied an den Augenmaßversuchen, da bei diesen die zwei Distanzen ebenfalls durch sukzessive Ausmessung verglichen werden. In andern Versuchen wurde außerdem der Faden fortwährend fixiert, während die Annäherung desselben stattfand, ohne daß dabei die Resultate merklich andere wurden.

    Hiernach nimmt mit zunehmender Konvergenz die absolute Winkelverschiebung der Gesichtslinie, welche noch bemerkt werden kann, bedeutend zu, die unter v verzeichnete relative Änderung zeigt dagegen sehr geringe Schwankungen, so daß man, mit Rücksicht auf die Ungenauigkeiten der Methode, die Beobachtungen wohl als hinreichend im Einklange stehend mit dem psychophysischen Grundgesetze betrachten kann. Außerdem lassen sich aus dieser Reihe noch zwei beachtenswerte Ergebnisse entnehmen: erstens stimmt die absolute Größe der eben merklichen Winkelverschiebung a des Auges unter den günstigsten Bedingungen, bei möglichst geringer Konvergenz nämlich, sehr nahe mit den kleinsten Unterschieden des Netzhautbildes überein, wie sie sich unter den gewöhnlichen Versuchsbedingungen ergeben; zweitens fällt die Unterschiedsschwelle v für die Drehung des Auges nahe zusammen mit den eben merklichen Unterschieden des Augenmaßes für Distanzen. Das erste dieser Resultate spricht dafür, daß die Augenbewegung schon bei der Auffassung der kleinsten erkennbaren Unterschiede des Netzhautbildes von bestimmendem Einflusse ist; das zweite macht es wahrscheinlich, daß unser Augenmaß für den Unterschied von Distanzen auf unserer Fähigkeit, Grade der Augenbewegung zu unterscheiden, beruht55). Damit ist die Gültigkeit des psychophysischen Gesetzes für das Augenmaß auf seine Gültigkeit für die Innervationsgefühle zurückgeführt, und demnach wird auch die oben erwähnte untere Grenze desselben aus der bei allen intensiven Empfindungen im gleichen Sinne vorkommenden Abweichung zu erklären sein. Wahrscheinlich existiert beim Augenmaß ebenfalls eine obere Grenze des Gesetzes; doch ist dieselbe, wegen der Schwierigkeit größere Ausdehnungen mit dem Auge zu umfassen, bis jetzt nicht nachgewiesen.

55) Man könnte möglicher Weise zweifeln, ob bei diesen Versuchen die Annäherung des Fadens nicht doch an der Verschiebung des Netzhautbildes bemerkt worden sei. Dies wird aber durch die Tatsache widerlegt, daß bei fortwährender Fixation (siehe vor. Anm.) die Unterscheidungsgrenze v in derselben Weise zunimmt, während doch dann ihre absolute Größe konstant, nämlich ungefähr gleich dem kleinsten erkennbaren Unterschied des Netzhautbildes bleiben müßte; sie übertrifft aber dasselbe, wie die obige Tabelle lehrt, schon bei einer Entfernung des Fadens, die gar keine erhebliche Konvergenzanstrengung voraussetzt (70–50 cm), um das 4- bis 5-fache seiner Größe. Schon hierdurch wird die Annahme, welche Helmholtz (physiol. Optik S. 651) als möglich hinstellt, daß bei diesen Versuchen doch vielleicht das Auge ruhend geblieben sei und dagegen das Netzhautbild sich verschoben habe, unhaltbar. So bedeutende Verschiebungen der Netzhautbilder müßten dem Beobachter unrnittelbar in Folge der entstehenden Doppelbilder auffallen. Auch ist man sich der angewandten Konvergenzanstrengung, wie jeder Beobachter weiß, der einmal Konvergenzversuche gemacht hat, sehr wohl bewußt. Nur bei passiven Bewegungen des Auges oder des ganzen Körpers kann eine Verwechslung der eigenen Bewegung mit der Bewegung der Objekte eintreten; aber auch hier geschieht sie stets nur so, daß die eigene Bewegung ignoriert wird und daher die äußern Gegenstände im entgegengesetzten Sinne bewegt scheinen. Niemals aber ist es möglich, eine aktive Bewegung des Auges zu verkennen oder nun gar eine Bewegung der Objekte bez. des Netzhautbildes für eine aktive Bewegung des Auges zu halten.

    Viel ungenauer als bei Abständen gleicher Richtung wird unser Augenmaß, wenn wir solche von verschiedener Richtung vergleichen. Der Fehler in der Schätzung der Raumgrößen wird hier vergrößert, indem unsere Auffassung der Distanzen verschiedener Richtung konstante Unterschiede zeigt, welche bei der Vergleichung der vertikalen und horizontalen Richtung am größten sind. Vertikale Abstände halten wir nämlich regelmäßig für größer, als gleich große horizontale. Will man daher nach dem Augenmaß eine regelmäßige Figur, z. B. ein Quadrat, ein gleichschenkeliges Kreuz, zeichnen, so macht man immer die vertikale Dimension zu klein, und ein wirkliches Quadrat erscheint wie ein Rechteck, dessen Höhe größer ist als seine Basis56). Die Täuschung ist am größten, wenn man Punktdistanzen vergleicht, wo ich sie bis auf 1/5 sich erheben sah, indem einer vertikalen Distanz von 20 eine horizontale von 25 Mm. gleich geschätzt wurde; sie ist viel kleiner bei der Vergleichung von Lineargrößen, und auch hier wechselt sie nach der Beschaffenheit der Figuren: ich finde sie z. B. an einem gleichschenkeligen Kreuz oder an einem gleichschenkeligen Dreieck von gleicher Höhe und Grundlinie größer als an einem Quadrate; sie verschwindet völlig beim Kreis. Der Grund dieser Abweichungen liegt wohl darin, daß wir bei regulären geometrischen Formen, wie beim Quadrate und besonders beim Kreis, durch die häufige Betrachtung genau gezeichneter Figuren, die Unrichtigkeiten der Schätzung einigermaßen korrigieren gelernt haben. Ein derartiger Einfluß fällt am meisten hinweg bei der Schätzung von Punktdistanzen, und wir dürfen daher wohl annehmen, daß wir dabei den ursprünglichen Unterschieden des Augenmaßes am nächsten kommen. Man kann aber diese Unterschiede, wie ich glaube, auf die verschiedene Größe der Muskelanstrengungen zurückführen, welche das Auge braucht, um sich nach den verschiedenen Richtungen im Sehfelde zu bewegen. Wir haben gesehen, daß unter den einfachsten mechanischen Bedingungen die Seitenwendung des Auges in der Primärlage geschieht, indem an derselben nur das Muskelpaar des Rectus externus und internus in merklicher Weise beteiligt ist. Dagegen wirken bei der Hebung und Senkung zwei Muskelpaare, Rectus superior und inferior und die Obliqui, zusammen, und nach der Lage dieser Muskeln muß hierbei ein Teil des Drehungsmomentes eines jeden durch dasjenige des ihm beigegebenen Muskels aufgehoben werden; denn der gerade und der mit ihm zusammenwirkende schiefe Muskel unterstützen sich nur in Bezug auf Hebung und Senkung, sie wirken sich aber entgegen in Bezug auf die Rollung des Auges um die Gesichtslinie57). Hebung und Senkung geschehen also notwendig mit größerer Muskelanstrengung als Außen- und Innenwendung. Wenn nun das Innervationsgefühl ein Maß der Muskelanstrengung und zugleich des bei der Bewegung zurückgelegten Weges ist, so erklären sieh ungezwungen jene mit der Richtung wechselnden Unterschiede der Schätzung: wir müssen die vertikale Distanz für größer als eine ihr gleiche horizontale halten, weil zu ihrer Abmessung mit der Bewegung eine stärkere Innervation des Auges erfordert wird. Damit ist übrigens durchaus nicht gesagt, daß wir, um die angegebene Täuschung hervortreten zu sehen, eine wirkliche Bewegung des Auges ausführen müssen. Vielmehr ist dieselbe bei starrer Fixation der Figuren oder bei momentaner Beleuchtung durch den elektrischen Funken ebenfalls deutlich zu sehen. Dies hängt mit der, wie wir weiter unten sehen werden, durchweg nachweisbaren Fähigkeit unseres Gesichtssinns zusammen, Raumgrößen, bei deren Abmessung ursprünglich offenbar die Bewegung des Auges wirksam gewesen ist, dann auch nach dem unbewegten Netzhautbild abzuschätzen. Dieser Umstand bildet daher auch keinen Einwand gegen unsere Ableitung, bei der es sich ja vielmehr darum handelt nachzuweisen, wie in den Abmessungen des ruhenden Sehfeldes der Einfluß der Bewegungen zum Vorschein kommt, ein Gesichtspunkt, welcher bei allen noch zu besprechenden Erscheinungen festgehalten werden muß. Wenn ein Phänomen nur bei bewegtem Auge wahrgenommen wird, so ist damit allerdings der Einfluß der Bewegung auf dasselbe streng bewiesen; man kann aber nicht, wie es bisweilen geschehen ist, umgekehrt schließen, auf ein Phänomen, das in der Ruhe bestehen bleibt, sei die Bewegung ohne Einfluß.

56) Zuerst hat, wie ich glaube, Oppel (Jahresber. des Frankfurter Vereins (1854 bis 1835. S.37) auf diese Täuschung aufmerksam gemacht; ohne dessen Beobachtungen zu kennen, habe ich die gleiche Erscheinung bemerkt und sie alsbald auf die Asymmetrie der Muskelanordnung zurückgeführt (Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung S. 158). Mit Unrecht sind auch Versuche von fick hierauf bezogen worden, in denen derselbe ein kleines schwarzes Quadrat auf hellem Grunde abwechselnd in Höhe- und Breitedurchmesser vergrößert sah: sie sind offenbar auf die reguläre Meridianasymmetrie des Auges zurückzuführen, wie dies auch von Fick selbst geschehen ist. (FICK, Zeitschr. f. rat. Med. 2. R. II, S. 83. HELMHOLTZ, physiol. Optik S. 596.)

57) Vergl. oben.

    Ähnlichen, doch viel geringeren Täuschungen sind wir bei der Vergleichung solcher Entfernungen unterworfen, von denen die eine im obern, die andere im untern Teile des Sehfelds gelegen ist: wir sind dann immer geneigt, die obere Distanz zu überschätzen. Sucht man eine vertikale gerade Linie nach dem Augenmaß zu halbieren, so macht man die obere Hälfte in der Regel zu klein; in Versuchen von delboeuf belief sich die durchschnittliche Differenz auf 1/1658). Noch kleinere Unterschiede werden in der Ausmessung der äußern und innern Hälfte des Sehfelds wahrgenommen; sie sind überdies nur bei einäugigem Sehen nachweisbar. Bei binokularer Betrachtung halbiert man nach dem Augenmaß eine horizontale Linie ziemlich genau in der Mitte; die kleinen Fehler, die begangen werden, weichen durchschnittlich ebenso oft nach der einen wie nach der andern Richtung ab. Sobald man dagegen das eine Auge schließt, so ist man geneigt, die äußere Hälfte, also für das rechte Auge die rechte, für das linke Auge die linke, zu klein zu machen. Doch scheint sich dieser Fehler nach Versuchen von KUNDT höchstens auf 1/40 zu belaufen59). Auch diese Erscheinungen erklären sich aus der Verteilung der Muskelkräfte am Augapfel. Der untere übertrifft nämlich den oberen geraden Augenmuskel bei gleicher Länge ziemlich bedeutend an Querschnitt, ebenso der innere den äußeren60). Demgemäß darf man wohl annehmen, daß, um eine gleich große Exkursion des Augapfels zu Stande zu bringen, der obere Muskel einer etwas größeren Energie der Innervation bedarf als der untere, der äußere einer größeren als der innere. Im letzteren Fall müssen die hierdurch verursachten Verschiedenheiten der Ausmessung des Sehfelds bei binokularer Betrachtung sich aufheben. Die erwähnten Erscheinungen haben demnach ihren eigentlichen Grund in der früher schon hervorgehobenen Bevorzugung der geneigten Blickrichtung und der Konvergenzbewegungen61). Die Überschätzung der oberen Teile des Sehfeldes in Bezug auf ihre vertikalen Dimensionen macht sich auch bei folgenden Beobachtungen geltend. Ein S oder eine 8 in gewöhnlicher Druckschrift scheinen aus einer oberen und unteren Hälfte von beinahe gleicher Größe zu bestehen; stellt man beide Zeichen auf den Kopf, so bemerkt man auf den ersten Blick die Verschiedenheit62).

58) DELBOEUF, note sur certaines illusions d'optique (bulletins de l'acad. roy. de Belgique. 2me sér. XIX. 2) p. 9.
59) Kundt, POGGENDORFF'S Annalen, Bd. 120, S. 118.
60) Siehe Anm. 29.
61) Seite vorstehend über Konvergenz.
62) Delboeuf, a. a. O. p. 6.

    Endlich dürfen wir hierher wohl auch eine eigentümliche Täuschung rechnen, die bei der monokularen Schätzung der Richtung einer vertikalen Distanz vorkommt. Errichtet man nämlich auf einer Horizontallinie eine genau senkrechte Gerade, so scheint dieselbe in einäugigem Sehen nicht vollkommen vertikal zu liegen, sondern etwas nach oben und innen, also für das rechte Auge mit dem oberen Ende nach links, für das linke nach rechts geneigt zu sein. Der äußere Winkel, welchen die Vertikale mit der Horizontalen macht, erscheint daher etwas größer, der innere etwas kleiner als 90°. In Versuchen VOLKMANN'S betrug die Differenz durchschnittlich 1,307° für das linke, 0,82° für das rechte Auge63). Eine unmittelbare Folge dieser Täuschung ist es, daß, wenn man zu einer gegebenen Horizontalen eine Senkrechte nach dem Augenmaß zieht, man derselben eine mit ihrem obern Ende nach außen geneigte Lage gibt. So ist in Fig. 110 a b die scheinbare Vertikale für mein rechtes, c d für mein linkes Auge; die Richtungen der wirklichen zur Horizontallinie A B in r und l senkrecht stehenden Geraden ist durch die kurzen Striche ab und gdangedeutet. Bei binokularer Betrachtung verschwindet die Täuschung, ähnlich derjenigen über die Halbierung einer horizontalen Entfernung, oder es bleiben höchstens sehr kleine Abweichungen. Auch diese Erscheinung findet in den Gesetzen der Augenbewegung ihre Erklärung. Wir sahen, daß sich in Folge der vorzugsweise für das Sehen in geneigter und konvergierender Stellung der Gesichtslinien angeordneten Verteilung der Muskelkräfte die Senkung des Blicks unwillkürlich mit Einwärtswendung, die Hebung mit Auswärtswendung verbindet. Wollen wir daher den Blick in vertikaler Richtung von oben nach unten bewegen, so wird er dabei unwillkürlich etwas nach innen abgelenkt. Demgemäß wird denn auch diese Bewegung als eine solche aufgefaßt, welche der vertikalen Richtung im Sehfeld entspricht, und eine wirkliche Vertikallinie muß nun nach der entgegengesetzten Seite geneigt erscheinen. Es gibt einen bestimmten Fall, wo das Auge, wenn es eine im Blickfeld vertikale Gerade fixierend verfolgen will, in der Tat jene schwache Einwärtsdrehung ausführen muß, dann nämlich, wenn das ebene Blickfeld auf einer abwärts geneigten Richtung der Gesichtslinie senkrecht steht, d. h. wenn die Gerade mit ihrem oberen Ende vom Beobachter weggeneigt ist. So steht auch diese Erscheinung wieder in Beziehung zu der Lage der Primärstellung und der bevorzugten Bedeutung derselben für das Sehen64).

63) Volkmann, physiol. Untersuchungen im Gebiete der Optik II. S. 224. Bei binokularer Betrachtung betrug die Abweichung 0,11° nach links, was mit der stärkeren Neigung der linken Vertikalen übereinstimmt.

64) Vergl. vorst. Ausführungen.

    Eine zweite Klasse von Täuschungen des Augenmaßes beruht, wie oben bemerkt wurde, auf der allgemeinen Tatsache, daß uns solche Abstände, welche das Auge bei seiner Bewegung fortwährend fixierend durchmessen kann, in welchen also demselben eine Reihe von Fixationspunkten gegeben ist, größer erscheinen als leere Entfernungen. Zeichnet man eine Linie und daneben als unmittelbare Verlängerung derselben eine Punktdistanz von gleicher Größe, wie in Fig. 111, so erscheint die letztere kleiner. Zeichnet man ferner, wie in Fig. 112, eine Linie, deren eine Hälfte geteilt, die andere ungeteilt ist, so erscheint hinwiederum die letztere Hälfte kleiner als die erstere. Dieser Versuch zeigt, daß es bei der Abmessung der Distanzen nicht bloß darauf ankommt, ob dem Blick überhaupt Fixationspunkte geboten sind, an denen er entlang geht, sondern daß außerdem die Anordnung derselben von wesentlichem Einflusse ist. Eine Reihe distinkter Punkte, durch Abstände getrennt, mögen diese nun wieder durch eine Gerade verbunden sein oder nicht, erweckt die Vorstellung einer größeren Entfernung als eine einfache gerade Fixationslinie. Füllt man daher den Flächenraum eines Quadrats im einen Fall mit parallelen Horizontallinien, im andern mit Vertikallinien aus, so erscheint dort die vertikale, hier die horizontale Dimension größer (A und B Fig. 113); im letzteren Fall wird also die gewöhnliche Begünstigung der Höhendimension im Augenmaß überwunden. Eine schräge Linie, die man durch eine solche Figur zieht, z. B. a b, erscheint in Folge dessen an der Ein- und Austrittsstelle etwas geknickt. Wenn ferner von zwei gleich großen Winkeln der eine ungeteilt, der andere durch Linien in viele kleinere Winkel eingeteilt ist, so erscheint dieser größer als jener. So hält man von den zwei rechten Winkeln in Fig. 114 den eingeteilten für größer als den nicht eingeteilten; auch erscheint die Horizontallinie in ihrer Mitte etwas geknickt, als wenn beide Winkel zusammen größer als 180° wären. Aus demselben Grunde erscheint von zwei ungleichen Winkeln, die zusammen 180° ausmachen (Fig. 115), der stumpfe verhältnismäßig zu klein und der spitze zu groß. Der Grund liegt darin, daß wir den Winkel, welcher b zu einem rechten ergänzt und so den Unterschied von dem stumpfen Winkel d bestimmt, durch ein bloß gedachtes Perpendikel abmessen; wir schätzen daher diesen Ergänzungswinkel zu klein. Man kann sich hiervon überzeugen, wenn man auf der entgegengesetzten Seite das Lot wirklich zieht: es erscheint dann der Winkel b größer als der ihm gleiche Scheitelwinkel a . Aus dem gleichen Prinzip erklärt sich auch die auffallende Täuschung bei dem von zoellner beschriebenen Muster in Fig. 116 65). Die in Wirklichkeit parallelen Vertikalstreifen desselben erscheinen nicht parallel, sondern immer nach derjenigen Richtung divergierend, nach welcher die Querstreifen geneigt sind. Die Täuschung ist am geringsten, wenn die Längsstreifen vertikal oder horizontal gestellt sind, sie wird am größten, wenn man denselben eine Neigung von 45° zum Horizont gibt, eine horizontale Richtung des Blicks vorausgesetzt. Sie vermindert sich und verschwindet zuweilen ganz, wenn man einen Punkt der Zeichnung starr fixiert. Doch ist zu ihrer Entstehung nicht unbedingt notwendig, daß der Blick kontinuierlich über die Zeichnung wandert, sondern es genügt, daß sich derselbe sukzessiv auf verschiedene Punkte derselben einstellt. Die Täuschung bleibt nämlich annähernd ebenso lebhaft, wenn man durch eine Reihe elektrischer Funken in schnell aufeinander folgenden Momenten das Objekt erleuchtet66). Bei der Erklärung dieser Erscheinung müssen wir erwägen, daß, wie ZOELLNER mit Recht hervorgehoben hat, unsere Auffassung des Parallelismus zweier Linien eine viel verwickeltere Sache ist als die Schätzung der Neigung zweier Linien zu einander. Um zu erkennen, daß Linien parallel sind, d. h. daß ihre kürzeste Entfernung überall gleich groß ist, müssen wir diese Entfernung sukzessiv an verschiedenen Stellen abmessen; die Neigung zweier Linien schätzen wir dagegen mit einem einzigen Blick ab. Nun setzt sich das ZOELLNER'sche Muster aus zwei Bestandteilen zusammen, aus den parallelen Längsstreifen und aus den schrägen Querstreifen. Für die Bestimmung der Form ist aber zunächst die Neigung der letzteren bestimmend, da die Auffassung des Parallelismus eine kompliziertere Ausmessung voraussetzt. Wenn wir nun die spitzen Winkel der schrägen Streifen für größer halten, als sie wirklich sind, so müssen die Längsstreifen nach der Seite, auf welcher die spitzen Winkel liegen, zu divergieren scheinen. Die Größe, dieser Täuschung wird dann noch dadurch mitbeeinflußt, ob in unserer Anschauung mehr oder weniger Anhaltspunkte sind, den Parallelismus der Längsstreifen zu erkennen. Deshalb ist offenbar bei vertikaler und horizontaler Richtung der letzteren die Täuschung ein Minimum, denn in diesen Richtungen sind wir hauptsächlich gewohnt, das Richtungsverhältnis von Linien auszumessen. Aus demselben Grunde kann ferner die Täuschung bei starrer Fixation oder, was auf dasselbe hinauskommt, im Nachbilde verschwinden. Hierbei fällt nämlich das Bild unverändert auf dieselben Netzhautstellen, die in früheren Wahrnehmungen stets auf parallel gelegene Objekte bezogen wurden. Wir haben also hier einen Fall vor uns, wo die Bewegung des Auges, statt, wie es gewöhnlich der Fall ist, die größere Genauigkeit der Vorstellung zu vermitteln, vielmehr die Entstehung der Täuschung begünstigt.

65) Zoellner, Poggendorff's Annalen Bd. 109. S 500. Wieder abgedruckt in dessen Werk über die Natur der Kometen. Leipzig 1872. S. 380.
66) Zoellner, über die Natur der Kometen, S. 407.

    Auch die Abhängigkeit des Augenmaßes von der Ausfüllung der Abstände mit Fixationspunkten und Linien läßt sich am einfachsten auf die Innervationsgefühle bei der Bewegung des Auges zurückführen. Man könnte zwar denken, es sei im Grunde gleichgültig, ob der Blick eine Linie oder eine Reihe von Merkpunkten fixierend verfolgt, oder ob er eine leere Distanz durchwandert, denn für eine gegebene Entfernung sei immer dieselbe Muskelanstrengung erforderlich. Dagegen ist zu bemerken, daß man, namentlich wenn die Abstände größer sind, sehr wohl bei der Vergleichung dieser verschiedenen Fälle einen Unterschied empfindet. Es scheint mir anstrengender, eine gerade Linie fixierend zu verfolgen, als dieselbe Distanz mit freiem Blick zu durcheilen. Der Grund liegt wohl darin, daß bei der freien Bewegung das Auge immer diejenigen Bahnen einschlägt, die ihm aus mechanischen Gründen, die bequemsten sind, während die Verfolgung bestimmter Fixationslinien stets einen gewissen Zwang voraussetzt67). Ist ferner statt der Fixationslinie eine Reihe diskreter Fixationspunkte gegeben, so wird die ganze Bewegung gleichsam in eine Anzahl kleiner Bewegungsanstöße getrennt. Eine solche stoßweise Bewegung ist aber offenbar wieder anstrengender als die kontinuierlich fixierende Bewegung des Blicks. Auch für diese Täuschungen muß übrigens festgehalten werden, daß sie, wenn auch die Bewegung ihre Quelle ist, doch bei ruhendem Auge nicht notwendig verschwinden, obgleich manche derselben allerdings bei starrer Fixation geringer werden. Dies hat keine Schwierigkeit, sobald man annimmt, daß die Bewegung überhaupt ein wesentlicher Faktor bei der Bildung der Gesichtsvorstellungen ist; es erscheint im Gegenteil dann als eine notwendige Konsequenz des Satzes, daß für das Sehfeld des ruhenden Auges diejenigen Abmessungen gültig sind, welche sich mit Hilfe der Bewegung gebildet haben68). Wohl aber bedarf die Frage, wie es möglich sei, daß sich die bei der Bewegung entstandene Lagebestimmung der Punkte fixiert, einer besonderen Untersuchung, auf die wir am Schlusse dieses Kapitels zurückkommen werden, wo die Bildung der räumlichen Gesichtsanschauung auf Grundlage der im Vorangegangenen dargelegten physiologischen Hilfsmittel im Zusammenhang erörtert werden soll.

67) Dies gilt wohl sogar für den Fall, wo das Auge von der Primärstellung aus im ebenen Blickfeld gerade Linien zu verfolgen hat, da auch hier. wie die oben gem. Anm. angeführten Nachbildversuche lehren, das frei bewegte Auge nicht vollkommen dem LISTING'schen Gesetze folgt.

68) Vergl. oben.

    Die im obigen beschriebenen pseudoskopischen Erscheinungen lassen sich natürlich in der mannigfaltigsten Weise variieren; hier mögen nur noch einige Beispiele angeführt werden. Einen weiteren Beleg zu dem Satze, daß wir stumpfe Winkel zu klein, spitze zu groß schätzen, gibt die Fig. 117. Da man in derselben die Winkel, welche die Seiten des eingeschriebenen Quadrats mit den Kreisbogen bilden, zu groß sieht, so erscheint jeder der vier Kreisbogen stärker gekrümmt, als ob er einem Kreis von kleinerem Halbmesser angehörte und die Seiten des Quadrats scheinen ein wenig nach einwärts gebogen zu sein. In Fig. 118 erscheint in Folge des vergrößerten Aussehens der beiden spitzen Winkel ace und bcf die Grade ab bei c geknickt, so daß ac und bc nach unten einen sehr stumpfen Winkel von nicht ganz 180° mit einander zu bilden scheinen. Die umgekehrte Täuschung bemerkt man wegen der scheinbaren Vergrößerung der Winkel a und b an Fig. 119, wo die Stücke ac und cb der Geraden bei c etwas nach oben geknickt scheinen. Verstärkt wird die Täuschung, wenn man auf der gleichen Grundlinie zu ce, cf (Fig. 118) oder ad, bd (Fig. 119) links und rechts Parallellinien zieht, wie in den HERING'schen Mustern Fig. 120, wo außerdem durch die symmetrisch angebrachten untern Teile der Figur die parallelen Linien ab und cd, ähnlich wie in dem ZOELLNER'schen Muster, nicht parallel erscheinen, sondern in der obern Figur von beiden Seiten her nach der Mitte divergierend, in der untern nach der Mitte konvergierend. Die Täuschung wird hier um so größer, je spitzer man die Winkel macht; sie verschwindet, ähnlich wie beim ZOELLNER'schen Muster und noch leichter als bei diesem, bei starrer Fixation oder im Nachbilde. Das nämliche ist bei der ebenfalls von HERING konstruierten Fig. 121 der Fall. Auch hier scheinen die Linien ab und cd, die in Wirklichkeit parallel sind, gegen ihre beiden Enden zu konvergieren. Die Täuschung, die in diesem Fall noch augenfälliger ist, beruht großenteils ebenfalls auf der Überschätzung der spitzen Winkel, welche die vom Mittelpunkt aus gezogenen Strahlen mit den Parallellinien bilden. Außerdem wirkt aber auch der Umstand, daß die leeren Winkel bei ac und ba relativ zu klein geschätzt werden, bei der Täuschung mit; diese wird daher vermindert, wenn man durch Ausfüllung derselben den Stern vollständig macht. In anderer Weise fordern die Täuschungen in Fig. 122 A und B eine gemischte Erklärung. In A erscheint nicht b, sondern c als Fortsetzung von a, obgleich b die wirkliche Fortsetzung und c parallel nach oben verschoben ist. In ähnlicher Weise scheinen in B die drei Stücke der Geraden ab Bruchstücke verschiedener, einander paralleler Linien zu sein. Zum Teil erklärt sich auch diese Erscheinung aus dem Prinzip der Ausfüllung des Sehfeldes. Da uns in vertikaler Richtung Fixationslinien geboten sind, während in horizontaler solche fehlen, so schätzen wir die vertikale Dimension zu groß, was eine Verschiebung der Geraden in der angegebenen Richtung zu Stande bringen muß. Die Täuschung vermindert sich daher bedeutend, wenn man die Figur um 90° dreht. Sie verschwindet aber auch dann nicht ganz. Der jetzt übrig bleibende Teil derselben erklärt sich teils aus der überhaupt bestehenden Begünstigung der vertikalen Dimension im Augenmaß teils aus der oben nachgewiesenen Neigung spitze Winkel zu groß zu schätzen. Wenn nämlich der Winkel, welchen die Linie a mit der vertikalen Seite des Vierecks A einschließt, zu groß erscheint, so muß ihre Fortsetzung auf der andern Seite des Vierecks zu hoch verlegt werden. Daß außerdem auch die gewöhnliche Überschätzung der vertikalen Dimension mitwirkt, lehren folgende Versuche. Zeichnet man, wie in Fig. 123, einfach zwei Bruchstücke einer geraden Linie, a und b, so erscheinen dieselben im nämlichen Sinne, nur unbedeutender, gegen einander verschoben wie im vorigen Fall, und eine etwas höher liegende Gerade c ist die scheinbare Fortsetzung von a. Ferner sind in Fig. 124 die Flächenräume A und B einander vollständig gleich, nur ist in A der Raum von zwei Horizontallinien begrenzt, in B von einer Menge einander paralleler Vertikallinien ausgefüllt. In A sieht man die gewöhnliche Form der Täuschung, indem die Fortsetzung b der Linie a nach c verschoben erscheint; in B aber liegt die scheinbare Fortsetzung c auf der entgegengesetzten Seite von b: hier ist also durch die Verbreiterung der Figur, welche gemäß dem in Fig. 113 gezeichneten Beispiel durch die parallelen Vertikallinien eintritt, die scheinbare Fortsetzung von der wirklichen entfernt worden, statt ihr genähert zu werden.
    Die verschiedenen oben beschriebenen Täuschungen des Augenmaßes haben zu sehr abweichenden Theorien Anlaß gegeben. Um diejenigen Erscheinungen zu erklären, welche von der größeren oder geringeren Ausfüllung mit Fixationspunkten herrühren, haben Hering69) und KUNDT70) angenommen, das Auge messe die Entfernung je zweier Punkte nach der geradlinigen Distanz ihrer Netzhautbilder, also nach der Sehne, welche auf der annähernd eine Hohlkugelfläche bildenden Netzhaut zwischen denselben gezogen werden kann. Diese Sehne ist im Vergleich mit dem Bogen, den das wirkliche Netzhautbild ausfüllt, um so kleiner, je größer die Distanz der zwei Punkte wird. Hiervon soll es also herrühren, daß wir die geteilte Hälfte einer Linie größer sehen als die ungeteilte, da die Summe der kleinen Sehnen, die der geteilten Hälfte in Fig. 112 entsprechen, größer ist als die eine große Sehne, welche das Netzhautbild der ungeteilten Hälfte überbrückt, und daß wir einen spitzen Winkel relativ zu groß, einen stumpfen zu klein sehen, da mit der Größe des Winkels die seinem Netzhautbild entsprechende Sehne verhältnismäßig immer kleiner wird. kundt hat zur Prüfung dieser Hypothese Messungen ausgeführt, die sich aber derselben nur bei größeren Abständen annähernd fügen. Dagegen sind bei kleinern Distanzen die Abweichungen der beobachteten von den berechneten Werten so bedeutend, daß schon hierdurch die Hypothese zweifelhaft wird. Außerdem läßt aber dieselbe vollkommen dunkel, wie wir dazu kommen sollen, die Entfernungen im Sehfelde gerade nach der Sehne ihres Netzhautbildes abzuschätzen. Wenn man eine angeborene Kenntnis der Abmessungen des Netzhautbildes voraussetzt, so liegt es offenbar am nächsten anzunehmen, der Abstand zweier Punkte werde nach der Zahl der zwischenliegenden Netzhautpunkte abgeschätzt; ihr ist aber die Größe des Bogens, nicht der Sehne proportional. Zur Kenntnis der letzteren könnten wir nur gelangen, wenn uns nicht nur im allgemeinen das Nebeneinander der Netzhautpunkte, sondern auch speziell die Gestalt der Netzhaut, namentlich die Größe ihres Krümmungshalbmessers gegeben wäre. Eine andere Hypothese hat helmholtz für die gleichen Erscheinungen aufgestellt. Derselbe hat zwar den Einfluß der Augenbewegungen bei gewissen Gesichtstäuschungen hervorgehoben, er gibt denselben aber nur für solche Fälle zu, wo die Täuschung bei starrer Fixation verschwindet oder geringer wird. Die Fehler in der Beurteilung der Größe von Winkeln u. dergl. führt er, auf eine Art Kontrast für die Richtung von Linien und für Entfernungen zurück, die derjenigen für Lichtstärken und Farben analog sei, und durch die uns geringe Richtungsunterschiede vergrößert erscheinen sollen71). Fände aber wirklich ein derartiges Kontrastgefühl in Bezug auf die Ausmessung räumlicher Entfernungen statt, so wäre zu erwarten, daß sich ein solches auch in Bezug auf den Größenunterschied von Linien und andern Raumgebilden herausstellte; die kleinere von zwei Distanzen sollte also z. B. immer verhältnismäßig zu klein erscheinen. Ein solcher Einfluß läßt sich nun in den oben erwähnten Versuchen von VOLKMANN über die Schätzung von Bruchteilen einer gegebenen Distanz nicht nachweisen. Erstreckt sich die größere der verglichenen Linien über einen ansehnlicheren Teil des ganzen Sehfeldes, so finde ich im Gegenteil, daß wir geneigt sind die kleinere Linie zu überschätzen. Wenn man z. B. zu einer gegebenen Geraden eine andere in gleicher Richtung zieht, der man nach dem Augenmaß dieselbe Größe geben will, so macht man dieselbe häufiger zu klein als zu groß. Sucht man ferner zu einem gegebenen Kreis oder Quadrat eine andere ähnliche Figur vom halben Flächeninhalt zu konstruieren, so macht man dieselbe regelmäßig zu klein72). Wir sind also offenbar geneigt, kleine Raumgebilde im Vergleich mit größeren zu überschätzen, was der Annahme eines Kontrastes geradezu widerspricht, während sich die scheinbare Vergrößerung spitzer Winkel unmittelbar derselben Regel subsumieren läßt. Auch haben wir in diesem Beispiel nur den einfachsten Fall der durch Fig. 114 erläuterten Überschätzung eines Winkels in Folge der Ausfüllung mit Fixationspunkten vor uns. Ein spitzer Winkel ist ein ausgefüllteres Gesichtsobjekt als ein stumpfer, weil in diesem der Blick eine größere Raumstrecke leer zu durchstreifen hat. Die Überschätzung kleiner geradliniger Distanzen im Vergleich mit großen wird darum auch deutlicher, wenn man statt der Linien Punktdistanzen wählt, und aus demselben Grunde ist sie bei Flächenräumen bedeutender als bei geraden Linien. Ein ganz anderes Erklärungsprinzip hat helmholtz für die Täuschungen in der Vergleichung vertikaler und horizontaler Distanzen sowie in der Halbierung horizontaler Linien und über die Richtung der Lotrechten bei monokularem Sehen angewandt. Er leitet nämlich diese Täuschungen sämtlich aus Gewohnheiten des Sehens ab. Die vertikale Dimension sehen wir nach seiner Vermutung zu groß, weil wir die meisten Objekte bei geneigter Lage der Blicklinien betrachten: dabei erscheinen aber vertikale Linien in perspektivischer Verkürzung73). Wenn man sich aus den vorstehend beschriebenen Versuchen erinnert, wie genau wir die Lage und Form des Blickfeldes bei der Lagebestimmung der Objekte in Rücksicht ziehen, so kann man unmöglich diese Erklärung für eine zutreffende halten. Zeichnet man nach dem Augenmaße ein Quadrat, so erscheint dasselbe immer als Quadrat, wenn man auch die Lage des ebenen Blickfeldes etwas verändert. Da nun hierbei je nach der Neigung des letzteren die perspektivische Verkürzung des Netzhautbildes sehr verschiedene Grade hat, so müßte, wenn diese auf die Erscheinung von Einfluß wäre, doch irgend eine Veränderung wahrnehmbar sein. Die ungleiche Halbierung einer horizontalen Distanz bei monokularer Betrachtung leitet Helmholtz davon ab, daß wir bei binokularer Betrachtung gewohnt sind eine Linie so vor die Mitte des Gesichts zu halten, daß wir die rechte Hälfte mit dem rechten Auge, die linke mit dem linken größer sehen74), eine Hypothese, gegen welche dieselben Einwände geltend zu machen sind. Größere Wahrscheinlichkeit hat ohne Zweifel der von helmholtz vermutete Zusammenhang der Neigung der scheinbar vertikalen Linien mit den Bedürfnissen des binokularen Sehens. Die scheinbar vertikale Linie entspricht nämlich häufig dem Netzhautbild derjenigen Geraden, welche in der Fußbodenebene senkrecht gegen den Beobachter hin gezogen wird75). Wir werden unten sehen, daß dies mit der deutlichen Wahrnehmung der Fußbodenebene bei aufrechter Haltung des Kopfes möglicher Weise in Zusammenhang steht. Aber auch hier ist es wahrscheinlich, daß die Bedürfnisse des Sehens in dem Mechanismus der Augenbewegungen ihren Ausdruck gefunden haben, welcher, bei der individuellen Ausbildung wenigstens, als die nähere Ursache der Ausmessungen des Sehens gelten muß. Bei den Täuschungen in Fig. 122 vermutet helmholtz, der den von der schrägen Linie durchsetzten Streifen schwarz abbildet, eine Mitwirkung der Irradiation76). Da aber die Täuschung ungefähr eben so groß bleibt, wenn man die Zeichnung, wie es oben geschehen ist, bloß in Linien ausführt, so kann die Irradiation kaum in nennenswerter Weise an derselben beteiligt sein. Wir haben vorhin durch direkte Versuche erwiesen, daß hier außer der Größenschätzung der spitzen Winkel die Ausfüllung durch Fixationslinien und die allgemeine Vergrößerung der vertikalen Dimension zusammenwirken, Momente, welche übrigens sämtlich auf einen und denselben ursprünglichen Grund, nämlich die Ausmessung nach den Innervationsgefühlen, zurückführen. So glaube ich es denn überhaupt als einen Vorzug der oben aufgestellten Theorie ansehen zu müssen, daß sie alle Erscheinungen von einem und demselben Prinzip aus erklärt. Es scheint mir aber an und für sich unwahrscheinlich, daß die Ausmessung des Sehfeldes von so außerordentlich verschiedenartigen, in gar keinem Zusammenhang stehenden Einflüssen abhängen soll, wie sie von verschiedenen Forschern angenommen worden sind.

69) Beiträge Kap. III.
70) Poggendorff's Annalen Bd. 120 S. 125.

71) Helmholtz, physiol. Optik S. 571. An einer andern Stelle (ebend. S. 562; gibt HELMHOLTZ der Regel eine andere Form. Deutliche Unterschiede, sagt er hier, erscheinen uns größer als undeutliche. Aber daß wir eine geteilte Linie deutlicher als eine ungeteilte sehen, scheint mir ein nicht zutreffender Ausdruck. Will man damit sagen, daß uns die Raumerstreckung von einem Punkte der Teilung zum andern eine größere extensive Vorstellung erweckt als die ungeteilte Distanz, so ist damit eben nicht mehr als die Tatsache ausgedrückt, nach deren Erklärung gesucht wird. Übrigens zeigt schon das Schwankende dieser Definitionen, wie unsicher die Übertragung des Kontrastbegriffs auf die räumliche Vorstellung ist.

72) Vergl. ähnliche Beobachtungen bei Oppel, Jahresber. des Frankfurter physikal. Vereins. 1856–57 S. 49.
73) Helmholtz, physiol. Optik, S. 559.
74) Ebend. S. 573.
75) Helmholtz, phys. Optik S. 715.
76) Ebend. S. 564.

    Bis hierhin haben wir die Einflüsse kennen gelernt, welche die Bewegung des Auges auf die Lagebestimmung und Ausmessung der Gegenstände ausübt, wenn die letzteren unbewegt sind. Weitere Verwickelungen treten für die Bildung der Vorstellungen ein, wenn die Gegenstände selbst sich bewegen. Hierbei kann entweder das Auge in Ruhe bleiben, oder es kann gleichzeitig mit dem Gegenstande bewegt werden. Im ersteren Falle bemessen wir die Geschwindigkeit der Objekte nach der Verschiebung des Netzhautbildes. Da wir von der Ruhe unseres Auges ein deutliches Bewußtsein besitzen, so beziehen wir den kontinuierlichen Wechsel des Netzhautbildes auf die wirkliche Bewegung der äußeren Gegenstände, von deren Geschwindigkeit wir demnach eine ziemlich genaue Vorstellung haben. Diese wird bei rascher Bewegung nur durch die Nachdauer der Empfindung beeinträchtigt, in Folge deren die nach einander kommenden Eindrücke teilweise mit einander verschmelzen. In der Regel aber bleibt das Auge beim Wechsel seiner Gesichtsobjekte nicht ruhend, sondern bewegt sich in gleichem Sinne, indem es unwillkürlich die Gegenstände fixierend verfolgt. Wenn nun Auge und gesehenes Objekt gleichzeitig wandern, so ist eine richtige Auffassung der äußern Bewegung nur möglich, falls wir uns der Geschwindigkeit unserer Augenbewegung fortdauernd genau bewußt bleiben. Dagegen müssen unfehlbar Täuschungen eintreten, sobald wir der Bewegung des Auges in Bezug auf ihre Richtung und Geschwindigkeit nicht vollkommen gewiß sind. In der Tat können nun solche Täuschungen in allen möglichen Graden vorkommen. Am häufigsten und begreiflichsten sind dieselben bei passiven Bewegungen des Körpers. Hier wird mit dem ganzen Körper auch das Auge bewegt; aber da uns keine Muskelanstrengung von dieser Bewegung Kunde gibt, so können wir leicht die Verschiebung der Netzhautbilder auf eine Bewegung der äußern Gegenstände beziehen, gleich als wenn unser Auge ruhend wäre. Übrigens tritt auch hier die Täuschung im allgemeinen nur dann ein, wenn die Geschwindigkeit der passiven Bewegung diejenige unserer eigenen Ortsbewegung erheblich übertrifft. Jene Verschiebungen der Netzhautbilder, welche beim gewöhnlichen Gehen und Laufen entstehen, sind wir offenbar so sehr gewohnt richtig auszulegen, daß uns hier die Täuschung nicht mehr auffällt. Bei rascher Wagen- oder Eisenbahnfahrt zeigt sie sich daher auch am stärksten an nahe gelegenen Gegenständen, während wir weiter entfernte, deren scheinbare Verschiebung derjenigen bei der gewöhnlichen Geschwindigkeit der Ortsbewegung ungefähr entspricht, leicht als ruhend auffassen können77). Wie wir in diesen Fällen eine Bewegung des Auges, weil sie passiv ist, übersehen, so können wir auch eine aktive Augenbewegung verkennen oder wenigstens unterschätzen, wo dann derselbe Erfolg eintreten muß. Was wir an der wirklichen Augenbewegung ignorieren, muß als eine Bewegung der Objekte in entgegengesetztem Sinne gedeutet werden. Hierauf beruht die Erfahrung, daß, wenn man Objekte, die längere Zeit mit einer gewissen Geschwindigkeit in gleich bleibender Richtung bewegt werden, betrachtet hatte, und nun den Blick auf ruhende Gegenstände wendet, diese während kurzer Zeit in entgegengesetztem Sinne bewegt scheinen. Verfolgt man z. B. bei der Eisenbahnfahrt die nahe befindlichen, in rascher Scheinbewegung begriffenen Gegenstände, und blickt dann auf den Fußboden des Wagens, so scheint dieser in der Richtung des Zugs dem Blick zu entfliehen. Nimmt man ferner zwei Scheiben mit abwechselnd schwarzen und weißen Sektoren, wie sie zu Versuchen am Farbenkreisel dienen, und läßt man die eine längere Zeit mit solcher Geschwindigkeit vor dem Auge rotieren, daß noch eben die einzelnen Sektoren deutlich von einander zu unterscheiden sind, so scheint, wenn man plötzlich den Blick von der bewegten auf die ruhende Scheibe wendet, diese sich in entgegengesetztem Sinne zudrehen78). Endlich gehören hierher die im (Kap. V.) schon besprochenen Schwindelerscheinungen, bei denen stets eine Scheinbewegung der Objekte vorhanden ist, die z. B. beim Drehschwindel in der Richtung der Drehung, also ebenfalls entgegengesetzt der vorangegangenen Bewegung der Objekte, erfolgt. Daß bei diesen Tauschungen die Augenbewegung wesentlich bestimmend ist, erhellt aus dem Einflusse der Fixation. Die Scheinbewegung tritt nämlich nur dann ein, wenn man mit dem Blick absichtlich oder unwillkürlich die bewegten Objekte verfolgt hat; sie bleibt aus, wenn man vollkommen fest irgend einen Punkt fixiert, der selbst im Verhältnis zum Auge unbewegt bleibt, z. B. beim Fahren auf der Eisenbahn das Fensterkreuz des Wagens. Die eigentliche Ursache der Scheinbewegung wird demnach in folgender Weise zu denken sein. Nachdem wir längere Zeit bewegte Gesichtsobjekte mit dem Blick verfolgt haben, vollzieht sich mehr und mehr unsere Augenbewegung ohne deutliches Bewußtsein, und zugleich verlieren wir auf kurze Zeit die Fähigkeit, ruhende Gegenstände fest zu fixieren. Wenden wir daher auf einen solchen den Blick, so dauert unwillkürlich die vorige Augenbewegung fort: da wir aber zugleich von dieser kein Bewußtsein haben, so muß nun das Objekt im entgegengesetzten Sinne bewegt scheinen. In der Tat kann ein objektiver Beobachter solche Augenbewegungen wahrnehmen. Außerdem vermindert sich, wenn man längere Zeit ein gleichförmig bewegtes Objekt fixierend verfolgt, mehr und mehr die Vorstellung der Bewegung: wir verlieren also offenbar allmälig das Bewußtsein der stattfindenden Augendrehung. Unter diesen verursachenden Erscheinungen bietet die unwillkürliche Verfolgung des bewegten Objektes mit dem Blick sowie die als Nachwirkung bleibende Drehung des Auges keine Schwierigkeit, da sie mit vielen andern Beobachtungen im Einklang stehen. Bekanntlich bedarf es besonderer Übung, ehe man im Stande ist, den Fixationspunkt vor oder hinter dem gesehenen Objekte zu wählen: hierin macht sich deutlich der Zwang zur Fixation der Objekte geltend. Wenn wir ferner von einer Beschäftigung kommen, bei der wir nur nahe Gegenstände betrachtet haben, z. B. vom Lesen, so bedarf es oft einer gewissen Zeit, ehe das Auge ferne Gegenstände deutlich aufzufassen vermag, weil leicht als Nachwirkungen der vorangegangenen Augenbewegungen noch unwillkürliche Konvergenzstellungen eintreten. Diese Tatsachen, die sichtlich mit den Erscheinungen der Übung und Gewöhnung zusammenhängen, finden in mehrfach erörterten Prinzipien der physiologischen Mechanik der Nerven ihre Erklärung79). Zweifelhafter kann man darüber sein, warum uns das Bewußtsein einer fortdauernd in einer Richtung stattfindenden Augendrehung allmälig abhanden komme. Man hat hier an eine psychologische Erklärung gedacht. Wir seien, meint helmholtz, gewöhnt, ruhende Objekte zu fixieren, bei der Verfolgung bewegter Gegenstände gewöhnten wir uns nun, die hierzu erforderlichen Willensimpulse als die zur Fixation geeigneten zu betrachten80). Aber diese Hypothese gibt über den Grund, weshalb uns die stattfindende Augenbewegung entgeht, keine Rechenschaft; auch läßt sich nicht sagen, daß Willensimpulse die Fixation verursachen, da wir vielmehr ganz unwillkürlich dem bewegten Objekt mit dem Blick folgen. Ein wesentliches, hierbei ganz übersehenes Moment, mit welchem namentlich der alle diese Erscheinungen begleitende Schwindel zusammenhängt, liegt, wie schon früher angedeutet wurde, in der Unmöglichkeit, eine wirkliche Fixation zu Stande zu bringen81). Indem wir ein Objekt mit dem Blick zu verfolgen suchen, entschwindet es uns, wir suchen ein neues festzuhalten, hier wiederholt sich der nämliche Vorgang, u. s. f. Während daher das Auge nach der Seite gedreht ist, nach welcher sich die Objekte bewegen, finden fortdauernde Innervationsanstrengungen in der entgegengesetzten Richtung statt. Diese bleiben aber wirkungslos, weil der neue Gegenstand, auf den sich das Auge einzustellen sucht, immer wieder in der früheren Richtung entschwindet und den Blick nach sich zieht. Nun haben wir den wichtigen Einfluß solcher Innervationsanstrengungen auf die Lokalisation der Gesichtsobjekte oben kennen gelernt. Da die Lage und Richtung der Gegenstände nicht sowohl nach der wirklich ausgeführten Bewegung als nach dem Innervationsgefühl bemessen wird. so muß in Folge jener der Richtung der Bewegung entgegengesetzten Innervation die Geschwindigkeit der Bewegung unterschätzt werden, wie man dies in der Tat beobachtet. Wendet man nun den Blick auf ein ruhendes Objekt, so dauert die vorige Augendrehung noch eine Zeit lang fort, aber sie wird in ihrem Einfluß auf die Lokalisation der Objekte wieder von der ebenfalls fortdauernden entgegengesetzten Innervation kompensiert, so daß jetzt bei scheinbar feststehendem Auge die Gesichtsobjekte eine entgegengesetzte Scheinbewegung einschlagen. In Übereinstimmung hiermit fühlt man im Auge, obgleich man sich einer Drehung desselben nicht deutlich bewußt ist, doch eine Anstrengung.
    Auch in andern Fällen, in denen nicht, wie bei der fortgesetzten Bewegung der Objekte in einer Richtung, Störungen in der normalen Innervation des Auges verursacht werden, können wir uns trotzdem über Ruhe und Bewegung täuschen. Die Bewegung ist eine relative Vorstellung. Wir nennen denjenigen Gegenstand ruhend, der sein Lageverhältnis zu uns selbst nicht wechselt. Wenn zwei Gegenstände ihre gegenseitige Lage im Raume ändern, so erscheint uns derjenige bewegt, dessen Netzhautbild sich verschiebt, oder zu dessen Fixation wir der verfolgenden Augenbewegung bedürfen. Die Entscheidung ist daher leicht und meistens sicher, wenn nur das eine von zwei betrachteten Objekten sein Lageverhältnis zu uns ändert, das andere ruhend bleibt. Immerhin sind auch hier Täuschungen möglich, falls die Bewegung verhältnismäßig langsam geschieht, wo uns die verfolgende Blickbewegung entgehen kann. Wenn z. B. des Abends Wolken am Monde vorüberziehen, so können wir diese Bewegung auf den Mond übertragen, der uns nun in entgegengesetzter Richtung vorüberzuziehen scheint, während die Wolken stille stehen. Bei dieser Täuschung wirkt der Umstand mit, daß wir geneigter sind, kleinere Gesichtsobjekte für bewegt zu halten als größere, eine Neigung, welche sich nur aus der Mehrzahl von Erfahrungen, die für diesen Fall sprechen, erklären läßt. Viel leichter noch treten aber derartige Täuschungen ein, wenn beide gegen einander bewegte Objekte ihre relative Lage zu uns ändern. So wird die vorige Erscheinung viel lebhafter, wenn wir uns selber bewegen. Am unsichersten ist aber auch hier unser Urteil über die Bewegung der Gegenstände, wenn wir selbst passiv bewegt sind. So ist es eine bekannte Täuschung, daß wir, im Eisenbahnzuge sitzend, unsere eigene Bewegung auf die eines andern ruhig danebenstehenden Zuges übertragen; wir können aber auch umgekehrt selber zu fahren glauben, während wir in Wirklichkeit stille sitzen und der nebenstehende Zug in entgegengesetzter Richtung vorbeifährt. Hier ist die Täuschung deshalb so vollständig, weil die stattfindenden Verschiebungen der Netzhautbilder wirklich ebenso gut in der einen wie in der andern Weise ausgelegt werden können. Außerdem entsprechen beide Vorstellungen Ereignissen, die an sich gleich möglich sind, während wir uns bei der gewöhnlichen Scheinbewegung der Bäume, Häuser u. s. w. bei der Vorbeifahrt sehr wohl der wirklichen Verhältnisse bewußt sind.

77) Man sieht die Scheinbewegung, wie ENGELMANN beobachtete, auch noch an den Nachbildern, die man bei der Fahrt von den in Scheinbewegung begriffenen Gegenständen erzeugt; es erscheinen dann aber alle, die ferneren wie die näheren Gegenstände, im Nachbilde mit gleicher Geschwindigkeit bewegt. Auch kann sich die Scheinbewegung des Nachbildes umkehren, wenn man sich bei geschlossenem Auge vorstellt, der Wagen fahre in entgegengesetzter Richtung (Th. W. Engelmann, Jenaische Zeitschr. f. Medizin und Naturwissenschaften III, 4).

78) Eine interessante Modifikation dieses Versuchs vergl. bei plateau, POGGENDORFF'S Annalen Bd. 80, S. 289. Weitere Beobachtungen und Versuche über Bewegungstäuschungen siehe bei Oppel Poggendorff's Annalen Bd. 99, S. 540 und Jahresber. des Frankf. physikal. Vereins. 1859–60. S. 54. Zöllner, Poggendorff's Ann. Bd. 100. S. 500.

79) Vergl. Kap. VI.
80) Helmholtz, physiol. Optik, S. 603.
81) Vergl. Kap. V.

    Unsere beiden Augen sind in physiologischer Hinsicht zusammengehörige Organe. Ähnlich wie bei den Organen der Ortsbewegung beruht die Gemeinschaft ihrer Funktion auf der funktionellen Verbindung ihrer Bewegungsapparate. In jedem Auge wird ein Bild der äußern Objekte entworfen. Dieses Bild ist übereinstimmend, wenn sich die Gegenstände in großer Ferne befinden; es ist verschieden, wenn dieselben so nahe sind, daß im Vergleich zu ihrer Distanz der Abstand der beiden Augen von einander in Rücksicht kommt. Denn im letzteren Falle ist ein Teil der rechts gelegenen Gegenstände dem linken und ein Teil der links gelegenen dem rechten Auge verborgen. Aber obgleich wir immer zwei Bilder, und beim Sehen in die Nähe sogar zwei verschiedene Bilder empfangen, so bemerken wir doch in der Regel nichts von dieser Doppelheit der Empfindung, sondern unsere Vorstellung enthält nur ein einziges Bild der gesehenen Dinge. Diese Einheit der Vorstellung ist aber in der Symmetrie der Bewegungen und Stellungen des Auges begründet. Denn sobald die letztere gestört wird, z. B. beim Schielen in Folge abnormer Muskelverkürzungen oder von Störungen der motorischen Innervation, vereinigen sich die Netzhautbilder nicht mehr in eine einzige Vorstellung, sondern die Gegenstände werden nun doppelt gesehen. Eine natürliche Folge der zusammenstimmenden Funktion des Doppelauges ist es, daß wir nicht unterscheiden können, welche Teile einer Gesichtsvorstellung dem einen oder dem andern Netzhautbilde angehören. Auch wenn wir in Folge gestörter Synergie doppelt sehen, können wir uns daher erst durch abwechselndes Schließen oder Verdecken der Augen überzeugen, von welchem derselben ein jedes der gesehenen Bilder herrührt. Aus dem nämlichen Grunde können Menschen auf dem einen Auge total erblinden, ohne es zu bemerken.
    Die Stellung der beiden Augen zu einander ist unzweideutig bestimmt, wenn man erstens die Richtungen der beiden Gesichtslinien und zweitens die Orientierung jedes einzelnen Auges in Bezug auf seine Gesichtslinie kennt. Letztere wird, wie früher bemerkt, an dem so genannten Rollungs- oder Raddrehungswinkel gemessen. Bei der unmittelbaren Verfolgung der Augenbewegungen pflegen wir zunächst nur die Richtungen der Gesichtslinien zu beachten, die auch allein unter dem direkten Einfluß des Willens stehen. Die Rollungen, die in Folge der mechanischen Bedingungen der Bewegung ohne unser Wissen und Wollen eintreten und die unter allen Umständen sehr klein sind, können durch die physiologische Untersuchung erst nachgewiesen werden; wir wollen daher vorläufig von ihnen absehen, um weiter unten auf sie und ihre Bedeutung für das Doppelauge zurückzukommen. An den Bewegungen der Gesichtslinien gibt sich nun die Synergie des Doppelauges sogleich dadurch zu erkennen, daß sich im allgemeinen stets beide Gesichtslinien gleichzeitig bewegen, und daß gewisse Richtungen der Bewegung mit einander fest verknüpft sind, so daß ihre Verbindung nur unter ungewöhnlichen Verhältnissen oder in Folge besonderer Einübung gelöst werden kann. In dieser Beziehung ist der Zwang zur zusammenstimmenden Bewegung beim Doppelauge sogar viel größer als bei den Organen der Ortsbewegung, und er nähert sich dem Zwang zur bilateralen Aktion, wie er an den vollkommen symmetrisch wirksamen Muskelgruppen, z. B. an den Atmungs- und Schluckwerkzeugen, besteht.
    Beide Augen heben oder senken sich unter allen Umständen gleichmäßig; ungleiche Höhenstellungen derselben gibt es nicht. Seitwärts können sie sich dagegen sowohl um gleiche wie um ungleiche Winkel wenden, dabei müssen aber entweder die Gesichtslinien parallel stehen oder nach irgend einem Punkte konvergieren; Divergenzstellungen sind unmöglich. Unter diesen verschiedenen Bewegungen scheinen diejenigen mit parallel bleibenden Gesichtslinien, welche wir die Parallelbewegungen nennen wollen, ursprünglich die natürlichsten zu sein. Kinder in den ersten Lebenstagen sieht man vorzugsweise solche ausführen. Allerdings treten zeitweise auch Konvergenzstellungen ein; sie kommen aber fast nur dann vor, wenn der Blick gesenkt wird, eine Bewegung, die beim Neugeborenen verhältnismäßig selten ist. Diese Erscheinung hängt damit zusammen, daß überhaupt, sobald die Blicklinien in eine geneigte Lage übergehen, ein unwillkürlicher Antrieb zur Konvergenz derselben erfolgt82). Die Parallelbewegung ist die zweckgemäße, wenn sich unsere Aufmerksamkeit unendlich entfernten Objekten zuwendet; denn in unendlicher Entfernung treffen unsere parallelen Gesichtslinien in einem einzigen Blickpunkte zusammen. Bei gesenktem Blick bieten sich dagegen in der Regel nur nähere Gegenstände unserer Betrachtung, dar. Jene Stellungsänderung entspricht also den in der gewöhnlichen Anordnung der Gesichtsobjekte gegebenen Anforderungen. Zugleich ist sie aber in den mechanischen Gesetzen der Augenbewegungen begründet. Dies beweist eben der Umstand, daß sie auch dann unwillkürlich eintritt, wenn uns durchaus keine nahen Gegenstände zur Fixation geboten werden. Überdies führt sie, wie schon früher hervorgehoben wurde, zu konstanten Täuschungen über die Richtung vertikaler Linien, denen wir bei monokularer Betrachtung ausgesetzt sind.

82) Siehe vorst. Über Täuschungen.

    Konvergenzbewegungen wollen wir diejenigen Stellungsänderungen nennen, bei denen die Gesichtslinien entweder von einem ferneren zu einem näheren, oder von einem näheren zu einem entfernteren Blickpunkte übergehen. Alle Konvergenzstellungen zerfallen in symmetrische und in asymmetrische. Die ersteren sind solche, in denen beide Gesichtslinien von der gerade nach vorn gerichteten Parallelstellung aus um gleich viel nach innen gedreht sind; der Blickpunkt liegt bei ihnen stets in der Medianebene. Asymmetrisch sind alle Konvergenzstellungen, bei denen sich der Blickpunkt nicht in der Medianebene befindet; dabei sind entweder beide Augen von der gerade nach vorn gerichteten Parallelstellung aus um ungleiche Winkel nach innen, oder es ist nur das eine Auge nach innen, das andere um einen kleineren Winkel nach außen gedreht. Konvergenzbewegungen sind in jeder Höhenstellung der Gesichtslinien möglich. Aber wie die Parallelstellung bei gesenktem Blick unwillkürlich in Konvergenz übergeht, so strebt die letztere bei der Erhebung des Blicks der Parallelstellung zu, so daß sie sich ohne unser Wissen und Wollen vermindert. Auch dies beruht auf den schon erörterten Gesetzen der Augenbewegung, nach denen die Konvergenz bei geneigter Blicklinie mechanisch erleichtert ist.
    Bei den seitlichen Parallelbewegungen drehen sich beide Gesichtslinien um gleiche Winkel nach rechts oder links; bei den symmetrischen Konvergenzbewegungen drehen sie sich um gleiche Winkel nach innen oder außen. Jenem entspricht eine Seitenverschiebung, diesem eine Tiefenverschiebung des gemeinsamen Blickpunktes im Sehfeld. Nun kann sich aber auch der Blickpunkt gleichzeitig nach der Seite und nach der Tiefe verschieben; dem entspricht die asymmetrische Konvergenzstellung. Diese läßt sich demnach aus einer seitlichen Parallelbewegung und aus einer symmetrischen Konvergenz zusammengesetzt denken. In der Tat würde das Auge aus einer Anfangsstellung mit gerade nach vorn gerichteten Gesichtslinien (gr, l l Fig. 125) in jede asymmetrische Konvergenz von gleicher Höhenstellung so übergehen können, daß es zuerst eine parallele Seitwärtsbewegung (in die Lage rr", l l") ausführte, durch welche der Fixationspunkt a in die Mitte zwischen beide Gesichtslinien gebracht würde, worauf dann in dieser Seitenstellung eine symmetrische Konvergenz erfolgte (r r"', l l"'). Obgleich wir nun in Wirklichkeit diese doppelte Bewegung nicht ausführen, sondern unmittelbar etwa von einem Punkte a auf den Punkt a übergehen, so ist doch höchst wahrscheinlich die Innervation in solcher Weise zusammengesetzt. Zunächst bemerkt man nämlich, daß bei asymmetrischer Konvergenz gerade in demjenigen Auge, welches am wenigsten aus seiner anfänglichen Ruhelage abgelenkt wurde, das Druckgefühl, das ausgiebige Augenbewegungen zu begleiten pflegt, am größten ist. So überwiegt, wenn die beiden Augen r und l (Fig. 125) auf den rechts gelegenen Punkt a eingestellt sind, das Druckgefühl im rechten Auge, obgleich dieses nur um den Winkel r r r"', das linke dagegen um den viel größeren l l l"' aus seiner Ruhelage abgelenkt ist. Ebenso ist das Druckgefühl im Auge r bei der Einstellung auf den Punkt a größer, als wenn es in symmetrischer Konvergenz auf a gerichtet ist, obgleich der Winkel r r r'" kleiner als r' r r ist83). Noch mehr, verlegt man den Fixationspunkt a in Richtung der Linie r r'" in immer größere Ferne, so ist deutlich eine Verminderung des Druckgefühls in dem Auge r bemerkbar, obgleich doch seine Stellung sich gar nicht verändert und nur das Auge l sich allmälig der Parallelstellung genähert hat. Hiermit hängt die von hering gefundene Tatsache zusammen, daß die Excursionsweite eines jeden Auges nach außen beim Sehen in die Nähe kleiner ist als beim Sehen in die Ferne84). Bei der Fixation eines nahe gelegenen seitlichen Punktes wird eben die Innervation zur Außenwendung immer teilweise kompensiert durch die Innervation zur Konvergenz. Daraus erklärt sich denn auch das erhöhte Druckgefühl. Sind die Augen r und l auf den Punkt a eingestellt, so ist in l nur der Rectus internus innerviert, und die volle Innervationskraft desselben ist auf Innenwendung gerichtet. In r dagegen empfängt der Rectus externus einen Impuls, der für sich das Auge nach r r" richten würde, doch ist ein Teil dieser Drehung kompensiert durch die Innervation des Rectus internus, durch den es erst in seine wirkliche Richtung r r" gebracht wird. Hier ist also eine Innervationsgröße, die dem Winkel r"' r r" entspricht, nicht auf wirkliche Bewegung, sondern zur Kompensation der Muskelkräfte verwandt: sie muß daher als Druck auf den Augapfel zur Geltung kommen. Belehrend scheint mir auch der folgende Versuch zu sein. Man verdecke zunächst, während das eine Auge l einen in der Medianebene gelegenen Punkt fixiert, das andere Auge r mit einem Blatt Papier. Zieht man dann dieses Blatt plötzlich weg, so findet sich, daß sogleich beide Augen richtig auf den Punkt eingestellt sind; auch kann ein objektiver Beobachter bemerken, daß die Gesichtslinie des Auges r schon während dieses bedeckt ist die Stellung r r' einnimmt, welche symmetrisch zu l l' ist. Fixiere ich dagegen mit dem Auge l einen seitlich gelegenen Punkt a, so sehe ich im ersten Moment, nachdem das bedeckende Blatt vor dem Auge r weggenommen ist, immer Doppelbilder, weil die Gesichtslinie während der Bedeckung des Auges nicht die Stellung r r"' einnahm sondern davon etwas nach außen gegen r r" abwich. Demnach begleitet das bedeckte Auge Einstellungen des andern auf einen in der Medianebene gelegenen Punkt in symmetrischer Konvergenz. Ebenso macht es Hebungen und Senkungen der Blicklinie oder Seitwärtswendungen in paralleler Blickstellung mit. Dagegen stellt es sich in der Regel nicht auf den Fixationspunkt ein, wenn solches eine asymmetrische Konvergenz erfordern würde, sondern es weicht in diesem Fall im Sinne der entsprechenden Parallelstellung ab. Die Mitbewegung des bedeckten Auges beweist an und für sich, daß beide Augen einer gemeinsamen Innervation folgen, welche nicht erst durch gemeinsame Blickpunkte, denen sie sich zuwenden, zu Stande kommt. Die Abweichung von der Einstellung auf den gemeinsamen Blickpunkt, die man bei der asymmetrischen Konvergenz beobachtet, spricht aber dafür, daß hier ein komplizierteres Verhältnis der Innervation stattfindet. In der Tat kann z. B. eine Linkswendung des linken Auges für das rechte Auge entweder eine gleich große Linkswendung erfordern: dies ist der Fall der einfachen Innervation für die Parallelstellung. Oder sie kann sich mit einer stärkeren Innenwendung desselben verbinden: bei asymmetrischer Konvergenz. Ist nun das eine Auge verdeckt, so bleibt ihm zwischen beiden Fällen gleichsam die Wahl, und die Beobachtung lehrt, daß es dann der einfacheren Innervation folgt oder wenigstens im Sinne derselben abgelenkt wird. Dieser Erfahrung entspricht es, daß wo beide Augen sich ohne bestimmte Fixationspunkte bewegen, wie z. B. beim Neugeborenen, die Parallelstellung so ungleich bevorzugt ist, weil eben nur eine beschränkte Zahl von Konvergenzstellungen, die symmetrischen nämlich, einer ähnlich einfachen Innervation gehorchen.

83) Hering, die Lehre vom binokularen Sehen. Leipzig 1868. S. 10.
84) Ebenda S. 11.

    Somit existieren am Auge drei unter gewöhnlichen Verhältnissen unlösbare Verbindungen der Bewegung, welche auf der gleichzeitigen zentralen Innervation beider Sehorgane beruhen: Hebung und Senkung, Rechts- und Linkswendung, Innenwendung. Das Doppelauge gleicht in Bezug auf die Innigkeit dieser Verbindungen vollständig den symmetrisch wirkenden Muskelgruppen, wie z. B. der Atmung, der Schluckbewegungen. Die scheinbar größere Freiheit seiner Bewegungen beruht nur darauf, daß unter den drei Innervationen, die seine Bewegungen beherrschen, zwei sich teilweise entgegenwirken können, nämlich die für Rechts- und Linkswendung, und diejenige für Innenwendung. Die erste Innervation deutet auf eine zentrale Verbindung des Rectus externus der einen mit dem internus der andern Seite, die letztere auf eine solche der beiden inneren Muskeln mit einander. In der Tat weisen auch die Reizungsversuche am Vierhügel auf diese nämlichen Verbindungen hin85).

85) Vergl. Kap. IV.

    Die Innervation des Doppelauges ist sichtlich von dem Gesetze beherrscht, daß die beiden Gesichtslinien jeweils auf einen einzigen Blickpunkt sich müssen einstellen können. Dies wäre nicht mehr der Fall, wenn dieselben in ungleichem Grade gehoben oder gesenkt würden, oder wenn sie divergierten. Solche Stellungen kommen daher natürlicher Weise nicht vor. Nur durch künstliche Lösung der natürlichen Verbindungen, und meistens nur in Folge besonderer Einübung, können sie am normalen Auge unter Umständen eintreten86). Durch diese Gebundenheit der Augenbewegungen an die Möglichkeit eines gemeinsamen Blickpunktes wird aber keineswegs etwa bewiesen, daß die gleichzeitige Einstellung auf bestimmte Punkte im Sehfeld der zwingende Grund für jenen Mechanismus der Innervation sei. In der Tat läßt sich dies, wenn man sich auf die Betrachtung der individuellen Entwicklung beschränkt, kaum voraussetzen. Der Neugeborene bewegt zunächst, wie es scheint, seine Augen ohne bestimmte Blickpunkte87). Jedenfalls sind die Bewegungsgesetze schon klar ausgeprägt, ehe sich deutliche Anzeichen einer Gesichtswahrnehmung gewinnen lassen. Es gibt freilich Tiere, bei denen sogleich nach der Geburt Gesichtsvorstellungen vorhanden scheinen. Aber der zentrale Mechanismus der Innervation ist schon in dem Embryo angelegt. Wenn also zwischen ihm und der Bildung der Wahrnehmungen ein Kausalverhältnis existiert, wie nicht zu verkennen, so müssen bei der individuellen Entwicklung die Gesetze der Innervation das Bedingende, die Vorstellungen das Bedingte sein. Dagegen ist es allerdings wahrscheinlich, daß bei der Entwicklung der Art umgekehrt die zentralen Vorrichtungen für die Innervation des Doppelauges unter der Leitung der Gesichtswahrnehmungen sich ausgebildet haben. Bei den meisten Tieren sind, wie schon J. Müller 88) bemerkt hat; die beiden Augen in funktioneller Beziehung unabhängiger von einander als beim Menschen, weil ihnen ein gemeinsames Gesichtsfeld fehlt, oder weil dasselbe von beschrankterer Ausdehnung ist. Tiere mit vollkommen seitlich gestellten Augen sehen daher auch nicht gleichzeitig mit beiden, sondern abwechselnd mit dem einen und andern. Deshalb sind hier die Augen in Bezug auf ihre motorische Innervation unabhängiger von einander89). In der Entwicklung der Art werden also wohl erst mit der Ausbildung eines gemeinsamen Gesichtsfeldes die zentralen Vorrichtungen zu gemeinsamer Innervation entstanden sein. Diese Vorrichtungen haben nun, wie der Einfluß der Lichteindrücke auf die Bewegungen des Auges lehrt, die nächste Ähnlichkeit mit den Apparaten, welche die gewöhnliche Reflexbewegung beherrschen; sie sind aber mit einer viel genaueren Regulation verbunden als der gewöhnliche Reflexmechanismus des Rückenmarks. Die Beobachtung zeigt nämlich, daß von jedem Lichteindruck ein gewisser Antrieb zur Bewegung des Auges ausgeht. Es bedarf bekanntlich besonderer Anstrengung und Übung, einen imaginären Blickpunkt zu wählen, d. h. einen solchen, dem kein reeller Objektpunkt entspricht. Zwischen den Netzhauteindrucken und der Blickbewegung muß also eine Beziehung bestehen, welche dem Reflex verwandt ist. In der Tat handelt es sich hier offenbar um einen jener komplizierten Reflexvorgänge, als deren Zentren wir die Hirnganglien, namentlich Seh- und Vierhügel, erkannt haben. Die nächste Analogie hat diese Lenkung der Augenbewegungen durch die Lichteindrücke mit der Beziehung zu den Tastempfindungen. Nur scheint beim Auge die Verbindung eine noch festere, darum dem einfachen Reflex verwandtere zu sein, ähnlich wie auch die bilaterale Symmetrie der Bewegungen strenger eingehalten ist als an den Organen der Ortsbewegung. Es wird nun unsere Aufgabe sein, die Gesetze dieser zusammengesetzten Reflexe, als deren Sitz wir früher90) die Vierhügel erkannten, an den Augenbewegungen selbst näher nachzuweisen.

86) Am leichtesten können solche abnorme Stellungen durch schwach ablenkende Prismen herbeigeführt werden. Bringt man z. B. vor das eine Auge ein Prisma mit der Basis nach oben oder unten, so erscheint der fixierte Punkt in übereinander liegenden Doppelbildern, die man nach einiger Zeit zum Verschmelzen bringen kann. Bringt man ferner vor beide Augen sehr schwache Prismen, die mit ihrer Basis nach innen gerichtet sind, so erscheinen Doppelbilder, welche sich nur durch divergierende Augenstellung vereinigen lassen. Auch hier gelingt diese Vereinigung mit einiger Anstrengung. Das nämliche läßt sich durch die Vereinigung stereoskopischer Bilder erzielen, indem man von den zwei Zeichnungen, nachdem sie in paralleler Augenstellung zur Verschmelzung gebracht sind, die eine etwas nach oben oder außen verschiebt. Die abnorme Ablenkung, die nach der einen oder andern dieser Methoden herbeigeführt werden kann, beträgt übrigens höchstens 6-8°. Vgl. Donders, Archiv f. d. holländischen Beiträge III S. 560. HELMHOLTZ, physiol. Optik, S. 175.

87) Vergl. hierüber auch J. müller, zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns, S. 293.
88) a. a. O. S. 99 f.

89) Dies läßt sich z. B. sehr deutlich am Chamäleon wegen seiner hervorstehenden Augen beobachten: während sich das eine nach oben oder vorn wendet, kann das andere nach unten oder hinten gerichtet sein, u. s. w.

90) Vergl. Kap. IV. und Kap. V.

    Man gebe dem Doppelauge zunächst einen imaginären Blickpunkt; man lasse also die beiden Gesichtslinien in einem Punkte sich kreuzen, an dem sich kein direkt gesehenes Objekt befindet. Dies gelingt am leichtesten, wenn man nach einer fernen Fläche starrt und dann irgendwo vor derselben die Gesichtslinien zur Konvergenz bringt. Ist die ferne Fläche eine Tapete, so läßt sich aus der scheinbaren Verkleinerung des Musters derselben die Entfernung des vor ihr gelegenen Konvergenzpunktes annähernd ermessen. Bringt man nun in geringe Distanz vor oder hinter den imaginären Blickpunkt ein reelles Objekt, z. B. einen Finger, so tritt augenblicklich ein fast unwiderstehlicher Zwang ein, auf dieses Objekt den Blickpunkt zu verlegen. Dieser Zwang, der nur durch Willensanstrengung unterdrückt werden kann, ist um so größer, je näher das Objekt an den Blickpunkt herangebracht wird. Noch deutlicher ist derselbe zu bemerken, wenn man in einem dunkeln Raum ein Fixationsobjekt, z. B. eine Stricknadel, aufstellt, in dessen Richtung beide Augen blicken, und dann durch einen instantanen elektrischen Funken erleuchtet. Hierbei ist der Zwang, den Blickpunkt auf das gesehene Objekt zu verlegen, so stark, daß er kaum durch Willensanstrengung zu unterdrücken ist.
    Aus diesen Beobachtungen geht hervor, daß jeder Lichteindruck auf die Netzhaut in dem Innervationszentrum des Auges einen Reflexantrieb auslöst, welcher dahin gerichtet ist, den Eindruck auf das Netzhautzentrum überzuführen. Hieraus erklärt sich vollständig das Grundgesetz der Innervation des Doppelauges, daß nur solche Bewegungen der beiden Blicklinien stattfinden können, bei denen ein gemeinsamer Blickpunkt möglich ist. Jene Antriebe zur Bewegung können aber entweder eine wirkliche Bewegung hervorbringen, wo dann das Doppelauge den erregenden Lichteindruck zum Fixationspunkte wählt, oder sie können, sei es durch den Willen, sei es durch andere Lichteindrücke, welche eine entgegengesetzte Wirkung ausüben, unterdrückt werden, so daß sie als ein bloßes Streben nach Bewegung fortdauern. Der unterdrückende Einfluß des Willens wird natürlich durch denjenigen anderer Lichteindrücke wesentlich unterstützt. Das gewöhnliche willkürliche Wandern des Blicks ist daher nur dadurch möglich, daß immer zahlreiche Lichteindrücke in ihren Wirkungen sich kompensieren, so daß nun der geringste Impuls des Willens genügt, eine bestimmte Bewegung zu Stande zu bringen. Damit erklärt sich denn auch die außerordentliche Beweglichkeit des Blicks, die von so geringen Willensanstößen geleitet wird, daß uns letztere kaum zum Bewußtsein kommen. Hierbei durchmißt der Blick mit Vorliebe Konturen und Linien im Sehfeld, gemäß dem Gesetze, daß diejenigen Eindrücke, die dem jeweiligen Blickpunkt am nächsten liegen, den stärksten Antrieb ausüben.
    Der Antrieb, den ein Lichteindruck äußert, auf ihn den Blickpunkt einzustellen, ist eine motorische Innervation von bestimmter Größe. In den Vierhügeln wird daher mutmaßlich jede einem gegebenen Netzhautpunkt entsprechende Opticusfaser dergestalt mit dem motorischen Zentrum des Doppelauges verbunden sein, daß ihre Erregung eine Drehung jedes einzelnen Auges zu Stande bringt, die nach Richtung und Entfernung dem Lageverhältnis des gereizten Punktes zur Netzhautmitte entspricht. Die zentralen Einrichtungen, welche zu diesem Zweck vorausgesetzt werden müssen, sind ohne Zweifel ziemlich verwickelt, aber im Vergleich mit vielen andern zentralen Regulierungsvorrichtungen, auf welche die Beobachtung schließen läßt, sind sie immer noch verhältnismäßig einfach. Überdies sehe ich keinen Weg, jener Annahme zu entgehen, wenn man die Beobachtung zugibt, daß die Lichteindrücke einen zwingenden Antrieb zur Fixation ausüben. Dieser Antrieb wird sich nun aber unter allen Umständen als ein Innervationsgefühl äußern müssen, da das letztere ja nicht von der wirklichen Bewegung, sondern vielmehr von dem Impuls zu einer intendierten Bewegung bestimmt wird. Das erfüllte Sehfeld liefert uns also neben den unmittelbaren Lichteindrücken und durch dieselben immer zugleich eine Summe von Bewegungsantrieben mit den entsprechenden Innervationsgefühlen, wobei aber diese Antriebe teils sich wechselseitig kompensieren, teils durch den Willen gebändigt werden und nur zum geringsten Teil in wirkliche Bewegungen übergehen.
    Mit der Konvergenzbewegung der Gesichtslinien sind in der Regel Änderungen des Accommodationszustandes verbunden, indem beide Augen derjenigen Entfernung sich anpassen, auf welche der gemeinsame Blickpunkt eingestellt wird91). Doch ist dieser Zusammenhang kein unlösbarer, sondern es kann durch Veränderungen des Brechungszustandes oder durch absichtliche Übung das Verhältnis von Accommodation und Konvergenz ziemlich bedeutende Verschiebungen erfahren. Wenn man z. B. durch schwache Prismen mit vertikal gestellter brechender Kante Doppelbilder der gesehenen Gegenstände erzeugt, welche eine verstärkte Konvergenz zu ihrer Vereinigung erfordern, so kann trotzdem die Accommodation der Entfernung der Objekte angepaßt werden92). Solches erfolgt regelmäßig ohne besondere Willensanstrengung, durch einen Zwang, den undeutlich gesehene Konturen auf den Accommodationsapparat auszuüben scheinen93). Wir müssen also annehmen, daß eine Reflexverbindung zwischen den Netzhauteindrücken und dem Innervationszentrum der Accommodation besteht. Beim monocularen Sehen wird hierdurch unmittelbar der jeweilige Refraktionszustand des Auges der Entfernung der gesehenen Gegenstände angepaßt. Das binoculare Sehen erfordert aber im allgemeinen einen gleichen Accommodationszustand für beide Augen. Diesem Bedürfnis entspricht eine zentrale Verbindung der beiderseitigen Innervationszentren für die Accommodation. Wäre die letztere nur durch die in jedem Auge unabhängig erfolgenden Reflexantriebe bedingt, so bliebe unerklärt, warum es außerordentlich schwer ist und erst mittelst fortgesetzter Übung gelingt, die Refraktionszustände der beiden Augen unabhängig von einander zu ändern94). Außerdem ist es notwendig anzunehmen, daß eine etwas losere zentrale Verbindung des Zentrums der Accommodation mit dem der Konvergenz bestehe. Denn es bedarf eines gewissen Zwanges, wenn man beide Augen auf eine Entfernung accommodieren will, die der bestehenden Konvergenz nicht entspricht. Doch gelingt es viel schwerer, die Refraktionszustände unabhängig von einander zu ändern, als die Verbindung von Accommodation und Konvergenz zu lösen. Daß übrigens alle diese Verbindungen nicht absolut feste sind, steht mit bekannten Tatsachen der physiologischen Mechanik vollständig im Einklang95).

91) J. Müller, zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns, S. 207 f.
92) Donders, holländische Beiträge I, S. 379. HELMHOLTZ, physiol. Optik, S. 474.
93) WUNDT, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, S. 119 f.

94) Man kann sich hiervon z. B. durch folgenden Versuch überzeugen. Man fixire mit beiden Augen lineare Zeichnungen, die sich in verschiedenen Entfernungen befinden und übrigens so beschaffen sind, daß nicht Wettstreit oder Verdrängung eintritt, z. B. parallele Linien oder Kreise von verschiedenem Durchmesser. Hierbei erscheint das eine Objekt in Zerstreuungskreisen, und nur, wenn der Distanzunterschied nicht zu groß ist, gelingt es nach längerer Zeit, die Konturen beider Objekte in ungefähr gleicher Schärfe wahrzunehmen.

95) Vergl. Kap. IV und Kap. V.

    Wenn beide Gesichtslinien einander parallel in unendliche Ferne gerichtet sind, so haben sie einen gemeinsamen Blickpunkt. Außerdem sind die Netzhautbilder in beiden Augen identisch und von übereinstimmender Lage. Ein Bildpunkt, der sich im rechten Auge um einen bestimmten Winkel nach rechts oder links, nach oben oder unten von der Netzhautmitte befindet, liegt im linken auf der nämlichen Seite und ebenso weit vom Zentrum des gelben Flecks. Je zwei Punkte beider Netzhäute, auf welchen so bei der Parallelstellung der Augen Bildpunkte liegen, die einem und demselben Punkte eines unendlich entfernten Objektes entsprechen, hat man identische oder korrespondierende Punkte genannt. Auch der Ausdruck Deckpunkte wurde vorgeschlagen, bei welchem aber von der Lage ganz abstrahiert und nur auf die häufigste Form der Verschmelzung der Eindrücke Rücksicht genommen ist, daher denn die von HELMHOLTZ angenommenen Deckpunkte nicht vollkommen den übereinstimmenden Bildpunkten eines unendlich entfernten Objektes entsprechen96). Man sieht hieraus, daß bei diesen Bezeichnungen zwei Begriffe in einander laufen, welche der deutlichen Sonderung bedürfen, ein anatomischer, der sich lediglich auf die Lage der Punkte, und ein physiologischer, der sich auf die gewöhnlichste Form der Verschmelzung der Eindrücke bezieht. Es scheint uns erforderlich, diese zwei Begriffe durch verschiedene Bezeichnungen aus einander zu halten und außerdem noch einen dritten zu unterscheiden. Wir wollen demnach 1) identisch jene Netzhautpunkte nennen, welche bei der Parallelstellung der Augen eine übereinstimmende Lage in Bezug auf das Netzhautzentrum besitzen, und die zugleich übereinstimmenden Bildpunkten eines unendlich entfernten Objekts entsprechen. 2) Korrespondierende Punkte seien solche, deren Eindrücke am häufigsten in eine räumlich ungeteilte Empfindung verschmelzen, und welche daher in Folge dieser häufigen Verbindung in Bezug auf die einfache Auffassung bevorzugt sind. 3) Deckpunkte sollen endlich diejenigen Punkte heißen, deren Eindrücke im gegebenen Fall auf einen äußeren Punkt bezogen werden. Somit sind die korrespondierenden Punkte sehr oft zugleich die Deckpunkte; sie sind dies aber nicht immer, und hieraus entspringt die Notwendigkeit einer besondern Bezeichnung. Die identischen Punkte haben für alle normalen Augen unveränderlich dieselbe Lage. Die korrespondierenden sind geringen individuellen Schwankungen unterworfen: sie fallen bald mehr bald weniger nahe mit den identischen Punkten zusammen, für ein und dasselbe Individuum aber sind sie im allgemeinen konstant. Die Lage der Deckpunkte dagegen wechselt von einem Sehakt zum andern, und nur durch die gewöhnlichen Bedingungen des Sehens sind der wechselseitigen Verschiebung der Deckpunkte gewisse Grenzen gesetzt. Netzhautpunkte von nicht übereinstimmender Lage heißen disparat; solche, deren Bilder sich nicht decken, wollen wir Doppelpunkte nennen. Disparat steht also zu identisch, der Doppelpunkt zum Deckpunkt im Gegensatz. Eine größere Anzahl von Doppelpunkten bildet ein Doppelbild. Dieses besteht aus zwei Halbbildern, deren jedes einem einzelnen Auge angehört. Aus vielen Deckpunkten setzt sich ein Deckbild oder Ganzbild zusammen. Da wir alle Netzhautbilder auf äußere Gegenstande beziehen, so ist es auch hier zweckmäßig, diese Bezeichnungen von der Netzhaut auf den äußeren Raum zu übertragen. Wir nennen also identische, korrespondierende und Deckpunkte des Raumes solche Punkte, in denen sich die von identischen, korrespondierenden und Deckpunkten beider Netzhäute gezogenen Visierlinien durchschneiden. Sind zwei zusammengehörige Visierlinien einander parallel, so liegt dieser Durchschnittspunkt in unendlicher Ferne. Bei Parallelstellungen durchschneiden sich also alle Visierlinien identischer Punkte in unendlicher Ferne. Es gibt einen einzigen Punkt im Sehfeld, der im normalen Auge immer gleichzeitig identischer, korrespondierender Punkt und Deckpunkt ist: dies ist der Blickpunkt. Er ist der konstante Durchschnittspunkt der beiden Gesichts- oder Blicklinien, mögen nun dieselben erst in unendlicher Entfernung, bei den Parallelstellungen des Blicks, oder in endlichen Entfernungen, bei den Konvergenzstellungen, sich treffen. Die Ebene, in welcher die beiden Gesichtslinien gelegen sind, heißt die Visierebene. Was die übrigen Punkte des Sehfeldes betrifft, so kommt es teils auf die Augenstellung, teils auf die Gestalt des Sehfeldes an, ob identische, korrespondierende Punkte und Deckpunkte zusammenfallen oder nicht. Nun haben wir gesehen, daß die Form des Sehfeldes an und für sich eine unbestimmte ist und erst durch die Bewegungen des Blicks, also durch die sukzessiven Verschiebungen im Blickfelde, eine bestimmte wird. Darum kommt, wo andere Bestimmungsgründe fehlen, das Sehfeld überein mit dem kugelförmigen Blickfeld. Dieses ist für das Doppelauge ebenfalls eine einzige Hohlkugelfläche, nämlich diejenige, welche der gemeinsame Blickpunkt in paralleler oder in einer beliebigen andern Augenstellung mit konstant bleibendem Konvergenzgrad durchwandern kann. Der Mittelpunkt dieser Kugelfläche ist der Halbierungspunkt der Geraden, welche die Drehpunkte beider Augen verbindet. In der Tat bestimmt, wie wir unten sehen werden, das Doppelauge im allgemeinen von diesem Punkte aus, die Richtung der Gegenstände (vergl. Fig. 138). Wo dagegen Objekte von beliebiger Form sich im Sehfeld befinden, welche sukzessiv bei wechselnder Konvergenz fixiert werden müssen, da konstruiert sich das Doppelauge sein Sehfeld teils mittelst der wirklichen Wanderungen des Blicks, teils mittelst der Innervationsgefühle, die aus dem Antrieb zur Bewegung entspringen; den jeder Lichteindruck mit sich führt. Demgemäß geben wir denn dem binokularen Sehfeld in der Regel annähernd diejenige Form, welche die gesehenen Gegenstände wirklich im Verhältnis zu unserm Sehorgan besitzen. Denken wir uns nun nach dem Sehfelde Visierlinien gezogen, so treffen je zwei, welche auf der Sehfeldfläche sich schneiden, mögen dieselben nun von identischen oder disparaten Netzhautpunkten ausgehen, dort einen Deckpunkt. Denn für jedes Auge gibt die Visierlinie diejenige Richtung an, in welcher ein Bildpunkt nach außen verlegt wird, und das Sehfeld ist diejenige Oberfläche, auf welcher wir uns im äußern Raume die Lichteindrücke geordnet vorstellen97). Wenn demnach jene Richtungen im Sehfeld zusammentreffen, so müssen sich auch die Bildpunkte decken. Aber es ist natürlich nicht notwendig, daß die sich schneidenden Visierlinien identischen Punkten angehören. Es sei z. B. Fig. 126 das Sehfeld eine zur Visierebene senkrechte Ebene A B, und die Gesichtslinien ac, bc seien auf den Blickpunkt c eingestellt. Es ist dann der Punkt g ein identischer Punkt des äußern Raumes, denn in ihm endigen die Visierlinien identischer Netzhautpunkte a , b . Dagegen ist der Punkt d ein Deckpunkt im Sehfeld; in ihm schneiden sich aber zwei Visierlinien, die von disparaten Punkten b , b ' ausgehen. Geben wir jetzt dem Sehfeld die Lage A' B', so wird der Punkt g ein identischer und zugleich ein Deckpunkt. Ebenso wie durch Veränderungen in der Lage oder Form des Sehfeldes kann aber natürlich auch durch veränderte Augenstellung das Verhältnis der Deckpunkte zu den identischen Punkten wechseln.

96) Helmholtz, physiol. Optik, S. 698.
97) Vergl. Beginn des Kapitels.

    Da die Visierlinien, namentlich bei entfernteren Objekten, von den Richtungsstrahlen nicht merklich verschieden sind, so sind die Deckpunkte im Sehfeld dann zugleich Objektpunkte, wenn das Sehfeld dieselbe Form hat, welche die dem Sehenden zugekehrte Oberfläche der Objekte darbietet. Es wurde oben bemerkt, daß dies im allgemeinen zwar der Fall ist, und deshalb sieht eben das Doppelauge im allgemeinen nicht doppelt sondern einfach. Aber dies schließt zahlreiche Ungenauigkeiten im einzelnen nicht aus, ja unter Umständen, wenn die gewöhnlichen Hilfsmittel versagen, können wir vollständig über das Lageverhältnis der Gegenstände getäuscht werden. Fällt nun unser subjektiv erzeugtes Sehfeld mit der objektiv gegebenen Oberfläche der Objekte nicht zusammen, so schneiden sich natürlich in irgend einem Punkte desselben im allgemeinen nur noch solche Visierlinien, die verschiedenen Objektpunkten angehören. Es sei z. B. die Ebene A' B' (Fig. 126) unser Sehfeld, die Oberfläche der Objekte sei aber die Ebene AB, so entsprechen dem Objektpunkte d zwei Punkte g und e im Sehfeld. In solchen Fällen wird dann in der Tat ein in Wirklichkeit einfacher Punkt doppelt gesehen. Nennen wir das Sehfeld in der bisher festgehaltenen Bedeutung, also diejenige Form desselben, die wir uns in Folge der Blickbewegungen und Innervationsgefühle vorstellen, das subjektive Sehfeld, und bezeichnen wir zum Unterschiede davon die wirkliche Form der uns zugekehrten Oberfläche der Gegenstände als das objektive Sehfeld, so läßt sich die Regel aufstellen: Wir sehen einfach, sobald das objektive mit dem subjektiven Sehfeld übereinstimmt; diejenigen Punkte des objektiven Sehfeldes aber erscheinen uns doppelt, welche nicht in dem subjektiven Sehfeld gelegen sind.
    Das gewöhnlichste Mittel, das subjektive übereinstimmend mit dem objektiven Sehfeld zu gestalten, wenn die unmittelbaren Innervationsgefühle nicht ausreichen, besteht in der sukzessiven binokularen Fixation verschiedener Punkte, wo wir dann das Zwischenliegende in annähernder Richtigkeit zur vollständigen Form ergänzen. Wenn das objektive Sehfeld eine sehr verwickelte Form hat, so können daher einzelne Teile desselben dem ruhenden Auge doppelt erscheinen, dann aber durch einige Blickbewegungen leicht in eine einfache Vorstellung vereinigt werden, welche nun auch für den ruhenden Blick einfach bleibt. Dagegen tritt regelmäßig Doppelsehen ein, wenn man einen Blickpunkt wählt, der von den übrigen Punkten des Sehfeldes vollständig getrennt ist, also vor oder hinter denselben liegt, ohne mit ihnen durch eine Fixationslinie verbunden zu sein. Befindet sich z. B. ein Objekt in a (Fig. 127), und sind die beiden Gesichtslinien auf den ferner liegenden Punkt b eingestellt, so sieht man bei a1 und a2 Doppelbilder des Punktes a, davon gehört a1 dem Auge r, a2 dem Auge l an, wie man sich dadurch überzeugen kann, daß, wenn r geschlossen wird, a1 , wenn l geschlossen wird, a2 verschwindet. Die Doppelbilder sind also in diesem Fall gleichseitig. Ist das Auge auf den näher liegenden Punkt c eingestellt, so werden wieder statt des Objektes a Doppelbilder a1 und a2 gesehen: jetzt gehört aber a2 dem Auge r, a1 dem Auge l an, wie man abermals durch abwechselndes Schließen derselben erkennt. Nun sind also die Doppelbilder ungleichseitige oder gekreuzte. In allen diesen Fällen werden nicht, wie man früher zuweilen angenommen hat, die Doppelbilder in die Entfernung des Blickpunktes b oder c verlegt, sondern sie werden ungefähr in derselben Entfernung gesehen, in welcher sich das Objekt a befindet. Man hat also offenbar von der Lage des Objekts a eine annähernd richtige Vorstellung. Solche mag in einzelnen Fällen dadurch gewonnen werden, daß wir uns durch vorangegangene Blickbewegungen von der wirklichen Lage des Objekts a überzeugen. Aber dies kann nicht die entscheidende Ursache sein, wie aus folgenden Beobachtungen hervorgeht. Wenn man im dunkeln Raum einen kleinen Lichtpunkt anbringt, der als Fixationszeichen dient und dann bald vor bald hinter denselben ein Objekt hält, welches durch einen momentanen elektrischen Funken erleuchtet wird, so erscheint während dieser Beleuchtung das Objekt in Doppelbildern. Aber, obgleich Augenbewegungen bei der kurzen Dauer der Beleuchtung ausgeschlossen sind, erkennen wir doch deutlich, ob sich das doppelt gesehene Objekt vor oder hinter dem Blickpunkte befindet98). Noch einfacher zeigt das nämliche der folgende von hering angegebene Versuch99). Man stelle, indem man mit beiden Augen durch eine Röhre sieht, welche die Wahrnehmung der seitlich gelegenen Objekte verhindert, auf einen bestimmten Fixationspunkt ein und lasse nun durch einen Gehilfen bald vor bald hinter demselben ein Kügelchen durch das Sehfeld werfen. Auch hier sind bei der Raschheit des Falls Augenbewegungen nicht wohl anzunehmen; trotzdem erkennt man deutlich, ob das Kügelchen vor oder hinter dem Fixationspunkte herabfällt, und man hat sogar eine annähernde, wenn auch ziemlich ungenaue Vorstellung von der absoluten Entfernung desselben. Dies bestätigt die früher hervorgehobene Erfahrung, daß wir von der Anordnung der Objekte im Sehfeld eine ziemlich richtige Vorstellung besitzen, ohne daß wir uns dieselbe durch Wandern des Blicks verschaffen müßten. Anderseits sind aber diese Beobachtungen nur Variationen der uns ganz geläufigen Tatsache, daß, wenn Objekte in unserm Sehbereich auftauchen, wir in jedem Moment genau wissen, in welcher Richtung wir unsere Augen bewegen müssen, um sie fixierend auf dieselben einzustellen, eine Kenntnis, die aus der Beziehung der Lichteindrücke zu den Innervationsgefühlen des Auges abgeleitet werden kann.

98) DONDERS, Archiv f. Ophthalmologie XVII, 2. S. 17. Van der Meulen, ebend. XIX, 1. S. 105.
99) Hering, Du Bois-Reymond's und Reichert's Archiv 1868 S. 153. VAN der MEULEN a. a. O.

    Wenn nun in den vorhin beschriebenen Versuchen den Doppelbildern ungefähr diejenige Entfernung angewiesen wird, welche dem ihnen entsprechenden Objekt wirklich zukommt, so liegt es nahe zu fragen, warum wir denn überhaupt doppelt sehen, da doch nach dem oben aufgestellten Satze nur dann Objekte doppelt gesehen werden können, wenn das subjektive Sehfeld mit dem objektiven nicht übereinstimmt, d. h. also wenn der Eindruck falsch lokalisiert wird. Auf diese Frage geben folgende Beobachtungen einige Auskunft. Man stelle (Fig. 128) beide Augen auf ein vertikal gehaltenes Fixationsobjekt a b (z. B. eine Nadel) ein, so daß e c die Richtung der beiden Gesichtslinien ist. Dann bringe man nahe vor a b ein zweites ähnliches Fixationsobjekt a' b'. Man sieht jetzt a b einfach, a' b' aber in Doppelbildern. Hierauf entferne man a‘ b' und gebe a b eine geneigte Lage, so daß a an die Stelle vom b' kommt. Es müßte nun, wenn fortan der Punkt c fixiert wird, a, ebenso wie vorhin b, doppelt gesehen werden. Man bemerkt aber, falls man nur die Tiefendistanz c b' nicht zu groß nimmt, daß es in diesem Fall ausnehmend schwer wird den Punkt a wirklich doppelt zu sehen. Dies gelingt nur bei längere Zeit festgehaltener starrer Fixation auf Augenblicke, dagegen erscheint das Objekt ebensowohl bei wanderndem Blick als bei momentaner Betrachtung einfach; zugleich faßt man immer deutlich seine geneigte Lage auf. Man zeichne ferner vier Quadrate wie in Fig. 129 A und stelle beide Augen auf die zwei Mittelpunkte der kleinen Quadrate ein, so daß dieselben dauernd einfach gesehen werden100). Es verschmelzen dann die mittleren Quadrate vollständig zu einer Vorstellung, denn der Effekt ist hier derselbe, als wenn man binokular ein einziges Quadrat fixierte, das im Konvergenzpunkt der beiden Gesichtslinien liegt. Die größeren Quadrate sieht man aber nicht einfach sondern doppelt. Jetzt verbinde man, wie es in Fig. 129 B geschehen ist, die Eckpunkte eines jeden der kleinen Quadrate mit den ähnlich liegenden des größeren und fixiere wiederum die Mittelpunkte. Nun erscheint plötzlich die ganze Figur einfach: sie gibt das körperliche Bild einer abgestumpften Pyramide; die kleinen Quadrate gehören der dem Beschauer zugekehrten abgestumpften Spitze, die seitlichen der von ihm abgekehrten Grundfläche an. Zuweilen kommt es allerdings auch in diesem Falle vor, daß die größeren Quadrate samt den sie mit den kleineren verbindenden Linien doppelt gesehen werden; dann verschwindet aber immer auch zugleich der vorige Eindruck der körperlichen Ausdehnung der Figur. Dieser wird in solchen Fällen leicht durch Blickbewegungen entlang den Verbindungslinien wieder wachgerufen. Fixiert man in umgekehrter Weise, indem man den imaginären Blickpunkt vor die Ebene der Zeichnung verlegt und das rechte Auge auf den rechts gelegenen Punkt einstellt, so scheint in Fig. 129 A das einfach gesehene kleine Quadrat etwas über der Ebene der Zeichnung zu schweben, entsprechend der nahen Konvergenzstellung; in Fig. 129 B aber gibt das große Quadrat das Bild der dem Auge näheren Fläche: es entsteht daher der Eindruck einer Hohlpyramide, deren Grundfläche dem Beschauer zugekehrt ist. Wer in der willkürlichen Fixation getrennter Punkte mit beiden Augen nicht geübt ist, wird leicht durch Einlegen der Zeichnung in ein gewöhnliches Prismenstereoskop die erste Form der körperlichen Wahrnehmung erzeugen; die zweite läßt sich herstellen, wenn man die Zeichnung auseinander scheidet und dann die beiden Hälften derselben mit einander vertauscht.

100) Es ist zweckmäßig diese Punkte anzubringen, weil dieselben ein Hilfsmittel abgeben, um zu entscheiden, ob der Blick vollkommen unbewegt bleibt. Sobald die Fixation nicht sicher ist, sieht man nämlich die Punkte plötzlich in Doppelbildern, die ebenso rasch wieder verschmelzen.

    Diese Beobachtungen zeigen, daß bei der Gestaltung des Sehfeldes den Fixationslinien eine wesentliche Bedeutung zukommt. Sobald sich in dem objektiven Sehfeld von einander getrennte Punkte befinden, orientieren wir uns über das gegenseitige Lageverhältnis derselben vorzugsweise mittelst der Konturen, durch welche sie verbunden sind. Wenn uns solche fehlen, haben wir zwar ein gewisses Gefühl für ihre größere oder geringere Entfernung, aber bestimmter wird die Vorstellung erst durch die Fixationslinien, auf welchen sich der Blickpunkt hin- und herbewegen kann. Dabei fällt das subjektive mit dem objektiven Sehfeld dann am vollständigsten zusammen, wenn solche Bewegungen in der Tat vollzogen werden. Doch wirkt schon das bloße Vorhandensein der Linien in demselben Sinne. Auch von der Tatsache, daß unsere Vorstellung über die Entfernung von Objekten, die von einander getrennt im Sehfelde verteilt sind, eine sehr mangelhafte ist, kann man sich leicht überzeugen. In dem Versuch der Fig. 128 hat man zwar in der Regel die Vorstellung, daß der Stab a' b' näher als a b sich befindet, aber man unterschätzt stets die Distanz beider, wie man alsbald sieht, wenn a b in die durch die punktierte Linie angedeutete geneigte Lage gebracht wird, wo nun plötzlich diese Distanz merklich vergrößert erscheint. Bei den Doppelbilderversuchen in Fig. 127 bemerkt man die nämliche Erscheinung, wenn man abwechselnd auf den näheren und auf den ferneren Punkt einstellt. Dabei scheinen sich nämlich die Doppelbilder, während sie bei der Änderung der Konvergenz einander näher treten, immer gleichzeitig von dem vorher festgehaltenen Fixationspunkte zu entfernen. Der scheinbare Ort der Doppelbilder nähert sich daher auch um so mehr dem Blickpunkte, je mehr der Blick festgehalten wird, und bei vollkommen starrer Fixation kann wirklich die Täuschung entstehen, als wenn er sich in gleicher Entfernung befände. Übrigens spielt in allen diesen Fällen der Umstand, ob die Netzhautbilder bereits geläufigen Vorstellungen entsprechen, eine wesentliche Rolle. So wird es nicht schwer, die Fig. 130 bei der Fixation der kleineren Kreise zur Vorstellung eines abgestumpften Kegels zu kombinieren, obgleich keine Fixationslinien zwischen den kleineren und den größeren Kreisen vorhanden sind. Hierbei kommt uns zu statten, daß eine wirkliche Form dieser Art in der Tat keine fest bestimmten Fixationslinien besitzt, während an einer abgestumpften Pyramide, wie sie der Fig. 129 entspricht, solche zwischen den Ecken der Basis und der Spitze existieren müssen. Die Vorstellung, die wir bei der Fixation irgend eines Punktes von dem Lageverhältnis aller andern Punkte im Sehfelde haben, ist somit an und für sich nur insoweit bestimmt, als sie durch die Kenntnis der Richtung, in welcher der Blickpunkt bewegt werden muß, um sich auf sie einzustellen, gegeben ist. Mit andern Worten: wir wissen im allgemeinen, wohin wir den Blick wenden müssen, um ein Objekt zu fixieren; wir wissen aber nicht, um wie viel wir ihn drehen müssen. Dies wird begreiflich, wenn wir erwägen, daß eine genaue Lagebestimmung des Augapfels wahrscheinlich auf keine andere Weise zu Stande kommen wird als die Lagebestimmung unserer tastenden Glieder, nämlich unter Mithilfe jener Empfindungen, welche bei der wirklichen Bewegung durch die Pressungen der Teile und andere peripherische Sinnesempfindungen entstehen. Die Innervationsgefühle sind nun zwar, je nach der Richtung, in welcher der Antrieb zur Bewegung wirkt, mit den von früheren Bewegungen zurückgebliebenen Residuen jener Empfindungen assoziiert101). Aber hierdurch kann eben nur die Richtung, in welcher die Bewegung geschehen soll, nicht der Umfang derselben bekannt werden. Letzteres wird erst dann möglich, wenn die in verschiedenen Entfernungen gelegenen Punkte durch eine Fixationslinie mit einander verbunden sind, wo dann jeder Punkt dieser Linie einen selbständigen Antrieb zur Bewegung mit sich bringt, so daß, indem von Punkt zu Punkt der Innervation ihre Richtung gegeben ist, damit auch von selbst derselben ihr Umfang vorgezeichnet wird.

101) Vergl. Kap. XII.

    Auch die Verbindung der gesehenen Objekte durch Fixationslinien gibt jedoch nur unter bestimmten Bedingungen eine Gewähr dafür, daß das subjektive mit dem objektiven Sehfelde übereinstimmt. Als erste Bedingung ergibt sich hier die, daß die Entfernungsunterschiede der gesehenen Punkte nicht allzu groß seien. Wenn man in dem Versuch der Fig. 128 den Stab a b und die Distanz der Punkte c und b' ziemlich groß wählt, so wird der Stab in der geneigten Lage nicht mehr vollständig einfach gesehen, sondern sein vorderes Ende weicht in Doppelbildern aus einander. Selbst wenn die Fixationslinien von geringerer Ausdehnung sind, kann aber Doppelsehen eintreten, sobald man einen Punkt des Objektes starr fixiert. Auf diese Weise können selbst einzelne Teile körperlicher Objekte, namentlich wenn ihre Tiefenentfernung in Bezug auf den fixierten Punkt erheblich ist, doppelt erscheinen; ebenso gelingt dies an gewöhnlichen stereoskopischen Objekten, besonders an solchen von einfacherer Form, in welchen nur die Hauptkonturen gezeichnet sind, während es in dem Maße schwerer wird, als, wie z. B. an stereoskopischen Landschaften oder Gruppenbildern, die Zahl der Fixationslinien und der sonst die Tiefenanschauung unterstützenden Hilfsmittel, wie Schattierung, Perspektive u. s. w. zunimmt. Sobald aber die nicht fixierten Teile des körperlichen Gegenstandes doppelt gesehen werden, wird regelmäßig auch die körperliche Vorstellung zerstört. Das ähnliche bemerkt man, wenn ein geneigt gehaltener Stab von dem fixierten Punkte an zu Doppelbildern divergiert. Man sieht dann zwar in der Regel noch, welche Teile des Doppelbildes näher, und welche entfernter liegen als der Fixationspunkt, aber eine bestimmte Vorstellung über die Tiefenausdehnung des Stabes fehlt ganz und gar. Man überzeugt sich davon am besten, wenn man den Stab eben noch kurz genug nimmt, damit eine Vereinigung möglich ist, und dann abwechselnd durch starre Fixation Doppelbilder hervorbringt und durch rasche Blickbewegungen dieselben wieder vereinigt. Diese Versuche beweisen also nichts gegen die Allgemeingültigkeil des Satzes, daß die Objekte immer dann einfach gesehen werden, wenn das subjektive mit dem objektiven Sehfeld übereinstimmt. Denn das Doppelsehen erfolgt immer in dem Momente, wo beide nicht mehr zusammenfallen. Wohl aber weisen die angeführten Beobachtungen darauf hin, daß der übereinstimmenden Auffassung jener beiden Sehfelder Schwierigkeiten entgegenstehen, welche in konstant wirkenden Bedingungen ihre Ursache haben müssen.
    Wir können die Umstände, welche die richtige Auffassung des objektiven Sehfeldes erschweren, in folgenden Satz zusammenfassen, aus dem sich alle mitgeteilten Erfahrungen vollständig ableiten lassen: Die Erregung solcher Netzhautpunkte, welche in der großen Mehrzahl der Fälle übereinstimmenden Objektpunkten entsprechen, erzeugt leichter eine einfache Vorstellung als die Erregung solcher Netzhautpunkte, bei denen eine übereinstimmende Beziehung dieser Art seltener eintritt. Wo bestimmte Motive zur Lokalisation der auf beiden Netzhäuten entworfenen Bilder fehlen, da lokalisieren wir dieselben nach dieser Regel der häufigsten Verbindung. Die Existenz einer solchen Regel folgt schon daraus, daß wir, wo spezielle Gründe zur besonderen Gestaltung des Sehfeldes mangeln, letzterem dennoch eine bestimmte, und zwar eine allgemein übereinstimmende Form geben. Diese Form ist es eben, welche als die häufigste den wechselnderen Gestaltungen des subjektiven Sehfeldes gegenübertritt. Zunächst werden wir immer geneigt sein, für das Sehfeld jene allgemeinste Form anzunehmen, welche uns teils durch die eigenen Bewegungsgesetze des Auges, teils durch die gewöhnlichen Verhältnisse der äußeren Eindrücke geläufig ist; erst in zweiter Linie werden die besondern Gründe wirken, welche das Sehfeld anders gestalten. Aus den variabeln Beziehungen der einzelnen Netzhautstellen beider Augen zu einander müssen sich daher die konstanteren aussondern. Diese häufigste Verbindung der binokularen Netzhauteindrücke ist nur die innigste unter einer Reihe von Verbindungen, welche verschiedene Grade der Stärke besitzen. Denn es ist auch beim stereoskopischen Sehen viel leichter eine geläufige körperliche Form aufzufassen als eine solche, die neue Anforderungen an unsere Vorstellung macht. Die Tatsache, daß eine konstantere Beziehung existiert, steht also mit der anderen, daß im allgemeinen die Verbindung der doppeläugigen Eindrücke variabel ist, durchaus nicht im Widerspruch. Wohl aber können sich dadurch, daß die konstantere Verbindung vorübergehend in Konflikt gerät mit den Bedingungen, welche die einzelne Wahrnehmung mit sich führt, Widersprüche im Sehen selber entwickeln. Solche existieren tatsächlich. Sie äußern sich in einem Kampf zwischen Doppelt- und Einfachsehen, der überall da zur Erscheinung kommen kann, wo das objektive Sehfeld sehr ungewöhnliche Formen darbietet, oder wo durch starre Fixation die genauere Auffassung des Lageverhältnisses der Gegenstände beeinträchtigt wird.
    Einen überzeugenden Beleg für die hier entwickelte Auffassung, wonach sich eine gewisse konstantere Zuordnung aus variableren Verbindungen entwickelt hat, nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die letzteren als Ausnahmefälle zu der ersteren hinzugetreten sind, bieten die Erscheinungen des concomitierenden Schielens. Mit Rücksicht auf ihre Ursachen kann man zwei Formen pathologischer Abweichung der Augenstellungen unterscheiden. Die eine, das paralytische Schielen, entspringt aus der vollständigen oder teilweisen Innervationslähmung eines oder mehrerer Augenmuskeln; die zweite, das concomitierende Schielen, hat ihren Grund in der abnormen Verkürzung von Augenmuskeln bei normaler Innervation. In den Fällen des paralytischen Schielens beobachtet man Erscheinungen, welche sich aus den die Augenmuskellähmungen begleitenden Störungen der Lokalisation ergeben102). Ein Auge z. B., das an Parese des äußern geraden Augenmuskels leidet, stellt sich, wenn es einen Punkt fixieren soll, in Wirklichkeit nicht auf denselben ein, sondern, da es die Auswärtswendung überschätzt, so wird die Gesichtslinie nach innen von dem Punkte abgelenkt, auf welchen die Gesichtslinie des andern normalen Auges richtig eingestellt ist. Nach seinem Innervationsgefühl glaubt der Schielende, er habe auch dem paretischen Auge die richtige Stellung gegeben. Da nun aber dieses hierbei einen Blickpunkt hat, der weiter nach innen liegt als der des normalen Auges, so muß von ihm der letztere Punkt um denselben Betrag zu weit nach außen verlegt werden: es erscheinen also Doppelbilder, deren Distanz dem Aberrationswinkel des schielenden Auges entspricht. Dieser Winkel wechselt bei verschiedenen Augenstellungen, indem er mit wachsender Konvergenz zunimmt; hierin liegt wohl die Ursache, daß sich in solchen Fällen eine neue feste Beziehung der binokularen Netzhauteindrücke nicht ausbilden kann; sondern höchstens in Folge eintretender Gesichtsschwäche auf dem schielenden Auge das Einfachsehen als monokulares sich herstellt. Anders ist dies beim concomitirenden Schielen103). Hier behält der Winkel, um welchen die Gesichtslinie des schielenden Auges von der richtigen Stellung abweicht, immer die nämliche Größe, da die gemeinsame Innervation des Doppelauges nicht gestört ist. Auch in diesen Fällen kommt es vor, daß das eine Halbbild in Folge zu geringer Sehschärfe des betreffenden Auges vernachlässigt wird. Meistens aber wird bald das eine bald das andere Auge zum Fixieren benutzt. Trotzdem werden die Objekte in der Regel nicht doppelt sondern einfach gesehen. Daß solches nicht von Vernachlässigung des einen Halbbildes herrührt, kann man durch ablenkende Prismen leicht nachweisen, indem diese alsbald Doppelbilder hervortreten lassen. Es muß also hier das Netzhautzentrum des einen Auges demjenigen Punkt der Netzhaut des andern Auges, auf welchem der nämliche Objektpunkt sich abbildet, in konstanterer Weise zugeordnet, und entsprechend müssen dann die übrigen einander zugeordneten Netzhautpunkte verschoben sein. In der Tat treten denn auch, wenn durch eine Operation den Augen ihre normale Stellung gegeben wird, eine Zeit lang außerordentlich störende Doppelbilder auf, welche nur allmälig verschwinden, sei es weil das eine Halbbild vernachlässigt wird, sei es weil abermals eine neue Zuordnung der binokularen Netzhautstellen sich herstellt.

102) Vergl. ALFR. GRAEFE, Archiv f. Ophthalmologie XI, 2. S. 1. Über die Störungen der Lokalisation bei Parese der Augenmuskeln siehe oben.
103) Nagel, das Sehen mit zwei Augen S. 130. Alfr. Graefe a. a. O. S. 17.

    Wohl ebenso sehr wie diese pathologischen Fälle spricht aber die Art und Weise, wie im normalen Auge die konstanter zugeordneten Stellen gelagert sind, für eine Entwicklung aus variableren Verbindungsverhältnissen. Es liegen nämlich diese Stellen in den meisten Augen nicht, wie man lange Zeit vorausgesetzt hat, vollkommen symmetrisch zur Medianebene des Körpers, sondern sie zeigen Abweichungen, welche darauf hindeuten, daß jene Form des subjektiven Sehfeldes, welche als die weitaus häufigste angesehen werden muß, auf die Lagerung der korrespondierenden Stellen von bestimmendem Einflusse ist. Es wurde früher bemerkt, daß dasjenige Sehfeld, welches wir uns beim Mangel aller äußeren Bestimmungsmomente konstruieren, eine Kugelfläche sei, welche um den Drehpunkt des Auges oder, bei binokularem Sehen, um den Mittelpunkt der Verbindungslinie beider Drehpunkte gelegt ist104). Dieser Kugelfläche entspricht aber das gewöhnliche Sehfeld, wie wir jene häufigste Form desselben nennen wollen, nur in seiner oberen Hälfte, in seiner unteren wird es durch die Bodenfläche bestimmt, als deren normale Form wir eine horizontale Ebene betrachten können. Wenigstens für unsere nächste Umgebung trifft letzteres in weitaus der Mehrzahl der Fälle zu. Am Horizont scheint uns das Himmelsgewölbe, welches wir als Hohlkugelform sehen, plötzlich ein Ende zu haben und in die ebene Bodenfläche überzugehen. Da wir den Blick um so mehr heben müssen, je fernere Punkte der letzteren wir fixieren, so erscheint sie uns zugleich nicht horizontal oder etwa gar im Sinne der Erdkrümmung gewölbt, sondern als eine von unsern Füßen bis zum Horizont stetig ansteigende Ebene, wie dies in Fig. 131 übertrieben gezeichnet ist, wo o c die Richtung der horizontalen Visierebene, a b die wirkliche horizontale Bodenebene und a c die scheinbare Neigung der letzteren bedeuten. Endlich erscheint uns das Himmelsgewölbe selbst nicht vollkommen kugelförmig gewölbt sondern flacher, da wir wegen der vielen Fixationspunkte, die zwischen unserm Standpunkt und dem Horizont gelegen sind, den letzteren für ferner halten als den Zenith105). Wenn wir also bei paralleler Augenstellung in unendliche Ferne sehen, so nähert sich nur der obere Teil unseres Sehfeldes einer mit sehr großem Radius beschriebenen Kugelfläche, und kann demnach für die nächste Umgebung des Blickpunktes als eine Ebene angesehen werden, die auf der horizontalen Visierebene senkrecht steht. Der untere Teil dagegen ist eine geneigte Ebene, welche in der Nähe unseres Fußpunktes von der horizontalen Bodenebene nicht mehr merklich verschieden ist. Demnach bilden denn auch, wenn wir auf ebenem Boden stehend in unendliche Ferne blicken, nur die oberen Teile des Sehfeldes auf identischen Punkten beider Netzhäute sich ab, für die unteren Teile ist dies aber nicht der Fall, oder, wie wir uns wegen der optischen Umkehrung der Bilder auch ausdrücken können: nur die unteren Teile der beiden Netzhautbilder fallen auf identische Stellen, die oberen weichen um so mehr davon ab, je näheren Teilen des Sehfeldes sie entsprechen. In der Tat macht es nun, wie HELMHOLTZ106) bemerkt hat, die Beobachtung sehr wahrscheinlich, daß diese Form des gewöhnlichen Sehfeldes die wechselseitige Zuordnung der korrespondierenden Stellen bestimmt. Denken wir uns auf dem Fußboden in der Medianebene unseres Körpers eine gerade Linie gezogen, so liegen die Bilder derselben nicht auf identischen Stellen, sie schneiden nicht einander parallel die Netzhautzentren, sondern sie konvergieren nach oben. Würden also nur die Eindrücke identischer Punkte einfach empfunden, so müßte eine solche Linie wegen der Umkehrung der Bilder in nach oben divergierenden Doppelbildern erscheinen. Dasselbe müßte mit allen andern Linien, die der vorigen parallel gezogen werden können, also mit der ganzen Fußbodenebene, der Fall sein. Daß dies nicht geschieht, sondern daß wir den Boden zu unsern Füßen im allgemeinen einfach sehen, beweist nun allerdings noch keine Korrespondenz jener Netzhautstellen, auf welchen derselbe sich abbildet, sondern diese könnten auch bloße Deckstellen im Sinne der gewöhnlichen variablen Zuordnung sein. Doch hier sind nun die früher hervorgehobenen Täuschungen über die Richtung vertikaler Linien offenbar von Bedeutung. Wir sahen nämlich, daß jedem Auge einzeln eine Linie vertikal erscheint, welche in Wirklichkeit mit ihrem oberen Ende etwas nach außen geneigt ist, Täuschungen, die erst bei binokularer Betrachtung sich ausgleichen. Die Neigung, welche eine solche scheinbar vertikale Linie in ihrem Netzhautbilde hat, ist aber häufig nicht nur dem Sinne sondern auch der Größe nach ungefähr dieselbe, wie sie dem Bild jener auf dem Fußboden gezogenen Linie entspricht. Wir haben allerdings bemerkt, daß die Neigung der scheinbar vertikalen Linien höchst wahrscheinlich von der Verteilung der Muskelkräfte am Auge herrührt. Aber dieser Erklärung widerstreitet es durchaus nicht, wenn ein weiterer Zusammenhang mit der Form des gewöhnlichen Sehfeldes existiert. Vielmehr liegt hierin nur eine fernere Bestätigung des Satzes, daß die Innervation und die Mechanik der Augenmuskeln angepaßt sind den Bedürfnissen des Sehens. Wenn wir nach den Gründen für eine solche Anpassung suchen, so werden wir annehmen können, in der Entwicklung der Art seien die Bedürfnisse des Sehens, wie sie sich allmälig durch die Vereinigung der beiden Augen zum Doppelauge herausgebildet haben, ursprünglich bestimmend gewesen, während wir bei der individuellen Entwicklung wieder die Mechanik des Auges als das frühere ansehen müssen. Hiermit ist zugleich auf die Frage, wie sich aus den wechselnden Verbindungen verschiedener Deckpunkte die korrespondierenden Punkte als bevorzugte Verbindungen entwickelt haben, die Antwort gefunden. Wir sehen eine Gerade auf dem ebenen Fußboden nur deshalb vorzugsweise leicht einfach, weil beide Augen vermöge des bestimmenden Einflusses der Innervation auf die räumliche Auffassung ihr eine identische Richtung anweisen. Die Gesetze der Innervation mögen aber allerdings in der Entwicklung der Art unter der Leitung der Gesichtseindrücke sich ausgebildet haben. Durch diese Wendung sind die Schwierigkeiten vermieden, in die sich die empiristische Theorie verwickelt, welche alles aus der individuellen Anpassung des Auges erklären will. Daß auch der letzteren eine gewisse Bedeutung zukomme, soll darum nicht geleugnet werden; die vorhin besprochenen Erscheinungen beim concomitierenden Schielen deuten unmittelbar darauf hin. Aber gerade diese Erscheinungen zeigen, daß solche Anpassung Zeit braucht, während die große Geschwindigkeit, in welcher Menschen und Tiere das Sehen erlernen, nur aus ererbten Dispositionen begreiflich ist.

104) Vergl. Beginn des Kapitels.
105) Smith bemerkt, daß Sterne, die nur 23o vom Horizont entfernt sind, in der Mitte zwischen Horizont und Zenit zu liegen scheinen. (Smith, Lehrbegriff der Optik, Übers. von Kaestner. Altenburg 1755, S. 56.)

106) Physiologische Optik S. 715.

    Nicht in allen Augen entspricht die Neigung der scheinbar vertikalen Meridiane der monokularen Sehfelder der Lage der Fußbodenebene; zuweilen ist sie kleiner oder verschwindet völlig. Dies wird wohl begreiflich, wenn wir erwägen, daß das gewöhnliche Sehfeld sich aus zwei verschiedenen Bestandteilen zusammensetzt, aus einer oberen Hälfte, welche eine Korrespondenz der identischen Meridiane der Netzhaut, und aus einer unteren Hälfte, welche geneigte Meridiane verlangt. Es ist nun wohl denkbar, daß bald das eine bald das andere dieser Momente bei der Ausbildung des Sehorgans bestimmend gewesen ist. Eigentlich wäre zu erwarten, die scheinbar vertikalen Meridiane würden, entsprechend jener Verschiedenheit, im untern und obern Teil des monokularen Sehfeldes eine verschiedene Lage einnehmen. In der Tat scheint dies in einzelnen Fällen vorzukommen107). Meistens ist aber wohl die untere Hälfte des Sehfeldes vorzugsweise entscheidend, weil wir wegen der größeren Nähe der Fußbodenebene die Richtung der auf ihr gezogenen Linien schärfer aufzufassen geneigt sind.

107) Einen Fall dieser Art erwähnt HELMHOLTZ, a. a. O. S. 276.

    Wenn die Augen nicht in unendliche Ferne, sondern auf irgend ein näheres Objekt blicken, so verlieren die korrespondierenden Punkte ihre unmittelbare Bedeutung für das Sehen. Nichts desto weniger ist es klar, daß ihnen auch hier noch vermöge ihrer häufigeren Verbindung ein gewisser Einfluß zukommen kann. In allen Fällen nämlich, wo bestimmte Deckpunkte des jeweiligen Sehfeldes zugleich korrespondierende Punkte sind, wird die einfache Auffassung derselben und demgemäß auch ihre Lagebestimmung erleichtert sein, nach dem allgemeinen Gesetz, daß psychische Elemente sich um so leichter von neuem verbinden, je öfter sie schon verbunden gewesen sind108). Da die Macht dieses Einflusses, wie wir an den Doppelbilderscheinungen gesehen haben, so stark ist, daß sie den im objektiven Sehfeld gegebenen Antrieben unter Umständen zu widerstehen vermag, so wird notwendig die Verbindung noch mehr erleichtert sein, wenn solche Antriebe hinzukommen. Den Inbegriff derjenigen Raumpunkte, deren Bild in beiden Augen auf korrespondierende Stellen fällt, hat man nun den Horopter genannt. Die Bedeutung desselben für das Sehen wird sich nach dem obigen dahin feststellen lassen, daß alle Deckpunkte, die in den Horopter fallen, in Bezug auf ihre Verschmelzung begünstigt sind. Hiermit ist schon ausgedrückt, daß der Horopter nicht, wie es häufig geschehen ist, als der Inbegriff derjenigen Punkte aufgefaßt werden darf, welche wirklich einfach gesehen werden. Die obige Bestimmung bedarf aber außerdem noch einer weiteren Einschränkung. Eine reale Bedeutung für das Sehen haben nur diejenigen Teile des Horopters, die mit dem Fixationspunkt in unmittelbarem Zusammenhange stehen, demnach solchen Linien des Sehfelds angehören, die den Blickpunkt schneiden, nicht aber Teile, die etwa isoliert vom Blickpunkt in indirekt gesehenen Gebieten des Sehfelds gelegen sind. Indirekt gesehene Objekte werden nämlich an und für sich so ungenau wahrgenommen, daß selbst bedeutende Abweichungen der beiden Halbbilder nicht bemerkt werden, daher auch der Umstand, ob die Deckpunkte zugleich korrespondierende Punkte sind, für solche stark seitlich gelegene Objekte nicht von Belang sein kann. Dies wird anders, wenn die indirekt gesehenen Punkte zusammen eine Linie bilden, welche den Blickpunkt schneidet. In diesem Falle müssen sich nämlich, wenn sich der Blickpunkt entlang einer solchen Linie bewegt, die einzelnen Punkte derselben in einander verschieben. Wenn der Blickpunkt von einem Punkt a auf einen Punkt b einer derartigen Horopterlinie übergegangen ist, müssen nunmehr a und alle zwischen a und b gelegenen Punkte wieder im Horopter liegen, d. h. auf korrespondierenden Stellen beider Netzhäute sich abbilden. Alle durch den Blickpunkt gezogenen Horopterlinien werden also in Bezug auf die binokulare Auffassung ihrer Richtung begünstigt sein. Denn bei ihrer Verfolgung mit dem Blick tritt für die binokulare Auffassung das nämliche ein was für die monokulare gemäß dem LISTING'schen Gesetze bei den Bewegungen von der Primärlage aus geschieht. Wie hier alle geraden Linien, die im ebenen Sehfeld vom Blickpunkte aus verfolgt werden können, sich bei der Bewegung dergestalt in einander verschieben, daß sie sich fortwährend auf denselben Netzhautmeridianen abbilden109), so wird dies für die Horopterlinien in Bezug auf beide Netzhäute der Fall sein. Über die Richtung solcher Linien werden wir uns daher beim binokularen Sehen am leichtesten und genauesten orientiren können.

108) Vergl. Kap. XIX.
109) Vergl. Fig. 109.

    Es gibt dreierlei Stellungen des Auges, bei welchen der Horopter eine Bedeutung für das Sehen im angegebenen Sinne beanspruchen kann. Diese sind: 1) die Fernstellung mit parallelen, gerade nach vorn gerichteten Gesichtslinien, 2) die Konvergenzstellungen in der Primärlage und 3) die symmetrischen Konvergenzstellungen in andern Lagen der Visierebene. Bei der Fernstellung des Auges, welche die Ausbildung der korrespondierenden Punkte und damit den Horopter überhaupt bestimmt, ist der letztere eine Fläche, welche, wie wir oben gesehen haben, in der Regel der unteren, zuweilen aber auch der oberen Hälfte des gewöhnlichen Sehfeldes entspricht, also eine Ebene, welche entweder mit der Fußbodenebene zusammenfällt oder auf derselben senkrecht ist; in seltenen Fällen scheint sie sich ganz nach dem gewöhnlichen Sehfeld zu richten, also aus jenen beiden Ebenen zu bestehen. In allen anderen Augenstellungen ist der Horopter die Schnittlinie zweier Flächen, von denen man die eine den Vertikalhoropter, die andere den Horizontalhoropter nennt. Um jede dieser Flächen zu finden, denke man sich auf der Netzhaut zwei Reihen von Linien gelegt, die einen parallel dem scheinbar vertikalen Netzhautmeridian, die andern parallel dem Netzhauthorizont: die ersteren werden die vertikalen, die zweiten die horizontalen Trennungslinien genannt. Den Vertikalhoropter erhält man nun, wenn man durch die vertikalen Trennungslinien beider Netzhäute und durch die Kreuzungspunkte der Visierlinien Ebenen legt: die Linie, in welcher sich diejenigen Ebenen schneiden, die je zwei korrespondierenden Trennungslinien entsprechen, gehört der Vertikalhoropterfläche an. Der Horizontalhoropter wird erhalten, wenn man durch die horizontalen Trennungslinien und die Kreuzungspunkte der Visierlinien Ebenen legt: die Linie, in welcher sich jetzt die Ebenen zweier korrespondierenden Trennungslinien schneiden, gehört dem Horizontalhoropter an. Befinden sich beide Augen in symmetrischer Konvergenz von der Primärlage aus, so ist der Vertikalhoropter eine Kegelfläche, welche durch die Kreuzungspunkte der Visierlinien geht. Wird die Abweichung der scheinbar vertikalen Meridiane null, so wandelt sich dieser Kegel in einen auf der Visierebene senkrechten Zylinder um. Der Horizontalhoropter besteht aus zwei Ebenen, von denen die eine, die Schnittebene der beiden Netzhauthorizonte, mit der Visierebene zusammenfällt, die andere, welche alle Schnittlinien der übrigen horizontalen Trennungslinien enthält, die zur Visierebene senkrechte Medianebene ist. Totalhoropter ist daher in diesem Fall ein durch die beiden Kreuzungspunkte der Visierlinien in der Ebene der letzteren gelegter Kreis und eine in der Medianebene liegende Gerade, die den Fixationspunkt schneidet. Diese Gerade steht senkrecht zur Visierebene, wenn die korrespondierenden mit den identischen Stellen zusammenfallen, d. h. wenn die Abweichung der scheinbar vertikalen Trennungslinien null ist; sie ist zur Visierebene geneigt, wenn sich die Ausbildung der korrespondierenden Punkte nach der Bodenebene gerichtet hat. In diesen Augenstellungen ist somit die binokulare Ausmessung horizontaler Linien sowie einer Medianlinie, die unter einem bestimmten, je nach der Lage der scheinbar vertikalen Meridiane etwas wechselnden Winkel durch den Fixationspunkt gelegt ist, begünstigt. Die individuellen Schwankungen, die in letzterer Beziehung stattfinden, haben wahrscheinlich darin ihren Grund, daß bald die Bedeutung der Primärlage für die räumliche Ausmessung in der Ruhe betrachteter Gegenstände bald die Form des gewöhnlichen Sehfeldes, wie es beim Fernesehen sich feststellt, von größerem Gewichte ist. Wo die Bedeutung der Primärstellung in den Vordergrund tritt, da wird sich ein solches Lageverhältnis der korrespondierenden Punkte ausbilden, daß die senkrecht zur Visierebene im Blickpunkt errichtete Gerade auf korrespondierende Meridiane fällt. Wo das Sehen in die Ferne überwiegt, da wird der Einfluß der Bodenebene bestimmender sein. So erklärt es sich, daß gerade bei Kurzsichtigen die Neigung der scheinbar vertikalen Meridiane sehr klein ist oder völlig verschwindet. Konvergieren die Blicklinien asymmetrisch von der Primärstellung aus, so wird dadurch der Vertikalhoropter nicht verändert. Auch der Horizontalhoropter besteht wieder aus zwei Ebenen, von denen die eine mit der Visierebene zusammenfällt. Die zweite geht aber nicht mehr durch den Fixationspunkt, sondern liegt seitlich von demselben. Demgemäß ist denn auch Totalhoropter der in der Visierlinie gelegene Kreis, wie vorhin, und außerdem eine Gerade, die entweder senkrecht zur Visierebene steht oder zu derselben geneigt ist, je nach der Lage der scheinbar vertikalen Meridiane, immer aber seitlich vom Fixationspunkte liegt. Hiernach kann auch der letzteren Linie eine Bedeutung für die Ausmessung der Richtungen im Sehfeld nicht mehr zukommen: der physiologisch bedeutsame Horopter beschränkt sich also auf den durch die Kreuzungspunkte der Visierlinien gelegten Kreis, welcher die Ausmessung ausschließlich jener Linien begünstigt, die in der Visierebene liegen. In solchen symmetrischen Konvergenzstellungen endlich, in welchen die Visierebene von der Primärlage aus gehoben oder gesenkt ist, wird der Vertikalhoropter wieder eine Kegelfläche, die je nach der Neigung, welche die vertikalen Netzhautmeridiane erfahren haben, entweder unter oder über der Visierebene ihre Spitze hat. Der Horizontalhoropter besteht abermals aus zwei Ebenen, von denen die eine wieder die Medianebene ist, die andere durch die Kreuzungspunkte der Visierlinien geht, aber nicht mit der Visierebene zusammenfällt, sondern zu derselben geneigt ist. Totalhoropter ist daher eine in der Medianebene durch den Fixationspunkt gehende Gerade und eine Kreislinie, welche diesmal nicht den Fixationspunkt sondern einen andern Punkt jener Geraden schneidet. Demnach ist der für das Sehen in Betracht kommende Teil des Horopters nur die in der Medianebene liegende Gerade. Wie also in den asymmetrischen Konvergenzstellungen von der Primärlage aus nur die Ausmessung von Linien in der Visierebene, so ist in den symmetrischen Konvergenzstellungen außerhalb der Primärlage die Ausmessung von Linien in der Medianebene begünstigt; allein in den symmetrischen Konvergenzstellungen von der Primärlage aus sind beide zugleich bevorzugt. In diesen Verhältnissen liegt ausgedrückt, daß es zwei Hauptrichtungen des Sehens gibt, die den zwei Hauptrichtungen der Blickbewegung korrespondieren. Bei der einen werden vorzugsweise gerade Linien in der Medianebene deutlich aufgefaßt: hier wandert, wenn das Auge bewegt wird, der Blickpunkt innerhalb der Medianebene; bei festgehaltener symmetrischer Konvergenz verändert sich also die Lage der Visierebene. Mit der letzteren wechselt dann zugleich die Richtung derjenigen Geraden, deren genaue Auffassung vorzugsweise begünstigt ist. In den Stellungen unterhalb der Primärlage ist dieselbe so zur Visierebene geneigt, daß ihr oberes Ende vom Sehenden abgekehrt ist; in den Stellungen oberhalb der Primärlage ist dasselbe im allgemeinen dem Sehenden zugekehrt. In der Primärlage selbst steht die begünstigte Medianlinie entweder senkrecht zur Visierebene, oder sie ist noch im selben Sinne wie bei den tieferen Lagen geneigt, so daß erst in einer etwas höheren Stellung die senkrechte Lage eintritt. Diese Richtungsänderungen der begünstigten Linien hängen augenscheinlich wieder damit zusammen, daß im gewöhnlichen Sehfelde der gesenkte Blick auf die Fußbodenebene fällt, die sich vom Sehenden scheinbar ansteigend zum Horizont erstreckt, der gehobene Blick dagegen dem Zenit sich nähert, von welchem das Sehfeld zum Horizont abfällt. Dieser Form fügt sich aber nicht bloß das unendlich entfernte Himmelsgewölbe, sondern auch eine nähere Fläche, die wir bei aufwärts gekehrtem Blick betrachten. Die ebene Decke eines größeren Zimmers z. B. oder das Laubdach eines ebenen Waldwegs sieht man sich zum Horizont senken, ebenso wie die Bodenebene zu demselben ansteigen. Bei der zweiten Hauptrichtung des Sehens sind die in dem Horopterkreis gelegenen Gegenstände in Bezug auf ihre deutliche Auffassung begünstigt. Diese Hauptrichtung geht von einer fest bestimmten Lage der Visierebene, der Primärlage, aus, in der dann bei gleich bleibendem Konvergenzwinkel der Blick nach rechts und links gewendet werden kann, während die Bilder der in jenem Kreis gelegenen Objekte sich fortwährend über korrespondierende Stellen der Netzhauthorizonte bewegen. In diesem Fall ist die Tatsache entscheidend, daß nähere Gegenstände, die wir in horizontaler Richtung mit dem Blick ausmessen, vorzugsweise unter dem Horizont gelegen sind, also mit gesenktem Blick beobachtet werden. Der Horizont selbst bildet die obere Grenze solcher Horizontaldistanzen: er fordert aber im allgemeinen eine Parallelstellung der Augen. Nachdem so durch die Verhältnisse des gewöhnlichen Sehfeldes die geneigte Lage der Primärstellung gefordert ist, wählen wir diese dann auch unwillkürlich bei solchen Beschäftigungen, bei denen es uns, wie beim Lesen und Schreiben oder bei feinen mechanischen Arbeiten, auf eine besonders genaue Auffassung in der horizontalen Sehrichtung ankommt. Dabei ist freilich nicht zu übersehen, daß auch die Muskeln unserer Arme und Hände in einer Weise eingerichtet und eingeübt sind, die eine solche Haltung des Auges verlangt. Auch hier sind es also wieder mannigfaltige Bedingungen, welche nach einem Ziele zusammen wirken.
    In asymmetrischen Konvergenzstellungen außerhalb der Primärlage gibt es zwar ebenfalls noch eine Horopterlinie. Letztere ist aber in diesem Fall eine Kurve doppelter Krümmung, welche durch den Schnitt zweier Hyperboloide entsteht. Es liegt keine Wahrscheinlichkeit vor, daß diese Linie für das Sehen irgend eine Bedeutung habe. Die genannten Augenstellungen verhalten sich daher in dieser Beziehung nicht anders, als wenn der Blickpunkt der einzige korrespondierende Punkt wäre. Begünstigte Richtungen des Sehens kann es hier nicht geben, da die Horopterkurve in keinem Fall mehr eine durch den Blickpunkt gehende Linie ist. Nach dem LISTING'schen Gesetze sind, wie wir gesehen haben, in der Primärlage alle Richtungen des Sehens dadurch bevorzugt, daß in ihnen die Orientierung des Auges bei der Bewegung des Blicks konstant bleibt. Jede in der Primärlage durch den Fixationspunkt gehende Gerade verschiebt sich bei der Bewegung im Netzhautbild des einzelnen Auges in sich selber. Beim binokularen Sehen werden diese begünstigten Richtungen auf die zwei Hauptrichtungen reduziert. Daß es aber hier überhaupt diese zwei Hauptrichtungen gibt, ist in dem LISTING'schen Gesetz begründet. Hierin besteht die Bedeutung des letzteren für das Doppelauge. —
    Indem die Einflüsse, welche die konstantere Zuordnung der korrespondierenden Punkte bedingen, und diejenigen, welche von der variabeln Auffassung des Sehfeldes ausgehen, neben einander zur Geltung kommen, bildet sich im allgemeinen eine Neigung aus, solche Bilder beider Netzhäute, die sich in Form und Größe sehr nahe kommen und nahezu korrespondierende Stellen decken, in eine Vorstellung zu verschmelzen, auch wenn die sonstigen Motive einer solchen Verschmelzung, die aus der Lagebestimmung im Sehfelde hervorgehen, fehlen. Wenn man z. B. zwei Kreise von etwas ungleichem Radius zieht und sie in Parallelstellung oder symmetrischer Konvergenz zur Vereinigung bringt, so verschmelzen dieselben leicht in die Vorstellung eines Kreises. Allerdings können in diesem Fall auch die Netzhautbilder eines einzigen Gegenstandes unter Umständen dieselbe Verschiedenheit zeigen, wenn wir z. B. einen weit nach links gelegenen Kreis betrachten, wo wegen der ungleichen Entfernung von beiden Augen das linke Netzhautbild etwas größer ist als das rechte; doch müßte ein solcher Kreis bei asymmetrischer Konvergenz betrachtet werden. Ähnlich verhält es sich, wenn man zwei horizontale Linien von ungleicher Distanz binokular vereinigt, wie in Fig. 132. Dagegen ist bei Bildern wie der Fig. 133 die Beziehung auf einen zur Seite vom Beobachter gelegenen Gegenstand ganz unmöglich. Dennoch verschmelzen auch hier die vier Kreise mit einander. Es ist also unleugbar, daß wir selbst solche Netzhautbilder zu einer Vorstellung verbinden, die in Wirklichkeit gar nicht von einem einzigen Gegenstande herrühren können, sobald sie sich nur den wirklichen Bildern eines Objektes sehr annähern. Hieraus geht klar hervor, daß wir die Unterschiede nicht-korrespondierender Stellen beider Netzhäute unter allen Umständen viel leichter übersehen als Unterschiede im Sehfeld des einzelnen Auges, indem immer die Neigung besteht, die binokularen Eindrücke auf einfache Objekte zu beziehen. Sind die Unterschiede von den Netzhautbildern eines wirklichen Gegenstandes nicht allzu bedeutend, so tritt daher die Verschmelzung ein. Diese unterbleibt erst, sobald z. B. die Unterschiede in den Radien der Kreise eine gewisse Grenze überschreiten. Auch gelingt es oft, namentlich bei starrer Fixation, die unter gewöhnlichen Umständen verschmelzenden Eindrücke zu Doppelbildern aus einander zu treiben. Ferner müssen in allen diesen Fällen, die den Bedingungen des normalen Sehens eigentlich widerstreiten, die Unterschiede immerhin geringer sein, als wenn eine Beziehung auf bestimmte Lageverhältnisse der Gegenstände möglich ist. So können zwei vertikale Linienpaare noch bei einem größeren Distanzunterschied vereinigt werden als zwei horizontale. Denn bei der stereoskopischen Kombination der Linienpaare a b und c d (Fig. 134) entsteht die Vorstellung eines Tiefenunterschieds. Denken wir uns zwei Linien im Raume, von denen die rechts gelegene weiter vom Beobachter entfernt ist als die linke, so entwerfen dieselben bei naher Betrachtung in der Tat im linken Auge ein Bild a b, im rechten ein Bild c d. Bei Horizontallinien kann ein solcher Distanzunterschied der Bilder nur noch bei seitlicher Lage des Objekts vorkommen, und er kann hier, weil seitliche Objekte zu bald aus unserm Gesichtsfeld verschwinden, bei weitem keinen so hohen Grad erreichen. Kreise von verschiedenem Halbmesser bieten ein gemischtes Verhalten dar. Ihre vertikalen Bogen können auf die Tiefendimension bezogen werden, ihre horizontalen können nur analog den geraden Horizontallinien vereinigt werden. Daher beobachtet man auch zuweilen, daß die ersteren verschmelzen, während die letzteren in Doppelbildern erscheinen. Über die äußersten Distanzunterschiede, in welchen gerade Linien noch vereinigt werden können, hat volkmann messende Versuche ausgeführt, welche zeigen, daß diese Unterschiede bei vertikaler Richtung das 4–6-fache derjenigen bei horizontaler betragen dürfen; doch sind die individuellen Schwankungen bedeutend110). Einen großen Einfluß auf die Trennung der Doppelbilder, mögen dieselben nun durch die Beziehung auf bestimmte Lageverhältnisse der Objekte erschwert sein oder nicht, übt auch die Anbringung gewisser Merkzeichen aus, welche die Vereinigung in eine einzige Vorstellung hindern. So widersetzen sich die Linienpaare in Fig. 135 der Verschmelzung in Folge der beiden Horizontallinien. Dasselbe tritt schon ein, wenn man, wie in Fig. 136, von zwei zu kombinierenden Linien die eine durch einen rechts, die andere durch einen links beigesetzten Punkt auszeichnet. In allen diesen Fällen, die noch in der mannigfaltigsten Weise variiert werden können111), schwindet dann aber auch mit dem Eintritt der Doppelbilder alsbald die Vorstellung einer verschiedenen Tiefenentfernung der Linien.

110) VOLKMANN, Archiv f. Ophthalmologie. II, 2. S. 32 f.
111) Vergl. Volkmann a. a. O. S. 19 f. PANUM, das Sehen mit zwei Augen. S. 64 f.

    Wie in den zuletzt beschriebenen Versuchen die Trennung der auf nicht korrespondierende Stellen fallenden Bilder durch besondere Zeichen begünstigt wird, so kann auch umgekehrt durch auszeichnende Merkmale die Vereinigung der auf korrespondierenden Stellen entworfenen Bilder verhindert werden, falls nur gleichzeitig andere Momente ein Auseinanderfallen der Deckpunkte und der korrespondierenden Punkte veranlassen. Man zeichne, wie in Fig. 137, zwei Linien, welche die Richtungen der scheinbar vertikalen Meridiane besitzen; die Linie links werde dick, die Linie rechts möglichst fein gezogen, außerdem bringe man aber rechts noch eine ebenfalls dick ausgezogene Linie von etwas anderer Richtung an. Legt man diese Zeichnung in das Stereoskop, so werden die beiden dicken Linien vereinigt, und zwar erwecken dieselben die Vorstellung eines sich in die Tiefe erstreckenden Stabes, die feine Linie aber wird isoliert gesehen. Dieser im wesentlichen schon von wheatstone angegebene Versuch112) ist mehrfach bestritten worden113). Aber selbstverständlich kann der Umstand, daß es zuweilen gelingt, die korrespondierenden Linien statt der disparaten zu verschmelzen, nichts beweisen. Auch kann nicht angenommen werden, daß etwa durch die Tendenz zur Verschmelzung eine Rollung der Augen um die Gesichtslinien eintrete, da andere Linien, die man noch im Gesichtsfelde anbringt, z. B. die Vierecke, welche die Fig. 137 umrahmen, ihre scheinbare Richtung nicht verändern und sich fortwährend decken; zudem spricht dagegen die deutliche Tiefenvorstellung. Letztere beweist ferner, daß nicht etwa das Halbbild der einen der starken Linien ausgelöscht wird. Überdies kann man beide von verschiedener Farbe nehmen, wo dann das Sammelbild glänzend und in der Mischfarbe erscheint114). Nach der oben vorgetragenen Theorie bildet der WHEATSTONE'sche Versuch keine Schwierigkeit. In ihm sind gerade solche Bedingungen hergestellt, daß die variable Zuordnung der Deckstellen nach den Lageverschiedenheiten der Bilder entschieden begünstigt ist vor der konstanteren Zuordnung der korrespondierenden Punkte, wie sie sich aus der Beschaffenheit des gewöhnlichen Sehfeldes entwickelt hat.

112) WHEATSTONE (Poggendorff's Annalen. 1842. Ergänzungsband. S. 30) hat angenommen, daß zwei vertikale Gerade auf korrespondierenden Netzhautstellen sich abbilden. Oben haben wir dem mit HELMHOLTZ (physiol. Optik S. 737) Gerade, deren Neigung der Richtung der scheinbar vertikalen Meridiane entspricht, substituiert. Eine andere Form des Versuchs siehe bei Nagel, das Sehen mit zwei Augen, S. 81.

113) Brücke, MÜLLER'S Archiv, 1841. S. 459. Volkmans, a. a. O, S. 74.
114) Vergl. die unten folgenden Erörterungen über den stereoskopischen Glanz.

    Die wesentliche Bedeutung des zweiäugigen Sehens liegt in der Sicherheit, mit welcher durch dasselbe den in verschiedener Entfernung befindlichen Punkten eines Gegenstandes ihre relative Lage zum Sehenden angewiesen wird. Auf beiden Netzhäuten entwerfen in unserer Nähe vorhandene Körper Bilder, welche in eine Vorstellung verschmelzen, in der unmittelbar die Lagebestimmung der einzelnen Teile des Gegenstandes nach ihrer Richtung und Tiefenentfernung enthalten ist. Eben damit hängt die genauere Lagebestimmung der Objekte in Bezug auf unsern eigenen Körper zusammen. Die Richtung, nach welcher wir irgend einen binokular gesehenen Gegenstand verlegen, entspricht nämlich, wie E. HERING zuerst bemerkt hat, einer Geraden, die von dem Mittelpunkt der Verbindungslinie beider Drehpunkte aus nach dem gemeinsamen Blickpunkt gezogen werden kann115). Wir bestimmen also die Lage und Richtung der Gegenstände so, als wenn wir mit einem einzigen Auge sähen, welches inmitten unserer Stirne gelegen wäre. Diese Bestimmung der Richtungen, wie sie sich in Folge des binokularen Einfachsehens ausgebildet hat, pflegt in der Regel sogar dann noch entscheidend zu bleiben, wenn wir das eine Auge verschließen. Fixiert man bei geschlossenem rechtem Auge mit dem linken l (Fig. 138) zuerst einen ferneren Punkt a' und dann den näheren a, so scheint, obgleich die Richtung der Blicklinie l a ungeändert geblieben ist, doch der Punkt a nach links abzuweichen, was der Bewegung der mittleren Blickrichtung aus der Stellung m a‘ nach m a entspricht. Zugleich ändert sich hierbei die Raddrehung des Auges l im selben Sinne, wie sie sich ändern würde, wenn man bei binokularem Sehen von einer geringeren zu einer stärkeren Konvergenz überginge.

115) HERING, Beiträge zur Physiologie S. 35f., Du Bois REYMOND's und REICHERT's Archiv 1864, S. 27f.

    Das Stereoskop ahmt die natürlichen Bedingungen des körperlichen Sehens nach, indem es Bilder darbietet, wie sie ein körperlicher Gegenstand in beiden Augen entwerfen würde. Zugleich ist man aber mittelst des Stereoskopes im Stande, die Verhältnisse, welche beim natürlichen Sehen nur in Bezug auf nahe gelegene Objekte vorkommen, auf entferntere zu übertragen. In dem Stereoskop kann man nämlich Aufnahmen eines fernen Gegenstandes verbinden, die in zwei Stellungen gemacht sind, welche die Distanz der beiden Augen von einander weit übertreffen. Auf diese Weise gehen uns z. B. die gewöhnlichen stereoskopischen Landschaftsphotographien ein körperliches Bild, wie es uns das natürliche Sehen nicht verschafft. Denn eine Landschaft ist von dem Standpunkte, auf welchem sie übersehen werden kann, zu weit entfernt, als daß merkliche Verschiedenheiten der Netzhautbilder existierten. Das stereoskopische Bild entspricht also nicht der wirklichen Landschaft, sondern einem in der Nähe betrachteten Modell derselben 116).

116) Um bei Betrachtung einer wirklichen Landschaft den stereoskopischen Effekt zu erhalten, hat Helmholtz das Telestereoskop konstruiert, eine Vorrichtung, bei welcher durch zu einander geneigte Spiegel beiden Augen Bilder der Landschaft geboten werden, die einer größeren Distanz der Aufnahmestandpunkte entsprechen. (Helmholtz, physiol, Optik, S. 681 und Taf. IV, Fig. 3.)

    Die Bedeutung des binokularen Sehens läßt sich veranschaulichen, indem man die beiden Augen mit zwei Beobachtern vergleicht, welche von verschiedenen Standpunkten aus die Welt anblicken und einander ihre Erfahrungen mitteilen. Mit diesem Bild ist aber freilich keine Erklärung des stereoskopischen Sehens gegeben; diese liegt vielmehr in jenen Momenten, welche wir oben als bestimmend für die Entstehung des variablen Sehfeldes angeführt haben. Der nächste Grund für die Beziehung eines Lichteindrucks auf einen bestimmten Ort im Raume ist das an denselben gebundene Innervationsgefühl. Dieses richtet sich in jedem Auge nach dem Lageverhältnis des Eindrucks zum Netzhautzentrum. Liegt derselbe in beiden Augen nach innen vom Mittelpunkt, so verursacht er ein Streben zur Verminderung der Konvergenz, er wird also auf ein Objekt bezogen, das weiter als der Blickpunkt entfernt ist. Liegt er in beiden Augen nach außen vom Zentrum, so erweckt er ein Streben zu verstärkter Konvergenz, er wird demnach näher als der Blickpunkt objektiviert. Nur wenn der Eindruck im einen Auge ebenso weit einwärts wie im andern auswärts gelegen ist, entsteht ein Antrieb zu gleichmäßiger Seitwärtswendung beider Gesichtslinien, was der Entfernung des Blickpunktes entspricht. Wirkt endlich der Eindruck im einen Auge nach innen, im andern nach außen und in verschiedener Distanz vom Netzhautzentrum ein, so ist der Erfolg ein gemischter: es entsteht nun gleichzeitig ein Antrieb zur Seitwärtswendung und ein solcher zu vermehrter oder verhinderter Konvergenz. Dies führt zu der Vorstellung, daß der Gegenstand seitlich vom Blickpunkt und gleichzeitig entweder näher oder ferner gelegen sei. Nun sind aber die Innervationsgefühle, wie wir bemerkt haben, nur in Bezug auf ihre Richtung, nicht nach ihrer Größe fest bestimmt, daher auch das ruhende Auge nur eine unbestimmte Vorstellung von der Form des betrachteten Gegenstandes empfängt. So ist denn für dasselbe die Vereinigung der zusammengehörigen stereoskopischen Bildteile zwar möglich, aber nicht notwendig. Dieselben treten um so leichter zu Doppelbildern aus einander, einer je festeren Fixation man sich befleißigt. Erst bei der Bewegung des Auges entsteht die Empfindung der wirklich aufgewandten Innervation und damit eine festere Beziehung der zusammengehörigen Deckstellen der Netzhäute. Deckpunkte werden nun alle jene Punkte des Raumes, welche bei der Bewegung abwechselnd Blickpunkte gewesen sind. Dabei zeigt sich dann zugleich die einmal gebildete Vorstellung von wesentlichem Einflusse. Sobald man durch die Bewegung die Form eines Objektes aufgefaßt hat, ist es leicht, auch während der Ruhe dieselbe festzuhalten. Etwas ähnliches bemerkt man, wenn stereoskopische Bilder bei momentaner Erleuchtung mit dem elektrischen Funken betrachtet werden. Meist sind mehrere auf einander folgende Erleuchtungen mit wechselndem Blickpunkt erforderlich, um den stereoskopischen Effekt zu erzielen. Nur dann ist man überhaupt im Stande, bei einer einzigen momentanen Erleuchtung die Tiefenvorstellung zu vollziehen, wenn zwei zusammengehörige Deckpunkte der beiden Bilder bereits vorher als Lichtpunkte bemerklich gemacht und fixiert wurden117). Doch ist hierbei immerhin die Vorstellung unsicherer als nach wiederholter Erleuchtung.

117) Näheres über die Methoden der Beobachtung bei momentaner Erleuchtung vergl. unten.

    Das binokulare stereoskopische Sehen liefert uns nicht, wie behauptet wird, einen Raum von drei Dimensionen, sondern wir sehen im allgemeinen nur eine Oberfläche, also ein Gebilde aus zwei Dimensionen, Doch besitzt diese Oberfläche eine mannigfaltige, bald stetig bald plötzlich wechselnde Krümmung, so daß dieselbe im ebenen Raum, den wir insgemein zu geometrischen Ausmessungen benutzen, nur mit Hilfe der dritten Dimension konstruiert werden kann. Der eigentliche Unterschied des binokularen und monokularen Sehens besteht aber darin, daß das letztere nur die beiden einfachsten Flächen, Kugeloberfläche und Ebene, diese als kleines Stück einer Kugel von sehr großem Radius, vermöge seiner Bewegungsgesetze unmittelbar zu erzeugen vermag, während wir mit beiden Augen mittelst der wechselnden Verlegung des Blickpunktes Oberflächen aller Gestalten in unserer Vorstellung hervorbringen können. Es sind erst Hilfsmittel sekundärer Art, durch welche sich auch dem monokularen Sehen diese verwickelteren Vorstellungen eröffnen, und dieselben entbehren hier immer der unmittelbaren Sicherheit, die der binokulare Anblick gewährt. Doch sind wir bei der Auffassung der Lageverhältnisse entfernter Gegenstände ausschließlich, auch im binokularen Sehen, auf diese sekundären Hilfsmittel angewiesen, welche im Vergleich mit den mehr an die ursprüngliche Empfindung gebundenen Motiven der binokularen Wahrnehmung immer eine größere Menge individueller Erfahrungen voraussetzen. Hierher gehört zunächst der Lauf der Begrenzungslinien der Gegenstände im Sehfeld. Die Entfernung eines Gegenstandes beurteilen wir nach dem scheinbaren Ansteigen der ebenen Bodenfläche oder bei über uns gelegenen Objekten, die wir mit aufwärts gewandtem Blick betrachten müssen, nach ihrem scheinbaren Abfall gegen den Horizont118). Wo uns die Fußpunkte der Objekte verdeckt bleiben, sind wir daher über deren relative Entfernung sehr unsicher. So erscheinen uns Bergreihen, die sich hintereinander auftürmen, wie in einer Fläche liegend. Bei Zeichnungen, in denen unbestimmt gelassen ist, wie der Lauf der Konturlinien in Bezug auf den Beobachter gemeint ist, kann dadurch die Vorstellung in ein eigentümliches Schwanken geraten. Die Fig. 139 z. B. erscheint bald als eine Treppe, indem die Fläche a vor die Fläche b verlegt wird, bald aber auch als ein überhängendes Mauerstück von umgekehrter Treppenform, indem a hinter b zu liegen scheint119). Dieses Schwanken ist dadurch verursacht, daß wir die Grenzlinien a b bald auf das scheinbare Ansteigen der Fußbodenebene bald auf den scheinbaren Abfall der Deckenebene beziehen können. Sobald man daher in der Zeichnung weitere Momente anbringt, welche die eine oder andere dieser Deutungen ausschließen, wenn man z. B. eine menschliche Figur zeichnet, welche die Treppe hinaufsteigt, oder wenn man, um die Vorstellung des überhängenden Mauerstücks zu begünstigen, den unteren Teil der Treppe hinwegläßt und oben die Figur mit der punktiert angedeuteten Linie bei d abschließt, so hört jenes Schwanken der Vorstellung vollständig auf. Das nämliche kann durch die verschiedene Verteilung von Licht und Schatten bewirkt werden, wenn man also entweder die Fläche b auf den einzelnen Treppenstufen oder diese auf der Fläche a ihren Schatten werfen läßt. So bietet überhaupt der Schlagschatten der Gegenstände ein wichtiges Hilfsmittel für die Auffassung ihrer Lage und Form. In der Morgen- und Abendbeleuchtung, in der die Schatten der Bäume und Häuser länger sind, scheinen uns die Entfernungen größer als in der Mittagssonne. Ob Gegenstände erhaben oder vertieft sind, unterscheiden wir an den Schatten, welche ihre Ränder werfen. Eine Hohlform zeigt die Schatten an der dem Licht zugekehrten, eine erhabene Form an der demselben abgekehrten Seite. Betrachtet man daher z. B. eine erhabene Medaille, von der das Fensterlicht durch einen Schirm abgehalten ist, während sie von der entgegengesetzten Seite her durch einen Spiegel beleuchtet wird, so erscheint das Relief verkehrt120). Nicht bloß der Schatten an sich sondern auch die Verhältnisse der Umgebung, wie die Richtung, in der das Licht einfällt, bestimmen also in diesen Fällen unsere Vorstellung.

l18) Vergl. oben..
119) Schroeder. POGGENDORFF's Annalen, Bd. 105 S. 298.
120) Oppel, POGGESDORFF's Annalen, Bd. 99. S. 466.

    Bei bekannteren Gegenständen bietet die Größe des Gesichtswinkels das relativ genaueste Maß für die Beurteilung ihrer Entfernung dar121). Unbekanntere Gegenstände beurteilen wir daher in Bezug auf ihre Distanzverhältnisse nach den uns in ihrer gewöhnlichen Größe geläufigen, wie Menschen, Bäumen, Häusern. Im Verein mit dem Zug der Begrenzungslinien bildet die Verkleinerung des Gesichtswinkels mit wachsender Entfernung die Elemente der Perspektive. Bei den allerfernsten Objekten, den Gebirgen und Wolken, welche den Horizont umsäumen, können aber die Hilfsmittel der gewöhnlichen Perspektive nicht mehr zur Geltung kommen: sie erscheinen alle wie auf einer einzigen Ebene ausgebreitet. Hier ist dann durch die sogenannte Luftperspektive noch die Möglichkeit geboten, wenigstens größere Distanzunterschiede wahrzunehmen. Durch die Erfüllung der Luft, namentlich ihrer niedrigern Schichten, mit Nebelbläschen, werden nämlich die Gegenstände mit wachsender Entfernung immer undeutlicher, und sie nehmen zugleich bei geringer Lichtstärke eine blaue, bei größerer eine rote Färbung an. Die Berge am Horizont erscheinen also bläulich, die unter- oder aufgehende Sonne und die von ihr beleuchteten Berggipfel aber purpurrot gefärbt. Wie die gewöhnliche Perspektive in Folge des Einflusses der Schlagschatten mit der Tageszeit, so wechselt nun die Luftperspektive außerordentlich mit der Witterung. Wenn die Luft klar und trocken oder, statt mit Wassernebeln, mit Wasserdämpfen erfüllt ist, so erscheint uns der Horizont bedeutend genähert. Umgekehrt rücken bei dichtem Nebel nähere Gegenstände scheinbar in größere Ferne, und sie erscheinen uns dann, da doch ihr Gesichtswinkel unverändert geblieben ist, zugleich vergrößert. Bäume, Menschen sehen wir z. B. durch eine Nebelschicht zu riesigen Dimensionen angewachsen. Die Malerei bringt alle Vorstellungen über Raumverhältnisse und Entfernungen nur mit Hilfe der Perspektive und Luftperspektive zu Stande. Bei näheren Gegenständen, wo das binokulare Sehen über die wirkliche Form der Körper genauere Aufschlüsse gibt, wird daher der plastische Effekt malerischer Kunstwerke erhöht, wenn man sie bloß mit einem Auge betrachtet. Ebenso lassen die gewöhnlichen stereoskopischen Landschaftsphotographien, wenn man jedes einzelne Bild in gewöhnlicher Weise binokular betrachtet, oft nur sehr undeutlich die wahren Formverhältnisse erkennen. Der Effekt erhöht sich schon sehr, wenn man das eine Auge schließt; er wird aber freilich noch viel größer, wenn man beide Bilder im Stereoskop kombiniert. Dieser Versuch zeigt sehr augenfällig das Übergewicht, welches das stereoskopische Sehen gegenüber jenen malerischen Hilfsmitteln der Raumanschauung besitzt.

121) Vergl. Beginn des Kap.

    Indem wir im allgemeinen nach den Regeln der Perspektive und der Luftperspektive die Raumverhältnisse der Gegenstände auffassen, folgen wir augenscheinlich dem Einflusse bestimmter Erfahrungen. Dieser Einfluß läßt sich denn auch in vielen Fällen sehr bestimmt nachweisen. Es ist leicht zu beobachten, daß Kinder erst auf einer ziemlich fortgeschrittenen Entwicklungsstufe Größen und Entfernungen nach der Perspektive zu beurteilen beginnen. Namentlich über weit entfernte Gegenstände täuschen sie sich noch lange Zeit. Nur durch fortgesetzte Übung gelangen wir also dazu, auch jenen Teilen des Gesichtsfeldes, welche nicht im Bereich der binokularen Tiefenauffassung gelegen sind, dieselbe Vielgestaltigkeit der Form zu geben, welche ursprünglich allein durch die stereoskopische Wahrnehmung erzeugt wird. Auch hier behält übrigens der Satz seine Gültigkeit, daß das Sehfeld immer eine Oberfläche ist, welche je nach der Wirkung der angeführten Einflüsse die mannigfaltigsten Gestalten annehmen kann. Nur in einem einzigen Fall könnte es scheinen, daß wir unmittelbar den Eindruck des Körperlichen empfangen, bei durchsichtigen Gegenständen nämlich, welche ihre in verschiedener Tiefenentfernung gelegenen Oberflächen gleichzeitig dem Beschauer darbieten. Die Vorstellung des Durchsichtigen bildet sich aber regelmäßig dann, wenn wir zweierlei Eindrücke auf unser Auge einwirken lassen, von denen die einen die Vorstellung eines näheren, die andern die eines entfernteren, doch in gleicher Richtung liegenden Objektes erwecken. In diesem Fall muß der Schein entstehen, als werde das zweite Objekt durch das erste hindurch gesehen. Dieser Schein tritt nicht bloß dann ein, wenn das erste Objekt wirklich durchsichtig ist, sondern auch, wenn dasselbe eine spiegelnde Oberfläche besitzt, so daß es das Bild eines andern Objektes zurückwirft. Man kann daher leicht auf folgendem Wege den Schein des Durchsichtigen erzeugen: man halte über ein horizontal liegendes schwarzes oder farbiges Papierstückchen a (Fig. 140) eine farblose schräg geneigte Glasplatte g, und lasse in der letzteren eine vertikal gehaltene weiße Papierfläche c sich spiegeln, auf der irgend ein scharf begrenztes Objekt angebracht ist, z. B. ein kleineres farbiges Papierstückchen b. Gibt man der Glasplatte eine Neigung von 45°, so scheint dem Auge o das Objekt b unmittelbar auf der Fläche a zu liegen, und es tritt eine einfache Mischempfindung ein. Vergrößert man nun den Winkel zwischen der Fläche c und der Glasplatte , indem man c in die Lage c' bringt, so scheint das Objekt b hinter a bei b' zu liegen; es entsteht daher die Vorstellung, a sei durchsichtig. Sobald man auf der Papierfläche c kein begrenztes Objekt anbringt, damit bei der Spiegelung keine Kontur wahrgenommen, also auch kein bestimmtes Objekt vorgestellt werden kann, so hört die scheinbare Spiegelung auf, und es erfolgt bei allen Neigungen der Glasplatte einfache Mischempfindung. Anderseits macht das Objekt a bei diesen Versuchen um so vollständiger den Eindruck eines wirklichen Spiegels, je gleichmäßiger es ist. Dagegen wird dieser Eindruck gestört, wenn man Ungleichmäßigkeiten der Färbung oder eine Zeichnung anbringt, welche die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Das nämliche kann man auch erreichen, wenn man dem Objekt b verwaschene Konturen gibt, so daß die scheinbare Entfernung seines Bildes von a nicht deutlich bestimmt werden kann, oder wenn man bloß die weiße Papierfläche c sich spiegeln läßt, sie aber ungleichmäßig beleuchtet, so daß das Spiegelbild an verschiedenen Stellen ungleiche Helligkeit hat. In allen diesen Fällen tritt jene eigentümliche Modifikation der Spiegelung ein, welche wir als Glanz bezeichnen. In der Tat beruhen die Erscheinungen des Glanzes stets auf der nämlichen Ursache. Wir nennen eine Oberfläche spiegelnd oder durchsichtig, wenn sie vollkommen deutliche Spiegelbilder entwirft, während wir doch nur eben an ihre Anwesenheit durch irgend welche Merkmale, z. B. durch greller beleuchtete und darum glänzende Stellen erinnert werden. Wir nennen dagegen eine Oberfläche glänzend, wenn entweder das entworfene Spiegelbild an sich sehr undeutlich ist, oder wenn durch Ungleichheiten der spiegelnden Fläche die deutliche Auffassung des Spiegelbildes verhindert wird. Meistens treffen natürlich diese beiden Momente zusammen, da Ungleichheiten der spiegelnden Oberfläche, welche die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, in der Regel auch die Deutlichkeit des Spiegelbildes beeinträchtigen werden.
    Die Erscheinungen der Spiegelung und des Glanzes lassen sich auch stereoskopisch hervorbringen; auf diese Weise sind sie zuerst von dove beobachtet worden122). Wenn man ein weißes und ein schwarzes Quadrat auf grauem Grunde stereoskopisch kombiniert, so ist das Sammelbild nicht einfach grau, sondern es erscheint lebhaft glänzend. Das nämliche beobachtet man bei der Vereinigung verschiedener Farben. In den stereoskopischen Landschaftsphotographien ist nicht selten durch den auf solche Weise erzeugten Glanz der Effekt außerordentlich erhöht. Namentlich spiegelnde Wasserflächen und Gletschermassen erscheinen so in vollkommener Naturwahrheit. Die Entstehung dieses stereoskopischen Glanzes erklärt sich daraus, daß bei spiegelnden Flächen, die sich in unserer Nähe befinden, leicht dem einen Auge das Spiegelbild sichtbar, dem andern verborgen sein kann. Mittelst der oben beschriebenen Versuche mit der spiegelnden Glasplatte läßt sich dies nachahmen, indem man derselben eine solche Neigung gibt, daß das Spiegelbild b' in Fig. 140 bei binokularer Betrachtung der Fläche a nur dem einen Auge sichtbar ist: es verschwindet dann die Glanzerscheinung augenblicklich, wenn man dieses Auge schließt123).

122) Dove, Berichte der Berliner Akademie. 1850 S. 152. 1851 S. 246. Darstellung der Farbenlehre. Berlin 1853. S. 166.
123) Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung. S. 305 f. Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele. I S. 354.

    Wenn die Vorstellung der Durchsichtigkeit oder der Spiegelung entsteht, so sehen wir nun in Wirklichkeit nicht einen Körper, ja nicht einmal zwei hinter einander gelegene Oberflächen auf einmal, sondern gegen das Spiegelbild tritt, um so mehr, je vollkommener die Spiegelung ist, die spiegelnde Oberfläche zurück. In dem Maße aber, als diese durch Ungleichheiten der Zeichnung oder der Erleuchtung selbständig die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, verschwindet hinwiederum die Deutlichkeit des Spiegelbildes; es entsteht Glanz, der ganz und gar als eine Eigenschaft der zunächst gesehenen Oberfläche aufgefaßt wird. So erfährt denn auch bei diesen Erscheinungen der Satz, daß unser Sehfeld stets eine Fläche ist, keine Ausnahme. Gerade der Glanz bietet eine augenfällige Bestätigung desselben. Denn Glanz tritt unter solchen Bedingungen ein, wo die Auffassung der spiegelnden Fläche und des hinter ihr gelegenen Spiegelbildes annähernd gleichmäßig begünstigt ist. Hier sollten wir also zwei Oberflächen in derselben Richtung sehen. Aber wir sind nicht im Stande dies in einer Vorstellung zu vereinigen; wir fassen daher das gespiegelte Licht nur als eine Modifikation der spiegelnden Fläche auf, die wir daneben doch in ihrer ursprünglichen Farbe und Helligkeit annähernd erkennen. Hierin eben besteht das Wesen des Glanzes, der demnach ebenso gut eine psychologische wie eine physikalische Erscheinung genannt werden kann124).

124) Zur Theorie des Glanzes vergl. meine Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, S. 315.

    Zur Untersuchung der stereoskopischen Erscheinungen ist es für manche Zwecke unerläßlich, sich auf das Stereoskopieren ohne Stereoskop einzuüben. Es gelingt dies am besten, wenn man zunächst möglichst einfache Objekte, z. B. zwei vertikale Stäbe, wählt, die man durch Kreuzung der Gesichtslinien bald vor bald hinter denselben zum Verschmelzen bringt. Hat man auf diese Weise gelernt, nach Willkür einen imaginären Blickpunkt zu wählen, so gelingt dann auch leicht die Kombination einfacherer stereoskopischer Zeichnungen, wie der Fig. 129 oder Fig. 130. Man bemerkt, daß dieselben erhaben erscheinen, die abgestumpfte Spitze dem Beobachter zugekehrt, wenn man sie durch Fixation eines hinter ihnen gelegenen Punktes zur Vereinigung bringt; dagegen kehrt sich das Relief um, sie erscheinen vertieft, wenn man den Blickpunkt vor den Zeichnungen wählt. Es tritt hier derselbe Effekt ein, den man durch Vertauschen der für das rechte und linke Auge bestimmten Bilder erhält. Um bei momentaner Erleuchtung durch den elektrischen Funken zu stereoskopieren, läßt man sich einen ihnen geschwärzten Kasten aus Holz oder Pappdeckel verfertigen, an dem sich auf der einen Seite zwei Löcher befinden, welche die Distanz der beiden Augen besitzen. Diesen Löchern gerade gegenüber ist ein Schieber angebracht, auf welchem die stereoskopischen Zeichnungen befestigt werden. Um vor eintretender Erleuchtung den Blickpunkt zu fixieren, ist die Mitte jeder Zeichnung samt dem Schieber durchbohrt: die beiden auf diese Weise entstehenden Lichtpunkte müssen durch Konvergenz vor oder hinter denselben verschmolzen werden. Außerdem ist die Hinterwand des Kastens zur Aufnahme elektrischer Leitungsdrähte durchbohrt. Die zwischen denselben überspringenden Funken sind dem Auge durch eine kleine Papierfläche verdeckt, welche auf der den Drähten zugekehrten Seite weiß gelassen ist, so daß sie das Licht nach den Zeichnungen hin reflektiert. Zur Erleuchtung wendet man die Funken der Elektrisiermaschine oder der sekundären Spirale eines RUMKORFF'schen Induktionsapparates an, die mit den Belegen einer Leydener Flasche verbunden werden125). VOLKMANN konstruierte, um die elektrische Erleuchtung zu ersparen, eine Fallvorrichtung, durch welche der Kasten auf sehr kurze Zeit dem Tageslicht geöffnet wurde; er hat diesen Apparat Tachistoskop genannt126).

125) Vergl. Dove, Berichte der Berliner Akademie 1841, S. 252. Helmholtz, physiologische Optik S. 567.
126) Volkmann, Leipziger Sitzungsber. 1850. S. 90.

    Für die meisten stereoskopischen Versuche ist das gewöhnliche, von BREWSTER zuerst angegebene Stereoskop ausreichend (Fig. 141). In demselben ist die Vereinigung der Bilder durch Prismen erleichtert, welche mit konvexen Flächen versehen sind und daher zugleich vergrößern. Die von den Zeichnungen ausgehenden Strahlen m n und o p werden durch die Prismen so gebrochen, daß sie die Richtungen n l und p r annehmen, welche sich in c schneiden: auf diesen Punkt stellt der Beobachter seine Gesichtslinien ein, und er glaubt daher das körperliche Bild in a b zu sehen. Will man das erhabene Relief in ein Hohlbild verwandeln, so muß man die beiden Zeichnungen aus einander schneiden und vertauschen. Für wissenschaftliche Zwecke verdient übrigens vor dem BREWSTER'schen Stereoskop das von wheatstone ursprünglich konstruierte Spiegelstereoskop den Vorzug. Dasselbe besteht aus zwei Spiegeln a b und c d (Fig. 142), deren Rückseiten einen Winkel von 90° mit einander bilden, a b und g d sind zwei Brettchen, vor welche den Spiegeln gegenüber die beiden Zeichnungen gelegt werden. Blickt nun das linke Auge in den Spiegel a b, das rechte in den Spiegel c d, so sieht man ein Bild, welches einem bei m n gelegenen Objekt anzugehören scheint. Da aber die Spiegel rechts in links verkehren, so müssen die Zeichnungen die entgegengesetzte Lage erhalten wie in dem Prismenstereoskop. Bei einer Lage, bei welcher sie in letzterem erhöhtes Relief zeigen, geben sie im Spiegelstereoskop vertieftes, und umgekehrt. Für physiologische Versuche ist es wünschenswert, wenn man die Entfernung der Zeichnungen von den Spiegeln variieren kann. Zu diesem Zweck ist die Schraube p p' angebracht, durch deren Anziehen die beiden Wände a b und g d den beiden Spiegeln um gleiche Größen genähert werden können127). Außerdem kann man den Neigungswinkel der beiden Spiegel veränderlich machen128). Bringt man nun bei unveränderlichem Neigungswinkel der Spiegel die Zeichnungen in wechselnde Entfernungen von denselben, so bleibt die Konvergenz der Gesichtslinien unverändert, aber die Größe der Netzhautbilder wächst, wenn man die Zeichnungen näher rückt, und sie nimmt ab, wenn man dieselben entfernt: dies erweckt den Schein, als ob der körperlich gesehene Gegenstand am selben Orte bleibe, aber abwechselnd größer und kleiner werde. Läßt man umgekehrt die Zeichnungen unverrückt, während der Neigungswinkel der Spiegel verändert wird, so verändert sich bei gleichbleibender Größe der Netzhautbilder die Konvergenz der Gesichtslinien: wird der Winkel zwischen den Spiegeln stumpfer, so nimmt die Konvergenz ab, wird der Winkel spitzer, so nimmt sie zu. Im ersten Fall vermehrt sich die scheinbare Entfernung der Bilder, im zweiten Fall vermindert sie sich. Hierbei bemerkt man dann stets, daß die scheinbare Größe des Gegenstandes sich im gleichen Sinne verändert, was der Erfahrung entspricht, daß bei gleichbleibendem Gesichtswinkel ein Gegenstand um so größer erscheint, in je größere Entfernung wir ihn verlegen.

127) WHEATSTONE, Poggesdorff's Annalen. 1842. Ergänzungsband S. 9.

128) Letzteres läßt sich auch dadurch ersetzen, daß man, wie es H. Meyer getan hat, die Rahmen der beiden Zeichnungen in der Fläche drehbar macht. (Poggendorff's Annalen Bd. 85. S. 198.)

    Die oben entwickelte Theorie des binokularen Einfachsehens gewinnt eine wichtige Bestätigung durch Versuche über die Projektion binokular entwickelter Nachbilder, welche nach demselben Prinzip wie die früher erwähnten Versuche mit monokularen Nachbildern angestellt werden können. Schon WHEATSTONE129) und ROGERS130) haben beobachtet, daß Nachbilder, welche in beiden Augen auf nicht-korrespondierenden Netzhautstellen liegen, stereoskopisch kombiniert werden können. Ich habe außerdem den Einfluß zu ermitteln gesucht, welchen die Vorstellung von der Lage des Sehfeldes, in das die Nachbilder verlegt werden, auf die binokulare Verschmelzung derselben ausübt131). Dabei ergab sich, daß die Nachbilder beider Augen auf irgend eine ihrer Form und Richtung nach bekannte Fläche nach denselben Gesetzen projiziert werden, nach welchen auch das einzelne Auge die Nachbilder in sein Sehfeld verlegt, daß also die binokularen Nachbilder dann mit einander verschmelzen, wenn sie auf Deckstellen des Sehfeldes zu liegen kommen. Fixiert man z. B. (Fig. 143) mit dem rechten Auge einen farbigen Streifen a auf komplementärfarbigem Grunde, und projiziert man dann das Nachbild desselben auf eine Ebene, die gleich der Ebene des ursprünglichen Streifens senkrecht zur Visierebene ist, so behält das Nachbild dieselbe Lage wie sein Erzeugungsbild. Dreht man nun aber die Projektionsebene um eine horizontale Achse a b , so daß sich das obere Ende derselben vom Beobachter wegkehrt, so geht das Nachbild aus der Lage a in die Lage c über. Ähnlich nimmt ein im linken Auge erzeugtes Nachbild b auf einer zur Visierebene senkrechten Projektionsebene zunächst die Lage b an, aus der es, wenn man die Ebene in der oben angegebenen Weise dreht, ebenfalls in die Lage c übergeht. Erzeugt man nun gleichzeitig im rechten Auge ein Nachbild a, im linken ein Nachbild b, und fixiert dann den Punkt g, so sieht man zunächst zwei Nachbilder a und b, die sich in g kreuzen. Dreht man aber jetzt die Ebene wieder in der oben angegebenen Weise vom Beobachter weg, so verschmelzen beide in das eine Nachbild c. volkmann hat diesem Resultat widersprochen. Er behauptet, die beiden Nachbilder blieben bei der Drehung der Ebene doppelt, und nur dann, wenn man das linke Auge schließe, nehme a die Richtung c, ebenso wenn man das rechte schließe, b die Richtung c an132). Es mögen vielleicht bei einzelnen Beobachtern die doppelt gesehenen Nachbilder so sehr ihrer Vereinigung widerstreben, daß sie gar nicht auf die geneigte Fläche projiziert, sondern immer noch in einer zur Visierebene senkrechten Ebene, also in der Luft stehend gesehen werden. Mit Rücksicht auf den früher erörterten Einfluß der gewöhnlichen Form des Sehfelds auf die konstantere Zuordnung der korrespondierenden Punkte hätte dies gerade nichts auffallendes. Ich muß jedoch hervorheben, daß sich mir selbst bei dem besprochenen Versuch immer die Nachbilder vereinigen, und auch die Annahme, daß etwa wegen der Flüchtigkeit der Nachbilder das eine ganz übersehen worden sei, muß ich zurückweisen, da ich bei Rückdrehung der Projektionsebene in ihre Ausgangsstellung die Nachbilder wieder zu trennen vermag. Schwieriger ist die folgende umgekehrte Form des Versuchs. Man fixiere binokular zwei scheinbar vertikale farbige Streifen, so daß dieselben im gemeinsamen Bilde zu einem Streifen verschmelzen. Entwirft man nun das Nachbild auf eine Ebene, welche stark zur Visierebene geneigt ist, so gelingt es zuweilen, dasselbe in der Form eines im Fixationspunkt sich kreuzenden Doppelbildes zu sehen: hier bezieht man also die Erregungen annähernd korrespondierender Netzhautstellen auf verschiedene Objekte im Raume. Allerdings gelingt es in diesem Fall nicht immer, das Doppelbild zu sehen, sondern oft bleibt das Nachbild einfach; ich habe aber dann immer die deutliche Vorstellung, daß dasselbe nicht auf der vorgehaltenen Ebene liegt, sondern in der Luft steht. —

129) POGGENDORFF'S Annalen a. a. O. S. 46.
130) Silliman's Journal. Nov. 1860.
131) Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung. S. 271 f.
132) VOLKMANN, physiologische Untersuchungen im Gebiet der Optik, I. S. 169.

    An den stereoskopischen Glanz reihen sich mehrere Erscheinungen, die, insofern sie auf die funktionelle Beziehung der beiden Netzhäute zu einander Licht werfen, auch für die Theorie der binokularen Vorstellungen von Bedeutung sind, obgleich die meisten derselben nicht mehr dem Gebiet des natürlichen Sehens angehören, sondern sich nur künstlich durch stereoskopische Kombination willkürlich gewählter Objekte hervorrufen lassen. Viele dieser Erscheinungen lassen sich mit dem Kontrast, wie er sich bei den monokularen Lichtempfindungen geltend macht133), in Analogie bringen, wir können sie daher als binokularen Kontrast bezeichnen134). Wir haben gesehen, daß die Vorstellung von Spiegelung oder Glanz im allgemeinen dann entsteht, wenn beiden Augen Eindrücke von verschiedener Farbe oder Helligkeit dargeboten werden. Zugleich fordert aber diese Vorstellung zwei weitere Bedingungen; es müssen nämlich 1) die Eindrücke hinreichend verschieden sein, daß sie auf verschiedene Objekte, ein spiegelndes und ein gespiegeltes, bezogen werden können; und sie müssen 2) annähernd mit gleicher Intensität sich zur Wahrnehmung drängen. Ist die erstere Bedingung nicht erfüllt, bietet man z. B. Farben von sehr geringer Verschiedenheit, wie Orange und Gelb oder Blau und Violett u. s. w., so entsteht Mischung ohne Glanz. Ist die zweite Bedingung nicht erfüllt, so wird nur das eine Objekt aufgefaßt, welches die Wahrnehmung stärker in Anspruch nimmt. Solches kann nun aber wieder von verschiedenen Ursachen abhängen. So kann das eine Objekt dadurch mehr gehoben sein, daß es mit dem Grund, auf welchem es liegt, stärker kontrastiert als das andere: kombiniert man z.B. ein dunkelrotes und ein hellgelbes Quadrat, beide auf weißem Grund, so wird durch den Kontrast das Rot stärker gehoben, im Sammelbilde erscheint daher nur ein rotes Quadrat; legt man aber beide auf schwarzen Grund, so wird das Gelb mehr gehoben, und jetzt hat das Sammelbild die gelbe Farbe. Auf der nämlichen Ursache beruht es, daß, wenn man einen begrenzten farbigen Streifen mit seinem andersfarbigen Grunde zur binokularen Deckung bringt, der Streifen unverändert erscheint, als ob ihm von der Farbe des Grundes nichts beigemischt wäre. Eine andere Form desselben Versuchs zeigt die Fig. 144, bei welcher im binokularen Sammelbild derjenige Teil der schwarzen Kreisfläche B, welcher sich mit dem mittleren weißen Kreis von A deckt, nicht glänzend erscheint, sondern vollkommen ausgelöscht wird. In Fig. 145 geben die Vierecke A und B, wenn man sie auf grauem Grunde kombiniert, lebhaften Glanz; dieser verschwindet aber augenblicklich, wenn man, wie in A', das weiße Viereck mit schwarzen Linien durchzieht: es nimmt dann das vereinigte Bild vollständig die Form A' an. Auch hier werden offenbar die kleinen weißen Vierecke in A' durch den Kontrast mit ihren schwarzen Grenzlinien gehoben. Gibt man den beiden Objekten eine solche Beschaffenheit, daß sich ihre Konturen in größerem Abstande von einander befinden, so tritt nur eine partielle Verdrängung ein; es überwiegt dann in der Nähe jeder Grenzlinie derjenige Eindruck, welchem die betreffende Grenzlinie angehört. Bringt man z. B. die beiden schwarzen Kreise in Fig. 146 A so zur Deckung, daß der kleinere in die Mitte des größeren zu liegen kommt, so erscheint das Verschmelzungsbild B. Man erhält hierbei den Eindruck, als werde der kleinere Kreis samt seiner nächsten Umgebung durch den größeren hindurch gesehen. Diese partielle Verdrängung führt also immer zur Vorstellung der Spiegelung und des Glanzes zurück. Die nämliche Erscheinung läßt sich auch in folgender Weise umkehren. Man blicke mit dem einen Auge durch eine offene Röhre auf eine helle Fläche; mit dem andern Auge blicke man durch eine gleiche Röhre, die aber vorne bis auf eine kleine Öffnung verschlossen ist. Man sieht dann im Sammelbild einen hellen Fleck umgeben von einem dunkeln Rand, welcher gegen die Peripherie hin allmälig heller wird. Aus dem Gesetz, daß Farben und Helligkeiten von geringer Verschiedenheit bei binokularer Vereinigung sich mischen, solche von großer Verschiedenheit aber sich ganz oder teilweise verdrängen, erklären sich endlich noch folgende Beobachtungen, auf welche fechner aufmerksam machte135). Blickt man mit dem einen Auge frei in den Himmel, während das andere geschlossen ist, und bringt man dann vor dieses zweite Auge ein graues Glas, so wird, sobald man das geschlossene Auge öffnet, plötzlich das gemeinsame Gesichtsfeld verdunkelt. Diese Verdunkelung vermindert sich aber, wenn man ein helleres graues Glas wählt; und sobald die zu dem verdunkelten Auge zugelassene Helligkeit 2/100 bis 5/100 der vorhandenen Lichtintensität erreicht hat, so nimmt von da an die scheinbare Helligkeit im gemeinsamen Gesichtsfeld nicht mehr ab sondern zu. Die Helligkeit des monokularen Sehens ist nur wenig geringer als die des binokularen, weil das ganz verdunkelte Sehfeld durch das erhellte vollständig verdrängt wird, gerade so wie die dunkle Mitte der Fig. 144 B durch den hellen Kreis in A. Bringen wir aber ein graues Glas vor das Auge, so tritt in Folge der verminderten Helligkeitsdifferenz nicht mehr Verdrängung, sondern Mischung ein; diese muß zunächst Abnahme der Helligkeit zur Folge haben, bis die Lichtintensität im verdunkelten Auge hinreichend angewachsen ist136).

133) Vergl. Kap. IX.
134) Vergl. meine Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, S. 321 f.
135) Fechner, Abhandlungen der königl. sächs. Ges. der Wissenschaften VII, 1860. S. 416.
136) Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, S. 355.

    Bei den bisherigen Erscheinungen hat es sich stets um binokulare Vorstellungen von bleibender Beschaffenheit gehandelt, ob dieselben nun aus den Eindrücken beider Augen sich zusammensetz-ten, oder aber mit vollständiger Verdrängung des einen Eindrucks verbunden waren. Dies wird wesentlich anders, wenn man solche Bedingungen herstellt, bei denen weder einfache Mischung noch Glanz oder Spiegelung eintreten kann, und bei denen zugleich keiner der monokularen Eindrücke durch Kontrast so sehr bevorzugt ist, daß er den andern verdrängt. In diesem Falle tritt ein Phänomen ein, welches man als Wettstreit der Sehfelder bezeichnet hat. Der letztere besteht in einer eigentümlichen Unruhe der Vorstellung, bei welcher abwechselnd das eine Bild das andere auslöscht, und wobei im Moment dieses Übergangs nicht selten auch der Eindruck von Glanz entsteht. Einen auffallenden Wettstreit erhält man z. B., wenn man verschiedene Buchstaben, wie B und C, A und F, in großer Druckschrift stereoskopisch kombiniert; hierbei löschen namentlich die sich durchkreuzenden Konturen der beiden Buchstaben einander abwechselnd aus. Das einfachste Beispiel dieser Verdrängung sich kreuzender Konturen gibt die Fig. 147. Hier bleiben, wenn man A und B stereoskopisch vereinigt, sowohl das vertikale Linienpaar wie das horizontale bestehen, nur an der Durchkreuzungsstelle tritt abwechselnd das eine oder das andere in den Vordergrund: es entsteht also entweder ein Bild wie C oder wie die um 90° gedrehte Fig. C. Zieht man auf der einen Seite oder auf beiden mehrere parallele Linienpaare in größerem Abstande von einander, so zeigt sich, daß für alle in jedem Augenblick dieselbe Art der Verdrängung existiert; es treten also immer entweder die vertikalen oder die horizontalen Linien an allen Kreuzungsstellen gleichzeitig in den Vordergrund. Dasselbe bemerkt man bei der stereoskopischen Kombination der beiden absichtlich in ungleicher Höhe angebrachten Ringe A und B in Fig. 148. Das Sammelbild zeigt entweder die in A oder die in B gezeichnete Form: bei der ersteren überwiegen aber die vertikalen, bei der letzteren die horizontalen Konturen. Leichter ist es, ein Sammelbild festzuhalten, in welchem beide Eindrücke unverändert fortbestehen, wenn, wie in Fig. 149, in beiden Zeichnungen Linien von entgegengesetzter Richtung gezogen sind, welche sich aber nicht durchkreuzen. Dieses Beispiel steht gewissermaßen in der Mitte zwischen dem Fall, wo die Linien gleiche Richtung haben, und demjenigen, wo sich Linien ungleicher Richtung durchkreuzen. Im ersten Fall setzen sich die beiden monokularen Bilder zu einem ruhenden Gesamtbild zusammen, im zweiten tritt immer abwechselnde Verdrängung auf. In Fig. 149 kann zeitweise ein zusammengesetztes Sammelbild erscheinen, zeitweise drängt sich aber das eine oder das andere Bild allein zur Vorstellung. Dies ist offenbar, wie in Fig. 148, dadurch verursacht, daß bald die vertikale, bald die horizontale Linienrichtung bevorzugt wird. Hiermit läßt sich die Meinung, daß der Wettstreit durch die abwechselnde Aufmerksamkeit auf das eine oder andere Bild hervorgerufen werde, nicht wohl vereinbaren. Schon FECHNER hat bemerkt, daß, wenn die Aufmerksamkeit die Wettstreitsphänomene bestimme, dies immer nur insofern geschehe, als sie überhaupt eine Veränderung verursacht, ohne jedoch die Richtung der letzteren zu entscheiden137). Dagegen zeigt sich, daß die Augenbewegungen auf diese Richtung des Wettstreits von wesentlichem Einflusse sind. Man ist im Stande bei den Figuren 147, 148, 149 willkürlich die vertikalen oder horizontalen Konturen im Sammelbilde hervortreten zu lassen, wenn man der Augenbewegung die entsprechende Richtung gibt; in Fig. 148 gehören dann die in den Vordergrund tretenden Konturen sogar verschiedenen monokularen Bildern an. Es ist also beim Wettstreit immer dasjenige Bild bevorzugt, dessen Konturen in gleicher Richtung mit der zufällig oder absichtlich gewählten Blickbewegung verlaufen138). Dieser Einfluß bezeugt von einer anderen Seite her den wichtigen Einfluß, welchen die Bewegung des Auges auf die Gesichtswahrnehmung ausübt. Durch die Augenbewegungen kann endlich auch noch bei solchen Objekten, die sich ihrer Beschaffenheit nach eigentlich nicht zum Wettstreite eignen, der letztere erscheinen. Bei farbigen Quadraten z. B., von denen bei vollständiger Deckung das eine durch Kontrast das andere verdrängt, kann, sobald die Deckung etwas unvollständig wird, durch den Einfluß der Kontur stellenweise das zuerst verdrängte ausschließlich zur Wahrnehmung gelangen. So erklärt es sich, daß man früher den Wettstreit weit über das ihm eigentlich zukommende Gebiet ausdehnte. Man glaubte, bei der binokularen Kombination nicht zusammen passender Objekte sei nur zweierlei möglich, entweder Mischung oder Wettstreit; wir haben aber gesehen, daß außerdem noch Glanz und vollständige Verdrängung vorkommen können, ja daß dieselben im Ganzen die Normalfälle bilden. Die Mischung geht, sobald sich Helligkeit oder Farbenton der beiden Objekte nicht sehr nahe stehen, unmittelbar in Glanz über. Auch gleicht schon bei der Mischung in der Regel keineswegs vollständig die Empfindung derjenigen, welche bei der Mischung monokularer Eindrücke stattfindet, sondern es überwiegt, je nach dem Verhältnis der Objekte zu ihrem Grund, die eine oder andere Farbe oder Helligkeit, ein Beweis, daß es sich in Wirklichkeit nicht um eine einfache Mischung der Reize handelt. Die Grunderscheinungen für alle diese Fälle binokularer Farben- und Helligkeitsmischung sind die Spiegelung und der Glanz. Wir können uns vorstellen, bei der Mischung besitze das nach verschiedener Richtung gespiegelte Licht nur einen sehr geringen Helligkeits- oder Farbenunterschied: die stereoskopische Kombination gibt hier in der Tat keinen andern Eindruck, als ihn ein Körper erwecken würde, der für beide Augen etwas verschieden beleuchtet wäre; es entsteht also im Grunde nur ein binokularer Glanz geringsten Grades. Bei der Verdrängung liegt derselbe Fall vor, wie er in Wirklichkeit bei der Betrachtung eines gespiegelten Gegenstandes stattfindet, der durch Farbe und Lichtstärke so sehr die Aufmerksamkeit auf sich zieht, daß die spiegelnde Fläche ganz übersehen wird. Was endlich die Wettstreitsphänomene betrifft, die den Vorkommnissen des natürlichen Sehens im allgemeinen widerstreiten, so spielen auch in sie immer noch die Spiegelungserscheinungen hinein. An den Stellen, wo das eine Objekt das andere verdrängt, glauben wir durch dieses hindurchzusehen; doch kann es dabei nicht mehr zu einer ruhigen Auffassung kommen, weil jedes Objekt ebenso gut als durchsichtiges wie als hindurchgesehenes vorgestellt werden kann. Das ganze Gebiet der hier besprochenen Erfahrungen bestätigt somit die Schlußfolgerung, daß die Eindrücke beider Augen stets zu einer einzigen Vorstellung verschmelzen. Wo sich die beiden Netzhautbilder nicht auf ein einziges Objekt beziehen lassen, da kommt es zu eigentümlichen Erscheinungen, die wir bald als Spiegelung und Glanz bald als Wettstreit der Sehfelder bezeichnen, bei denen aber immerhin die Eindrücke ebenfalls in ein Vorstellen vereinigt werden139).

137) a. a. O. S. 401.
138) Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinnesw. S. 362.
139) Über verschiedene von der obigen Theorie abweichende Erklärungen des monokularen und binokularen Glanzes vergl. meine Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, S. 301 f.

    Auf die nahe physiologische Beziehung der zwei Augen zu einander, welche durch die Erscheinungen der stereoskopischen Wahrnehmung und des binokularen Glanzes bezeugt wird, weist endlich noch die von fechner gefundene Tatsache hin, daß die nämliche Wechselwirkung, die nach den Kontrastgesetzen140) zwischen verschiedenen Stellen einer und derselben Netzhaut besteht, auch für das Verhältnis beider Netzhäute zu einander nachzuweisen ist. Wenn man die eine Netzhaut mit einer Farbe reizt, so erscheint die gleichzeitig mit gedämpftem weißem Lichte gereizte andere Netzhaut in der Komplementärfarbe. Ist die gereizte Stelle der ersten Netzhaut nur eine beschränkte, so breitet sich trotzdem die entgegengesetzte Farbenstimmung über die ganze andere Netzhaut aus; diese Wechselbeziehung besteht also nicht etwa bloß zwischen korrespondierenden sondern zwischen irgend beliebigen Stellen. Als eine unmittelbare Folge davon beobachtet man, daß, wenn beide Netzhäute mit zu einander komplementären Farben erregt werden, die zurückbleibenden einander komplementären Nachbilder von ungleich längerer Dauer sind als bei gleichfarbiger Reizung141). So sehr alle diese Erscheinungen der früher verbreiteten Ansicht eines Identitätsverhältnisses der zwei Netzhäute widersprechen, wonach Eindrücke auf identische Stellen dieselbe Mischempfindung wie die Reizung einer einzigen Netzhautstelle hervorbringen sollten, so zeigen sie doch anderseits auch, daß die beiden Netzhäute in inniger Wechselwirkung stehen, indem 1) alle diejenigen Erscheinungen, welche von der Durchsichtigkeit der Objekte oder ihrer Eigenschaft Reflexbilder zu entwerfen herrühren, in derselben Weise durch binokulare wie durch monokulare Mischung der Eindrücke hervorgebracht werden können, und indem 2) Farben und Helligkeiten ebensowohl im Verhältnis zu den Eindrücken der andern Netzhaut wie im Verhältnis zur Erregung umgebender Teile derselben Netzhaut empfunden werden. Diese beiden Wechselwirkungen stehen aber offenbar in naher Beziehung zu der Regel, daß die Bilder der zwei Augen zu einer Vorstellung vereinigt werden.

140) Vergl. Kap. IX.
141) Fechner, Abhandl. der sächs. Gesellschaft, S. 469 f.

    Die Form, welche wir dem ganzen Sehfelde geben, die Richtung und Lage, die wir den einzelnen Objekten in demselben anweisen, sowie die Abmessung seiner Dimensionen sind abhängig von den Bewegungen des Auges. Erst das Doppelauge ist aber zur genaueren Auffassung der Tiefenentfernung der Teile des Sehfeldes im Verhältnis zu einander und zum Sehenden befähigt; es vermittelt so jene Vielgestaltigkeit der Sehfeldfläche in der unmittelbaren Wahrnehmung welche das monokulare Sehen nur mit Hülfe sekundärer Merkmale der Vorstellung, und daher niemals mit der Frische des direkt Empfundenen gewinnen kann.
    Der Einfluß der Bewegungen bleibt auch für das ruhende Auge bestehen. Zwar sind die Wahrnehmungen des letzteren unbestimmter als diejenigen, welche in dem Gefolge der Bewegungen gewonnen werden, und überall wo wir nach einer deutlichen Auffassung streben, nehmen wir daher die Bewegung zu Hilfe; im Ganzen aber bildet das ruhende Auge seine Vorstellungen nach Regeln, die den Bewegungsgesetzen gemäß sind, und von denen wir daher annehmen müssen, daß sie sich mit Hilfe der Bewegung erst festgestellt haben. Das ruhende Einzelauge mißt vorher nie gesehene Objekte nach der Innervationsanstrengung ab, die zum Durchlaufen ihrer Dimensionen erforderlich wäre; und das ruhende Doppelauge schätzt unmittelbar das Tiefenverhältnis indirekt gesehener Punkte nach dem Lageverhältnis der ihnen entsprechenden Deckpunkte zum Blickpunkt. Aus dieser Tatsache folgt, daß an die Reizung eines jeden Netzhautpunktes ein Bewegungsgefühl gebunden sein muß, welches nicht erst der wirklich ausgeführten Bewegung bedarf, sondern in Bezug auf seine Richtung und annähernd sogar in Bezug auf seine Größe bestimmt sein muß. Doch zeigen die Beobachtungen über die Abmessung der Objekte und die Verschmelzung stereoskopischer Bilder bei momentaner Erleuchtung, daß jenes Bewegungsgefühl hinsichtlich seiner Richtung bestimmter ist als hinsichtlich seiner Größe. Denn die Richtung der Konturen im monokularen Sehen und die Richtung des Reliefs bei stereoskopischen Kombinationen nimmt das ruhende Auge vollkommen sicher wahr. Die Vorstellungen über das Größenverhältnis der Dimensionen und über die Größe des Reliefs sind aber viel unsicherer; leicht treten daher auch bei starrer Fixation die Deckstellen des binokularen Sehfeldes, falls sie nicht korrespondierende Punkte sind oder ihnen sehr nahe liegen, zu Doppelbildern auseinander. Nun haben uns die Erfahrungen am Tastorgan gelehrt, daß die Innervationsgefühle höchst wahrscheinlich nur die Vorstellung von der Kraft der Bewegung vermitteln, daß sie aber schon auf die Vorstellung vom Umfang derselben bloß von mitbestimmendem Einflusse sind, und daß wir dagegen die Lage des tastenden Gliedes und demnach auch die Richtung, in welcher dasselbe bewegt wird, nur mittelst der Tastempfindungen auffassen142). Übertragen wir dies auf das Auge, so wird anzunehmen sein, daß sich mit dem Innervationsgefühl, welches ein gegebener Netzhauteindruck im indirekten Sehfelde wachruft, immer zugleich die an die Bewegung des Auges gebundene Tastempfindung, welche von dem Druck auf die sensibeln Teile der Orbita herrührt, reproduziert. Das qualitativ gleichförmige Innervationsgefühl wird auch hier erst durch die begleitende Tastempfindung in Bezug auf die Richtung der intendierten Bewegung bestimmt. Die Unsicherheit der reproduzierten Empfindung im Vergleich mit dem unmittelbaren Eindruck erklärt die geringere Sicherheit der Größenabmessung. Die geringere Stärke der reproduzierten Empfindung begründet die Neigung, bei ruhendem Auge die Dimensionen des Sehfeldes und die Größe eines Reliefs kleiner zu schätzen als bei der Bewegung. Mit dem stärkeren Innervationsgefühl ist im allgemeinen eine größere Lageabweichung des Augapfels verbunden. So begreift es sich, daß, wenn in Folge einer Parese der zu einer gegebenen Bewegung erforderliche motorische Impuls wächst, die Lageänderung des Auges und so auch die Ausdehnung in der betreffenden Richtung überschätzt wird. Aber da bei wirklich ausgeführter Bewegung die Tastempfindungen allmälig der verschobenen Skala der Innervationsgefühle sich wieder anpassen, so ist anderseits die leichte Ausgleichung solcher Störungen verständlich. Die Innervationsgefühle sind demnach mit den durch die Tastempfindungen erweckten Lagegefühlen des Augapfels innig verknüpft, so daß wir mit einem gegebenen Innervationsimpuls immer zugleich die bestimmte Vorstellung der Richtung und die ungefähre Vorstellung der Größe der intendierten Bewegung verbinden. Es ist möglich, daß der Netzhautempfindung selbst, ebenso wie der Tastempfindung, eine lokale Färbung anhaftet, welche die Lokalisation unterstützen hilft. In der Tat läßt sich hierher wohl die Beobachtung beziehen, daß auf den Seitenteilen der Netzhaut die qualitative Beschaffenheit, der Empfindung undeutlicher wird143). Es lassen sich dann diese Lokalzeichen der Netzhaut einfach als zugehörig dem System peripherischer Sinnesempfindungen betrachten, welches neben den zentralen Innervationsgefühlen zur räumlichen Ordnung erfordert wind. Es wäre namentlich denkbar, daß mittelst jener Lokalempfindungen die Entfernung der indirekt gesehenen Punkte vom Netzhautzentrum genauer als mittelst der bloßen Tastempfindungen abgeschätzt würde. Denn obgleich die lokalen Empfindungsunterschiede der Netzhaut als solche immer erst in größeren Distanzen wahrnehmbar sind, so könnte es doch sein, daß schon unmerkliche Abstufungen derselben als Zeichen von Ortsunterschieden der gesehenen Objekte gebraucht werden, indem, ähnlich wie beim Tastsinn, die gewohnte Beziehung auf örtliche Verhältnisse die Ursache ist, daß wir die zu Grunde liegende qualitative Differenz übersehen. Dagegen ist es zweifelhaft, ob die Richtungen des Sehens vermittelst der Lokalzeichen der Netzhaut zu unterscheiden sind. Denn es ist nicht nachweisbar, daß die letzteren nach den einzelnen Meridianen in verschiedenem Sinne sich ändern, während wir mittelst der Tastempfindungen im Stande sind genau die Richtung aufzufassen, in welcher das Auge bewegt wird. Ebenso wissen wir durch dieselben, wies es scheint, ob sich das rechte oder linke Auge bewegt; es ist daher wahrscheinlich, daß wir auch bei Eindrücken auf das ruhende Doppelauge mittelst der Lokalzeichen des Tastsinns die Beziehung auf rechtes und linkes Auge ausführen. Diese Beziehung geschieht stets in der richtigen Weise, wie aus der sichern Unterscheidung des erhabenen und vertieften Reliefs hervorgeht. In Fig. 130 sehen wir den Kegel nie anders als erhaben, ebenso bei der Vertauschung der Bilder vertieft. Wären aber die Lokalzeichen der beiden Augen nicht von einander verschieden, so könnten diese zwei Fälle in der Vorstellung nicht getrennt werden. Das nämliche gilt von der Richtung, welche wir den Konturen im Sehfelde anweisen, speziell also auch von der Regel, daß wir die Objekte aufrecht sehen, gemäß ihrer wirklichen Lage im Raume, nicht verkehrt, wie das Netzhautbild sie darstellt. Indem wir den Gegenstand von seinem oberen bis zu seinem unteren Ende mit dem Blick verfolgen, muß sich die Vorstellung bilden, daß sein oberes Ende unserm Kopf, sein unteres unseren Füßen in seiner Lage entspreche.

142) Vergl. Kap. XII.
143) Vergl. Kap. IX.

    So ist denn die Gesichtsvorstellung im wesentlichen auf denselben Prozeß zurückgeführt, der die räumliche Ordnung der Tastempfindungen vermittelt144). Die Lokalzeichen peripherischer Sinnesempfindungen, Tast- und Netzhautempfindungen, verschmelzen mit intensiv abgestuften Innervationsgefühlen zu untrennbaren Komplexen. Was aber die Gesichtsvorstellungen auszeichnet, ist die Beziehung jener Empfindungskomplexe auf einen einzigen Punkt, das Netzhautzentrum. Dieses Verhältnis zum Blickpunkt, welches die genaue Ausmessung des Sehfeldes wesentlich unterstützt und die funktionelle Verbindung der beiden Augen zum Doppelauge erst möglich macht, wurzelt in den Bewegungsgesetzen. Insofern die letzteren in einem angeborenen zentralen Mechanismus ihren Grund haben, bringt daher das Individuum eine vollständig entwickelte Disposition zur unmittelbaren räumlichen Ordnung seiner Lichtempfindungen in die Welt mit. Mag aber auch deshalb die Zeit, die zwischen der ersten Einwirkung der Netzhauteindrücke auf das Auge und der Vorstellung verfließt, unter Umständen verschwindend klein sein, so ist doch ein bestimmter psychologischer Vorgang anzunehmen, der die Vorstellung erst verwirklicht. Dieser Vorgang kann, wie bei den Tastvorstellungen, als eine Synthese bezeichnet werden, weil das entstehende Produkt Eigenschaften zeigt, welche in dem sinnlichen Material, das zu seiner Bildung verwandt wurde, nicht vorhanden sind. Diese Synthese besteht wieder in einer Abmessung qualitativ veränderlicher peripherischer Sinnesempfindungen durch die intensiv abgestuften zentralen Innervationsgefühle. Da jedes Auge nach zwei Hauptrichtungen gedreht werden kann (Hebung und Senkung, Außen- und Innenwendung), zwischen denen alle möglichen Übergänge stattfinden, jeder Stellung aber ein bestimmter Komplex peripherischer Empfindungen (Tastempfindungen und Lokalzeichen der Netzhaut) entspricht, so bilden die letzteren, die wir nun auch zusammen als Lokalzeichen betrachten können, ein Kontinuum von zwei Dimensionen. Diese Dimensionen sind aber ungleichartig, weil nach jeder Richtung die Lokalzeichen in anderer Weise sich ändern. Indem die Innervationsgefühle, welche ein Kontinuum von einer Dimension bilden, jenes ungleichartige Kontinuum der Lokalzeichen nach allen Richtungen ausmessen, fuhren sie dasselbe auf ein gleichartiges Kontinuum von zwei Dimensionen, also auf eine Raumoberfläche zurück. So entsteht das monokulare Sehfeld, als dessen Hauptpunkt vermöge der Beziehung der Innervationsgefühle und Lokalzeichen auf das Netzhautzentrum der Blickpunkt erscheint, und dessen allgemeinste Form wegen der Verschiebungen des Blickpunktes bei der Bewegung die um den Drehpunkt des Auges oder den Mittelpunkt der Verbindungslinie beider Drehpunkte gelegte Kugeloberflache ist. Dabei ist aber die Entfernung des Blickpunktes vom Sehenden, also der Halbmesser des kugelförmigen Sehfeldes im monokularen Sehen nur durch den jeweiligen Akkommodationszustand einigermaßen limitiert. Eine festere Bestimmung erfolgt erst im binokularen Sehen in Folge des Gesetzes, daß beide Augen stets einen gemeinsamen Blickpunkt besitzen. Zugleich wird nun aber die Form des Sehfeldes eine wechselndere, indem der gemeinsame Blickpunkt Oberflächen von der verschiedensten Form durchwandern kann. Demnach wird denn auch die Verbindung der Lokalzeichensysteme beider Augen mit den Innervationsgefühlen des Doppelauges eine variable. Es kann z. B. ein Lokalzeichen a des rechten Auges mit einem Zeichen a' des linken sich verbinden, wo beide einem Punkt 10° nach links vom Blickpunkt entsprechen. An diese Verbindung a a' wird dann ein Innervationsgefühl des Doppelauges von 10° geknüpft sein. Es kann sich aber auch das Zeichen a etwa mit einem andern a' verbinden, welches einem nur um 5° links gelegenen Punkte zugehört: dann wird der Verbindung a a' ein anderes Innervationsgefühl entsprechen, welches aus Linkswendung und Konvergenz zusammengesetzt ist. Bezeichnen wir den Abstand eines jeden Netzhautpunktes vom Netzhauthorizont als Höhenabstand, denjenigen vom vertikalen Netzhautmeridian als Breitenabstand, so sind demnach im allgemeinen nur die Lokalzeichen von Punkten, die gleichen Höhenabstand haben, einander zugeordnet, dagegen können die Breitenabstände derjenigen Punkte, deren Lokalzeichen sich verbinden, bedeutend wechseln, und jedesmal verändert sich damit auch das Innervationsgefühl des Doppelauges. Welche Verbindung von Lokalzeichen, und welches kombinierte Innervationsgefühl wirklich stattfindet, darüber entscheidet im allgemeinen der Lauf der Fixationslinien im gemeinsamen Sehfeld145). Es werden also diejenigen Punkte einander zugeordnet, welche objektiv übereinstimmende Merkmale erkennen lassen, wobei jedoch durch die normalen Bedingungen des Sehens gewisse Grenzen gezogen sind, und sich überdies die Lokalzeichen jener Punkte, die der gewöhnlichen Form des Sehfeldes entsprechen, leichter als andere mit einander verbinden. Demnach handelt es sich hier um eine kompliziertere Synthese. Wir können uns dieselbe der Anschaulichkeit halber in zwei Akte zerlegen: in einen ersten, durch welchen mittelst Lokalzeichen und Innervationsgefühl des ersten Auges die Lage eines gegebenen Punktes a im Verhältnis zum Blickpunkt, und in einen zweiten, durch welchen dann beim Hinzutritt des zweiten Auges erst die Lage des Blickpunktes sowohl wie des Punktes a im Verhältnis zum Sehenden festgestellt wird. Denken wir uns das monokulare Sehfeld als eine Ebene, so können nun durch den Hinzutritt des zweiten Auges beliebige Teile des Sehfeldes aus der Ebene heraustreten. Diese geht in eine anders geformte, nach den speziellen Bedingungen des Sehens wechselnde Oberfläche über. In Wirklichkeit vollzieht sich natürlich dieser Vorgang in einem Akte: durch die Richtung der Gesichtslinien wird unmittelbar der gemeinsame Blickpunkt, durch die Lokalzeichen die Richtung, durch die Innervationsgefühle die Größe des Abstands vom Blickpunkt bestimmt. Geometrisch ist im monokularen Sehen nur eine einzige Oberfläche möglich, weil mit den nach zwei Dimensionen geordneten Lokalzeichen sich die Innervationsgefühle nur eindeutig verbinden lassen. Als binokulares Sehfeld ist eine beliebig gestaltete Oberflache denkbar, weil sich mit den Elementen, die das eine Auge zur Messung liefert, diejenigen des andern in variabler, also vieldeutiger Weise verbinden können. Denken wir uns, um dies durch ein Gleichnis zu versinnlichen, einen festen Punkt und eine Gerade gegeben, die, von dem Punkte ausgehend, in jede beliebige Richtung soll gebracht werden können, so läßt sich mit diesen zwei Elementen nur eine einfache Oberfläche konstruieren, nämlich eine Kugeloberflache oder, wenn die Gerade unendlich groß ist, eine Ebene. Denken wir uns dagegen zwei feste Punkte und zwei von denselben ausgehende Gerade von kontinuierlich veränderlicher Richtung, deren Schnittpunkte eine Oberfläche bilden sollen, so läßt sich mittelst dieser vier Elemente eine Oberfläche von beliebiger Gestalt gewinnen. In der Tat entspricht dieses Gleichnis den Verhältnissen, welche am Auge gegeben sind. Doch werden hier die Richtungen der erzeugenden Geraden, der Blicklinien, selbst erst mittelst der Lokalzeichen und Innervationsgefühle festgestellt.

144) Vergl. Kap. XII.
145) Vergl. oben.

    Vermöge der Bewegungsgesetze des Auges sind diejenigen Richtungen des Sehens bevorzugt, für welche die Auffassungen des ruhenden und des bewegten Auges vollständig übereinstimmen. Dies sind die durch den Blickpunkt gehenden Richtlinien (Fig. 109), welche in dem kugelförmigen Blickfeld als größte Kreise, in kleineren Strecken des Sehfeldes aber als gerade Linien erscheinen. Da nun bei der Ausmessung der Distanzen immer nur solche kleinere Strecken benutzt werden, so ist die Gerade für das Auge das natürliche Messungselement. Die Beschaffenheit der Richtlinien hat aber ihren physiologischen Grund in der Eigenschaft unserer Muskeln, ihre Ansatzpunkte um feste Achsen zu drehen, woraus auch die ebene Beschaffenheit des Tastraumes hervorgeht146). Darum ist auch der Gesichtsraum ein ebener Raum, in welchem zur Konstruktion der Sehfeldfläche drei Dimensionen erfordert werden.

146) Vergl. Kap. XII.

    Neben denjenigen Elementen, welche die ursprüngliche Synthese der Empfindungen erzeugen, sehen wir endlich die Gesichtsvorstellung noch von einer Reihe anderer Einflüsse abhängig, die sich schon durch ihren späteren Eintritt im Laufe des Lebens sowie durch größere Wandelbarkeit als Bestimmungsgrunde sekundärer Art verraten. Hierher gehören die Einflüsse der Perspektive und Luftperspektive, zufällig oder absichtlich wach gerufener Vorstellungen u. dergl. In allen diesen Fällen handelt es sich um eine Veränderung der Vorstellung durch Assoziation. Auf diese kann man die ursprüngliche räumliche Synthese der Empfindungen nicht zurückführen, denn Assoziation bedeutet stets eine Verbindung fertiger Vorstellungen, während bei der Synthese überhaupt erst aus einer gesetzmäßigen Verbindung von Empfindungen Vorstellungen hervorgehen. Die Assoziation kann daher immer nur auf der Grundlage schon gebildeter Gesichtsvorstellungen wirksam werden. So ist es ein deutlicher Fall von der Wirkung der Assoziation, wenn wir in Fig. 139 die an sich zweideutige Zeichnung nach dem Hinzufügen einer die Stufen hinaufsteigenden menschlichen Figur als Treppe auffassen. Die ursprüngliche Synthese enthält hier noch gar keine körperliche Vorstellung. Jener folgend müßten wir die Zeichnung als das auffassen was sie ist, als eine Zeichnung in der Ebene, und dies geschieht auch, sobald es uns gelingt alle Assoziation fern zu halten. Führen wir aber keine feste Assoziation ein, wie dies durch Hinzufügung des hinaufsteigenden Menschen geschieht, so knüpfen sich an ein derartiges Bild unwillkürlich Assoziationen mit verschiedenen früher gehabten Vorstellungen. Hier kann nun in unserem Beispiel die Assoziation eine doppelte sein, indem sie bald an die Vorstellung der Treppe bald an die des überhängenden Mauerstücks sich heftet. Das eigentümliche Schwanken der Vorstellung beruht also nur auf der wechselnden Assoziation mit Einbildungsvorstellungen. Ebenso erscheint eine ferne Gegend oder ein Gemälde in der ursprünglichen Synthese der Empfindungen als ebene Zeichnung ohne alles Relief. Nun kommen aber die Unterschiede der Schattierung und der Lauf der Konturen, welche die Perspektive begründen, schon bei näheren Gegenständen vor, bei denen uns gleichzeitig die Synthese der Empfindungen des Doppelauges eine Vorstellung ihrer körperlichen Form verschafft: auch hier stellen wir uns daher die ebene Zeichnung durch Assoziation mit solchen Erinnerungsbildern körperlich vor. Wo das Sehen von Anfang an nur monokular sich ausbildet, da wird wohl die Assoziation mit Tastvorstellungen und mit den bei der Bewegung des Auges gewonnenen Anschauungen nahe gelegener Objekte aushelfen müssen. Es ist daher zu vermuten, daß in solchen Fällen auch die aus Perspektive und Schattierung entstandene Vorstellung der körperlichen Oberfläche nicht die Lebendigkeit erlangt, welche beim binokularen Sehen in Folge der Assoziation mit der unmittelbaren Tiefenanschauung des Doppelauges möglich ist.

    Über die Bildung der Gesichtsvorstellungen stehen eine nativistische und eine genetische Ansicht einander gegenüber. (Vergl. Kap. XII.) Von den älteren Philosophen und Physiologen werden beide meistens noch nicht strenge gesondert. Gewisse Eigenschaften der Gesichtsvorstellung, wie die räumliche Ordnung der Empfindungen überhaupt, die Wahrnehmung der Richtung der Objekte, werden als angeboren, andere, wie die Beurteilung der Entfernung und Größe, als durch Erfahrung erworben betrachtet. Es hängt dies mit der schon von CARTESIUS147) sehr bestimmt ausgesprochenen Meinung zusammen, daß der Raum ein Bestandteil unserer Wahrnehmung sei, welchem allein eine objektive Wahrheit zukomme, während Licht, Farbe, überhaupt die Qualität der Empfindung als eine dunklere oder, wie es Locke148) zuerst ausdrückte, als eine bloß subjektive Eigenschaft der Vorstellung angesehen wurden. In einer geläuterten Form tritt uns dieselbe Ansicht in Kant's Lehre von den Anschauungsformen entgegen, deren Einfluß auf die neuere Physiologie der Sinne bereits hervorgehoben wurde149). Durch sie angeregt stellte J. Müller den Satz auf, wir empfänden nicht nur unsere eigene Netzhaut unmittelbar in räumlicher Form, sondern die Größe des Netzhautbildes sei sogar unsere ursprüngliche Maßeinheit für die Abmessung der Gesichtsobjekte150). Übereinstimmend liegende Punkte beider Netzhäute sind nach ihm einem einzigen Raumpunkte gleichwertig; er führt dies auf das Chiasma der Sehnerven zurück, in welchem je eine Opticusfaser in zwei zu identischen Punkten verlaufende Fäden sich spalten soll151). Hiernach ist das ursprüngliche Sehen immer nur ein flächen-haftes, die Vorstellung über die verschiedene Entfernung der Objekte, die davon abhängige scheinbare Größe derselben sowie die Tiefenwahrnehmung ist daher nicht angeboren sondern erst durch Erfahrung erworben152). Noch größere Zugeständnisse machte VOLKMANN dieser letzteren, indem er zwar die Ursprünglichkeit der reinen Raumanschauung annahm, aber sogar die Vorstellung über die Richtung der Gegenstände und das Aufrechtsehen aus der Erfahrung ableitete, wobei er den Muskelgefühlen einen wichtigen Einfluß zuwies153). In Bezug auf das Doppelauge hielt er aber trotz der mittlerweile geschehenen Entdeckung des Stereoskops durch wheatstone an der Identitätslehre fest154). Dieser zwischen Nativismus und Empirismus die Mitte haltende Standpunkt ist bis auf die neueste Zeit wohl in der Physiologie der herrschende gewesen. Eingehend ist er noch von A. Classen verteidigt worden155). Auch die philosophischen Ansichten SCHOPENHAUER's entsprechen im wesentlichen demselben; sie sind aber in zwei Beziehungen eigentümlich: erstens durch die Unterscheidung der intellektuellen Operationen, welche den Einfluß der Erfahrung auf die Gesichtsvorstellungen begründen, als "intuitiver Verstandsfähigkeiten" von den bewußten Verstandeshandlungen156), und zweitens durch die Anwendung des Kausalprinzips auf den Wahrnehmungsvorgang, indem schopenhauer die Beziehung der Eindrücke auf ein äußeres Objekt als eine Betätigung des uns angeborenen Kausalbegriff's ansieht157).

147) Principes de la Philosophie II. Oeuvres publ. par COUSIN t. III p. 120.
148) Essay on human understanding. Book II Kap. VIII. §. 9 f.
149) Vergl. Kap. XII.
150) J. Müller, zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns S. 56.
151) Ebend. S. 71 f.
152) J, MÜLLER, Handbuch der Physiologie II S. 361.
153) Volkmann, Art. Sehen in WAGNER's Handwörterbuch III, 1. S. 316, 340 f.
154) Ebend. S. 317 f. Archiv f. Ophthalmologie V, 2. S. 86.

155) Classen, über das Schlußverfahren des Sehaktes. Rostock 1863. Gesammelte Abhandlungen zur physiologischen Optik. Berlin 1868. Abhdl. I. u. III. Classen hat zugleich die einzigen Erfahrungen, die von pathologischer Seite den Beobachtungen über die Umlagerung der korrespondierenden Punkte beim concomitirenden Schielen (S. 596) gegenübergestellt werden könnten, hervorgehoben. Bei beschränkten Exsudatbildungen unter der Netzhaut pflegen nämlich Verzerrungen des Bildes einzutreten, deren Wiederbeseitigung bis jetzt nicht konstatiert wurde. (Das Schlußverfahren des Sehens S. 32 f.) Doch sind, wie CLASSEN selbst zugesteht, diese seltenen Fälle so kurz zur Beobachtung gekommen, daß sie den tatsächlich gelieferten Beweis einer Umlagerung der korrespondierenden Punkte nicht umstoßen können.

156) Schopenhauer, über das Sehen und die Farben. 2te Aufl. Leipzig 1884. S. 7.
157) SCHOPENHAUER, die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. 3te Aufl. Leipzig 1864. S. 51 f.

    Die Annahme, daß die angeborene Raumanschauung an und für sich durchaus subjektiv, und daß erst besondere Erfahrungen und Verstandeshandlungen erforderlich seien, um dieselbe auf äußere Objekte zurückzuführen, bietet nun aber insofern eine gewisse Schwierigkeit, als sich in der Erfahrung selbst ein Auseinanderfallen dieser beiden Akte nicht nachweisen läßt. So liegt denn der Versuch nahe, auch die Beziehung auf Außendinge als eine angeborene anzusehen. Hierin wurzelt eine Modifikation der nativistischen Ansicht, welche wir die Projektionshypothese nennen können158). Sie besteht darin, daß man der Netzhaut die angeborene Fähigkeit zuschreibt, ihre Eindrücke in der Richtung bestimmter gerader Linien, entweder der Richtungsstrahlen oder der Visierlinien oder der durch den Krümmungsmittelpunkt gelegten Normalen, nach außen zu verlegen. In dieser Weise ist z. B. von PORTERFIELD159), TOURTUAL160), sowie von volkmann in einer früheren Arbeit161) eine unmittelbare Projektion nach außen angenommen worden. Oft liegt diese Annahme auch bloß als stillschweigende Voraussetzung den physiologischen Untersuchungen zu Grunde, indem in der Regel die Richtungsstrahlen oder in neueren Arbeiten die Visierlinien als diejenigen Linien betrachtet werden, nach welchen regelmäßig die Verlegung der Eindrücke in den Raum geschieht.

158) Dieser Ausdruck ist allerdings in viel weiterem Sinne gebraucht worden. Es scheint aber zweckmäßig ihn auf jene Ansichten zu beschränken, welche eine angeborene oder mindestens eine fest gegebene Beziehung der Netzhautpunkte zu den Punkten im äußeren Raum voraussetzen.

159) On the eye. Edinburgh 1759. II p. 285.
160) Die Sinne des Menschen. Münster 1827.
161) Volkmann, Beiträge zur Physiologie des Gesichtssinns. Leipzig 1836.

    Sowohl die subjektive Identitätshypothese wie die Projektionstheorie finden nun in den Erscheinungen des Binokularsehens unüberwindliche Schwierigkeiten. Die erstere erklärt nicht, warum wir tatsächlich auch solche Gegenstände einfach sehen, welche auf nicht-identischen Punkten sich abbilden. Zur Beseitigung dieser Schwierigkeit hat man verschiedene Hilfshypothesen ersonnen. BRÜCKE162) nahm an, daß sich die Verschmelzung in Folge von Augenbewegungen vollziehe, bei denen der Fixationspunkt über die verschiedenen Punkte eines Objektes hinwandere, während zugleich die Undeutlichkeit der indirekt gesehenen Teile mitwirke. Diese Hypothese wurde aber durch die zuerst von DOVE163) ausgeführten Versuche widerlegt, welche zeigten, daß eine Verschmelzung stereoskopischer Objekte auch noch bei der instantanen Erleuchtung durch den elektrischen Funken geschehen kann. VOLKMANN164) nahm unbestimmtere psychische Tätigkeiten, teils die Unaufmerksamkeit auf Doppelbilder teils die Erfahrung über die tatsächliche Einfachheit der Objekte zu Hilfe. Dabei wurde aber von ihm der Einfluß der Tiefenvorstellung gar nicht berücksichtigt, während doch, sobald diese vorhanden ist, auch bei der größten Aufmerksamkeil eine Verschmelzung eintreten kann. Die Erfahrung über die reale Einheit der Objekte hilft uns ferner, wo sonst die Bedingungen zu Doppelbildern gegeben sind, niemals zur Verschmelzung. An dem entgegengesetzten Übelstand leidet die Projektionshypothese. Sie vermag die binokularen Doppelbilder nicht zu erklären. Wenn die Bilder nach den Richtungsstrahlen oder nach den von diesen sehr wenig abweichenden Visierlinien verlegt werden, so müßten wir eigentlich alles einfach sehen, da die einem leuchtenden Punkt entsprechenden Richtungsstrahlen in diesem Punkte sich schneiden. In der Tat ist nun beim gewöhnlichen Sehen die einfache Wahrnehmung so sehr vorherrschend, daß noch neuerlich DONDERS165) die Projektionshypothese in etwas limitierter Form, als einen wenigstens für die Mehrzahl der Fälle richtigen Ausdruck der Erscheinungen, verteidigt hat. In anderer Weise suchte NAGEL166) die Schwierigkeiten dieser Hypothese zu beseitigen. Er nimmt nämlich eine unabhängige Projektion der beiden Netzhäute auf zwei verschiedene Kugelflächen an, die sich im Fixationspunkte schneiden und beim Sehen in unendliche Ferne in eine einzige Ebene übergehen. Dabei hat aber nagel zugleich den Standpunkt der nativistischen Theorien völlig verlassen, indem er die Projektion nach den Visierlinien mittelst der Muskelgefühle zu Stande kommen läßt und entschieden gegen die Identitätshypothese auftritt, die übrigens auch bei der nativistischen Form der Projektionstheorie nicht aufrecht erhalten werden kann, obzwar man sich über diese Unverträglichkeit beider nicht immer klar gewesen ist. Die NAGEL'sche Theorie gibt nun im allgemeinen über die Entstehung der Doppelbilder Rechenschaft, doch steht sie mit der Tatsache in Widerspruch, daß das binokulare Sehfeld in Wirklichkeit eine außerordentlich wechselnde Form hat, daß aber auch die häufigste Form, die dasselbe besitzt, für beide Augen eine gemeinsame Projektionsoberfläche darstellt, die in ihrem oberen Teil einer Kugeloberfläche, in ihrem untern der scheinbar ansteigenden Fußbodenebene zugehört. Demgemäß stimmt denn die nach der NAGEL'schen Hypothese berechnete Lage der Doppelbilder für die meisten Fälle nicht genau mit der wirklichen Anschauung überein. Dies führt uns auf den Punkt, in welchem der Projektionstheorie in der Tat eine Wahrheit zu Grande liegt. Dieselbe ist richtig, insoweit sie sich auf die Richtungen bezieht, nach welchen wir die Eindrücke nach außen verlegen. Eine solche Verlegung muß von jedem einzelnen Auge notwendig nach der Richtung der Visierlinien geschehen, welche bei ferneren Objekten nahe genug mit den Richtungsstrahlen zusammenfallen. Freilich können wir dies nicht als eine angeborene, auf einer ursprünglichen Netzhautenergie beruhende Einrichtung ansehen. Auch die Muskelgefühle allein halte ich nicht für zureichend, um die Vorstellung der Richtung daraus abzuleiten, sondern es scheint mir die Beobachtung in durchaus zwingender Weise auf die Mitbeteiligung jener peripherischen Sinnesempfindungen hinzuweisen, welche das Lagegefühl des Auges vermitteln helfen. Der wesentlichste Irrtum der Projektionstheorie liegt aber darin, daß sie nicht bloß die Richtungen, sondern auch die Punkte im Raum, in welche die Eindrücke verlegt werden, zu bestimmen sucht, indem sie die Kreuzungspunkte der Richtungsstrahlen oder Visierlinien als solche Punkte ansieht. Wir haben gesehen, daß die Eindrücke in diese verlegt werden können, daß sie aber nicht notwendig in dieselben verlegt werden müssen167).

162) MÜLLER'S Archiv 1841. S, 459.
163) Berichte der Berliner Akademie. 1841. S. 252.
164) Archiv f. Ophthalmologie V, 2. S. 86.
165) Archiv f. Ophthalmologie XVII, 2. S. 7 f.
166) Das Sehen mit zwei Augen. S. 5, 99 f.
167) Siehe oben.

    Da die subjektive Identitätshypothese zwar im allgemeinen über die Erscheinungen des Doppelsehens, nicht aber über die Verschmelzung der Doppelbilder und die Tiefenwahrnehmung, die Projektionshypothese über die letztere, dagegen nicht in zureichender Weise über die Doppelbilder Aufschluß gab, so suchte man in neuerer Zeit der nativistischen Theorie eine Form zu geben, in welcher sie wo möglich diesen beiden Ansprüchen gerecht werde. Alle diese Versuche gehen von der subjektiven Identitätshypothese aus. Sie nehmen an, daß ursprünglich und vorzugsweise nur Eindrücke identischer Stellen einfach empfunden werden; sie suchen dann aber andere, ebenfalls angeborene Hilfseinrichtungen zu ersinnen, welche unter Umständen auch die Verschmelzung nicht-identischer Eindrücke und die Tiefenvorstellung vermitteln können. Hier begegnet uns also der Versuch, die nativistische Theorie zugleich konsequenter auszubilden, indem man nicht nur die ursprüngliche Ordnung des flächenhaften Sehfeldes, sondern auch das Entfernungsverhältnis der Raumpunkte zum Sehenden aus angeborenen Energien ableitet. So nahm PANUM an, jedem Punkte der einen Netzhaut sei nicht bloß ein identischer Punkt, sondern ein korrespondierender Empfindungskreis der andern zugeordnet. Mit identischen Punkten müsse, mit korrespondierenden könne einfach gesehen werden, von der Parallaxe der verschmelzenden nicht-identischen Punkte sei aber das Tiefengefühl abhängig. Neben diesem, das er als Synergie der binokularen Parallaxe bezeichnet, nimmt PANUM noch eine binokulare Energie der Farbenmischung und eine ebensolche des Alternierens der Empfindungen an; die Begrenzungslinien werden von ihm als Nervenreize betrachtet, welche die verschiedenen Energien vorzugsweise leicht wachrufen168). In dieser Theorie ist einfach jede Erscheinung auf eine ursprüngliche Eigenschaft der Netzhaut zurückgeführt. Wer also die Annahme nicht scheut, daß die Netzhaut mit sehr mannigfaltigen und verwickelten Fähigkeiten ausgestattet sei, könnte sie immerhin als einen Ausdruck der Tatsachen gelten lassen. Nun trifft es sich aber, daß die verschiedenen Energien, die PANUM voraussetzt, mit einander in Widerspruch stehen: so die der Farbenmischung mit der des Alternierens der Eindrücke, so ferner die Verschmelzung identischer Punkte, welche, wie PANUM sagt, eintreten muß, mit der Verschmelzung nicht-identischer vermöge der Synergie der binokularen Parallaxe. Übrigens hat panum das Verdienst auf die Bedeutung der dominierenden Linien im Sehfelde eindringlich hingewiesen zu haben, eine Bedeutung, welche denselben, wie wir gesehen haben, hauptsächlich dadurch zukommt, daß sie Fixationslinien abgeben, auf denen sich der Blickpunkt bewegen kann169). Weiter gebildet in der von PANUM eingeschlagenen Richtung wurde die nativistische Theorie durch hering. Derselbe nimmt an, daß jeder Netzhauteindruck drei verschiedene Arten von Raumgefühlen mit sich führt: ein Höhen-, Breiten- und Tiefengefühl. Die beiden ersten bilden zusammen das Richtungsgefühl für den Ort im gemeinsamen Sehfeld, sie sind für je zwei identische Punkte von gleicher Größe. Das Tiefengefühl dagegen hat für je zwei identische Punkte gleiche Werte von entgegengesetzter Größe, so daß denselben der Tiefenwert null entspricht. Alle Bildpunkte, die diesen Tiefenwert null haben, erscheinen durch einen unmittelbaren Akt der Empfindung in einer Ebene, der Kernfläche des Sehraumes. Auf symmetrisch gelegenen Netzhautpunkten dagegen haben die Tiefengefühle gleiche und gleichsinnige Werte, und zwar sind die letzteren positiv für die äußeren Netzhauthälften, d. h. ihre Bildpunkte liegen hinter der Kernfläche, sie sind negativ für die inneren Netzhauthälften, ihre Bildpunkte liegen vor der Kernfläche. Hierzu fügt dann auch hering die Annahme, daß ursprünglich nur die Eindrücke identischer Punkte einfach empfunden werden, und daß sie fortwährend einfach empfunden werden müssen; die Verschmelzung nicht-identischer Punkte leitet er aus psychologischen Ursachen, insbesondere aus der Unaufmerksamkeit auf die verschiedene Größe der Tiefengefühle ab. Wir sollen dann, wo eine solche Verschmelzung disparater Bilder eintritt, diese nach ihrem mittleren Tiefengefühl lokalisieren170). Auf diese Weise erklärt hering die stereoskopischen Erscheinungen. Die Kernfläche des Sehraumes, welche der Ausgangspunkt für alle weiteren Ortsbestimmungen ist, soll ursprünglich nur in unbestimmte Entfernung versetzt und dann erst unter dem Einfluß der Erfahrung in bestimmtere Beziehung zum Sehenden gebracht werden. Eine in neuester Zeit von C. STUMPF entwickelte Hypothese trifft, was die ursprünglichen Raumgefühle der Netzhaut betrifft, mit Hering's Ansichten nahe zusammen171). Doch setzt stumpf keine einfache Kernfläche des Sehraumes, sondern, ähnlich wie früher Nagel, für jedes Auge eine Kugeloberfläche als besondere Projektionssphäre voraus, ferner vermutet er, daß die Tiefengefühle aus verschiedenen Momenten, wie Akkommodation, Konvergenz, undeutlich gesehenen Doppelbildern u. s. w., hervorgehen, welche als Lokalzeichen der Tiefe wirken172). Auch in diesen Theorien liegt wieder der Widerspruch, daß wir nach ihnen mit identischen Stellen einfach sehen müssen, während doch zugegeben wird, daß man unter Umständen auch mit disparaten Punkten einfach sehen kann. Konsequenter Weise würde dies dahin führen, daß wir je einen Punkt der einen Netzhaut gleichzeitig mit zwei der andern verschmelzen können. Um dies zu vermeiden, nimmt man Unaufmerksamkeit, ungenaue Fixation und dergl. zu Hilfe, ohne Rücksicht darauf, daß bei Ausschluß jeder Augenbewegung die Verschmelzung eintritt, sobald nur die Tiefenvorstellung sich vollzieht, und daß dagegen, wenn die letztere nicht zu Stande kommt, unter allen Umständen die Doppelbilder erscheinen. Die Bewegung unterstützt also offenbar nur deshalb die Verschmelzung, weil sie die Ausbildung der Tiefenvorstellung begünstigt. Die große Reihe von Erfahrungsbelegen, welche den Einfluß der Bewegung auf die Ausmessung des Sehfeldes dartun, läßt diese Theorie ganz unberücksichtigt oder bringt dafür höchst gezwungene Erklärungen, wie z. B. die von HERING und kundt aufgestellte Sehnentheorie173). HERING's Behauptung, daß alle Bildpunkte identischer Stellen in einer Ebene erscheinen, widerspricht der Beobachtung. Wäre sie richtig, so müßte z. B. eine Zylinderfläche, die im Vertikalhoropter gelegen ist, als Ebene erscheinen: dies ist aber durchaus nicht der Fall, sondern man erkennt sehr deutlich ihre zylindrische Wölbung. Nicht minder widersprechen HERING's Aufstellungen über die Tiefengefühle der Beobachtung. Es müßten z. B. die Doppelbilder eines seitlich und in anderer Entfernung als der Fixationspunkt gelegenen Objektes einen verschiedenen Tiefenwert haben, das eine müßte vor, das andere hinter dem Fixationspunkte erscheinen. HERING selbst gesteht zu, daß dies in der Regel nicht der Fall ist; doch soll nach ihm bei vollkommen starrer Fixation auf Momente eine solche Täuschung eintreten. Im monokularen Sehen müßten alle Objekte aus ihrer Lage gerückt scheinen. Von einer zur Antlitzfläche parallelen Ebene bildet sich die innere Hälfte auf den äußern, die äußere Hälfte auf den innern Teilen der Netzhaut ab: die ganze Ebene müßte also mit ihrer innern Seite vom Sehenden weggekehrt scheinen. In allen solchen Fällen soll nun nach HERING die Erfahrung die Objekte, welche durch die Empfindung verkehrt lokalisiert werden, wieder an ihre richtige Stelle rücken. Aber ein so enormer Einfluß der Erfahrung, wie er hier vorausgesetzt wird, läßt nirgends sich nachweisen. Wenn wir durch einen an der Nasenseite auf das Auge ausgeübten Druck ein Druckbild hervorbringen, so hätte uns Erfahrung längst belehren können, daß diesem Reiz kein schläfenwärts gelegenes Objekt entspricht. Über die wahre Richtung indirekt gesehener Linien sollten uns ebenso die Erfahrungen, die wir bei der direkten Besichtigung solcher Linien machen, leicht belehren können. Aber die Beobachtung zeigt eben, daß uns über solche Täuschungen der Lage und Richtung, welche in der ursprünglichen Einrichtung des Sehorgans begründet sind, alle Erfahrung nicht hinweghilft. So ist es denn ein merkwürdiges Verhängnis, daß gerade diejenige Form der nativistischen Hypothese, welche möglichst alle Momente der Gesichtsvorstellung auf angeborene "Energien der Sehsinnsubstanz" zurückführen möchte, schließlich sich genötigt sieht der Erfahrung den verwegensten Spielraum zu lassen, um einigermaßen zwischen Annahme und Beobachtung einen Einklang zu Stande zu bringen.

168) PANUM, über das Sehen mit zwei Augen. Kiel 1858. S. 59, 82 f.
169) Vergl. oben.
170) HERING, Beitrage zur Physiologie. Leipzig 1861–64. S. 159, 289, 323 f.
171) C. Stumpf, über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung. Leipzig 1873.
172) a. a. O. S. 217 f.
173) Siehe oben.

    Die genetische Theorie kann auch bei den Gesichtsvorstellungen wieder auf verschiedenen Grundlagen aufgebaut werden. Zunächst läßt sich an den tatsächlichen Einfluß der Erfahrungsmomente, der ja von den meisten Nativisten ebenfalls zugestanden wird, anknüpfen, indem man die Bildung der Gesichtsvorstellungen durchaus als eine von der Erfahrung bestimmte Beziehung der Eindrücke auffaßt. So entsteht die empiristische Theorie, die sich an locke anschließt, und deren Hauptbegründer BERKELEY ist. Als ein wesentliches Hilfsmittel der Gesichtsvorstellungen zieht derselbe die Tastempfindungen herbei174), ein Zug, der seither meistens der empiristischen Theorie eigen geblieben ist175). Diese ist in zwei verschiedenen Formen dargestellt worden, deren eine wir die logische Theorie, die andere die Assoziationstheorie nennen können. Beide werden nicht immer strenge aus einander gehalten. BERKELEY's eigene Ausführungen stehen in der Mitte, nähern sich aber im Ganzen mehr der ersteren. Die meisten Ansichten, welche zwischen Nativismus und Empirismus zu vermitteln suchen, bedienen sich, wo sie die Erfahrung zu Hilfe nehmen, der logischen Hypothese. Diese ist, da Erfahrung überall auf Urteilen und Schlüssen über den Zusammenhang der Gegenstände beruht, offenbar die naheliegendste Form der Erfahrungstheorie. Bei BERKELEY und den meisten Vertretern des beschränkteren Empirismus wird geradezu eine bewußte Verstandestätigkeit angenommen. In neuerer Zeit wurde dem ein unbewusstes Urteilen und Schließen substituiert, indem man mit Recht darauf hinwies, daß wir in diesem Fall zwar die Vorgänge in die logische Form bringen können, daß sie uns aber doch nicht unmittelbar als Urteile und Schlüsse gegeben sind. Ihre Anregung fand diese Betrachtungsweise einerseits in der LEiBNIZ'schen Unterscheidung des dunklen und klaren Vorstellens, wovon das erste der Sinnlichkeit, das zweite dem Verstande zugewiesen wurde, anderseits in wolff's logischem Formalismus176). kant protestierte zwar gegen diese Ansichten, die den Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Verstand zu einem bloßen Gradunterschied in der Deutlichkeit der Vorstellungen machen wollten177), hob aber doch gleichzeitig locke gegenüber die Existenz dunkler oder unbewußter Vorstellungen hervor178). Nach einer andern Richtung hat schopenhauer dieser logischen Form des Empirismus vorgearbeitet, indem er die Intellektualität der Anschauung betonte179). Ohne diese Andeutungen zu kennen, habe ich selbst die psychologische Natur der bei der Bildung der Gesichtsvorstellungen wirksamen Vorgänge nachzuweisen gesucht, indem ich dieselben überall auf ein unbewußtes Schlußverfahren zurückführte180), dabei aber zugleich auf die schöpferische Natur jener Synthese der Empfindungen hinwies, wodurch sich dieselbe von den gewöhnlichen Erfahrungsschlüssen wesentlich unterscheide181). Ähnlich hat auch helmholtz schon früher182) hervorgehoben, daß die Gesichtstäuschungen sowie die stereoskopischen Wahrnehmungen auf Schlüsse hinweisen, die sich ohne unser Wissen und Wollen vollziehen; und er hat sich dann später der Theorie der unbewußten Schlüsse auch in Bezug auf die ursprüngliche Bildung der Gesichtswahrnehmungen, die Ordnung des Sehfeldes u. s. w. angeschlossen183). Seine allgemeinen Auseinandersetzungen weichen von den obigen nur in einem, allerdings wesentlichen Punkte ab. Er führt nämlich alle Wahrnehmungsvorgänge auf Analogieschlüsse zurück. So sollen wir z. B. Eindrücke, die unsere rechte Netzhauthälfte treffen, nach der linken Seite im äußern Raum verlegen, weil wir in einer Unzahl von Fällen die Erfahrung bestätigt gefunden haben, daß die Gegenstände, von denen sie herrühren, wirklich in dieser Richtung gelegen sind. Diese Annahme hängt mit der Schwäche der empiristischen Theorie innig zusammen. Wir sollen jede einzelne Empfindung nach der Analogie früherer Erfahrungen beurteilen; aber es wird uns nicht gesagt, wie überhaupt ursprünglich Erfahrung zu Stande kommt, zu der doch schon geordnete Wahrnehmungen erforderlich sind. HELMHOLTZ entzieht sich dieser Schwierigkeit, indem er voraussetzt, daß wir uns die primitivsten räumlichen Vorstellungen mit Hilfe des Tastsinnes verschafft haben, hierin ganz übereinstimmend mit derjenigen Ansicht, welche schon die Väter der empiristischen Theorie, BERKELEY und Condillac, entwickelten. Aber wenn wir auch der gemeinsamen Funktion des Tast- und Gesichtssinns ihre Bedeutung nicht absprechen wollen, namentlich insofern die Lagebestimmung des Augapfels wesentlich von Tastgefühlen herrührt, so ist doch eine so durchgängige Abhängigkeit der Gesichts- von den Tastvorstellungen, wie sie hier angenommen wird, weder bewiesen noch auch wahrscheinlich. Doch wollte man selbst diese Abhängigkeit zugeben, so würden bei der Erklärung der Tastvorstellungen dieselben Schwierigkeiten wiederkehren. Da hier die unbewußten Analogieschlüsse nicht mehr ausreichen, so müßte man eine angeborene Raumbeziehung der Tastempfindungen voraussetzen. Entschließt man sich aber einmal zu diesem Schritte, so ist nicht einzusehen, warum nicht die nämliche Annahme auch für die Gesichtsempfindungen zulässig sein soll.

174) Berkeley, theory of Vision. § 46, 129. Works vol. I p. 259, 301.

175) Am weitesten geht in dieser Beziehung Condillac, welcher dem Gesicht und den andern Sinnen überhaupt gar keine selbständige Entwicklung zugesteht, indem er ihre ganze Funktion aus der Unterweisung des Tastsinns hervorgehen läßt (Traité des sensations, III 3). BERKELEY hatte noch angenommen, daß der Gesichtssinn für sich allein die Entfernung des Objektes teils nach der Deutlichkeit des Bildes teils nach der Akkommodationsanstrengung des Auges abschätze (§ 23, 27, p. 243 etc.); CONDILLAC schreibt auch diese Vorstellungen der Hilfe des Tastsinns zu. Das Auge für sich allein empfindet nach ihm nur Licht und Farben; eine bunte Oberfläche würde es, auf sich selbst beschränkt, weder als Oberfläche noch in irgend einer andern räumlichen Beziehung auffassen (l, 11).

176) Vergl. Einleitung.
177) Anthropologie. Werke, Bd. 7, 2. S. 28.
178) Ebend. S. 21.
179) Schopenhauer, vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde S. 55.
180) In meinen 1858–62 erschienenen Beiträgen zur Theorie der Sinneswahrnehmung und in dem 1. Band der Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele. Leipzig 1863.
181) Beiträge S. 442 f.
182) HELMHOLTZ, über das Sehen des Menschen. Ein populär wissenschaftlicher Vortrag. Leipzig 1855.
183) Helmholtz, physiologische Optik, S. 427 f.

    Außerdem sieht HELMHOLTZ, hierin mit SCHOPENHAUER zusammentreffend, das Kausalgesetz als ein angebornes Prinzip an, das sich bei jeder einzelnen Wahrnehmung wirksam erweise, insofern wir die Empfindungen auf ein äußeres Objekt als ihre Ursache beziehen184). Aber es verhält sich damit ähnlich wie mit dem Schlußverfahren bei unsern Wahrnehmungen. Man kann den Satz vom zureichenden Grunde durch nachträgliche Reflexion auf die Vorgänge anwenden, in diesen selber ist aber nichts vom Begriff der Ursache zu finden. So wenig das ursprüngliche Bewußtsein einen äußeren Reiz als Ursache seiner Empfindung setzt, ebenso wenig kommt ihm der Gedanke das Angeschaute als Ursache der Anschauung anzunehmen. Merkwürdiger Weise kommt hier die empiristische Theorie in die Lage einen Begriff als angeboren zu betrachten, welcher offenbar weit mehr als die sinnliche Wahrnehmung selbst abgeleiteten Ursprungs ist.

184) a. a. O. S. 453.

    Wie die logische Theorie den Wahrnehmungsvorgang auf die allgemeinen Verstandesfunktionen, so sucht die Assoziationstheorie denselben auf die allgemeinen Gesetze der Verbindung der Vorstellungen zurückzuführen. Ihre Ausbildung hat diese Theorie hauptsächlich durch die so genannte schottische Philosophenschule erhalten. Nach ihr ist jede, auch die im gewöhnlichen Sinn einfache Gesichtsvorstellung, z. B. die Anschauung einer einfarbigen Fläche, in Wahrheit eine zusammengesetzte Vorstellung. Die einfacheren Vorstellungen aber, welche in dieselbe eingehen, sind innig assoziiert. Auf diese Weise läßt bain die Gesichtsvorstellungen in ganz ähnlicher Weise wie die Tastvorstellungen durch die Assoziation der spezifischen Sinnesempfindungen mit Muskelgefühlen entstehen185). Die Linien- und Flächenvorstellung bildet sich, indem wir das Auge hin- und herbewegend verschiedene Intensitätsgrade des Muskelgefühls mit den Netzhauteindrücken verbinden; bei der Tiefenvorstellung sind die mit der Akkommodation und Konvergenz verbundenen Muskelgefühle wirksam186). Vor andern Formen der empiristischen Ansicht hat diese den Vorzug, daß sie dem Gesichtssinn eine selbständige Entwicklung seiner Vorstellungen zugesteht. Aber sie läßt vor allem den Einwand zu, daß der Ausdruck Assoziation ein ungeeigneter ist, weil sich die Verbindung der Empfindungen, um die es sich hier handelt, von der gewöhnlich so genannten Assoziation der Vorstellungen durchaus unterscheidet. Dieser Unterschied muß um so mehr hervorgehoben werden, da eine Reihe sekundärer Wahrnehmungsakte wirklich auf Assoziationen beruht. Die letzteren werden in der Assoziationstheorie mit der ursprünglichen Synthese der Empfindungen zusammengeworfen, während sie sich doch deutlich in der Beobachtung als Vorgänge anderer Art zu erkennen geben. Die einzige Ähnlichkeit, die man zu Gunsten jener Bezeichnung angeführt hat, besteht darin, daß hier wie dort Elemente, die häufig verbunden gewesen sind, eine immer größere Tendenz zur Verbindung annehmen. Aber der große Unterschied besteht darin, daß assoziierte Vorstellungen nicht ihre Eigenschaften einbüßen, während uns die Raumkonstruktion ein ganz und gar neues Produkt entgegenbringt. Dies hat auch john stuart mill, einer der Hauptvertreter der Assoziationshypothese, zugestanden, indem er den Vorgang eine "psychische Chemie" nennt, ein Bild, welches die hier stattfindende Synthese sehr gut veranschaulicht187). In dieser Beziehung verhält es sich also mit der Assoziationstheorie ähnlich wie mit der logischen Hypothese. Wie diese ein unbewußtes Schlußverfahren, so muß jene eine latente Assoziation voraussetzen, die uns auch erst in ihren Resultaten gegeben ist. Die spezielle Ableitung der Gesichtsvorstellungen, welche die englischen Psychologen gegeben haben, unterliegt übrigens den nämlichen Einwänden, die schon bei Gelegenheit der Tastvorstellungen geltend gemacht wurden188).

185) Vergl. oben.
186) Bain, the senses and Ihe intellect. 2. edit. p. 245 f. Man vergl. auch hier die im wesentlichen übereinstimmende Ansicht von Steinbuch, Beitrag zur Physiologie der Sinne, S. 140.
187) Mill, System der deduktiven und induktiven Logik. Deutsch von Schiel. 3te Aufl. II, S. 460.
188) Kap. XII.

    Die verschiedenen Formen der empiristischen Theorie scheitern hauptsächlich an der Überzeugung, welche sich der psychologischen Analyse notwendig aufdrängen muß, daß die Wahrnehmung als Grundlage der Erfahrung nicht selbst auf Erfahrung beruhen könne. Hält man nun trotzdem an der Annahme fest, daß die Empfindung ursprünglich nicht räumlich bestimmt sei, so muß ein anderer, nicht auf Erfahrungsschlüssen oder Assoziationen beruhender Vorgang angenommen werden. HERBART läßt auch hier, wie beim Tastsinn, die Vorstellung aus den Lichtempfindungen hervorgehen, die bei der Bewegung des Auges sukzessiv entstehen, und die in Folge der Hin- und Rückwärtsbewegung über die nämlichen Gegenstände mit ihren Reproduktionen in abgestufter Intensität verschmelzen sollen189). In HERBART's Reihentheorie, die wir aus den früher geltend gemachten Gründen für widerlegt halten, wurzelt lotze's Theorie der Lokalzeichen, die sich hauptsächlich aus der Kritik des Nativismus und der HERBART'schen Ansichten entwickelte. Beim Auge nimmt LOTZE nicht, wie beim Tastorgan, Mitempfindungen sondern Bewegungsgefühle als Lokalzeichen an. Jede Netzhautreizung löse eine Reflexbewegung aus, durch welche der Eindruck auf das Netzhautzentrum übergeführt werde. Sind solche Bewegungen einmal ausgeführt worden, so soll dann aber auch das ruhende Auge die Eindrücke in die räumliche Form bringen, indem verschiedene Bewegungsantriebe sich kompensieren, wobei gleichwohl das von früher her jedem Eindruck assoziierte Bewegungsgefühl entstehe 190). Diese Theorie schildert, wie ich glaube, den Einfluß der Innervationsgefühle im wesentlichen in richtiger Weise. Aber auch sie zeigt nicht, wie wir dazu kommen, die intensiven Unterschiede der Bewegungsgefühle auf räumliche Ausdehnung zu beziehen. Ich habe schon früher betont, wie es mir durchaus erforderlich scheint, neben den bloß intensiv abgestuften Innervationsgefühlen qualitative Verschiedenheiten der peripherischen Empfindung anzunehmen, so daß sich erst aus der Synthese dieser verschiedenartigen Elemente die extensive Form des Sehfeldes entwickelt191). Doch habe ich damals noch ausschließlich auf die lokale Färbung der Netzhautempfindungen Wert gelegt, für die ich speziell den Ausdruck Lokalzeichen beibehielt; ich glaube nunmehr, durch manche in Kap. V und XII mitgeteilte Erfahrungen bestimmt, den mit der Bewegung des Auges verbundenen Tastempfindungen eine mitwirkende Bedeutung zuschreiben zu müssen. helmholtz hat sich der obigen Ableitung des Sehfeldes im wesentlichen angeschlossen. Er unterscheidet sich nur dadurch, daß er die Innervationsgefühle und die Lokalempfindungen der Netzhaut für von einander unabhängige Hilfsmittel ansieht, deren jedes für sich schon räumliche Wahrnehmung soll vermitteln können. Außerdem hält er die Annahme für nicht erforderlich, daß die Lokalzeichen eine stetige Mannigfaltigkeit bilden, sondern er glaubt, dieselben könnten beliebig verteilt über die Netzhaut sein, da doch erst die Erfahrung einem jeden seine Bedeutung anweisen müsse192). Diese Hypothese kann aber, wie ich glaube, dem Einwand nicht entgehen, daß sie die räumliche Wahrnehmung, von der sie behauptet, sie sei in der ursprünglichen Empfindung nicht enthalten, in Wahrheit doch schon in die Empfindung, und zwar sowohl in die Innervationsgefühle wie in die Lokalzeichen, hineinverlegt. Die oben entwickelte Theorie, welche zum Unterschied von den verschiedenen andern Formen der genetischen Ansicht, die synthetische genannt werden mag, ist diesem Vorwurfe nicht ausgesetzt. Sie sucht nachzuweisen, daß unsere Raumvorstellung überall aus der Verbindung einer qualitativen Mannigfaltigkeit peripherischer Sinnesempfindungen mit den qualitativ einförmigen Innervationsgefühlen, welche sich durch ihre intensive Abstufung zu einem allgemeinen Größenmaß eignen, hervorgeht. Hierdurch ist die Möglichkeit gegeben, daß die Mannigfaltigkeit der Lokalzeichen in ein Kontinuum von gleichartigen Dimensionen geordnet, das heißt in die räumliche Form gebracht werde. Dabei macht dann gleichzeitig die qualitative Verschiedenheit der in die Raumform gebrachten Lokalzeichen die Unterscheidung der einzelnen Richtungen und Lagen im Raum möglich. Mit jeder Gesichtsvorstellung ist daher nicht nur die allgemeine Form des Raumes sondern immer auch gleichzeitig die Beziehung der Eindrücke auf Richtungen und Lagen im Raume gegeben. Schließlich ist bei dieser ganzen Ableitung nicht zu vergessen, daß wir bestimmte Einrichtungen in den Sinnes- und Zentralorganen, in den ersteren hauptsächlich die stetige Verteilung der Lokalzeichen, in den letzteren die regulatorischen Herde der motorischen Innervation, als Bedingungen voraussetzen, welche das Einzelwesen als angeborenes Besitztum mitbringt. Hierin liegt die relative Berechtigung der nativistischen Ansicht.

189) Herbabt, Psychologie als Wissenschaft 2. Werke Bd. 6, S. 120 f.
190) Lotze, medizinische Psychologie S. 353 f. Vergl. hierzu die Bemerkungen LOTZE's im Anhang zu C. Stumpf, über den psycholog. Ursprung der Raumvorstellung S. 315.

191) Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung. S. 145 f.
192) HELMHOLTZ, physiologische Optik, S. 800.

    Von den Anhängern der empiristischen Theorie sind als besonders schlagende Zeugnisse für die Entstehung der Gesichtswahrnehmungen durch Erfahrung noch die Beobachtungen an operierten Blindgeborenen angesehen worden. Die älteren Autoren lieben es rein theoretisch die Frage zu erörtern, wie die Wahrnehmungen eines von Geburt an Erblindeten, dem plötzlich das Augenlicht gegeben wurde, wohl beschaffen sein möchten193). Beobachtungen über solche Fälle sind namentlich von CHESELDEN194), WARDROP195) und Franz196) ausführlich beschrieben worden. Dabei kommt jedoch in Betracht, daß mit Ausnahme des einen der von WARDROP mitgeteilten Fälle es sich nur um Staarkranke handelt, bei denen die Unterscheidung von Hell und Dunkel und ein Urteil über die Richtung des Lichtes schon vor der Operation möglich war. In dem einen Fall von WARDROP, in welchem eine Verwachsung der Iris getrennt werden mußte, war dagegen wohl nur eine sehr unvollkommene Unterscheidung von Hell und Dunkel vorhanden. Ferner ist zu beachten, daß entweder überhaupt nur ein Auge, oder daß das zweite Auge längere Zeit nach dem ersten operiert wurde (in dem Fall von cheselden). Alle diese Berichte stimmen nun darin überein, daß die Operierten ein Urteil über die Entfernung der Gegenstände nicht besitzen, daß sie die Größe und Form derselben nur sehr unvollkommen auffassen, letztere namentlich dann, wenn Erhabenheiten und Vertiefungen vorkommen. Ein Gemälde erscheint ihnen anfänglich wie eine bunt bemalte Fläche; erst allmälig lernen sie die Bedeutung der Schattierung und Perspektive verstehen. Dem Operierten des Dr. franz erschienen entfernte Gegenstände so nah, daß er sich fürchtete an sie anzustoßen. Einfache Formen, wie Vierecke und Kreise, erkannte er zwar ohne Betastung, aber er mußte erst über sie nachdenken, wobei er angab, daß er gleichzeitig ein gewisses Gefühl in den Fingerspitzen (ohne Zweifel reproduzierte Tastempfindungen) zu Rate ziehe. Die von WARDROP operierte Dame, deren Blindheit vollständiger gewesen war, konnte einen Schlüssel und einen silbernen Bleistifthalter, die sie durch Betasten deutlich erkannt hatte, mit dem Gesicht nicht unterscheiden. Offenbar sind in allen diesen Fällen jene Bestandteile der monokularen Gesichtswahrnehmung, welche auf wirklichen Assoziationen beruhen, unvollkommen oder gar nicht ausgebildet. Ebenso zweifellos geht aber auch aus den Beschreibungen hervor, daß alle Operierte, selbst die Dame von Dr. WARDROP, die Eindrücke in räumlicher Ordnung auffaßten und in Bezug auf ihre Richtung unterschieden. Die Verlegenheit oder sogar das Unvermögen die Gestalt der Objekte anzugeben, darf in dieser Beziehung nicht irre machen. Der Operierte hat bisher seine Vorstellungen nach den Eindrücken des Tastsinns geordnet. Um eine durch den Gesichtssinn wahrgenommene Form zu bezeichnen, muß er sie also mit der Tastvorstellung vergleichen, sei es durch unmittelbares Befühlen, sei es durch Herbeiziehen reproduzierter Tastvorstellungen. Als Beweise für die ursprüngliche Bildung der Gesichtsanschauung durch Erfahrung können daher diese Beobachtungen nicht angeführt werden. Anderseits liefern sie aber auch freilich keinen Gegenbeweis, weder gegen die empiristische noch gegen die genetische Theorie im allgemeinen, da durch die vor der Operation stattfindenden Lichteindrücke immer eine gewisse Orientierung im Sehfelde stattfinden konnte. Sie geben dagegen belehrende Belege für die verhältnismäßig langsame Ausbildung gerade jener Bestandteile der Wahrnehmung, welche auf Assoziationen beruhen.

193) Vergl. Locke, human understanding II, 9 §. 8. Berkeley, theory of vision §. 41 p. 255. Diderot, lettre sur les aveugles. 1749. Oeuvres. Londres 1773. III. p. 115; Condillac's ganzer traité des sensations ist auf ähnliche Betrachtungen gegründet.

194) Phil. transact. 1728. XXXV. p. 447. Vergl. Heimholtz, physiol. Optik S. 587.
195) History of James Mitchell a boy born blind and deaf. London 1813. Phil. transact. 1826. III p. 529. Helmholtz a. a. O. S. 588.
196) Phil. mag. XIX 1841 p.156.