Dritter Abschnitt.
Von den Vorstellungen.

Elftes Kapitel.
Begriff und Arten der Vorstellung.

Unter einer Vorstellung verstehen wir der geläufigen Wortbedeutung nach das in unserm Bewußtsein erzeugte Bild eines Gegenstandes. Die Welt, so weit wir sie kennen, besteht nur aus unseren Vorstellungen. Diese werden von dem natürlichen Bewußtsein ohne weiteres mit den Gegenständen, die sie bedeuten, identisch gesetzt. Erst die wissenschaftliche Reflexion erhebt die Frage, wie das in der Vorstellung gelieferte Bild und sein Gegenstand sich zu einander verhalten.
    Der Gegenstand einer Vorstellung kann ein wirklicher oder ein bloß gedachter sein. Vorstellungen, welche sich auf einen wirklichen Gegenstand beziehen, mag dieser nun außer uns existieren oder zu unserm eigenen Wesen gehören, nennen wir Wahrnehmungen oder Anschauungen. Bei dem Ausdruck Wahrnehmung haben wir die Auffassung des Gegenstandes nach seiner wirklichen Beschaffenheit im Auge, bei der Anschauung denken wir vorzugsweise an die dabei vorhandene Tätigkeit unseres Bewußtseins. Dort legen wir auf die objektive, hier auf die subjektive Seite des Vorstellens das Hauptgewicht. Ist der Gegenstand der Vorstellung kein wirklicher sondern ein bloß gedachter, so nennen wir diese eine Einbildungs- oder Phantasievorstellung.
    Alle unsere Vorstellungen zerfallen in Anschauungs- und Einbildungsvorstellungen. Die Anschauungsvorstellungen oder Wahrnehmungen haben stets ihren Grund in der Erregung unserer Sinnesorgane durch peripherische Reize. Unter den letzteren gehen die meisten von außer uns befindlichen Gegenständen aus. Durch sie entstehen die objektiven Sinneswahrnehmungen, aus denen sich unsere sinnliche Weltanschauung zusammensetzt. Auf der andern Seite vermitteln jene Organempfindungen, welche sich an der Bildung des Gemeingefühls beteiligen, Vorstellungen von unserm subjektiven Befinden. Doch bleiben die letzteren im allgemeinen auf einer unentwickelteren Stufe, auf der sie sich von den Empfindungen, die ihnen zu Grunde liegen, wenig unterscheiden. Die Einbildungsvorstellungen stammen durchweg von zentraler Reizung her. Zu ihnen gehören die Halluzinationen, die Phantasmen des Traumes und die gewöhnlichen Erinnerungsbilder. Diese ganze Klassifikation der Vorstellungen beruht aber auf Kennzeichen, die erst dem entwickelten Selbstbewußtsein angehören. Ob eine Vorstellung Wahrnehmung oder Einbildung sei, wissen wir ursprünglich ebenso wenig, als wir ohne Reflexion und Erfahrung die Empfindung auf ihre Ursachen zurückführen. Noch das Kind und der wilde Naturmensch vermengen nicht selten ihre Träume mit ihren wachen Erlebnissen. Auch darüber, ob der Gegenstand der Vorstellung außer uns sei oder zu uns gehöre, sagt die ursprüngliche Wahrnehmung nichts aus, da diese Unterscheidung selber schon mannigfache Vorstellungen voraussetzt.
    Die Vorstellung ist im Vergleich mit der Empfindung ein Zusammengesetztes. Sie enthält Empfindungen als ihre Bestandteile. Man hat daher die Empfindung eine einfache Vorstellung genannt1). Doch führt dies von dem eigentlichen Begriff der Vorstellung sowie der Empfindung ab, und scheint es uns daher nicht zweckmäßig, in solcher Weise die von der Sprache mit gutem Grund gezogenen Grenzen zu verwischen. Da nun die Beziehung der Vorstellung auf einen Gegenstand erst ein sekundärer Akt ist, so kann das ursprüngliche Wesen derselben nur in der Verbindung einer Mehrheit von Empfindungen bestehen. Diese Verbindung setzt stets eine besondere Tätigkeit voraus, welche eben das Vorstellen zu einem von dem Empfinden verschiedenen Vorgange macht. Die Empfindung ist der ursprünglichste Inhalt des Bewußtseins, dem keine andern psychischen Akte vorausgehen. Die Vorstellung dagegen entspringt aus einfacheren Vorgängen, nämlich aus den Empfindungen, die sich nach bestimmten psychologischen Gesetzen zu Vorstellungen vereinigen.

1) So namentlich Wolff (Psychologia empir. Sect. II. cap. I.), im Anschluß an den von Leibnitz eingeführten Begriff des vorstellenden Wesens der Seele, und in neuerer Zeit Herbart mit seiner Schule. Vgl. z. B. VOLKMANN, Grundriß der Psychologie. Halle 1856. S. 51.

Diese Vereinigung kann nun in einer doppelten Weise vor sich gehen: erstens in der Form einer zeitlichen Aneinanderreihung, und zweitens als eine räumliche Ordnung. Beide Verbindungen beruhen auf eigentümlichen Anwendungen des allgemeinen Gesetzes der Beziehung. Wo sich die Empfindungen in der zeitlichen Form verbinden, ergeben sich die Sukzession und die Gleichzeitigkeit als die wesentlichen Unterschiede des Vorstellens. Alle unsere Vorstellungen nehmen eine Stelle in der Zeit ein; aber für eine Klasse derselben gewinnt die Zeitform eine ganz überwiegende Bedeutung, für die Gehörsvorstellungen. Die Disposition hierzu liegt schon in der Natur der Schallempfindungen2). Das Gehör erhält daher vorzugsweise die Bedeutung eines zeiterweckenden Sinnes. Wegen dieser Richtung auf die Zeitanschauung tritt hier das Verhältnis der Vorstellung zu ihrem Gegenstand, welches stets eine räumliche Ordnung der Empfindungen voraussetzt, mehr in den Hintergrund, obgleich es keineswegs fehlt, indem wir auch den Schalleindruck im allgemeinen auf einen Ort beziehen, von welchem er ausgeht. Aber da wir auf diese Beziehung nicht immer Wert legen, so kann sie auf kürzere oder längere Zeit unserem Bewußtsein ganz verloren gehen. Dies geschieht namentlich dort, wo die Klangvorstellungen zu einem Vehikel ästhetischer Wirkungen werden, und wo sie allein den zeitlichen Verlauf unserer inneren Zustände schildern, ohne jede Rücksicht auf ein Objekt, dessen Bild die Vorstellung wäre.

2) Vergl. Kap. IX.

Auch in eine räumliche Ordnung bringen wir bis zu einem gewissen Grad alle unsere Vorstellungen. Aber wie für das Gehör, so bleibt dieselbe für Geruch, Geschmack und Gemeingefühl wenig entwickelt. Bei diesen Sinnen besteht nämlich die einzige räumliche Beziehung in einer unvollkommenen Lokalisation der Empfindungen, die überall erst in Anlehnung an die ausgebildeteren räumlichen Sinne geschieht. Hier sind es dann die Gesichtsvorstellungen, welchen eine eminente Bedeutung für die Auffassung zukommt.
    Während so Auge und Ohr in die zwei Formen sich teilen, in denen unser Bewußtsein die Welt und ihren Lauf anschaut, treten uns in den Tast- und Bewegungsvorstellungen beide Arten der Anschauung in vollständiger Vereinigung entgegen. Wegen ihrer gleichförmigen Empfindungsgrundlage sind diese Vorstellungen wenig mannigfaltig. Von einander sondern lassen sie sich nicht. Denn die mit Tastsinn begabten Teile werden nur durch ihre Beweglichkeit zur Auffassung der Eindrücke geeignet, und die Bewegung der Glieder führt nur unter Mithilfe der Tastempfindlichkeit der Haut zur Wahrnehmung der Bewegung. In den Tast- und Bewegungsvorstellungen sind nun Zeit- und Raumanschauung verbunden. Jede Bewegung wird aufgefaßt als eine zeitliche Sukzession, und zugleich entsteht damit das Bild der zurückgelegten Raumstrecke. So bilden die Tast- und Bewegungsvorstellungen die Grundlage zu allen anderen Sinnesvorstellungen. Was in ihnen noch ungetrennt liegt, das bildet sich in den zwei höheren Sinnen nach verschiedener Richtung aus. Wir werden daher auch hier zu der Ansicht hingeführt, welche die genetische Betrachtung des Tierreichs bestätigt, daß sich jene höheren Sinne, die schon vermöge der einseitigen Entwicklung ihrer Vorstellungen den Namen von Spezialsinnen verdienen, aus dem allgemeinen Tastsinn entwickelt haben3). Die zeitliche und die räumliche Form der Anschauung sind in der Vorstellung der Bewegung untrennbar vereinigt. Nun haben wir schon bemerkt, daß die Bewegungsempfindungen zentralen Ursprungs sind, indem sie unmittelbar die motorische Innervation begleiten4). Demnach ist denn auch die erste Grundlage der Zeit- und Raumanschauungen in der unmittelbaren Wirkung des Willens auf die Bewegungsorgane gegeben. Zu ihrer Ergänzung bedarf dieselbe jedoch einer Sinnesfläche, die peripherischen Reizen zugänglich ist, und als solche bietet sich zunächst das über die ganze Körperoberfläche ausgebreitete Tastorgan dar.

3) Vgl. Kap. IX.
4) Vgl. Kap. IX.

Nicht nur Empfindungen eines und desselben Sinnes, sondern auch disparate, d. h. verschiedenen Sinnen zugehörige Empfindungen können zu Vorstellungen vereinigt werden. Solche nennen wir dann komplexe Vorstellungen. Dabei zählen wir aber die Bewegungsempfindungen nicht als einen besonderen Sinn mit, sondern wir beschränken den Ausdruck auf jene Fälle, wo sich mehrere Vorstellungen von einander unabhängiger Sinne verbinden. So gibt uns der Gesichtssinn die Vorstellung eines ausgedehnten Körpers, der Tastsinn die Vorstellung seines Widerstandes oder seiner Schwere; so der Gesichtssinn die Vorstellung der schwingenden Saite, der Gehörssinn die Vorstellung des Klanges, der von ihr ausgeht, u. s. w. Man sieht sogleich, daß die Bestandteile einer solchen komplexen Vorstellung sehr viel loser mit einander vereinigt sind als die Teile einer einfachen Sinnesvorstellung. Die komplexe Vorstellung kann sich darum auch leicht wieder in die einfacheren auflösen, aus denen sie zusammengesetzt ist. Außerdem haben häufig ihre Bestandteile einen sehr verschiedenen Wert, indem an eine herrschende Sinnesvorstellung einige Vorstellungen anderer Sinne in inkonstanterer Weise sich anschließen. So kann mit der durch den Gesichtssinn vermittelten Vorstellung eines Körpers bald die seiner Schwere, bald die seines Geschmacks oder Geruchs sich verbinden: diese begleitenden Vorstellungen können dann aber zeitweise wieder verschwinden und der Gesichtsvorstellung allein Raum lassen. In dieser Weise gestalten sich namentlich unsere Gesichtsvorstellungen zu herrschenden Bestandteilen solcher Verbindungen. Wir denken fast allein in Gesichtsbildern und fügen den letzteren andere sinnliche Eigenschaften als accessorische und wechselndere Merkmale an. Häufig bleiben denn auch diese an sich auf der Stufe der reinen Empfindung. Erst indem die Empfindungen schwer, süß, wohlriechend u. s. w. zu Attributen irgend eines in der Gesichtsvorstellung gegebenen Körpers werden, sind sie selbst eigentlich Vorstellungen, d. h. nach Raum und Zeit, den allgemeinen Formen des Vorstellens, bestimmt. Endlich kann es noch vorkommen, daß nur gewisse Bestandteile einer komplexen Vorstellung in direkten Sinnesreizen ihre Ursache haben, andere aber zu den Einbildungsvorstellungen gehören. Denn die Erweckung einer Sinnesvorstellung durch eine andere, die häufig mit ihr verbunden vorkam, ist einer der geläufigsten Fälle der Reproduktion. So erweckt der Anblick des Zuckers die Vorstellung seines süßen Geschmacks, und letzterer ruft hinwiederum die Gesichtsvorstellung des weißen, kristallinischen Körpers hervor. Wenn die Vorstellung überhaupt das Bild eines Gegenstandes bedeutet, so entspricht die komplexe Vorstellung einem Gegenstand mit mehreren, disparaten Merkmalen. Die Möglichkeit komplexe Vorstellungen zu bilden begründet daher die Fähigkeit verschiedenartige Merkmale auf den nämlichen Gegenstand zu beziehen.
    Jede Vorstellung ist, so lange die Beziehung des anschauenden Subjektes zudem angeschauten Gegenstande sich nicht ändert, aus einer unveränderlichen Zahl von Empfindungen zusammengesetzt. Erst wenn der Gegenstand eine andere Beschaffenheit annimmt, oder aber wenn unser Standpunkt in Bezug auf denselben oder unsere Aufmerksamkeit sich verschiebt, verändert sich auch die Vorstellung. Wir bezeichnen die letztere, insofern ihr ein einzelner Gegenstand entspricht, als Einzelvorstellung. Diese ist wesentlich durch ihren konstanten Empfindungsinhalt gekennzeichnet. Hiervon unterscheiden sich nun jene Produkte der Vorstellungstätigkeit, denen nie ein bestimmter Gegenstand entspricht, sondern die, immer erst aus zahlreichen und wechselnden Eindrücken hervorgehend, einen variabeln Inhalt besitzen. Sie lassen sich wieder in zwei Klassen sondern: 1) in solche Vorstellungen, die nur in Bezug auf gewisse Bestandteile variabel sind, während andere konstant bleiben: dies sind die Allgemeinvorstellungen, und 2) in solche, die nach ihrem ganzen Inhalt variabel sind, so daß nur die inhaltsleere Form erhalten bleibt: dies sind die Anschauungsformen, Zeit und Raum. Es ist die gemeinsame Eigenschaft der Allgemeinvorstellungen und der Anschauungsformen, daß sie eigentlich niemals unmittelbar im Bewußtsein gegeben, sondern nur in der fortwährenden Veränderlichkeit des Vorstellens zu erfassen sind. So zerfließt die Allgemeinvorstellung Raum fortwährend in die verschiedensten Einzelvorstellungen, und selbst die relativ konstanteren Bestandteile der letzteren haben zwar eine Ähnlichkeit, die uns eben veranlaßt die ganze Gruppe zu einer Allgemeinvorstellung zu vereinigen, aber sie bleiben nicht identisch. Stamm und Wurzel, Zweige und Blätter zeigen überall dasselbe allgemeine Verhältnis der räumlichen Lage, doch jeder einzelne dieser Teile ist wieder unendlich variabel in seiner Größe und Gestalt. Raum und Zeit vollends erfassen wir nie anders als in der Form räumlich geordneter Gegenstände und zeitlicher Veränderungen an denselben. Unsere Raum- und Zeitanschauung besteht nur in dem Bewußtsein, daß für alles einzelne, was im Raum sich ausdehnt und in der Zeit geschieht, auch ein anderes gesetzt werden kann, ohne daß der allgemeine Charakter des Raumes und der Zeit sich verändert. Die Allgemeinvorstellungen und die Anschauungsformen existieren daher nie und nirgends als bestimmte Vorstellungsakte. Wirklichkeit haben in unserm Bewußtsein immer nur die Einzelvorstellungen, und jeder Versuch, aus einer Anzahl derselben das Gemeinsame oder die Form zu abstrahieren, führt unvermeidlich wieder zu einer Auflösung in fortwährend wechselnde Einzelvorstellungen.
    Die Vorstellung tritt, wie die Empfindung, in eine Beziehung zu dem Bewußtsein, dessen Bestandteil sie bildet. Auch hier kann von dieser Beziehung unter Umständen, wenn man nämlich die Vorstellung lediglich nach ihrer objektiven Natur und Bedeutung untersucht, abgesehen werden. Im Vergleich mit der zeitlichen und räumlichen Form ist daher die Beziehung zum Bewußtsein eine sekundäre Eigenschaft. Die Gefühle, die auf diese Weise entstehen, entspringen selbst erst aus den räumlichen und zeitlichen Verhältnissen. Indem das Bewußtsein bestimmte Verhältnisse ansprechend, andere unangemessen empfindet, treten in ihm gegensätzliche Zustände auf, die ihrer Natur nach dem Gebiet des Gefühls angehören, und die doch, da sie aus den Eigenschaften der Vorstellungen entspringen, über das an die Empfindungen geknüpfte rein sinnliche Gefühl hinausgehen. So scheint es denn zweckmäßig, diese Zustände als ästhetische Gefühle zu bezeichnen, da sie in der Tat den wesentlichsten Bestandteil jener künstlerischen Effekte ausmachen, die man der ästhetischen Wirkung zurechnet. Dies entspricht auch dem unmittelbaren Wortsinn, der auf die Wirkung des Wahrgenommenen, also der Vorstellungen hinweist. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß die gewöhnliche Begriffsbestimmung des Ästhetischen auch kompliziertere Gemütszustände intellektueller und ethischer Art mit umfaßt, die wegen ihrer verwickelten Beschaffenheit nicht in eine Analyse der psychischen Elementarphänomene gehören.