Zwölftes Kapitel.

Tast- und Bewegungsvorstellungen.

Die Druck- und Temperaturempfindungen unserer Haut beziehen wir auf den Ort, welcher vom Reize getroffen wurde, ebenso die dem Tastsinn verwandten Empfindungen der inneren Teile. Die Genauigkeit dieser Lokalisation ist außerordentlich verschieden. Sie ist am unvollkommensten bei den Gemeingefühlen, und wahrscheinlich wird hier die Ortsvorstellung nur durch die zeitweise Verbindung mit Tastempfindungen eine etwas bestimmtere. Einer messenden Vergleichung sind jedoch in dieser Beziehung nur die verschiedenen Provinzen der Hautoberfläche zugänglich. Die naheliegendste Methode, um die Genauigkeit der örtlichen Auffassung zu prüfen, besteht darin, daß man eine Hautstelle berührt und dann aus der bloßen Tastempfindung, also unter Ausschluß des Gesichtssinns, den Ort der Berührung bestimmen läßt1). Hierbei wird im allgemeinen ein Fehler begangen, der sich, sobald man eine größere Zahl von Beobachtungen verwendet, bei jeder Hautstelle einem konstanten Werte nähert, für die verschiedenen Stellen aber außerordentlich wechselt. Die Feinheit der Lokalisation ist der Größe jenes Fehlers umgekehrt proportional. Dieses Verfahren entspricht demnach vollständig der Methode der mittleren Fehler2) bei der Intensitätsmessung. Im vorliegenden Fall führt aber dies unmittelbar zu einem kürzeren Verfahren, welches der Methode der eben merklichen Unterschiede analog ist. Will man nämlich an sich selbst die Stelle der Haut bestimmen, an der eine Berührung gefühlt wurde, so kann dies nur durch eigene Betastung geschehen. Dadurch entsteht eine zweite Tastempfindung, und unwillkürlich wird man nun so lange den berührenden Finger auf der Haut verschieben, bis die zweite der ersten Empfindung gleich geworden ist. Es liegt nahe, die Feststellung der Lokalisationsschärfe direkt auf diese Vergleichung zu gründen, also zwei Eindrücke gleichzeitig oder rasch nach einander auf zwei benachbarte Stellen wirken zu lassen und dann diejenige Grenzdistanz aufzusuchen, bei welcher die Eindrücke eben noch als räumlich gesonderte aufgefaßt werden. Letzteres Verfahren ist es, nach welchem E. H. weber den von ihm so genannten Ortssinn der menschlichen Haut untersucht hat3). Überträgt man die bei der Empfindungsmessung gebrauchten Ausdrücke auch auf die in der Raum- oder Zeitform zu Vorstellungen geordneten Empfindungen, so kann man allgemein jenen Grenzwert, der die kleinste Raum- oder Zeitentfernung mißt, in welcher Empfindungen noch von einander getrennt werden können, als extensive Schwelle bezeichnen, im Gegensatze zur intensiven Schwelle, welche die eben unterscheidbare Intensität der Empfindung bestimmt. Wir können dann aber die extensive Schwelle wieder unterscheiden in die Raumschwelle, um die es sich hier handelt, und die Zeitschwelle, auf deren Betrachtung wir später, bei der Untersuchung des zeitlichen Verlaufs der Vorstellungen, eingehen werden4).

1) E. H. WEBER, Sitzungsberichte der königl. sächs Ges. der Wissensch. 1852. S. 87. Eine größere Zahl von Versuchen haben nach diesem Verfahren unter VIERORDT's Leitung KOTTENKAMP und ULLRICH ausgeführt. (Zeitschr. f. Biologie VI. S. 46 f.)

2) Vgl. Kap.VIII.

3) Annotationes anatomicae et physiologicae. Prol. VI–XI. 1829–31. Art. Tastsinn und Gemeingefühl, WAGNER's Handwörterbuch der Physiol. III. 2, S. 524 f.

4) Der Ausdruck extensive Schwelle rührt von Fechner her. Er hat ihn aber auf den Begriff der Raumschwelle beschränkt, da er die Untersuchung der zeitlichen Verhältnisse der Vorstellungen nicht in seine Untersuchungen aufnahm. Auch behandelt FECHNER die Auffassung in extensiver Form als eine unmittelbar der Empfindung zukommende Eigenschaft. (Elemente der Psychophysik I. S. 52, 267 f.)

Zur Untersuchung der Raumschwelle des Tastsinns benützt man nach dem Vorbilde Weber's einen Zirkel mit abgestumpften Spitzen, der, wenn man die Versuche an sich selbst ausführt, am besten mit einem Stiel versehen ist5). So lange die Entfernung der Zirkelspitzen unter der Raumschwelle bleibt, wird nur ein einziger Eindruck wahrgenommen; sobald sie jenen Grenzwert überschreitet, faßt man beide Eindrücke als gesonderte auf. Die Raumschwelle läßt sich daher aus mehreren Probeversuchen als die Grenze zwischen der unmerklichen und der übermerklichen räumlichen Scheidung der Eindrücke feststellen. Die Größe dieses Grenzwertes variiert nach den Messungen Weber's je nach der Hautstelle zwischen l und 68 Millimetern. Am feinsten ist die Unterscheidung an der Zungenspitze und an der Volarfläche der vordersten Fingerglieder, erheblich gröber an den übrigen Teilen der Hand, dem Gesichte, den Zehen u. s. w., am ungenauesten an Brust und Bauch, Rücken, Oberarm und Oberschenkel. Hat man die Grenze, wo die zwei gleichzeitig aufgesetzten Spitzen unterschieden werden, nahezu erreicht, so wird zwar kein doppelter Eindruck wahrgenommen, aber man bemerkt mehr oder weniger deutlich, in welcher Richtung, ob z. B. longitudinal oder transversal, die beiden Spitzen aufgesetzt worden sind. In diesem Fall hat man also offenbar von der Ausdehnung des Eindrucks eine bestimmte Vorstellung, aber man unterscheidet noch nicht, daß zwischen den berührten Punkten ein freier Zwischenraum geblieben ist.

5) Gebraucht man, wie bei der unten zu erwähnenden Methode der richtigen und falschen Fälle, konstante Distanzen, so ersetzt man zweckmäßig, wie es KOTTENKAMP und Ullrich getan haben, den Zirkel durch zwei in ein Brett gesteckte Nadeln, deren Köpfe nun zur Berührung der Haut benutzt werden. (Zeitschr. f. Biologie. VI. S. 38.)

Mit der zuletzt erwähnten Tatsache steht jedenfalls die andere im Zusammenhang, daß die Raumschwelle bedeutend kleiner gefunden wird, wenn man die beiden Zirkelspitzen nicht gleichzeitig sondern sukzessiv aufsetzt6). Um zwei gleichzeitige Eindrücke zu sondern, muß man nämlich wahrnehmen, daß zwischen den berührten Punkten ein freier Zwischenraum geblieben ist. Zwei sukzessive Eindrücke werden aber auch dann noch als örtlich verschieden aufgefaßt werden können, wenn der zwischen ihnen liegende Raum groß genug ist, daß die Eindrücke nicht in einen einzigen Punkt zusammenzufallen scheinen. Der wahre Wert der Raumschwelle entspricht eigentlich viel eher dieser letzteren Grenze als der räumlichen Trennung gleichzeitiger Eindrücke; aber da beide Grenzwerte durchaus die nämlichen Unterschiede an den verschiedenen Hautstellen zeigen, so ist es ziemlich gleichgültig, welchen von ihnen man zum Maße nimmt. In beiden Fällen haftet der Untersuchung die nämliche Unsicherheit an, welche die Methode der eben merklichen Unterschiede auch bei der Messung intensiver Empfindungsgrößen mit sich führt, und welche auf der Schwierigkeit beruht, das eben merkliche als Grenzwert zwischen dem unter- und übermerklichen genau festzustellen. Man gewinnt auch hier etwas konstantere Resultate, wenn man ein der Methode der richtigen und falschen Fälle nachgebildetes Verfahren benutzt. Wird nämlich den Eindrücken eine konstante Entfernung gegeben, welche aber kleiner als eben merklich ist, so werden dieselben in einer größeren Zahl von Fällen bald richtig als zwei aufgefaßt, bald aber in einen verschmolzen. Bestimmt man nun in vielen Versuchen das Verhältnis der richtigen zur Gesamtzahl der Fälle, so läßt sich daraus ein Maß der extensiven Unterschiedsempfindlichkeit entnehmen. Von verschiedenen Hautstellen, die bei einer und derselben Distanz verglichen werden, wird nämlich die Ortsempfindlichkeit derjenigen am feinsten sein, für welche sich das Verhältnis  am meisten der Einheit nähert7). Doch erfordert dieses Verfahren in seiner Anwendung auf extensive Größen noch eine besondere Modifikation. Ließe man nämlich immer zwei Eindrücke einwirken, so würde die Kenntnis dieses Umstandes das Urteil beeinflussen. Es müssen daher im Wechsel mit den Hauptversuchen Vexirversuche angewandt werden, in denen nur ein Eindruck stattfindet, und die bei der Berechnung der Resultate hinwegbleiben 8).

6) E. H. Weber, prolectio VIII. p. 8. Czermak, Wiener Sitzungsber. Bd. 17. 1855. S. 882.
7) Vgl. Kap. VIII.

8) In der hier angegebenen Weise ist die Methode der richtigen und falschen Fälle ebenfalls von Kottenkamp und ULLRICH benutzt worden. (Zeitschr. f. Biologie VI. 41 f.)

Wir lassen einen Auszug aus der von weber aus seinen Versuchen mitgeteilten Tabelle hier folgen. Die Zahlen bezeichnen die Distanzen zweier Zirkelspitzen, die eben unterschieden wurden, in Millimetern9).

9) E. H. Weber, annotationes anatom. VII. p. 4 sq. Art. Tastsinn S. 539. Von Weber sind die Resultate in Pariser Linien mitgeteilt; sie sind oben in Millim. umgerechnet und, wie bei Weber, abgerundet.

Zungenspitze........................................................................................ 1
Volarseite des letzten Fingerglieds ........................................................ 2
Roter Rand der Lippen .......................................................................... 8
Volarseite des 2ten, Dorsalseite des 3ten Fingerglieds ............................ 7
Nicht roter Teil der Lippen, Metacarpus des Daumens ............................. 9
Wange, Plantarseite des letzten Glieds der großen Zehe ....................... 11
Rückenseite des 1sten Fingerglieds, Plantarseite des Mittel-
fußknochens der großen Zehe ............................................................. 16
Haut am hinteren Teil des Jochbeins, Stirn ........................................... 23
Handrücken ....................................................................................... 31
Kniescheibe und Umgegend ................................................................ 36
Kreuzbein, oberer und unterer Teil des Unterschenkels .......................... 40
Fußrücken, Nacken, Lenden- und untere Brustgegend . ......................... 54
Mitte des Rückens, Mitte des Oberarms und Oberschenkels .................. 68

    E. H. Weber hat jeden Hautbezirk, innerhalb dessen eine räumliche Scheidung verschiedener Eindrücke nicht mehr möglich ist, einen Empfindungskreis genannt. Die ganze Oberfläche der Haut kann man sich nun aus einer Menge solcher Empfindungskreise bestehend denken, deren Größe entsprechend der extensiven Reizschwelle an den verschiedenen Stellen der menschlichen Haut etwa zwischen einem und 68 Millimetern variiert. Doch darf man sich die Anordnung derselben nicht etwa so denken, daß sie einander einfach juxtaponiert seien. Denn in diesem Fall wären zwei Eindrücke, die an der Grenze zweier Kreise einwirkten, noch in großer Nähe zu unterscheiden; zwei Eindrücke aber, die an die entferntesten Enden eines und desselben Kreises fielen, würden trotz der viel größeren Entfernung verschmelzen. Solche sprungweise Änderungen in der Fähigkeit der räumlichen Unterscheidung werden jedoch nicht beobachtet, sondern diese bleibt innerhalb eines gegebenen Hautbezirks im allgemeinen konstant. Man muß daher annehmen, die einzelnen Empfindungskreise griffen dergestalt über einander, daß unendlich nahe der Grenzlinie eines ersten Kreises bereits die eines zweiten liege, u. s. w. (Fig. 100). Nun werden zwei Eindrücke allgemein so lange einfach empfunden werden, als die Distanz ab, die sie trennt, innerhalb eines Empfindungskreises gelegen ist. Sie werden dagegen von einander unterschieden werden, sobald sie um einen Zwischenraum ac von einander entfernt sind, der nicht mehr innerhalb eines einzigen Kreises Platz hat. Nicht an allen Stellen der Haut kann man den Empfindungskreisen eine wirklich kreisförmige Gestalt zuschreiben. Meistens sogar ist die Unterscheidungsfähigkeit in longitudinaler und querer Richtung verschieden, und zwar in der letzteren feiner als in der ersteren10). Hier müssen also Flächenstücke von längsovaler Form angenommen werden. Alle diese Bezirke, welche Gestalt sie auch besitzen mögen, greifen aber, ähnlich wie dies in Fig. 100 für die horizontale Richtung dargestellt ist, in allen Richtungen über einander, so daß die Distanz von jedem Grenzpunkt eines Bezirks zum Grenzpunkt eines nächsten gegen die Größe der Bezirke selber verschwindet.

10) WEBER, annotationes anat. Prol. VII.

    Der Begriff des Empfindungskreises, wie er hier aufgestellt worden, ist bloß ein anderer Ausdruck für die Tatsache der räumlichen Schwelle und ihrer Größenverschiedenheiten; über die in der Haut getroffenen Einrichtungen wird durch denselben noch gar nichts festgestellt. Ehe dies geschehen kann, müssen die verschiedenen Einflüsse erwogen sein, von denen die Ausdehnung der Empfindungskreise abhängt. Von diesen Einflüssen weisen aber die einen auf in der Organisation gegebene unveränderliche Strukturbedingungen, die andern auf die Mitwirkung mehr variabler psychologischer Momente hin. Die Strukturbedingungen für sich scheinen eine feste Verteilung und Abgrenzung der Empfindungskreise zu fordern, die psychologischen Einflüsse dagegen suchen diese Anordnung fortwährend zu verschieben. In Wirklichkeit sind daher die Empfindungskreise nichts unveränderliches, aber ihre Veränderungen sind doch, vermöge der einmal gegebenen Organisationsverhältnisse, in gewisse, ziemlich enge Grenzen eingeschlossen.
    Unter den Strukturbedingungen stehen die Verhältnisse der Nervenverteilung oben an. Je reicher ein Hautbezirk an sensibeln Nerven ist, die sich in ihm ausbreiten, um so feiner ist in ihm die Unterscheidung. Hauptsächlich die nervenreichsten Teile sind außerdem mit Tastkörperchen und Endkolben versehen, jenen Polsterapparaten, durch welche die Nerven den Druckreizen leichter zugänglich gemacht zu sein scheinen11). Doch läßt sich zwischen diesen Endgebilden und der Feinheit der Lokalisation eine bestimmtere Beziehung nicht auffinden, da nicht nur Hautteile, welche derselben ganz entbehren, trotzdem zur räumlichen Unterscheidung befähigt sind, sondern da außerdem das Übereinandergreifen der Empfindungskreise, wie es notwendig vorausgesetzt werden muß, mit der Annahme von Tastorganen, welche einfach in gewissen Zwischenräumen neben einander gestellt wären, nicht vereinbar scheint. Auch die Verhältnisse der räumlichen Ordnung der Tastempfindungen weisen daher auf die Vorstellung hin, daß hier die Nervenfasern selber die auf sie einwirkenden Druck- und Wärmereize empfinden12). Die übrigen Strukturverhältnisse der Haut, welche die Empfindlichkeit derselben wesentlich bestimmen, wie namentlich die Dicke der Oberhaut, üben auf die Feinheit der Lokalisation keinen direkten Einfluß aus. Hautstellen, welche, wie Rücken und Wangen, wegen der Zartheit ihrer Oberhaut gegen schwache Reize sehr empfindlich sind, besitzen Empfindungskreise von bedeutender Größe. Als unmittelbare Folge der Abhängigkeit von der Nervenverteilung ist aber jedenfalls der Einfluß des Körperwachstums auf die Feinheit der Lokalisation zu betrachten. Bei Kindern sind, wie czermak gefunden hat, die Empfindungskreise viel kleiner als bei Erwachsenen. Da nun die ganze Zahl der Nervenfasern während des Wachstums wahrscheinlich nicht oder wenigstens nicht erheblich sich ändert, so muß, je mehr durch das Wachstum die Körperoberfläche zunimmt, der einer gegebenen Zahl von Fasern entsprechende Hautbezirk vergrößert werden. Es muß ungefähr der nämliche Erfolg eintreten, den man bei der Dehnung der Haut, z. B. in der Schwangerschaft oder beim Druck von Geschwülsten, beobachtet: auch in den letzteren Fällen vermindert sich aber die Feinheit der Ortsunterscheidung13). Die Vergrößerung der Empfindungskreise während des Wachstums läßt sich demnach als eine einfache Folge der dabei stattfindenden Ausdehnung der Hautoberfläche betrachten14). Auch die oben hervorgehobene Beobachtung, daß an den meisten Stellen des Körpers die in querer Richtung stattfindenden Eindrücke deutlicher als in longitudinaler unterschieden werden, dürfte auf dieselbe Ursache zu beziehen sein. Fast an allen Teilen des menschlichen Körpers, namentlich aber am Rumpf und den Extremitäten, überwiegt nämlich das Längenwachstum die Zunahme in den anderen Durchmessern 15). Stellen wir uns demnach vor, die Empfindungsbezirke seien ursprünglich wirkliche Kreise, so müssen dieselben in Folge des Wachstums in eine längsovale Form übergehen.

11) Vergl. Kap. IX.
12) Vergl. Kap. IX..

13) Czermak, Wiener Sitzungsber. Bd. 15. 1855. S. 466, 487. Es ist jedoch möglich, daß in diesen letzteren Fällen, namentlich wenn die Dehnung der Haut ziemlich rasch erfolgt, auch die fortwährend mit Empfindung verbundene Zerrung die Lokalisation beeinträchtigt.

14) CZERMAK selbst hat den Zweifel angeregt, ob nicht noch andere Einflüsse während des Wachstums im selben Sinne wirksam seien. Als er nämlich seine eigenen Beobachtungen an Kindern mit Weber's Messungen an Erwachsenen verglich, fand er die Zunahme der Empfindungskreise viel größer, als durch die bloße Zunahme der Hautoberfläche zu erklären war. Aber hierbei ist zu berücksichtigen, daß bei der Feststellung solcher Werte wie eben merklicher Empfindungs- oder Distanzunterschiede die Gewohnheit des Beobachters sehr in Betracht kommt, so daß die Resultate zweier Beobachter nicht unmittelbar zu vergleichen sind, namentlich dann nicht, wenn der Erste (Weber) die Versuche vorzugsweise an sich selber, der Zweite (CZERMAK) an anderen Individuen angestellt hat. In der Tat hat nun auch Czermak bei späteren Versuchen an Erwachsenen durchschnittlich kleinere Werte als weber erhalten. (MOLESCHOTT's Untersuchungen. I. S. 202.)

15) Vergl. die Tabellen bei HARLESS, Lehrbuch der plastischen Anatomie. Abteilung III. S. 192 f.

    Gegenüber diesen im allgemeinen gleichförmigen Organisationsbedingungen machen sich nun in mehr veränderlicher Weise andere Einflüsse geltend, die auf eine Mitwirkung psychologischer Faktoren hinweisen. Zunächst kommt hier, noch teilweise hinüberreichend in das Gebiet physiologischer Vorbedingungen, der Einfluß der Bewegungen in Betracht. Je vielseitiger und feiner die Bewegung eines Körperteils ist, um so genauer geschieht die Lokalisation. Diese ist daher am unvollkommensten auf jenen großen Flächen des Rumpfes, die keine Bewegung der Teile gegen einander zulassen, und unter den Abteilungen der Extremitäten an den längsten, dem Oberschenkel und Oberarm; sie ist am feinsten an den außerordentlich beweglichen Finger- und Zehengliedern, und zwar an der Volarfläche, die vorzugsweise bei den Bewegungen zum Betasten der Gegenstände benutzt wird. Schon dieser letzterwähnte Punkt weist aber auf Miteinflüsse hin, die es sehr unwahrscheinlich machen, daß zwischen der Beweglichkeit der Teile und der Feinheit der Ortsunterscheidung, abgesehen von dieser allgemeinen Abhängigkeit, irgend eine festere Beziehung aufzufinden sei16). Dagegen beruht es wohl auf derselben Ursache, daß, wenn man zwei gegen einander bewegliche Körperteile, z. B. die beiden Lippen oder die Haut an den beiden Grenzen eines Gelenkes, berührt, eine sehr kleine Distanz noch erkannt werden kann17).

16) Vierordt hat geglaubt eine solche Beziehung nachweisen zu können, die nach ihm zu dem Gesetz formuliert werden kann, daß die Feinheit der Ortsunterscheidung proportional sei dem mittleren Abstand eines Hautbezirks von der Drehungsachse, um welche der betreffende Körperteil bewegt wird (PFLÜGER's Archiv II. S. 297). Am meisten scheinen die Verhältnisse an der oberen Extremität dieser Regel zu entsprechen (Zeitschrift f. Biologie VI. S. 53). Hier zeigen nach den von Kottenkamp und ULLRICH ausgeführten Versuchen die einzelnen Abteilungen, Oberarm, Vorderarm, Hand, Finger, in der Richtung von der Schulter gegen die Fingerspitze eine ununterbrochene Zunahme in der Feinheit der Unterscheidung; aber diese erfährt außerdem an jeder weiteren Gelenkachse, Ellbogen, Hand- und Fingergelenken, eine plötzliche Zunahme. Ferner sind an der Beugeseite des Glieds, vermutlich wegen der mannigfachen beim Tasten stattfindenden Miteinflüsse, die Beziehungen zwischen der Bewegungsgröße der Teile und der Genauigkeit ihrer Lokalisation weniger deutlich. An der unteren Extremität endlich kamen VIERORDT und Paulus (Zeitschr. f. Biologie VII. S. 237) zu Resultaten, die überhaupt mit dem erwähnten Satze nicht mehr vereinbar sind. Am Oberschenkel nimmt die Feinheit der Lokalisation gegen das Knie hin zu: am Unterschenkel sinkt sie vom Knie bis zur Mitte, um gegen den Fuß abermals anzusteigen. Am Fuß wächst die Unterscheidungsfähigkeit wieder mit der Annäherung an die Zehen.

17) Weber, annot. anat. Prolectio X. p. 7.

    Mit der Bewegung hängt der Einfluß der Übung so nahe zusammen, daß beide kaum von einander zu sondern sind. Denn die Übung wird hauptsächlich durch fortwährende Tastbewegungen gefördert, und unbewegliche Teile sind der Übung fast ganz unzugänglich. So beobachtet man denn auch, daß bei Blinden, deren Unterscheidung mittelst der Haut oft außerordentlich fein ist, doch hauptsächlich die beweglicheren tastenden Glieder an dieser Vervollkommnung teilnehmen; auch wird bei ihnen stets durch prüfende Tastbewegungen der Gefühlssinn unterstützt18). Besonders schlagend bezeugen die Entwicklungsfähigkeit des Tastsinnes die seltenen Fälle der Blindgeborenen oder in frühester Lebenszeit Erblindeten. Hier, wo die räumliche Anschauung vollständig in den Tast- und Bewegungsvorstellungen aufgeht, wo zuweilen, wie in dem Fall der Laura Bridgeman und anderer blinder Taubstummer, noch andere Sinnesmängel sich hinzugesellen, so daß die sinnliche Auffassung fast ganz dem allgemeinen Gefühlssinne zufällt, kann sich dennoch ein verhältnismäßig reiches Vorstellungsleben entwickeln, das sich neue und eigentümliche Mittel des Ausdrucks schafft. Von der Form, in der solchen Unglücklichen die Welt erscheint, kann sich der Mensch, der im Vollbesitz seiner Sinne steht, freilich kaum ein anschauliches Bild machen19).

18) Czermak, Wiener Sitzungsber. Bd. 15. S. 482. GOLTZ, de spatii sensu cutis. Dissert. Königsberg 1858.

19) Laura Bridgeman, taubstumm geboren, erblindete zu Ende ihres zweiten Lebensjahres und verlor bald darauf in Folge einer Eiterung Geruch und Geschmack fast ganz. In einer Blindenanstalt erzogen, erwarb sie sich nach den Berichten ihrer Lehrer und Besucher eine feine Bildung und die verschiedenarligsten Kenntnisse, in denen sie bei hervorragender Begabung und hoher Wißbegierde rasche Forlschritte machte. Obgleich sie, in dem Blindenasyl zu Massachusetts erzogen, die Wortsprache erlernte, so dachte und träumte sie doch nach der Mitteilung ihres Erziehers Dr. Howe fortwährend in der Fingersprache. Man vergleiche über diesen und ähnliche Fälle bei Urdach, Blicke in's Leben III, S. 12 f., sowie die ebend. S. 30 angeführte Literatur.

    Entsprechend dem Einflusse der Übung ist die Größe der Empfindungskreise, bei völlig konstant erhaltenen Wachstums- und sonstigen Organisationsbedingungen, keine unveränderliche. Das Tastorgan fast aller Menschen befindet sich in einem Zustande, in welchem die Genauigkeit der Lokalisation durch Übung geschärft werden kann. Aber diese Fähigkeit der Weiterentwicklung ist wieder an den einzelnen Hautstellen eine verschiedene. Je größer die bereits erworbene Vollkommenheit ist, um so weniger ist eine weitere Vervollkommnung möglich. So fand volkmann, daß an der von Natur wenig geübten Haut des Ober- und Unterarms der Erfolg der absichtlichen Übung weit bedeutender war als an der Volarseite der Fingerglieder. Auch bei verschiedenen Individuen wechselt der Einfluß der Übung sowie die Geschwindigkeit, mit der sie sich geltend macht. Doch ist meist schon nach Versuchen von wenigen Stunden ein Grenzpunkt erreicht, der, wie es scheint, nicht mehr überschritten wird, weil die Vorteile der Übung fast ebenso schnell wieder verloren gehen, als sie entstanden sind20). Auch wirkt, wenn man die Beobachtungen lange Zeit fortsetzt, die Ermüdung, die zum Teil in einer physiologischen Abstumpfung des Tastorgans, namentlich aber in der Abnahme der Aufmerksamkeit zu bestehen pflegt, den Einflüssen der Übung entgegen21). Übrigens wirkt die letztere, wie volkmann fand, nicht nur auf die direkt von den Tastreizen getroffene Hautstelle, sondern immer auch gleichzeitig auf die symmetrische Stelle der andern Körperhälfte, welche in völlig gleichem Maße an dem Erfolg Teil nimmt, während sich dagegen auf asymmetrische Teile beider Seiten oder auf verschiedenartige einer Seite nur in sehr geringem Maße dieser Einfluß erstreckt; am meisten ist ein solcher noch an benachbarten Stellen zu erkennen. So gewinnen z. B. durch die Übung eines Fingers auch die andern Finger der nämlichen Seite.

20) Volkmann, Sitzungsberichte der Leipziger Gesellsch. 1858. S. 38 f.
21) WUNDT, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, S. 37 f.

    Mit den Wirkungen der Übung stehen endlich jene Einflüsse in nahem Zusammenhange, welche die veränderte Erregbarkeit der sensibeln Nerven, mag eine solche nun in dem peripherischen Verbreitungsgebiet oder innerhalb der zentralen Leitungsbahnen stattfinden, ausübt. Eine verminderte Empfindlichkeit der Haut, wie sie bei einem Druck auf die Hautnerven, z. B. beim sogenannten Eingeschlafensein der Glieder, oder bei der lokalen Anwendung anästhetischer Mittel, Äther, Chloroform u. s. w., beobachtet wird, ist stets mit einer Abstumpfung der Unterscheidungsfähigkeit verbunden. Dasselbe beobachtet man bei Rückenmarks- und Hirnaffektionen, welche teilweise Anästhesie der Haut im Gefolge haben22). Bei mäßiger Abnahme der Empfindlichkeit besitzen nur die Empfindungskreise einen größeren Umfang als im normalen Zustand, bei höheren Graden der Anästhesie finden meistens zugleich mehr oder weniger bedeutende Täuschungen über den Ort der Berührung statt. Namentlich beobachtet man, daß Eindrücke, die eine krankhaft unempfindliche Hautstelle treffen, an einen Ort verlegt werden, der im gesunden Zustand von geringerer Empfindlichkeit ist. Ein Patient z. B., der an Anästhesie der unteren Extremitäten leidet, kann Eindrücke auf den Unterschenkel oder Fuß an den Oberschenkel verlegen, u. dgl.23).

22) BROWN-SÉQUARD hat in mehreren Fällen von Hyperästhesie, namentlich bei Herderkrankungen in den Hirnschenkeln und im Pons, gefunden, daß die Patienten geneigt waren, die Eindrücke zu vervielfältigen, also z. B. drei statt zwei Berührungen zu empfinden (Archives de physiol. I, p. 461). Ich habe die nämliche Erscheinung auch bei Hyperästhesie in Folge von Rückenmarkserkrankungen sowie bei einem Patienten nach der Darreichung kleiner Dosen von Strychnin beobachtet. Sie beruht vermutlich darauf, daß solche Kranke leicht ihre subjektiven Empfindungen mit dem äußeren Eindruck vermengen. Daraus mit BROWN-SÉQUARD auf eine Neubildung zentraler Ganglienzellen zu schließen, ist denn doch eine allzu kühne Vermutung. Übrigens fanden KOTTENKAMP und ULLRICH bei Vexirversuchen, daß auch normale Individuen zuweilen zwei Eindrücke statt eines zu fühlen glauben.

23) Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, S. 47.

    Für die Erklärung der Tastvorstellungen bietet sich ein doppelter Ausgangspunkt. Man kann entweder auf die ursprünglichen Einrichtungen das Hauptgewicht legen, wie sie sich in dem Einfluß des Nervenreichtums und der Wachstumsverhältnisse der Haut zu erkennen geben. Oder man kann vorzugsweise die Bewegung der Teile, die Übung und die Abstumpfung der Empfindlichkeit, Einflüsse, welche die räumliche Unterscheidung als eine mehr variable, von psychologischen Motiven abhängige Funktion erscheinen lassen, berücksichtigen. Der erste Standpunkt führt zu der Ansicht, daß die Ordnung der Tastempfindungen in den beständigen Einrichtungen der Organisation ihren Grund habe, womit sich dann leicht die Auffassung verbindet, sie sei mit dieser Organisation ursprünglich gegeben, also angeboren. Man hat daher diese Theorie als die nativistische bezeichnet24). Der zweite Standpunkt führt zu der Annahme einer psychologischen Entwicklung, wir wollen diese Ansicht im allgemeinen die genetische nennen. Wird bei der letzteren der Einfluß der Übung besonders betont, so führt dies leicht dahin, die Tastvorstellung als ein Produkt der Erfahrung zu betrachten. So gelangt man zur gewöhnlichen Form der genetischen Theorie, der empiristischen. Nach der nativistischen Ansicht sind die Empfindungskreise in den anatomischen Einrichtungen des Tastorgans unveränderlich begründet. Jedem Empfindungskreis entspricht, so wird in der Regel angenommen, eine einzige Nervenfaser, welche als solche ein einziges Raumelement im Sensorium repräsentiert. Nach der empiristischen Theorie stehen die Empfindungskreise in gar keiner direkten Beziehung zur physiologischen Organisation, sondern sie sind nur ein Ausdruck für die jeweils vorhandene Feinheit der räumlichen Unterscheidung, welche lediglich durch die Erfahrung bestimmt wird. Mit der durch die letztere gewonnenen Ausbildung wechselt daher der Durchmesser der Empfindungskreise.

24) Helmholtz, physiol. Optik, S. 435.

    Aber keine dieser beiden Ansichten ist ausreichend. Der Nativismus hat Recht, wenn er bestimmte ursprüngliche Einrichtungen für unerläßlich hält; wir wären genötigt sie vorauszusetzen, selbst wenn die Einflüsse der Strukturbedingungen, die auf sie hindeuten, nicht nachgewiesen wären. Ebenso läßt sich geltend machen, daß alle Schwankungen durch Erfahrungseinflüsse sich innerhalb ziemlich enger Schranken bewegen, und daß die Feinheit der Lokalisation durch noch so viel Erfahrung und Übung nicht über eine gewisse Grenze hinaus geschärft werden kann, welche, da sie für die verschiedenen Stellen des Tastorgans variabel ist, doch wohl in Bedingungen der physischen Organisation ihre Ursache haben wird. Aber es ist ein übereilter Schluß, wenn der Nativismus, weil jene Bedingungen angeborene sind, nun auch die räumliche Tastvorstellung selbst für ursprünglich ansieht. Dem Empirismus hinwiederum kann nicht widersprochen werden, wenn er der Erfahrung einen maßgebenden Einfluß zuschreibt. Aber damit ist nicht bewiesen, daß die Tastvorstellung selbst aus der Erfahrung entspringt. Denn Erfahrung und Übung können erst ihre Hebel ansetzen, wenn eine räumliche Vorstellung schon gegeben ist. Will man endlich zwischen beiden Ansichten so vermitteln, daß man zwar eine bestimmte Lokalisation für ursprünglich gegeben hält, dann aber der Erfahrung einen verändernden Einfluß zugesteht, so ist der Fehler des Nativismus, mit der physiologischen Bedingung auch ihre psychologische Folgeerscheinung gesetzt zu haben, nicht vermieden, und es ist außerdem der neue Fehler begangen, daß man eine fest gegebene Raumvorstellung annimmt und dieselbe doch für bestimmbar durch Erfahrungseinflüsse ansieht. Nimmt man aber seine Zuflucht zu einer völlig unbestimmten Lokalisation, die ihre Beziehung auf den wirklichen Raum erst von der Erfahrung erwartet, so steht dies im Widerspruch mit dem Begriff der Lokalisation als der Beziehung auf einen bestimmten Ort im Raume. Hierdurch werden wir von selbst auf den entscheidenden Punkt hingeführt, welchen Nativismus und Empirismus beide verfehlen. Die Theorie der Tastvorstellungen hat zu erklären, wie aus den gegebenen Organisationsbedingungen die räumliche Ordnung der Tastempfindungen nach psychologischen Gesetzen entsteht. Durch diese Form der genetischen Theorie haben einerseits die Einflüsse der Struktur ihr Recht erhalten, und ist anderseits die Grundlage gegeben, auf welcher Erfahrung und Übung weiter bauen können.
    Alle Beobachtungen weisen uns nun auf die Bewegung als den für die Tastwahrnehmung neben den Gefühlsempfindungen der Haut nächst wesentlichen Faktor hin. Schon die Sprache begreift unter dem Ausdruck des Tastens zugleich die Bewegung der empfindenden Teile. Nach der Beweglichkeit der letzteren richtet sich durchweg die Feinheit der Lokalisation. Fehler derselben werden mittelst tastender Bewegungen verbessert; Entfernungen, die das ruhende Tastorgan nicht erkennt, werden mit dem bewegten deutlich aufgefaßt; bei der Übung endlich kommt den Bewegungen eine wichtige Rolle zu. Als Zeugnis für die selbständige Entwicklung des Tastorgans mittelst seiner Bewegungen ist es außerdem wichtig, daß die Wahrnehmung der tastenden oder betasteten Hautstellen durch das Gesicht auf die Feinheit der Unterscheidung keinen merkbaren Einfluß übt, denn an jenen Hautstellen, welche gesehen werden können, sind die Empfindungskreise im allgemeinen nicht kleiner als an denjenigen, welche dem Auge verborgen sind 25).

25) E. H. Weber, annotat. anat. Prol. X. p. 5.

    Ihren Einfluß auf die Tastvorstellungen können die Bewegungen nur mittelst der an die motorische Innervation geknüpften Empfindungen ausüben. Mit den Tastempfindungen können nun die Innervationsgefühle in dreifacher Weise kombiniert sein. Erstens werden sich, indem wir unser Tastorgan an den Gegenständen hinbewegen und so sukzessiv von einander entfernte Punkte berühren, mit einer und derselben Tastempfindung Innervationsgefühle verschiedenen Grades verbinden. Zweitens können wir unser eigenes Tastorgan betasten, wo Bewegungs- und Tastempfindung im allgemeinen auf verschiedene Teile fallen; und drittens entstehen beide Empfindungen im Vereine, wenn wir einfach unsere Glieder bewegen, in Folge der von den letzteren auf einander ausgeübten Dehnungen und Pressungen. Es läßt sich vermuten, daß diese dritte Verbindung vorzugsweise für die erste Ausbildung der Vorstellungen, die erste für die weitere Vervollkommnung der räumlichen Unterscheidungen von Bedeutung sein wird. Mehr zurücktreten dürfte die zweite, da bei der wechselseitigen Betastung der Glieder am wenigsten zur Bildung eines konstanten Zusammenhanges beider Empfindungen Veranlassung gegeben ist, indem wir bei einer und derselben Muskelanstrengung sehr verschiedene Teile unseres Körpers tastend berühren können. Am innigsten ist offenbar die Verbindung derjenigen Empfindungen, welche sich bei der Bewegung begleiten. Mit der Bewegung irgend eines Körperteils sind die von den Pressungen der Gewebe herrührenden Tastempfindungen desselben Teils unabänderlich verknüpft, und die Stärkegrade der Bewegungs- und Tastempfindung stehen hierbei in konstantem Verhältnis. So geht denn aus dieser Kombination wahrscheinlich die ursprünglichste räumliche Auffassung hervor, die Unterscheidung unserer Körperteile in Bezug auf ihre Lage im Raume. Je größer die Beweglichkeit der Teile gegen einander ist, um so schärfer werden dieselben von einander gesondert werden können. Hiermit ist für die durchgängige Abhängigkeit der Feinheit räumlicher Unterscheidung von der Beweglichkeit der Organe wenigstens die erste Grundlage gegeben.
    Die Unterschiede der Tastempfindung, an welchen die einzelnen tastenden Körperteile erkannt werden können, sind zweifellos qualitativer Art. Wenn wir unsern Arm bewegen, so ist, auch bei gleicher Bewegungsanstrengung, die Empfindung eine qualitativ andere, als wenn wir unsern Fuß oder unsern Kopf bewegen. Wir sind allerdings nicht im Stande, über die hier vorliegenden Differenzen uns bestimmte Rechenschaft zu gehen, da wir sie eben lediglich zur örtlichen Unterscheidung benutzen und darüber das Motiv, das zu derselben geführt hat, vernachlässigen. Aber wenn die Tastempfindung der einzelnen Teile nicht gewisse Unterschiede darböte, so wäre nicht abzusehen, wie wir zu jener Unterscheidung jemals gelangen sollten. Auch spricht die Erfahrung, daß bei aufgehobener Sensibilität der Haut die Vorstellung von der Lage unserer Glieder im Raume erheblich beeinträchtigt ist26), für den Einfluß der Tastempfindungen und gegen denjenigen der Innervationsgefühle, die vermöge ihres zentralen Ursprungs wahrscheinlich solche Unterschiede ausschließen, wie sie an die peripherischen Hautstellen wegen ihrer wechselnden Strukturbedingungen gebunden sind. Wir werden also darauf geführt, eine lokale Färbung der Tastempfindungen vorauszusetzen, welche sich über die ganze Hautoberflache stetig verändert, und welche in ihrer Verschiedenheit das Motiv zur ersten Unterscheidung der tastenden Glieder mit sich führt. Die einer jeden Hautstelle zukommende lokale Färbung nennen wir, einen von LOTZE27) in allgemeinerem Sinne eingeführten Ausdruck benutzend, das Lokalzeichen derselben. Wir nehmen also an, daß jeder Hautstelle ein bestimmtes Lokalzeichen zukommt, welches in einer vom Ort des Eindrucks abhängigen Qualität der Empfindung besteht, die zu der durch die wechselnde Beschaffenheit des äußern Eindrucks bedingten Qualität und Intensität der Empfindung hinzutritt. Die Qualität des Lokalzeichens ändert sich stetig von einem Punkt der Hautoberfläche zum andern, so aber, daß wir erst in gewissen größeren Abständen die Verschiedenheit auffassen können. Mit der Stärke des äußern Eindrucks nimmt bis zu einer gewissen Grenze die Deutlichkeit des Lokalzeichens zu, da wir sehr schwache Eindrücke unvollkommener lokalisieren als solche von etwas größerer Stärke28). Mit der Annäherung an die Schmerzgrenze scheint seine Deutlichkeit abermals abzunehmen, denn den Schmerz beziehen wir wieder unvollkommener als Reize von mäßiger Intensität auf einen Ort, offenbar weil auch das Lokalzeichen in der qualitativen Einförmigkeit der Schmerzempfindung aufgeht. Die Lokalzeichen werden zunächst an die Tastempfindungen der Hautoberfläche gebunden sein; doch mögen auch die unter der Haut gelegenen von sensibeln Nerven versorgten Weichteile sich an denselben beteiligen. Die Geschwindigkeit, mit welcher sich diese Zeichen an den verschiedenen Stellen des Körpers ändern, ist jedenfalls eine sehr wechselnde. Die Größe der Empfindungskreise gibt hierfür einen gewissen Maßstab. Wegen der meist längsovalen Gestalt dieser Bezirke werden sich in der Regel die Lokalzeichen in der Längenrichtung der Teile langsamer als in der queren Richtung verändern, und im übrigen wird zwar die Geschwindigkeit ihrer Abstufung außerordentlich variieren, doch wahrscheinlich nicht in so hohem Grade, als die gewöhnlichen Unterschiede im Durchmesser der Empfindungskreise erwarten lassen, da diese Unterschiede durch die Übung zum Teil ausgeglichen werden. Schließlich wird vorauszusetzen sein, daß für symmetrische Stellen beider Körperhälften die Lokalzeichen zwar sehr ähnlich, aber nicht identisch sind. Für ihre Ähnlichkeit sprechen, abgesehen von der Erwägung, daß übereinstimmende Strukturverhältnisse des Tastorgans auch eine übereinstimmende Beschaffenheit der Empfindung mit sich führen müssen, namentlich die Beobachtungen über die unwillkürliche Mitübung der korrespondierenden Teile einer Seite, wenn die andere durch Übung vervollkommnet wurde. Ebenso werden auf derselben Seite für Teile von analoger Struktur, z. B. für je zwei Finger, wo gleichfalls in einem gewissen Grade Mitübung stattfindet, die Lokalzeichen ähnlich sein. Daß aber bei allem dem eine gewisse Verschiedenheit der letzteren in symmetrischen und verwandten Teilen besteht, schließen wir teils aus der tatsächlichen Unterscheidung derselben, teils aus den Differenzen der Struktur, die bei noch so großer Ähnlichkeit immerhin vorkommen. Namentlich dürfte in dieser Beziehung ins Gewicht fallen, daß durch die ungleiche Ausbildung und Übung der Muskeln beider Körperhälften sich in den Lokalzeichen der tieferen Teile erheblichere Unterschiede entwickeln werden.

26) Vergl. Kap. V.
27) Medizinische Psychologie, S. 331.
28) WUNDT, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, S. 41.

    Die aus der eigenen Bewegung entsprungene räumliche Unterscheidung muß in Folge der Betastung äußerer Objekte wesentlich vervollkommnet werden. Hier wirken die Lokalzeichen und die bei der Bewegung entstehenden Empfindungen zusammen, um die Raumverhältnisse der Gegenstände festzustellen. Es können daher Täuschungen über die Beschaffenheit derselben entstehen, sobald wir den Tastorganen ein ungewohntes Lageverhältnis geben. Wenn man z. B. Mittel- und Zeigefinger kreuzt und dann mit deren einander zugekehrten Flächen eine kleine Kugel berührt, so glaubt man zwei Kugeln zu fühlen. Hierbei sind wir uns zwar der gekreuzten Lage der Finger bewußt. Aber da wir diese Lage bei der gewöhnlichen Betastung der Objekte niemals wählen, so wissen wir mit derselben die Tastempfindungen nicht in Einklang zu bringen und legen nun die letzteren so aus, wie es der normalen Stellung der tastenden Finger entsprechen würde29).

29) E. H. Weber, Art. Tastsinn. S. 542.

    Nach allgemeinen psychologischen Gesetzen verschmelzen verschiedene Empfindungen, die häufig verbunden gewesen sind, dergestalt mit einander, daß in solchen Fällen, wo nur ein Teil derselben unmittelbar durch äußere oder innere Reize wachgerufen wird, doch auch die andern durch Reproduktion sich hinzugesellen; nur besitzen diese reproduzierten Bestandteile meistens eine geringere Stärke30). Diese Regel findet auch auf unsere Tastorgane ihre Anwendung. Hier verschmelzen die Tastempfindungen und Innervationsgefühle zu untrennbaren Bestandteilen. Indem wir unsern Arm bewegen wollen, gesellt sich, noch bevor die Bewegung wirklich ausgeführt wird, zu dem Innervationsgefühl schon das blasse Reproduktionsbild der Tastempfindungen, welche die Bewegung begleiten werden. So kommt es, daß unmittelbar mit der motorischen Innervation sich die Vorstellung des bewegten Körperteils und sogar eine unbestimmte Vorstellung der Bewegung, welche derselbe ausführen wird, verbindet. Wir kennen in der Tat weder Tastempfindungen noch Innervationsgefühle in ihrem vollkommen isolierten Bestehen. Wo die einen oder andern für sich sind, da werden sie immer durch Reproduktion zu einem Empfindungskomplexe ergänzt, der die räumliche Anschauung bereits mit sich führt. Daran kann also nie gedacht werden, die Elemente dieser Anschauung in ihrer ursprünglichen Natur zu beobachten.

30) Vergl. Kap. XV u. XIX.

    Die Lokalzeichen des Tastsinns bilden ein Kontinuum von zwei Dimensionen, welches damit die Möglichkeit enthält, die Vorstellung einer Fläche zu entwickeln. Aber das Kontinuum der Lokalzeichen enthält an und für sich noch nichts von der Raumvorstellung. Wir nehmen daher an, daß diese erst durch die Rückbeziehung auf das einfache Kontinuum der lnnervationsgefühle entsteht. Die letzteren in ihrer bloß intensiven Abstufung geben für die beiden Dimensionen der Lokalzeichen ein gleichförmiges Maß ab und vermitteln so die Anschauung einer stetigen Mannigfaltigkeit, deren Dimensionen einander gleichartig sind. Die Form der Fläche, in welche die Lokalzeichen geordnet werden, ist zunächst völlig unbestimmt. Sie wechselt mit der Form der betasteten Oberfläche. Durch die Bewegungsgesetze der Gliedmassen sind aber solche Lageänderungen bevorzugt, bei welchen sich das Tastorgan geradlinig den Gegenständen entgegen oder an ihnen hinbewegt. Indem so die Gerade zum bestimmenden Element des Tastraumes wird, erhält der letztere die Form eines ebenen Raumes, in welchem die in ihrer Krümmung wechselnden Flächen, die wir durch Betastung wahrnehmen, auf drei Dimensionen zurückgeführt werden müssen 31).

31) Vergl. hierzu Kap. XVI.

    Die eigentümliche Verbindung peripherischer Sinnesempfindungen und zentraler Innervationsgefühle, welche hier die räumliche Ordnung der ersteren hervorbringt, wollen wir als eine psychische Synthese bezeichnen. Denn die herkömmlichen Bedeutungen des Begriffs der Synthese enthalten meistens die Beziehung auf neue Eigenschaften eines Produktes, die in seinen Bestandteilen noch nicht vorhanden waren. Wie im synthetischen Urteil dem Subjekt ein neues Prädikat beigelegt wird, und wie bei der chemischen Synthese aus gewissen Elementen eine Verbindung mit neuen Eigenschaften entsteht: so liefert auch die psychische Synthese als neues Produkt die räumliche Ordnung der in sie eingehenden Empfindungen. Diejenigen Bestandteile der Empfindungen, aus denen diese Ordnung entspringt, lassen daher erst durch eine psychologische Analyse sich nachweisen. Die letztere kann aber auf die Elemente der räumlichen Vorstellung, da dieselben, wie oben bemerkt, nie isoliert vorkommen, nur aus den Veränderungen zurückschließen, welche die Empfindungskomplexe, deren Bestandteile sie bilden, unter verschiedenen Bedingungen erfahren. Nach dieser Methode ausgeführt erweist eben die Analyse Tastempfindungen und Innervationsgefühle als Elemente der Tastvorstellung.

    Indem die psychologische Analyse die genannten Elemente auffindet, führt sie damit zugleich auf bestimmte physiologische Bedingungen, welche dem synthetischen Prozeß vorausgehen. Es muß nämlich 1) den Bewegungsempfindungen die Eigenschaft zukommen, zur Abmessung bei der Transformation des ungleichartigen in ein gleichartiges Kontinuum dienen zu können: sodann muß 2) das Tastorgan für die Ausbildung und Abstufung der Lokalzeichen die erforderlichen Anlagen der Struktur besitzen; und endlich wird 3) nach physiologischen Vorbedingungen zu suchen sein, welche den Akt der Synthese selbst vermitteln helfen. Was den ersten dieser Punkte betrifft, so gibt es in der Tat nur eine Klasse von Empfindungen, nämlich eben die Innervationsgefühle, welche als absolut gleichartiger Maßstab dienen können. Sie allein sind nicht von den wechselnden Bedingungen peripherischer oder unserer genauen Bestimmung entzogener zentraler Reize abhängig, sondern einzig und allein an die zentrale motorische Innervation gebunden. Hierdurch haben diese Empfindungen wie gar keine anderen die Eigenschaft qualitativer Gleichartigkeit bei feiner intensiver Abstufung. Zweifelhafter kann man darüber sein, aus welchen Eigentümlichkeiten des Tastorgans sich die Lokalzeichen ableiten lassen. So können Strukturverschiedenheiten der nicht-nervösen Hautbestandteile und der subeutanen Gewebe möglicher Weise eine lokale Färbung der Empfindungen mitbedingen. Aber von größerem Gewicht scheinen doch die Verhältnisse der Nervenverteilung. Es wurde schon hervorgehoben, daß die feiner lokalisierenden Teile reicher an Nerven sind. Nun ist es nicht wahrscheinlich, daß etwa an jede Nervenfaser an und für sich schon ein Lokalzeichen gebunden sei, da dies auf die Vorstellung einer spezifischen Verschiedenheit zurückführen würde. Dagegen ist es wohl denkbar, daß eine Hautstelle, in der zahlreichere Fibrillen sich verzweigen, eben deshalb eine qualitativ etwas andere Empfindung vermittelt, als eine solche, in der nur wenige sich ausbreiten. Folgt man dieser Vorstellung, so wird die Feinheit der Lokalisation nicht sowohl von der absoluten Zahl der Nervenfasern, als vielmehr von der Geschwindigkeit abhängen, mit welcher von einer Stelle zur andern die Zahl der Fibrillen sich ändert. Diese Änderung geschieht aber an den nervenreichsten Teilen am schnellsten. Einen Empfindungskreis werden wir nun einen solchen Hautbezirk nennen, in welchem die Nervenausbreitung so gleichförmig ist, daß lokale Empfindungsunterschiede von merklicher Größe nicht entstehen. In der Tat bestätigt dies die Erfahrung, insofern an allen Hautstellen, welche sich durch genaue Lokalisation auszeichnen, wie z. B. an den Fingerspitzen, auch die Feinheitsunterschiede nahe bei einander gelegener Stellen am größten sind. Ferner läßt sich hierher die Beobachtung beziehen, daß, wenn man zwei Eindrücke auf die Grenze zweier Hautstellen von sehr abweichender Unterscheidungsschärfe einwirken läßt, z. B. den einen auf die äußere, den andern auf die innere Oberfläche der Lippe, dann die Entfernung deutlicher wahrgenommen wird, als wenn beide Eindrücke in gleicher Distanz auf eine und dieselbe Stelle, selbst wenn es die empfindlichere ist, einwirken32). Jene Interferenz der Empfindungskreise, welche die Fig. 100 veranschaulicht, erklärt sich leicht aus dieser Vorstellung. An jedem Punkt der Haut muß ja ein neuer Empfindungskreis beginnen, insofern für jeden ein bestimmtes Maß der geänderten Nervenverteilung existiert, innerhalb dessen die Veränderung des Lokalzeichens unmerklich ist. Zugleich ist deutlich, daß die Grenze der lokalen Unterscheidung keine fest bestimmte sein kann. Denn die Abstufung der Lokalzeichen, bez. der ihnen zu Grunde liegenden Nervenverteilung, ist eine stetige, so daß bei fortgesetzter Übung auch solche Unterschiede noch erkannt werden können, die ursprünglich der Beobachtung entgehen. In Fig. 100 können wir uns dies durch die Interferenz der Empfindungskreise ausgedrückt denken. Eine wirkliche Veränderung der Nervenverteilung ist, so nehmen wir an, bereits in den sehr kleinen Abständen bemerkbar, in denen die verschiedenen Empfindungskreise über einander greifen, der ganze Durchmesser eines solchen Kreises aber bedeutet nur den Grenzunterschied, der unter gewöhnlichen Verhältnissen der merkbaren Differenz der Lokalzeichen entspricht. Hierdurch wird es denn auch erklärlich, daß da, wo eine plötzliche Änderung in der Größe der Empfindungskreise eintritt, die räumliche Unterscheidung besonders scharf ist, indem ein schneller Wechsel in der Größe der über einander greifenden Kreisabschnitte als eine sprungweise Änderung des Lokalzeichens erscheinen muß. Leicht fügen sich dieser Hypothese ferner die Beobachtungen über den Einfluß des Wachstums, da hierbei die Zahl der auf eine bestimmte Hautfläche kommenden Nervenfibrillen annähernd ungeändert bleibt, also die Schnelligkeit in der Abstufung der Nervenverteilung sich vermindern muß. Die physiologischen Bedingungen endlich, welche der Synthese der beiden in der räumlichen Tastvorstellung zusammenwirkenden Empfindungssysteme zu Grunde liegen, können allein zentraler Natur sein. Denn die Grundlage dieser Synthese ist die Verbindung von Sinneseindrücken und Bewegungsimpulsen; eine solche Verbindung findet aber nur in bestimmten Zentralherden des Nervensystems statt. Als dasjenige Gebilde, welchem diese Funktion speziell für das Tastorgan und die ihm zugeordneten Muskelbewegungen höchst wahrscheinlich zukommt, haben wir früher die sogenannten Sehhügel kennen gelernt, komplizierte Reflexzentren, von welchen die auf bestimmte Tasteindrücke erfolgenden zusammengesetzten Bewegungsreaktionen ausgehen33). Die Zweckmäßigkeit dieser Bewegungen veranlaßt uns, sie als das Produkt einer psychischen Entwicklung anzusehen34). Anderseits aber nötigt uns der mit einer Art mechanischen Zwanges erfolgende Eintritt derselben, sie auf die in dem Zentralorgan getroffenen Einrichtungen zurückzuführen, eine Anschauung, die im allgemeinen durch die Zergliederung der Strukturverhältnisse bestätigt wird35). Beide Voraussetzungen, der Erwerb durch psychische Entwicklung und die Gebundenheit an fest gegebene Strukturbedingungen, sind aber nur dann vereinbar, wenn wir diese letzteren selbst als entstanden in Folge der psychischen Entwicklung ansehen, womit die letztere allerdings über die Grenzen der individuellen Existenz ausgedehnt werden muß. Den physiologischen Grund für die Synthese der Innervationsgefühle und Tasteindrücke müssen wir sonach in jenem zentralen Mechanismus suchen, der den Empfindungen bestimmte Bewegungen anpaßt, und der wahrscheinlich innerhalb der Großhirnrinde seine besondere Vertretung hat. Dieses letztere Gebiet ist sonach das eigentliche physiologische Substrat der räumlichen Tastvorstellungen. Die Zergliederung der geordneten Körperbewegungen weist endlich schon auf eine nähere Verbindung einerseits der symmetrischen Teile beider Körperhälften, anderseits der funktionell einander zugeordneten Regionen, wie z. B. der einzelnen Finger hin. Hierin möchte dann wohl eine physiologische Bedingung jenes Einflusses gegeben sein, welchen ein direkt geübter Teil auf andere, symmetrische oder in funktioneller Verbindung stehende, in der Form der Mitübung äußert.

32) E. H. Weber, annotat. anat. Prol. VIII. p. 7.
33) Kap. V.
34) Kap. XXI.
35) Kap. IV.

    In den hier angedeuteten anatomischen Vorrichtungen ist lediglich eine funktionelle Disposition begründet. Für alle räumlichen Größenverhältnisse, über die uns der Tastsinn Aufschlüsse verschafft, geben daher auch nicht die räumlichen Lagerungsverhältnisse der Tastnerven, sondern allein gewisse Empfindungen ein Maß ab. Bei der Vorstellung von der Lage unserer Körperteile im Raume ist dies unmittelbar einleuchtend, denn die Größe der zur Herbeiführung einer bestimmten Lage erforderlichen Bewegung ermessen wir nach den Innervationsgefühlen. Aber auch die Auffassungen des ruhenden Tastorgans werden, sobald es sich um die Messung von Raumgrößen handelt, offenbar wesentlich durch die Bewegung bestimmt. Allerdings ist der verschiedene Durchmesser der Empfindungskreise gleichfalls nicht ohne Einfluß. Wenn man in dem WEBER'schen Versuch bei konstant erhaltener Distanz der Zirkelspitzen von einem weniger scharf zu einem schärfer empfindenden Hautteil übergeht, z. B. von den hinteren zu den vorderen Partien der Wangenhaut, so scheinen sich die beiden Spitzen von einander zu entfernen36). Aber derartige Täuschungen finden nur so lange statt, als es sich um verhältnismäßig geringe Unterschiede handelt, und die Distanz der Eindrücke die Größe eines Empfindungskreises nicht erheblich überschreitet. Wenn wir von einer stumpfer empfindenden Hautstelle a zu einer schärfer empfindenden b übergehen bei einer Distanz, die in a dem Durchmesser eines Empfindungskreises noch nicht gleich kommt, in b aber denselben übertrifft, so muß natürlich die Vorstellung entstehen, als wenn der ursprünglich einfache Eindruck in zwei auseinandertrete, und in ähnlicher Weise wird auch noch über diese Grenze hinaus auf der feiner empfindenden Hautstelle deutlicher die Existenz eines Zwischenraums zwischen den Eindrücken wahrgenommen, wodurch es scheint, als wenn die Eindrücke selbst in weiterer Distanz von einander stattfänden. Innerhalb gewisser Grenzen ist also die Abstufung zwischenliegender Lokalzeichen auf die Schätzung der Entfernung zweier Eindrücke allerdings von Einfluß. Aber man kann deshalb nicht sagen, daß wir die Entfernungen nach der Größe der Empfindungskreise bemessen. Bringen wir z. B. die Zirkelspitzen zuerst in 1 Millim. Entfernung mit der Volarfläche des ersten Fingergliedes, dann in 68 Millim. mit der Rückenhaut in Berührung, also in beiden Fällen in Entfernungen, die eben die Größe der Empfindungskreise dieser Teile überschreiten (siehe oben), so halten wir durchaus nicht beide Distanzen für gleich, sondern wir bemerken wohl, daß die Distanz auf der Rückenhaut weit größer als die am Finger ist; dabei ist es uns übrigens an dem stumpfer empfindenden Hautteil überhaupt schwerer, die absolute Distanz zu schätzen. Was demnach im allgemeinen zunächst unsere raumliche Vorstellung bestimmt, ist diejenige Entfernung der Eindrücke, welche wir bei der Bewegung der tastenden Teile erfaßt haben: erst in zweiter Linie übt dann auch die deutliche Vorstellung zwischenliegender Strecken einen Einfluß aus, wobei aber diese auf die Lokalzeichen gegründete Schätzung fortwährend durch die Bewegungen korrigiert werden kann.

36) Weber, Art. Tastsinn, S. 525.

    Die Vorstellung der eigenen Bewegung zerfällt in die des bewegten Körperteils, außerdem in Kraft, Umfang, Richtung und Geschwindigkeit, als ihre näheren Bestandteile.
    Ein gewisses Kraftgefühl ist mit jeder unserer aktiven Bewegungen untrennbar verbunden. Die Vorstellung, daß ein Teil unseres Körpers sich bewege, können wir aber auch ohne jede selbst aufgewandte Energie, bei bloß passiven Bewegungen, besitzen, wobei sich an diese zugleich Vorstellungen über Umfang, Richtung und Geschwindigkeit knüpfen. Durch das Kraftgefühl erlangen wir nur die Gewißheit der eigenen Anstrengung, mag diese nun den Effekt einer wirklichen Bewegung herbeiführen oder, bei zu bedeutender Größe der äußeren Widerstande, als fruchtlose Energie verloren gehen. Das Maß der Kraftanstrengung gewinnen wir zunächst aus den zentralen Innervationsgefühlen. Der einfache Beweis hierfür liegt in der Tatsache, daß jene Vorstellung nur nach der Größe der motorischen Innervation, nicht im mindesten nach der wirklich aufgewandten Kraft oder nach sonstigen Verhältnissen der äußeren Bewegung sich richtet. Dies zeigen namentlich pathologische Erfahrungen, in denen durch Leitungsstörungen oder durch Veränderungen der Muskeln die seither bestandenen Beziehungen zwischen dem Innervationsgefühl und der wirklich aufgewandten Kraft eine plötzliche Verschiebung erfahren haben, die Fälle der sogenannten Parese37). Ein Patient, dessen Arm halb gelähmt wurde, glaubt, sein Glied sei mit einem Gewichte beschwert, und eine gehobene Last erscheint ihm größer als zuvor. Dennoch kann die Vorstellung der bewegenden Kraft nicht mit dem bloßen Kraftgefühl schon gegeben sein, denn sie setzt die Vorstellung der Bewegung voraus. Die letztere schließt aber die weiteren Teilvorstellungen des Umfangs, der Richtung, Geschwindigkeit und des bewegten Glieds in sich, Vorstellungen, welche auf Tastempfindungen als ihre notwendigen Bestandteile zurückführen.

37) Vergl. Kap. V.

    So unterscheiden wir den bewegten Körperteil zunächst mittelst der Tastempfindungen, die, jede aktive oder passive Bewegung begleitend, in den Faltungen der Haut, den Drehungen der Gelenke und den Pressungen der Weichteile ihren Grund haben. Die Annahme, daß Bewegungsempfindungen allein die Wahrnehmung der bewegten Teile vermitteln, wird widerlegt durch die Erfahrung, daß auch bei passiven Bewegungen das bewegte Glied deutlich unterschieden wird38). Anderseits zeigt bei Anästhesie der Haut die Wahrnehmung der eigenen Bewegung deutliche Störungen, auch wenn die motorische Innervation und die an dieselbe geknüpfte Bewegungsempfindung erhalten blieben39). Wird nun der bewegte Teil mit Hilfe der Tastempfindungen vorgestellt, so liegt hierin eingeschlossen, daß diese Vorstellung wiederum keine ursprüngliche ist. Denn es muß derselben die Lokalisation jener Empfindungen vorausgehen. Mit der Vorstellung des bewegten Gliedes ist eine solche von dem Umfang und von der Richtung der Bewegung immer zugleich gegeben. Die Grundlage aller dieser Vorstellungen bildet die Wahrnehmung der Lage, welche durch Tastempfindungen vermittelt werden muß. So kommen wir denn zu dem Ergebnisse, daß alle einzelnen Bestandteile der Bewegungsvorstellung sich wechselseitig bedingen, und daß also die ganze Vorstellung sich in allen ihren Teilen gleichzeitig entwickeln wird. Wenn wir von den dem Gesichtssinn zugehörigen Wahrnehmungen hier noch absehen, so wirken bei jeder Bewegungsvorstellung lokalisierte Tastempfindungen und Innervationsgefühle zusammen. Nun ist die örtliche Unterscheidung der Tastempfindungen ebenfalls an die eigene Bewegung der Teile gebunden. Tast- und Bewegungsvorstellungen können daher nur in gemeinsamer Entwicklung sich ausbilden.

38) C. Bell (Untersuchungen des Nervensystems, übers. von ROMBERG. S. 185 f.) und E. H. WEBER (Tastsinn und Gemeingefühl, Handwörterb. d. Physiol. 11, S. 583) leiten diese wie alle auf die Bewegungsvorstellung bezüglichen Wahrnehmungen nur aus dem Muskelsinn ab, ebenso J. Müller (Handbuch der Physiologie II S. 494), der aber Tastsinn und Muskelgefühl nicht von einander sondert. Auch diejenigen unter den älteren Autoren, welche ein besonderes Muskelgefühl annehmen, lassen übrigens letzteres aus peripherischer Reizung hervorgehen; eben deshalb wird von ihnen der "Muskelsinn" gleichsam als ein sechster Sinn angesehen. Schon oben (S. 316) wurde bemerkt, daß die zentral entspringenden Innervationsgefühle von denjenigen Empfindungen zu trennen sind, die in dem Zustand der peripherischen Organe ihren Grund haben, und die man darum als Muskelgefühle im engeren Sinne bezeichnen kann.

39) LEYDEN, Virchow's Archiv. Bd. 47 S. 325 f.

    In die Vorstellung der Bewegung geht aber außer der räumlichen Ordnung der Tastempfindungen als ein wesentlicher Bestandteil noch die Zeitanschauung ein, die gleich dem Raume eine allgemeine Form der Verbindung unserer Vorstellungen ist. Die Bedingung zu dieser Verbindung ist überall da gegeben, wo intensiv oder qualitativ unterschiedene Empfindungen in gleichmäßiger Folge sich wiederholen. Diese Forderung ist nun vollständig bei jenen Empfindungen erfüllt, welche unsere eigene Bewegung begleiten. Hierbei bilden sowohl die Innervations- wie die Tastgefühle eine Reihe stetig in einander übergehender Empfindungen, die sich bei wiederholter Bewegung wieder in derselben Weise erneuern40). Mittelst der Zeitanschauung entwickeln sich unmittelbar diejenigen Modalitäten der Bewegungsvorstellung, welche an die Vorstellung des bewegten Teiles sich anschließen, nämlich Umfang, Richtung und Geschwindigkeit. Die Vorstellungen von Umfang und Richtung gewinnen wir, indem wir sukzessiv die einzelnen Lagen wahrnehmen, welche das bewegte Glied annimmt. Die Größe der äußersten Lageverschiedenheit gibt den Umfang, die Beziehung der Lageänderung zu unserm übrigen Körper die Richtung der Bewegung. Je größer innerhalb einer gegebenen Zeit der Umfang der Bewegung ist, um so größer ist deren Geschwindigkeit. Die Vorstellung der Geschwindigkeit kann sich daher aus der Vergleichung verschiedener Bewegungen entwickeln, wenn dabei die Zeit wechselt, in welcher ein bestimmter Umfang durchmessen wird.

40) Näheres über die Bedingungen der Zeitauffassung vergl. in Kap. XVI.

    Mit diesen Bestandteilen, welche sämtlich die Zeitanschauung in sich begreifen, verbindet sich, wie schon bemerkt, in untrennbarer Weise die Vorstellung der bewegenden Kraft. Sie setzt sich zusammen aus der Vorstellung der intendierten Anstrengung, welche unmittelbar in dem Innervationsgefühl ihr Maß hat, und aus der Vorstellung des Widerstandes, welche hauptsächlich aus Tastgefühlen stammt. Die wechselnde Weise, in der beide Empfindungen verbunden sind, bestimmt hauptsachlich die Verschiedenheiten der Kraftvorstellung. Das Gefühl der Energie nebst der Empfindung eines nicht zu bewegenden Widerstandes gibt die Vorstellung der toten Kraft oder der Masse, Energie und überwundener Widerstand zusammen erzeugen die Vorstellung der lebendigen oder wirklichen Kraft. Die letztere wird gemessen durch das Verhältnis des Energiegefühls zu der Tastempfindung, die dem überwundenen Widerstande entspricht; für die tote Kraft aber haben wir kein bestimmtes Maß, indem der Grad, bis zu welchem die Energie und der Tasteindruck gesteigert worden sind, nur eine untere Grenze für die Größe der Masse abgibt.
    In der Bewegungsvorstellung begegnen sich Raum- und Zeitanschauung. Sie ist räumlich, weil jede Bewegung eine Sukzession einzelner Raumlagen in sich schließt. In der Vorstellung der Lage unserer Körperteile im Raum, in welcher alle Bewegungsvorstellungen wurzeln, herrscht die räumliche Bestimmung, in der Vorstellung der Geschwindigkeit die zeitliche vor, im Umfang der Bewegung vereinigen sich beide. Die Vorstellung der Kraft endlich setzt die andern Momente der Bewegung voraus, und gründet sich außerdem auf das intensive Maß der zusammenwirkenden Innervationsgefühle und Tastempfindungen in ihrer absoluten Größe und in ihrem gegenseitigen Verhältnisse. Alle diese Teile der Bewegungsvorstellung sind aber stets mit einander gegeben. Die Vorstellung der Bewegung ist so die einfachste und darum wahrscheinlich die ursprünglichste, in welcher die zeitliche und die räumliche Ordnung der Empfindungen neben einander vorkommen. In ihr haben wir daher die Vorbereitung gewonnen für die Untersuchung zweier Klassen der Sinnesvorstellung, in denen die beiden Formen der Anschauung, die in der Bewegung noch vereinigt liegen, mehr von einander sich sondern, der Gehörs- und der Gesichtsvorstellungen.

    Nach der im allgemeinen schon auseinandergesetzten nativistischen Ansicht ist mit jeder Tastempfindung ohne weiteres die Vorstellung des Ortes verbunden, an welchem sie stattfindet; ebenso haben wir nach ihr ein ursprüngliches Bewußtsein unserer Bewegung, wobei man entweder annimmt, daß dieses Bewußtsein an die Bewegungsempfindung geknüpft sei, oder selbst gar keine vermittelnde Empfindung für nötig hält41). Nach der genetischen Ansicht geschieht die Lokalisation der Tastempfindungen sowie die Wahrnehmung der eigenen Bewegung durch einen psychologischen Prozeß, dessen Entstehung durch bestimmte Empfindungen angeregt wird42).

41) TRENDELENBURG, logische Untersuchungen, 2te Aufl. I. S. 141 f.

42) Helmholtz hat der nativistischen unmittelbar die empiristische Ansicht gegenübergestellt (phys. Optik S. 435); ich gebrauche die allgemeinere Bezeichnung, weil der Empirismus nur eine der Formen ist, welche die Entwicklungstheorie annehmen kann. Vergl. hierzu den Schluß vom Kap. XIV.

    Die nativistische Theorie entspricht dem Standpunkt des naiven Bewußtseins, welchem der Gedanke einer psychologischen Analyse der Wahrnehmung noch fern liegt. In der ältern Philosophie finden sich zwar mannigfache Anläufe zur Überwindung dieses Standpunktes. Aber erst die von LOCKE43) begründete empiristische Richtung der Philosophie hat das Bestreben, die Vorstellungen als Produkte einer Entwicklung aufzufassen, zu entschiedener Geltung gebracht. Die so entstandene empiristische Form der genetischen Theorie, die in BERKELEY44), trotz des idealistischen Grundzugs seiner Anschauungen, sowie in CONDILLAC45) ihre Hauptbegründer hat, wurde aber namentlich in Deutschland durch die idealistischen Systeme verdrängt. Insbesondere kant's Lehre von den Anschauungsformen begünstigte eine nativistische Richtung in der Sinneslehre. Indem man den Raum als die angeborene Form der äußern Sinnesanschauung betrachtete, meinte man auch die einzelnen räumlichen Vorstellungen aus den gegebenen Einrichtungen der Sinnesorgane und des Nervensystems ableiten zu sollen. So stellte J. müller den Satz auf, jeder Punkt, in welchem eine Nervenfaser ende, werde im Sensorium als Raumteilchen vorgestellt. Wir haben nach ihm eine ursprüngliche Vorstellung unseres Körpers vermöge der Durchdringung desselben mit Nerven; ebenso ist mit den Empfindungen der Muskeln oder vielleicht auch mit der Innervation bestimmter motorischer Nervenfasern unmittelbar eine Vorstellung der bei der Bewegung zurückgelegten Räume verbunden46). Auf denselben Anschauungen beruhte E. H. WEBER's Lehre von den Empfindungskreisen. In der ursprunglichen Fassung dieser Lehre ist der Empfindungskreis diejenige Hautstrecke, welche von einem Nervenfaden versorgt und daher als eine räumliche Einheit empfunden wird. Später hat jedoch weber seine Theorie etwas modifiziert, um sie gegen verschiedene Einwände sicherzustellen und dadurch eine Vermittlung mit der empiristischen Ansicht angebahnt. Er nimmt nämlich nun an, die Empfindungskreise seien sehr kleine Hautflächen, so daß zwischen zwei Eindrücken, die unterschieden werden sollen, immer mehrere Empfindungskreise gelegen sein müssen; er ist geneigt die Vorstellung des zwischen den Eindrücken gelegenen Zwischenraums gerade hierauf zurückzuführen. Außerdem glaubt er jetzt, daß die Bestimmung des Ortes, wo ein Eindruck stattfindet, wahrscheinlich erst durch Erfahrung geschehe, und daß das Tastorgan durch Übung in der räumlichen Unterscheidung vervollkommnet werde, indem sich die Zahl der Empfindungskreise, die zwischen den Eindrücken gelegen sein müssen, um den Zwischenraum wahrzunehmen, verringern könne. Die auf die Empfindungskreise bezügliche Seite dieser Theorie verbesserte CZERMAK, indem er den neben einander liegenden interferirende Empfindungskreise substituierte, wodurch nun dieser Begriff, wie es von uns oben geschehen ist, wieder in seiner ursprünglichen Bedeutung, als diejenige Flächengröße, in der räumlich getrennte Eindrücke zusammenfallen, hergestellt werden kann47).

43) Essay concerning human understanding. 1709.
44) Theory of vision §. 54 f.
45) Traité des sensations. pari. II.
46) a. a. O. S. 508.

47) Außerdem hat CZERMAK auch die Idee einer Irradiation des Reizes weiter ausgeführt und durch dieselbe namentlich die deutlichere Unterscheidbarkeit sukzessiver Tasteindrücke gegenüber den simultanen zu erklären gesucht. Noch andere Modifikationen der WEBER'schen Hypothese hat G. meissner vorgeschlagen, hauptsächlich in dem Bestreben eine Übereinstimmung mit anatomischen Ergebnissen herbeizuführen. (Ztschr. f. rat. Med. N. F. Bd. 4. S. 260.) Vergl. hierüber meine Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung S. 14 f.

    Sobald man, wie es in diesen späteren Neugestaltungen der Lehre von den Empfindungskreisen der Fall ist, der Erfahrung einen wesentlichen Einfluß auf die Feststellung der räumlichen Beziehungen zugesteht, so ist damit aber die Frage nach den psychologischen Motiven eines solchen Einflusses gegeben. Hier ist nun der Übergang von der vermittelnden Ansicht, wie sie weber und seine Nachfolger versuchten, zu den genetischen Theorien, welche nicht bloß die spätere Vervollkommnung der räumlichen Tastvorstellungen sondern überhaupt ihre Entstehung aus einer psychologischen Entwicklung abzuleiten suchen, nahe gelegt. Dieser Ansichten lassen sich vier unterscheiden: zwei rein psychologische, die auf alle physiologischen Hilfsmittel zur Herleitung der Raumanschauung verzichten, indem sie dieselbe lediglich aus dem Wesen der Seele oder dem Verlaufe ihrer Vorstellungen herzuleiten suchen; die beiden andern können wir psychophysische nennen, weil sie zwar noch gewisse psychologische Vorgänge, daneben aber bestimmte physiologische Vorbedingungen in den Sinnesorganen notwendig halten.

Erste Ansicht: Die Raumvorstellung beruht auf dem unteilbaren einfachen Wesen der Seele, welches die Verschmelzung mehrerer gleichzeitig gegebener Empfindungen in ein intensives Vorstellen verhindert und daher Ursache wird, daß dieselben neben einander geordnet werden. Nach dieser von Th. waitz48) aufgestellten Theorie muß dann natürlich die speziellere räumliche Ordnung der Eindrücke, die Bestimmung von Lage, Richtung, Größe, Gestalt u. s. w. aus psychologischen Vorgängen sekundärer Art abgeleitet werden; sie soll Produkt der Erfahrung sein, bei der namentlich Tast- und Gesichtssinn zusammenwirken. Damit wird nun aber jene ursprüngliche Raumvorstellung, welche doch dem Einsetzen der Erfahrung als Grundlage vorangehen muß, zu einem unbestimmten Begriff verflüchtigt, welcher von dem was wirklich der Raum ist nichts mehr enthält. Endlich aber zeigt das Beispiel des Gehörssinns sowie der gleichzeitig auf disparate Sinne stattfindenden Eindrücke, daß wir durchaus nicht alle simultanen Empfindungen von verschiedenem Quale in die extensive Form bringen. Die Gebundenheit der letzteren an bestimmte Sinnesorgane beweist eben, daß spezielle physiologische Vorbedingungen dazu erforderlich sind.

48) Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft. §. 18.

Zweite Ansicht: Die Raumvorstellung geht aus einer Sukzession von Empfindungen hervor, welche dann in die räumliche Form geordnet werden, wenn ihre Reihenfolge sich umkehren kann. Diese von HERBART49) ausgeführte Theorie zieht zwar die Bewegung als einen wesentlichen Faktor für die Bildung der Raumanschauung herbei, aber die eigene Bewegung, des tastenden Fingers z. B., hilft hier nur insofern, als sie eine Sukzession der Vorstellungen vermittelt, und sie kann daher auch durch eine Hin- und Herbewegung des äußern Objekts ersetzt werden. Das eigentlich wirksame Vehikel der Raumvorstellung ist also nicht die Bewegung sondern lediglich die Sukzession der Empfindungen, die, sobald sie umkehrbar ist, zur Raumvorstellung wird50). Die Theorie Herbart's wandelt eine Beschreibung des objektiven Raumes unmittelbar in den subjektiven Vorgang der Raumanschauung um. Wie wir uns in dem äußeren Raum in beliebiger Richtung Linien können gezogen denken, die, von wo anfangend man sie auch ziehen mag, immer dieselbe Nebeneinanderordnung von Raumelementen antreffen: so soll unsere Anschauung den Raum konstruieren, indem sie hin- und zurücklaufende Linien durch denselben legt. Aber nirgends wird dargetan, daß solche hin- und zurücklaufende Reihen mit Notwendigkeit zur Raumvorstellung führen. Im Gegenteil, wenn die in einer Richtung ablaufenden Vorstellungen die Zeitreihe sind, so bleibt unbegreiflich, warum die rückwärts laufenden etwas anderes als wiederum eine Zeitreihe sein sollen. Wir können, wie lotze treffend bemerkt hat, mit Tönen die zur Raumanschauung verlangte Reihenform leicht herstellen, wenn wir z. B. die Tonskala zuerst auf- und dann absteigend singen, ohne daß doch eine räumliche Vorstellung der Erfolg wäre51). Damit werden wir auch hier auf spezielle physiologische Vorbedingungen hingewiesen.

49) Psychologie als Wissenschaft, Werke Bd. 6 S. 119. Nach Herbart findet bei einer solchen hin- und zurücklaufenden Sukzession eine abgestufte Verschmelzung der Einzelvorstellungen statt. "Beim Vorwärtsgehen sinken allmälig die ersten Auffassungen und verschmelzen, während des Sinkens sich abstufend, immer weniger und weniger mit den nachfolgenden. Beim mindesten Rückkehren aber geraten sämtliche frühere Auffassungen, begünstigt durch die vielen jetzt hinzukommenden, die ihnen gleichen, in's Steigen." So geschieht es denn, "daß jede Vorstellung allen ihre Plätze anweist, indem sie sich neben und zwischen einander lagern müssen". (A. a. O. S. 120.)

50) Cornelius (die Theorie des Sehens und räumlichen Vorstellens. Halle 1861. S. 561 f.) referiert über die HERBART'sche Theorie so, als wenn in derselben die Muskelempfindungen als Lokalisationshilfen herbeigezogen wären. Davon ist aber bei hebbart nichts zu finden.

5l) Wagner's Handwörterbuch der Physiologie III, 1. S. 177.

Dritte Ansicht: Alle Empfindungen entspringen aus rein intensiven Erregungen. Wo eine räumliche Ordnung derselben zu Stande kommt, geschieht dies durch die Verbindung mit einem hinzukommenden Nervenprozeß, welcher der Empfindung ein Zeichen beigibt, mittelst dessen sie auf einen bestimmten Ort im Raume bezogen werden kann. Dieses Lokalzeichen, wie es von lotze, dem Begründer der Theorie, genannt wird, kann bei den verschiedenen Sinnesorganen möglicher Weise eine verschiedene Beschaffenheit besitzen. Erforderlich ist nur, daß alle Lokalzeichen Glieder einer geordneten Reihe sind. Speziell beim Tastsinn vermutet er, daß sie aus einem System von Mitempfindungen bestehen, welche durch die Ausbreitung des Reizes auf umgebende Teile verursacht werden. Ist nun diese Theorie insofern gewiß auf dem richtigen Wege, als sie nach physiologischen Vorbedingungen der Lokalisation in den Sinnesorganen sucht, so sind doch in den angenommenen Lokalzeichen keine zureichenden Motive zu einer solchen gegeben. Denn wenn auch die Lokalzeichen durch ihre Gebundenheit an den Ort des Eindrucks vielleicht von jenen Qualitäten der Empfindung sich ablösen, welche ihre Ursache in dem äußeren Reize haben, weil sie eben mit der wechselnden Beschaffenheit des letzteren nicht wechseln, so ist deshalb doch noch nicht im mindesten einzusehen, weshalb sie in eine räumliche Ordnung gebracht werden sollen. Als Hilfsmittel der Lokalisation könnten sie nur dann dienen, wenn die Raumvorstellung von vornherein gegeben wäre und die Lokalzeichen dann nur benutzt würden, um mit ihrer Hilfe den Ort des Eindrucks festzustellen. In der Tat hebt auch Lotze hervor, daß seine Theorie nicht die Raumanschauung erklären solle, die ein unserer Seele a priori angehöriges Besitztum sei, sondern daß sie nur die Hilfsmittel darlegen wolle, durch welche wir dem einzelnen Eindruck seine bestimmte Stelle im Raume anweisen. Entweder wird nun dies so verstanden, daß immerhin die ursprüngliche Ordnung bestimmter Sinnesempfindungen in räumlicher Form dadurch erklärt werden soll, was offenbar Lotze's Meinung ist, da er den Vorgang eine "Rekonstruktion der Räumlichkeit" nennt; oder man könnte daran denken, ein räumliches Bild der tastenden Oberfläche sei uns schon gegeben, und vermittelst des qualitativen Lokalzeichens erkennen wir nur den einzelnen Punkt, welcher vom äußern Eindruck getroffen wurde. Aber im ersten Fall begegnet uns die vorige Schwierigkeit. Wir begreifen nicht, warum aus qualitativen Zeichen, wenn sie noch so regelmäßig abgestuft sind, eine räumliche Ordnung entstehen soll, mag diese nun eine ursprüngliche Erzeugung oder eine bloße Rekonstruktion des Raumes genannt werden. Daß diese Qualitäten einem bestimmten Ort unseres Sinnesorgans anhaften, erschließen wir erst aus der Fähigkeit der Lokalisation, jene Eigenschaft kann also nicht zum ursprünglichen Hilfsmittel der letzteren gemacht werden. Im zweiten Fall verschwinden allerdings diese Schwierigkeiten. Wenn das Lokalzeichen ein bloßes Signal sein soll, an dem wir einen auf anderem Wege festgestellten Raumpunkt wieder erkennen, so steht nichts seiner Benutzung entgegen. Aber es erhebt sich dann eben die Frage, wie jene erste räumliche Ordnung der Eindrücke sich bildet, die bei einer solchen isolierten Anwendung der Lokalzeichen immer vorausgesetzt wird. Dieser ersten Bildung räumlicher Tastvorstellungen kommt nun, wie es scheint, die folgende Theorie näher.

Vierte Ansicht: Die Raumanschauung entspringt aus der eigenen Bewegung; die ursprünglichste räumliche Vorstellung ist daher die Bewegungsvorstellung. Letztere gewinnen wir aus den intensiv abgestuften Muskelgefühlen, welche mit der Bewegung verbunden sind. Bis hierhin schließt sich diese Ansicht unmittelbar der BERKELEY'schen Theorie an, deren Weiterbildung sie ist. Aber in der Erkenntnis, daß intensiv abgestufte Empfindungen an und für sich noch keine Nötigung zur räumlichen Ordnung in sich tragen können, läßt bain, der hauptsächlich die Bewegungstheorie ausgebildet hat, jene Vorstellung aus einer Wechselwirkung der Bewegungsempfindungen und der Zeitvorstellung hervorgehen52). Indem nämlich unsere Bewegung je nach ihrer Schnelligkeit die nämlichen Intensitätsabstufungen in verschiedener Zeitdauer zurücklegen kann, muß sich nach bain die Vorstellung des Raumumfangs der Bewegung von derjenigen ihrer Zeitdauer trennen. Ähnlich bildet sich die räumliche Ordnung der Tastempfindungen. Indem wir sukzessiv eine Reihe von Gegenständen bei verschiedener Geschwindigkeit betasten, wird die Ordnung der Eindrücke als unabhängig von ihrer zeitlichen Sukzession aufgefaßt, und sie werden eben deshalb als neben einander geordnet vorgestellt. Als Maß der Entfernung dient aber wieder die Bewegungsempfindung, in der somit alle Lokalisation ihren Grund hat. In dieser Theorie liegt die richtige Erkenntnis, daß zum Vollzug räumlicher Vorstellungen stets verschiedenartige Elemente zusammenwirken müssen, da in einem einzigen irgendwie abgestuften System von Empfindungen niemals der Grund liegen kann, außer der qualitativen und intensiven Reihe dieser Empfindungen noch eine weitere Ordnung, die räumliche, zu setzen. Doch der Fehler der Theorie besteht darin, daß sie zum eigentlichen Vehikel der Raumvorstellung die Zeitanschauung macht. Nach ihr müßte eine gewisse Folge von Empfindungen zur Raumstrecke werden, sobald deren Sukzession mit variabler Geschwindigkeit vor sich geht. Aber dies ist der Weg, auf welchem eben die Vorstellung der Geschwindigkeit, nicht die des Raums entsteht, wie das Beispiel anderer Empfindungen, z.B. der Gehörsempfindungen, deutlich, macht. Eine Reihe von Tonintensitäten oder Tonhöhen mit wechselnder Geschwindigkeit wiederholt führt nie zur räumlichen Ordnung. So bleibt schließlich doch an den Bewegungsempfindungen die spezifische Eigenschaft kleben, daß sie ihre Intensitäten in eine räumliche Reihe bringen, was der ursprünglichen Auffassung BERKELEY's gleichkommt. Außerdem begegnet die Theorie dem Einwande, daß sie nicht erklärt, warum auch das ruhende Tastorgan fähig ist, seine Eindrücke zu lokalisieren und räumlich zu ordnen. Um diesen Einwand zu beseitigen, muß sie sich mit der vorigen Ansicht kombinieren: sie muß Lokalzeichen annehmen, welche die Wiedererkennung eines Eindrucks in Bezug auf den Ort seiner Einwirkung möglich machen. Hiermit ist aber derjenigen Theorie der Boden bereitet, welche wir oben entwickelt haben53).

52) A. Bain, the senses and the intellect. 2. edit. London 1864. p. 197 f. Mit der Theorie Bain's stimmt eine ältere deutsche Arbeit von Steinbuch in den wesentlichsten Punkten überein. (Steinbuch, Beitrag zur Physiologie der Sinne. Nürnberg 1811.)

53) Die Grundzüge derselben sind schon in der 1858 erschienenen ersten Abhandlung meiner "Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung" auseinandergesetzt. Doch ist dort auf die Entstehung der Bewegungsvorstellung und ihren maßgebenden Einfluß auf die räumliche Ordnung der Tasteindrücke noch nicht die gebührende Rücksicht genommen. Auch vermutete ich, nur beim Blindgeborenen stelle sich diese Ordnung durch die reine Wechselwirkung der Tast- und Bewegungsempfindungen fest, während beim Sehenden der Gesichtssinn helfend eingreife, so daß dann nur mittelst des Lokalzeichens der aus der Gesichtsvorstellung bekannte Ort der Tastfläche festgestellt zu werden brauche. Aber da auch beim Sehenden überall nur die Bewegung deutliche Spuren ihres Einflusses zurückläßt, der Gesichtssinn gar keine (vergl. oben), so glaube ich nunmehr unter allen Umständen für die räumlichen Tastvorstellungen die Selbständigkeit der Entwicklung annehmen zu sollen.