Sechstes Kapitel.

Allgemeine physiologische Mechanik des Nervensystems.

Die Betrachtung der physiologischen Leistungen des Nervensystems hat uns zu dem Satze geführt, daß dieselben, von den kompliziertesten Verrichtungen der Zentralorgane an bis herab zur Empfindung und Muskelzuckung, auf einfachste Vorgänge zurückweisen, aus welchen erst vermöge der vielfachen Verbindung der Elementarteile die physiologischen Effekte hervorgehen. So erbebt sich denn schließlich die Frage, wie jene bis jetzt unbekannten elementaren Funktionen, die in ihrem Zusammenwirken so mannigfache und verwickelte Leistungen herbeiführen, beschaffen sind.
    Die in der einzelnen Nervenfaser und Ganglienzelle wirksamen Vorgänge hat man auf zwei Wegen zu erkennen gesucht, von welchen wir den einen als den der inneren, den andern als den der äußeren Molekularmechanik des Nervensystems bezeichnen können. Die erstere geht von der Untersuchung der physikalischen und chemischen Eigenschaften der Nervenelemente aus, sie sucht die Veränderungen zu ermitteln, welche diese Eigenschaften in Folge der physiologischen Funktion erfahren, um auf solche Weise unmittelbar den inneren Kräften auf die Spur zu kommen, die bei den Vorgängen in den Nerven und Nervenzentren wirksam sind. So verlockend es aber auch scheinen mag, diesen Weg zu verfolgen, da derselbe das eigentliche Wesen der Nervenfunktionen unmittelbar zu enthüllen verspricht, so ist derselbe doch gegenwärtig noch allzu weit von seinem Ziele entfernt, als daß wir es wagen möchten uns ihm anzuvertrauen. Die Untersuchung der Zentralteile ist noch gar nicht in Angriff genommen, und unser Wissen über die inneren Vorgänge in den peripherischen Nerven beschränkt sich im wesentlichen darauf, daß die Funktion derselben von elektrischen und chemischen Veränderungen begleitet wird, deren Bedeutung bis jetzt unklar geblieben ist. So steht uns denn nur noch der zweite Weg offen, derjenige der äußeren Molekularmechanik. Sie läßt die Frage nach der speziellen Natur der Nervenkräfte völlig bei Seite, indem sie lediglich von dem Satze ausgeht, daß die Vorgänge in den Elementarteilen des Nervensystems Bewegungsvorgänge irgend welcher Art sind, deren Zusammenhang unter sich und mit den äußeren Naturkräften durch die für alle Bewegung gültigen Prinzipien der Mechanik bestimmt wird. Sie stellt sich also auf einen ähnlichen Standpunkt wie die allgemeine Theorie der Wärme in der heutigen Physik, wo man sich ebenfalls mit dem Satze begnügt, daß die Wärme eine Art der Bewegung ist, hieraus aber mit Hilfe der mechanischen Gesetze alle Erscheinungen in befriedigender Vollständigkeit ableitet. Damit der Molekularmechanik des Nervensystems das ähnliche gelinge, muß sie die Erscheinungen, welche die Basis ihrer Betrachtungen bilden, zunächst auf ihre einfachste Form bringen, indem sie die physiologische Funktion der nervösen Elemente erstens unter den einfachsten Bedingungen, die möglich sind, und zweitens, so weit dies geschehen kann, unter solchen Bedingungen, die im Experiment willkürlich beherrscht und variiert werden können, untersucht. Nun hat uns die Zergliederung der komplexen physiologischen Leistungen bereits auf den Begriff des Reizes geführt. Als die allgemeinen Ursachen der nervösen Vorgänge haben wir teils innere Reize, gewisse, rasch sich vollziehende Veränderungen in der Beschaffenheit des Blutes und der Gewebsflüssigkeiten, teils äußere Reize, Eindrücke auf die Endigungen der Sinnesnerven, kennen gelernt. Wo es sich aber um die Aufgabe handelt, Reize von gegebener Stärke und Dauer auf die Nervenelemente wirken zu lassen, da können in der Regel die natürlichen inneren und äußern Reize, da sich dieselben unserer experimentellen Beherrschung fast ganz entziehen, nicht zur Anwendung kommen. Wir benützen also künstliche Reize, am häufigsten elektrische Ströme und Stromstöße, welche sich ebensowohl durch die Leichtigkeit, mit der sie das Molekulargleichgewicht der Nervenelemente erschüttern, wie durch die große Genauigkeit, mit der sich ihre Einwirkungsweise bestimmen läßt, besonders empfehlen. Viel seltener wenden wir mechanische Stöße, Wärmeschwankungen oder schnell einwirkende chemische Mischungsänderungen an, Reizmittel, die in beiden Beziehungen weit unter dem elektrischen Strome stehen. Auch die Anwendungsweise der Reize ist meist eine künstliche, da wir sie selten auf die Endorgane der Sinnesnerven, niemals auf zentrale Ganglienzellen, die natürlichen Angriffspunkte der innern Reize, sondern in der Regel direkt auf peripherische Nerven einwirken lassen, weil diese sich am einfachsten und gleichförmigsten gegenüber dem Reize verhalten. Die Vorgänge in den Nervenfasern zergliedern wir, indem wir den der Untersuchung zugänglichsten peripherischen Erfolg der Nervenreizung, die Muskelzuckung nach Reizung des Bewegungsnerven, zum Maß der innern Vorgänge nehmen. Zur Erforschung der Veränderungen in den Ganglienzellen benutzen wir den einfachsten, einer äußeren Messung zugänglichen Vorgang, den die Reizung eines zentralwärts verlaufenden Nervenfadens im Zentralorgane auslöst, die Reflexzuckung. In beiden Fällen sucht man übrigens die Untersuchung dadurch zu vervollständigen, daß man auch andere einfache Effekte der Reizung vergleichend prüft, um auf diese Weise die besonderen Bedingungen auszuschließen, welche die spezielle Verbindungsweise der gereizten Nervenfaser mit sich führt. So wird neben der Muskelzuckung die Empfindung nach Reizung eines sensibeln Nerven untersucht; neben der Reflexzuckung werden andere Fälle, in denen die Reizung Ganglienzellen durchwandern muß, ehe sie einen Bewegungseffekt auslöst, herbeigezogen, wohin namentlich die Einflüsse gehören, welche peripherische Ganglien, z. B. diejenigen des Herzens, auf die ihnen zugeleiteten Vorgänge motorischer Innervation ausüben.
    Was wir Reizung oder Erregung nennen, ist nur der unbekannte Bewegungsvorgang, welcher in den Nervenelementen durch Reize hervorgerufen wird. Die Aufgabe einer physiologischen Mechanik der Nervensubstanz ist es, die durch die Erfahrung festgestellten Gesetze der Reizung auf die allgemeinen Gesetze der Mechanik zurückzuführen. Zu diesem Zweck müssen wir vor allem an denjenigen Hauptsatz der Mechanik erinnern, welcher den Zusammenhang aller Bewegungsvorgänge beherrscht; es ist dies der Satz von der Erhaltung der Arbeit.
    Unter Arbeit versteht man jede Wirkung, welche die Lage ponderabler Massen im Raume ändert. Die Größe einer Arbeit wird daher mittelst der Lageänderung gemessen, welche ein Gewicht von bestimmter Größe durch dieselbe erfahren kann. Durch Licht, Wärme, Elektrizität, Magnetismus können ponderable Massen ihren Ort verändern. Nun sind aber, wie wir annehmen, jene so genannten Naturkräfte nur Formen der Bewegung. Die verschiedensten Arten von Bewegung können also Arbeit vollbringen. Hierbei wird die Arbeit stets auf Kosten der Bewegung geleistet. Die Wärme des Dampfes z. B. besteht wahrscheinlich in geradlinigen, aber vielfach sich störenden Bewegungen der Dampfteilchen. Sobald der Dampf Arbeit vollbringt, indem er etwa den Kolben einer Maschine bewegt, verschwindet ein entsprechendes Quantum jener Bewegungen. Man drückt sich hier häufig so aus: es sei eine gewisse Menge Wärme in eine äquivalente Menge mechanischer Arbeit übergegangen. Genauer gesprochen, ist aber ein Teil der unregelmäßigen Bewegungen der Dampfteilchen verbraucht worden, um eine größere ponderable Masse in Bewegung zu setzen. Es ist also nur die eine Form der Bewegung in eine andere übergegangen, und die entstandene Arbeit, gemessen durch das Produkt der bewegten Masse in die zurückgelegte Wegstrecke, ist genau gleich einer Summe kleiner Arbeitsgrößen, welche durch das Produkt der Gewichte einer Anzahl Dampfteilchen in die von ihnen zurückgelegten Wegstrecken gemessen werden könnte, und welche verschwunden sind, während die äußere Arbeit vollbracht wurde. Man wird also richtiger sagen: die Molekulararbeit der Dampfteilchen ist zum Teil in die mechanische Arbeit des Kolbens übergegangen. Wenn wir bei der Reibung, Zusammendrückung der Körper mechanische Arbeit verschwinden und dafür Wärme auftreten sehen, so ist hierbei umgekehrt mechanische Arbeit in eine ihr entsprechende Menge von Molekulararbeit verwandelt worden. Nicht in allen Fällen, wo Wärme latent wird, entsteht übrigens mechanische Arbeit im gewöhnlichen Sinne. Sehr häufig wird die Wärme nur dazu verwandt, um die Teilchen der erwärmten Körper selbst in neue Lagen überzuführen. Bekanntlich dehnen alle Körper, am meisten die Gase, weniger die Flüssigkeiten und festen Körper, unter dem Einfluß der Wärme sich aus. Auch in diesem Fall verschwindet Molekulararbeit. Ähnlich wie diese im Beispiel der Dampfmaschine benutzt wird, um den Kolben zu bewegen, so wird sie hier zur Distanzänderung der Moleküle verbraucht. Die so geleistete Arbeit hat man als Disgregationsarbeit bezeichnet. Auch sie wird wieder in Molekulararbeit verwandelt, wenn die Teilchen in ihre früheren Lagen zurückkehren. Allgemein also kann Molekulararbeit entweder in mechanische Leistung oder in Disgregationsarbeit, und können hinwiederum diese beiden in Molekulararbeit übergehen. Die Summe dieser drei Formen von Arbeit aber bleibt unverändert dieselbe. Dies ist das Prinzip, welches man den Satz von der Erhaltung der Arbeit nennt.
    Ähnlich wie auf die Wärme, die allerdings verbreitetste und allgemeinste Form der Bewegung, findet der Satz von der Erhaltung der Arbeit auch auf andere Arten der Bewegung seine Anwendung. Dabei wird nur das eine Glied in der Kette der drei in einander übergehenden Bewegungen, die Beschaffenheit der Molekulararbeit, geändert. So kann z. B. durch Elektrizität ebenso wie durch Wärme Disgregationsarbeit und mechanische Arbeit hervorgebracht werden, aber die Art der Bewegung, welche wir Elektrizität nennen, ist jedenfalls eine andere, obzwar sie ihrer näheren Natur nach noch unbekannt ist. Es gibt also mit anderen Worten sehr verschiedene Arten von Molekulararbeit, es gibt aber im Grunde nur eine Disgregationsarbeit und nur eine Form der mechanischen Arbeit. Disgregation nennen wir stets die bleibenden Distanzänderungen der Moleküle, aus welcher Ursache dieselben auch eintreten mögen. Wenn wir die bloße Volumzunahme der Körper von der Änderung des Aggregatzustandes und diese wieder von der chemischen Zersetzung, der Dissociation, unterscheiden, so handelt es sich dabei eigentlich nur um Grade der Disgregation. Die mechanische Arbeit aber besteht überall in der Ortsveränderung ponderabler Massen. Nun kommt als eine wesentliche Ergänzung des Satzes von der Erhaltung der Arbeit die Tatsache hinzu, daß verschiedene Formen von Molekularbewegung unter Umständen in einander transformiert werden, d. h. daß die verschiedenen Arten von Molekulararbeit außer in Disgregation der Moleküle und in mechanische Arbeit auch in einander umgewandelt werden können. So kann z. B. ein gewisses Quantum elektrischer Arbeit gleichzeitig in Wärme, Disgregation und mechanische Arbeit übergehen, und ein gewisses Quantum der letzteren kann bei der Reibung gleichzeitig Elektrizität, Wärme und Disgregation erzeugen. Immer aber bleibt die Summe der Arbeit konstant.
    Man bemerkt leicht, daß hier überall die allgemeine Massenanziehung den Maßstab der geleisteten Arbeit abgibt. Jede mechanische Arbeit besteht darin, daß eine ponderable Masse der Schwere entgegen bewegt wird, sei es durch Hebung, sei es durch horizontale Fortbewegung eines Gewichtes. Wird das Gewicht gehoben, so vergeht zwischen dieser Arbeitsleistung und ihrer Verwandlung in andere Formen von Arbeit so lange Zeit, bis das Gewicht durch seine Schwere wieder zu Boden fällt: bei der horizontalen Fortbewegung einer schweren Masse dagegen geht vermöge der Reibung die mechanische Arbeit sogleich wieder in Wärme über. Die Disgregation verhält sich in dieser Beziehung ähnlich wie das gehobene Gewicht. Die Masseteilchen werden in einem zur Anziehungskraft, welche sie auf einander ausüben, entgegengesetzten Sinne bewegt, und die hierbei verrichtete Arbeit bleibt gewissermaßen ruhend, bis die Disgregation wieder aufgehoben wird, wo die nämliche Menge von Molekulararbeit entsteht, die erforderlich war sie hervorzubringen. Nun bleibt ein gehobenes Gewicht so lange im gehobenen Zustande, als durch irgend eine andere Arbeit, z. B. durch die Wärmebewegung ausgedehnten Dampfes, durch die Oszillationen der Moleküle eines Seils, an welchem man das Gewicht aufgehängt hat, seiner Schwere das Gleichgewicht gehalten wird. Ebenso bleibt die Disgregation der Moleküle eines Körpers so lange bestehen, als durch irgend eine innere Arbeit, z. B. durch Wärmeschwingungen, ihre Wiedervereinigung gehindert wird. Zwischen dem Momente, in welchem die Hebung des Gewichtes oder die Disgregation der Moleküle vor sich ging, und demjenigen, wo durch den Fall des Gewichtes oder die Vereinigung der Moleküle die zu jenem Geschäft erforderliche Arbeit wieder erzeugt wird, kann also während einer kürzeren oder längeren Zeit ein stationärer Zustand bestehen, in welchem gerade so viel innere Arbeit fortwährend verrichtet wird, als zur Erhaltung des Gleichgewichts erforderlich ist, so daß in dem vorhandenen Zustand, in der Lage der Körper und Moleküle, in der Temperatur, der elektrischen Verteilung, sich nichts ändert. Erst in dem Moment, wo durch eine Störung dieses Gleichgewichtszustandes das Gewicht fällt oder die Moleküle sich nähern, treten auch wieder Transformationen der Arbeit ein: die mechanische oder Disgregationsarbeit wird zunächst wieder in Molekulararbeit, in der Regel in Wärme, umgewandelt, diese kann teilweise abermals in mechanische Leistung oder in Disgregation der Moleküle übergehen, so lange bis durch irgend welche Umstande wieder ein stationärer Zustand eintritt. Insofern nun als in einem gehobenen Gewicht oder in disgregierten Molekülen eine gewisse Summe von Arbeit disponibel ist, welche in dem Moment frei werden kann, wo der Gleichgewichtszustand, der das Fallen des Gewichts oder die Verbindung der Moleküle hindert, aufhört, läßt sich jedes gehobene Gewicht und jede Disgregation auch als vorrätige Arbeit betrachten. Der Arbeitsvorrat ist hier natürlich genau so groß als diejenige Arbeit war, welche die Hebung oder Disgregation bewirkt hat, und als diejenige Arbeit sein wird, welche beim Fallen oder bei der Aggregation wieder zum Vorschein kommen kann. Der Satz von der Erhaltung der Arbeit läßt sich daher auch so ausdrücken: die Summe der wirklichen Arbeit und des Arbeitsvorrates bleibt unverändert. Es ist übrigens klar, daß dies nur ein besonderer Ausdruck ist für den Satz von der Erhaltung der Summe aller Arbeit, weil man unter Arbeitsvorrat nur eine durch wirkliche Arbeit herbeigeführte Gewichtshebung oder Disgregation versteht, welche durch einen stationären Bewegungszustand erhalten bleibt. Wäre es uns möglich die kleinsten oszillierenden Bewegungen der Atome ebenso wie die Bewegungen der Körper und ihre bleibenden Molekularveränderungen zu beobachten, so würden wir ohne Zweifel den Satz strenge richtig finden, daß alle wirkliche Arbeit konstant sei. Wo sich aber fortwährend die Masseteilchen durchschnittlich um die nämlichen Gleichgewichtslagen bewegen, da scheint uns die Materie ruhend. Wir nennen daher diejenige Arbeit, die in einem stationären Zustande gleichsam im verborgenen getan wird, vorrätige Arbeit. Statt dessen können wir sie auch als innere Molekulararbeit bezeichnen und davon diejenige Arbeit der Moleküle, welche entsteht, wenn der Gleichgewichtszustand der Temperatur, der elektrischen Verteilung sich ändert, als äußere Molekulararbeit unterscheiden.
    Fortwährend wechseln stationäre Zustände mit Veränderungen. Die Natur bietet daher ein unaufhörliches Schauspiel des Übergangs vorrätiger in wirkliche, wirklicher in vorrätige Arbeit. Wir wollen hier, als unsern Zwecken zunächstliegend, nur auf die Beispiele hinweisen, welche die Disgregation und ihre Umkehr in dieser Beziehung darbieten. Die verschiedenen Aggregatzustände beruhen, wie man vermutet, auf verschiedenen Bewegungszuständen der Moleküle. In den Gasen fliehen sich diese und bewegen sich daher so lange geradlinig weiter, bis sie auf eine Wand oder auf andere Moleküle treffen, vor denen sie zurückweichen. In den Flüssigkeiten oszillieren wahrscheinlich die Moleküle um bewegliche, in den festen Körpern um feste Gleichgewichtslagen. Um nun z. B. eine Flüssigkeit in Gas umzuwandeln, muß die Arbeit der Moleküle vergrößert werden. Dies geschieht, indem man ihnen Wärme zuführt. So lange nur die Molekulararbeit der Flüssigkeiten wächst, nimmt einfach die Temperatur derselben zu. Gestattet man aber gleichzeitig der Flüssigkeit sich auszudehnen, so geht außerdem ein Teil der Molekulararbeit in Disgregationsarbeit über. Läßt man endlich durch steigende Wärmezufuhr die Disgregation so weit gehen, daß die Flüssigkeitsteilchen aus den Sphären ihrer gegenseitigen Anziehung geraten so entsteht, indem die Flüssigkeit in Gas oder Dampf übergeht, plötzlich ein neuer Gleichgewichtszustand, zu dessen Herstellung eine große Menge von Molekulararbeit d. h. Wärme verbraucht wird. Entzieht man dem Dampf wieder Warme, vermindert man also dessen innere Arbeit, so wird umgekehrt ein Punkt erreicht, wo die mittleren Entfernungen der Moleküle so klein werden, daß sie wieder in die Sphäre ihrer wechselseitigen Anziehung kommen; bei dem Eintritt dieses ursprünglichen Gleichgewichtszustandes muß in Folge der wirksam werdenden Anziehungskräfte Molekulararbeit entstehen, d. h. Wärme frei werden, und zwar ist offenbar die im letzteren Fall entstehende Wärmemenge ebenso groß, wie diejenige, welche im ersten Falle verschwunden war.
    Im wesentlichen ähnlich verhält es sich mit der Lösung und Schließung chemischer Verbindungen. In jedem Körper kann man neben dem physikalischen einen chemischen Gleichgewichtszustand unterscheiden. Jedes Molekül im physikalischen Sinne besteht nämlich aus einer Mehrheit von chemischen Molekülen oder, wie man die nicht weiter zerlegbaren chemischen Moleküle auch nennt, von Atomen. Wie nun die Moleküle je nach dem Aggregatzustand des betreffenden Körpers in verschiedenen Bewegungszuständen sich befinden können, so die Atome je nach der Beschaffenheit der chemischen Verbindung. Die neuere Chemie hat unzweifelhaft dargetan, daß alle Körper Verbindungen sind. Die chemisch einfachen Körper unterscheiden sich nur dadurch, daß in ihnen gleichartige Atome mit einander verbunden sind. Das Wasserstoffgas ist also z. B. ebenso gut eine chemische Verbindung wie die Salzsäure, in jenem sind je zwei Atome Wasserstoff mit einander (H. H), in dieser ist je ein Atom Wasserstoff mit einem Chlor verbunden (H. Cl). Aber auch hier ist die scheinbare Ruhe der Materie ohne Zweifel nur ein stationärer Bewegungszustand. Die chemischen Atome einer Verbindung oszillieren um mehr oder weniger feste Gleichgewichtslagen. Auf die Art dieser Bewegung ist zugleich der physikalische Aggregatzustand von wesentlichem Einflusse. In Gasen und Flüssigkeiten nämlich nehmen in der Regel auch die chemischen Atome einen freieren Bewegungszustand an, indem hier und da solche aus ihren Verbindungen losgerissen werden, um sich dann alsbald wieder mit andern ebenfalls frei gewordenen Atomen zu verbinden. In der gasförmigen oder flüssigen Salzsaure z. B. ist zwar die durchschnittliche Zusammensetzung aller chemischen Moleküle = H Cl, dies hindert aber nicht, daß fortwährend einzelne Atome H und Cl sich vorübergehend in freiem Zustande befinden, aus dem sie stets sogleich wieder durch chemische Anziehungen in den gebundenen Zustand zurückkehren. Auf diese Weise erklärt sich befriedigend die leichtere Zersetzbarkeit, welche Gase und namentlich Flüssigkeiten der Wärme, Elektrizität und andern chemischen Verbindungen gegenüber darbieten1). In der Aggregation der chemischen Moleküle finden sich nun analoge Unterschiede, wie sie dem physikalischen Aggregatzustande zu Grunde liegen. Es gibt losere und festere chemische Verbindungen. Dort sind die Anziehungen, vermöge deren die Teilchen um gewisse Gleichgewichtslagen schwingen, schwächer, hier sind sie stärker. Diese Unterschiede der chemischen Aggregation sind natürlich von der physikalischen ganz unabhängig, da die physikalischen Moleküle immer schon chemische Aggregate sind: es können daher sehr feste Verbindungen im gasförmigen und sehr lose im festen Aggregatzustande vorkommen. Im allgemeinen gehören die Verbindungen gleichartiger Atome, also die chemisch einfachen Körper, zu den loseren Verbindungen, indem die meisten, einige Metalle abgerechnet, ziemlich leicht getrennt werden, um sich mit ungleichartigen Atomen zu verbinden. Anderseits verhalten sich die sehr zusammengesetzten Verbindungen wieder ähnlich, welche leicht in einfachere Verbindungen zerfallen. Hierher gehören z. B. die meisten so genannten organischen Verbindungen. Feste chemische Verbindungen sind sonach vorzugsweise unter den einfacheren Verbindungen ungleichartiger Atome zu finden. So z. B. sind Kohlensäure, Wasser, Ammoniak, viele Metalloxyde und unorganische Säuren schwer zerlegbare Verbindungen. Wie nun die verschiedenen Aggregatzustände in einander umgewandelt werden können, so können auch losere Verbindungen in festere übergehen und umgekehrt. Es gibt keine noch so feste Verbindung, welche nicht, wie st. CLAIRE deville nachgewiesen hat, durch Zufuhr bedeutender Wärmemengen Dissoziation erfahren könnte. Wie bei der Umwandlung einer Flüssigkeit in Gas, so verschwindet auch hier eine gewisse Menge innerer Arbeit der Wärme, um in Dissoziationsarbeit überzugehen. Ist die Dissoziation geschehen, so befinden sich nun die Atome in einem neuen Gleichgewichtszustande. Bei der Dissoziation von Wasser z. B. sind statt der festen Verbindung H2 O die loseren Verbindungen H. H und O. O entstanden, in denen die Schwingungszustände der Atome in ähnlicher Weise sich von denjenigen der festen Verbindung H2 O unterscheiden werden wie etwa die Schwingungszustände der Moleküle des Wasserdampfs und des Wassers, d. h. die Atome jener losen Verbindungen werden im Ganzen weitere Bahnen beschreiben und deshalb mehr innere Molekulararbeit verrichten. Eben um ihnen diese zuzuführen ist Wärme erforderlich. Die so zur Dissoziation aufgewandte Arbeit ist aber zugleich als vorrätige Arbeit vorhanden, weil, sobald der neue Gleichgewichtszustand der getrennten Moleküle gestört wird, sie sich verbinden können, wobei die zur Dissoziation aufgewandte Arbeit wieder als Wärme zum Vorschein kommt. Zugleich sind dabei die chemischen Moleküle in ihren früheren Gleichgewichtszustand übergegangen, in welchem die stationäre Arbeit, die sie bei den Bewegungen um ihre Gleichgewichtslagen verrichten, um den Betrag der beim Akt der Verbindung freigewordenen inneren Arbeit vermindert ist. So gleichen demnach die bei der Verbindung und Dissoziation auftretenden Erscheinungen vollkommen denjenigen, welche beim Wechsel der Aggregatzustände beobachtet werden, mit dem einzigen Unterschied, daß zur Dissoziation im allgemeinen viel bedeutendere Arbeitsmengen erforderlich sind als zur Disgregation, und daß daher auch der Austausch zwischen vorrätiger und wirklicher Arbeit dort viel bedeutendere Werte erreicht.

1) CLAUSIUS, Abhandlungen zur mechanischen Wärmetheorie II, S. 214. Braunschweig 1867.

Die lebenden Wesen nehmen durch die Regelmäßigkeit, mit der in ihnen die Schließung und Lösung chemischer Verbindungen vor sich gehen, an dem fortwährenden Wechsel vorrätiger und wirklicher, innerer und äußerer Arbeit einen bemerkenswerten Anteil. In den Pflanzen vollzieht sich eine Dissoziation fester Verbindungen. Kohlensäure, Wasser, Ammoniak, die Salpetersäure und Schwefelsäure der Nitrate und Sulfate werden von ihnen aufgenommen und in losere Verbindungen, wie Holzfaser, Stärke, Zucker, Eiweißstoffe u. s. w., zerlegt, in denen sich eine große Menge vorrätiger Arbeit anhäuft, während gleichzeitig Sauerstoff ausgeschieden wird. In den Tieren werden jene von der Pflanze erzeugten Verbindungen unter Aufnahme atmosphärischen Sauerstoffs, also durch einen Verbrennungsprozess, wieder in die festeren Verbindungen umgewandelt, aus denen die Pflanze dieselben geschaffen hatte, während gleichzeitig die in den organischen Verbindungen angehäufte vorrätige Arbeit in wirkliche Arbeit, teils in Wärme teils in äußere Arbeit der Muskeln, übergeht. Die Stätte, von welcher aus alle diese Arbeitsleistungen der Tiere beherrscht werden, ist das Nervensystem. Es hält jene Funktionen im Gang, welche die Verbrennungen bewirken, es reguliert die Verteilung und Ausstrahlung der Wärme, es bestimmt die Muskeln zu ihrer Arbeit. Vielfach, und namentlich in dem letzteren Fall, stehen zwar die von dem Nervensystem ausgehenden Wirkungen selbst unter dem Einflusse äußerer Bewegungen, nämlich der Sinneseindrücke. Aber die eigentliche Quelle seiner Leistungen liegt nicht in diesen, sondern in den chemischen Verbindungen, aus welchen sich die Nervenmasse zusammensetzt, und welche in wenig veränderter Form der Werkstätte der Pflanze entnommen sind. In ihnen ist die vorrätige Arbeit angehäuft, die sich unter dem Einfluß äußerer Eindrucke in wirkliche umsetzt.
    Die Verbindungen, welche die Nervenmasse zusammensetzen, befinden sich, so lange nicht Reizungsvorgänge verändernd einwirken, annähernd in jenem stationären Zustande, der nach außen als vollkommene Ruhe erscheint. Diese Ruhe ist aber nur eine scheinbare, wie in allen Fällen, wo es sich um stationäre Bewegungszustände handelt. Die Atome jener komplexen Verbindungen sind in fortwährenden Bewegungen, da und dort geraten sie aus den Wirkungssphären der Atome, mit denen sie bisher verbunden waren, hinaus und in die Wirkungssphären anderer, gleichfalls frei gewordener Atome hinein. Fortwährend wechseln also in einer solchen leicht zersetzbaren Flüssigkeit, wie sie die Nervenmasse bildet, Schließung und Lösung chemischer Verbindungen, und die Masse erscheint nur deshalb stationär, weil sich durchschnittlich ebenso viele Zersetzungen als Verbindungen vollziehen. Im vorliegenden Beispiele ist dies aber nicht einmal strenge richtig: der Zustand der Nervenelemente ist auch während ihrer Ruhe kein vollkommen stationärer. Bei so komplexen Verbindungen ereignet es sich nämlich stets, daß die aus ihren bisherigen Wirkungssphären losgerissenen Atome teilweise nicht in dieselben oder ähnliche Verbindungen wieder eintreten, aus denen sie ausgeschieden waren, sondern daß einige unter ihnen sich zu einfacheren und festeren Verbindungen vereinigen. Man bezeichnet diesen Vorgang als Selbstzersetzung. Im lebenden Organismus werden jedoch die von der Selbstzersetzung herrührenden Störungen des Gleichgewichts ausgeglichen, indem fortwährend die Zersetzungsprodukte entfernt und dafür von neuem Materialien für die Erneuerung der Gewebsbestandteile zugeführt werden. Wir können deshalb die Sache so ansehen, als wenn die ruhende Nervensubstanz in Wahrheit eine Flüssigkeit in stationärem Bewegungszustände wäre. In einer solchen Flüssigkeit wird keine Arbeit nach außen frei, sondern die von den einzelnen Atomen erzeugten Arbeitswerte vernichten sich immer gegenseitig wieder. Diese Vernichtung geschieht zu einem großen Teil schon innerhalb der komplexen chemischen Moleküle. Indem nämlich die Atome jedes Moleküls um ihre Gleichgewichtslagen oszillieren, verrichtet jedes eine gewisse Arbeit, die aber durch die Gegenwirkung anderer Atome wieder kompensiert und so außerhalb des Moleküls gar nicht merkbar wird. Diese innere Molekulararbeit ist es, die bei einer losen chemischen Verbindung wegen der ausgiebigeren Bewegungen ihrer Atome viel bedeutender ist als bei einer festen chemischen Verbindung, sie ist es daher, welche vorrätige Arbeit repräsentiert, insofern bei einer Störung des seitherigen Gleichgewichtszustandes die losere in eine festere Verbindung übergehen kann, wo dann der in der ersteren enthaltene Mehrbetrag innerer zu äußerer Molekulararbeit wird. Teilweise findet aber die Herstellung des Gleichgewichts erst außerhalb der chemischen Moleküle statt. Indem nämlich fortwährend Atome aus loseren in festere Verbindungen eintreten, muß Arbeit entstehen; indem anderseits Atome aus loseren in festere Verbindungen übergeführt werden, muß hinwiederum Arbeit verschwinden, und zwar ist es in beiden Fällen äußere Molekulararbeit, also im allgemeinen Wärme, welche erzeugt und wieder verbraucht wird. Nennen wir die beim Entstehen der festeren Verbindung zum Vorschein kommende Arbeit positive Molekulararbeit, so läßt sich die bei der Eingehung der loseren Verbindung verschwindende als negative bezeichnen. Die Bedingung für das wirkliche Gleichgewicht einer zersetzbaren Flüssigkeit wie die Nervenmasse wäre also die, daß die innere Molekulararbeit oder der Arbeitsvorrat unverändert bleibt, dadurch daß die Mengen positiver und negativer äußerer Molekulararbeit fortwährend sich ausgleichen, oder, wie wir es auch ausdrücken können: die innere Molekulararbeit muß konstant bleiben, indem alles was von derselben in äußere Molekulararbeit übergeht wieder durch Bückverwandlung in innere Molekulararbeit ersetzt wird. Diese Bedingung ist allerdings, wie schon bemerkt, immer nur annähernd erfüllt, indem in Wahrheit der Betrag der positiven äußeren Molekulararbeit stets etwas überwiegt; wir können aber von dieser unbedeutenden Störung in Folge der Selbstzersetzung hier absehen, und fragen uns demnach: welche Veränderungen treten in jenem stationären Zustande des Nerven ein, wenn sich der Vorgang der Reizung entwickelt?
    Die einfachste Erscheinung, welche über die Natur der Reizungsvorgänge im Nerven Aufschluß zu geben vermag, ist der Eintritt und Verlauf der Muskelzuckung nach Reizung des Bewegungsnerven. Die Fig. 55 zeigt einen solchen Verlauf, wie er vom Wadenmuskel eines Frosches mittelst einer an ihm befestigten Hebelvorrichtung unmittelbar auf eine rasch bewegte berußte Glasplatte aufgezeichnet wurde. Der vertikale Strich zur Linken bezeichnet den Moment der Reizung des Nerven. Die so erhaltene Kurve lehrt, daß der Beginn der Zuckung unter allen Umständen merklich später eintritt als die Reizung erfolgte, und daß dann die Kontraktion anfangs mit beschleunigter, später mit abnehmender Geschwindigkeit ansteigt, worauf in ähnlicher Weise allmälig die Wiederverlängerung eintritt. War der Reiz momentan, so ist die ganze Zuckung meist in 0,08—0,1 Sec. vollendet, und davon kommt, falls der Nerv unmittelbar über dem Muskel oder seine Ausbreitung im Muskel selbst gereizt wurde, etwa 0,01 Sec. auf die zwischen dem Reiz und der beginnenden Zuckung verfließende Zeit, welche man das Stadium der latenten Reizung zu nennen pflegt. Diese Erfahrung macht es wahrscheinlich, daß der Bewegungsvorgang im Nerven ein ziemlich langsamer ist. Aber da hierbei zunächst unbestimmt bleibt, wie viel von dieser Langsamkeit der Vorgänge auf die Trägheit der Muskelsubstanz zu beziehen sei, so ist das gewonnene Ergebnis nicht von entscheidendem Werte.
    Näher tritt man schon der Bewegung im Nerven selbst, wenn man diesen an zwei verschiedenen Stellen seiner Länge reizt, einmal möglichst entfernt von dem Muskel, das zweite Mal demselben möglichst nahe, und zugleich den Versuch so einrichtet, daß der Zeitpunkt der Reizung jedes Mal dem nämlichen Punkt jener Abszissenlinie entspricht, auf welcher sich die Zuckungskurve erhebt. Man bemerkt dann, wenn der Reiz in beiden Fällen die gleiche Intensität besitzt, und vorausgesetzt daß der Nerv sich in möglichst unverändertem Zustande befindet, einen doppelten Unterschied der beiden Kurven. Erstens nämlich fängt, wie helmholtz entdeckte, die dem entfernteren Reiz entsprechende Zuckungskurve später an, das Stadium ihrer latenten Reizung ist größer, und zweitens ist, wie zuerst PFLÜGER fand, die weiter oben ausgelöste Zuckung die stärkere, sie ist höher und, wie ich hinzufügen muß, von längerer Dauer. Will man also zwei gleich hohe Zuckungen hervorbringen, so muß für die vom Muskel entferntere Nervenstelle ein etwas schwächerer Reiz gewählt werden; auch dann pflegt übrigens noch die entsprechende Zuckung eine etwas längere Zeit zu beanspruchen, vorausgesetzt daß man die Untersuchung am lebenden Tier vornimmt. Die beiden Zuckungen unterscheiden sich also nun so wie es die Fig. 56 zeigt: die kleine Strecke zwischen dem Anfang der Zuckungen entspricht offenbar der Zeit, welche die Erregung braucht, um sich von der oberen zur unteren Reizungsstelle fortzupflanzen, die höher oben ausgelöste Zuckung erreicht aber, obgleich sie in diesem Fall schon durch einen schwächeren Reiz erregt wurde, noch später die Abszissenlinie, als ihrem verspäteten Eintritt entspricht. So ergibt sich denn aus diesen Versuchen erstens, daß der Bewegungsvorgang der Reizung ein äußerst langsamer ist, — er berechnet sich für den Froschnerven bei gewöhnlicher Sommertemperatur zu 26, für den Nerven des Warmblüters bei der normalen Eigenwärme desselben zu 32 Meter in der Sekunde, — und zweitens, daß bei demselben keine einfache Übertragung und Fortpflanzung der äußern Reizbewegung stattfindet, sondern daß in dem Nerven selbst Bewegungsvorgänge ausgelöst werden, welche bei der Fortpflanzung zunehmen oder, wie sich PFLÜGER ausdrückt, daß die Reizung anschwillt bei ihrer Forlpflanzung2).

2) Vgl. mein Lehrbuch der Physiol. 3te Aufl. S. 508) und meine Untersuchungen zur Mechanik, der Nerven und Nervenzentren, Abth. l, Erlangen 1871. S. 177.

So bedeutungsvoll aber auch diese Resultate sind, so gestatten sie doch noch keinen Einblick in die eigentliche Mechanik der Reizungserscheinungen. Um einen solchen zu gewinnen, müssen wir uns über den Zustand des Nerven in jedem Moment der auf die Reizung folgenden Zeit Aufschluß verschaffen. Dies ist nur möglich, indem man in jedem Moment der Reizungsperiode das Verhalten des Nerven gegen einen andern, prüfenden Reiz von konstanter Größe untersucht. Auch hier ist natürlich, ebenso wie bei der einfachen Muskelzuckung, die Trägheit der Muskelsubstanz von mitbestimmendem Einflusse, aber derselbe wird, ähnlich wie bei den Versuchen über die Fortpflanzung der Reizung, dadurch eliminiert, daß in solchen Fällen, wo die von der Muskelsubstanz herrührenden Einflüsse konstant bleiben, die beobachteten Veränderungen nur von veränderten Bedingungen der Reizung im Nerven herrühren können3)

3) Die ausführliche Darstellung der im folgenden zusammengefaßten Versuchsergebnisse ist in der ersten Abteilung meiner Untersuchungen zur Mechanik der Nerven und Nervenzentren enthalten.

Bei jedem Reizungsvorgange machen sich in der Nervenfaser zwei einander entgegengesetzte Wirkungen geltend, solche, die auf die Erzeugung äußerer Arbeit (Muskelzuckung, Sekretion, Reizung von Ganglienzellen) gerichtet sind, und andere, welche die frei werdende Arbeit wieder zu binden streben. Die ersteren lassen sich kurz als die erregenden Wirkungen bezeichnen, weil sie den Vorgang der Erregung bedingen. Die Wirkungen zweiter Art können wir die hemmenden nennen, insofern sie die von der Erregung ausgelösten Effekte zu hemmen suchen. Der ganze Verlauf der Reizung ist daher von den in jedem Zeitmoment wechselnden Wirkungen der Erregung und Hemmung abhängig. Um durch den Prüfungsreiz nachzuweisen, welcher dieser Vorgänge, ob Erregung, ob Hemmung, im Übergewicht sei, kann man entweder sich an die Untersuchung solcher Reizungsvorgänge halten, welche so schwach sind, daß sie an und für sich keine Muskelzuckung auslösen, oder es muß, so lange die Muskelkontraktion abläuft, der Einfluß derselben eliminiert werden. Dies geschieht, indem man in solchen Fällen, wo es sich um den Nachweis gesteigerter Reizbarkeit handelt, den Muskel überlastet, d, h. mit einem so bedeutenden Gewicht beschwert, daß sowohl die ursprüngliche wie die durch den Prüfungsreiz für sich ausgelöste Zuckung ganz oder fast ganz unterdrückt wird, so daß höchstens noch eine minimale Zuckung möglich ist. Löst dann der Prüfungsreiz während des Ablaufs der ersten Reizung trotzdem eine Zuckung aus, so deutet dies auf eine Zunahme der erregenden Wirkungen, und für die Größe der letzteren gibt die Höhe der Zuckung ein ungefähres Maß ab. Die Fig. 57 gibt ein Beispiel dieses Verfahrens. Der Reizungsvorgang, um dessen Untersuchung es sich handelt, ist durch die Schließung eines konstanten Stromes in aufsteigender Richtung (wobei also die positive Elektrode dem Muskel näher, die negative von ihm ferner war) hervorgerufen worden. Diese Schließung erfolgte im Zeitmomente a. Der nicht überlastete Muskel hat in Folge der Reizung die Zuckung a' gezeichnet. Durch die nun ausgeführte Überlastung wurde dieselbe auf die minimale Höhe R herabgedrückt. Als Prüfungsreiz, der den Zustand des Nerven in verschiedenen Momenten des Reizungsvorganges feststellen sollte, wurde ein Öffnungsinduktionsschlag gewählt, der eine kurze Strecke unterhalb der vom konstanten Strom gereizten Nervenstrecke einwirkte. Die Zuckung, welche derselbe, so lange der Reizungsvorgang durch den konstanten Strom nicht eingeleitet wurde, am überlasteten Muskel bewirkte, war ebenfalls eine minimale. Nun wurde eine Reihe von Versuchen ausgeführt, bei deren jedem, während der Muskel überlastet war, zunächst im Moment a der Nerv durch Schließung des konstanten Stromes gereizt und dann in einem bestimmten Moment die Auslösung des Prüfungsreizes bewerkstelligt wurde: in einem ersten Versuch geschah dies im Moment a, in einem zweiten in b, dann in c, d u. s. w. Die so durch die Prüfungsreize ausgelösten Zuckungen waren sukzessiv b', c', d ', e', f ', g'. Der Verlauf dieser Zuckungskurven zeigt deutlich, daß in dem gereizten Nerven eine Zustandsänderung eintritt, welche sich im vorliegenden Fall als gesteigerte Reizbarkeit verrät. Diese beginnt kurz nach der Reizung a, erreicht ein Maximum, welches ungefähr mit dem Höhepunkt der Zuckungen a' und R zusammenfällt (e, e'), und nimmt endlich allmälig wiederum ab, doch dauert sie, wie die letzte Prüfung g g' zeigt, erheblich länger an als die primäre Zuckung a' 4).

4) Untersuchungen zur Mechanik der Nerven S. 74.

Wo nicht, wie in dem hier gewählten Beispiel, die erregenden, sondern die hemmenden Wirkungen überwiegen, da ist natürlich der Kunstgriff der Überlastung nicht anwendbar, es kann dann aber aus der Größe des vom Prüfungsreize während des Ablaufs der Zuckung hervorgebrachten Effektes leicht auf hemmende Wirkungen geschlossen werden. So läßt sich auf das Übergewicht der Hemmungen mit Sicherheit dann schließen, wenn der Prüfungsreiz gar keinen Effekt hervorbringt, da sich, sobald die erregenden Wirkungen im Übergewicht sind, die Prüfungszuckung einfach zu der im Gang befindlichen Zuckung hinzuaddiert. Ein derartiges Beispiel zeigt die Fig. 58 5). Der untersuchte Reizungsvorgang wurde hier wieder durch die Schließung eines aufsteigenden konstanten Stromes hervorgebracht, und der Prüfungsreiz war, wie vorhin, ein unter der durchflossenen Strecke einwirkender Öffnungsinduktionsschlag. In den zwei nach einander ausgeführten Versuchen A und B wurde jedesmal im Moment a der Strom geschlossen, und im Moment b wirkte der Prüfungsreiz ein. Zuerst wurde in jedem Versuch die Wirkung des Stromes ohne den Prüfungsreiz und dann die Wirkung des letzteren ohne die vorausgegangene Stromesschließung untersucht: so wurden die Zuckungen C und R, die in A und B völlig übereinstimmen, erhalten. Dann wurde, nachdem bei a die Schließung erfolgt war, sogleich bei b der Prüfungsreiz ausgelöst. Hier stellte sich nun in den Versuchen A und B ein völlig verschiedener Effekt heraus: in A wurde bloß eine Zuckung C gezeichnet, ganz so als wenn der Prüfungsreiz R gar nicht eingewirkt hätte (was durch das Zeichen R C = 0 angedeutet ist), in B fiel der Anfang der Zuckungskurve mit C zusammen, in einem dem Beginn der Zuckung R entsprechenden Momente aber erhob sie sich über C, so daß die Kurve R C einfach aus einer Superposition der beiden Zuckungen C und R hervorgegangen scheint. Aus diesem Verhalten werden wir offenbar schließen dürfen, daß in A während des Verlaufs der Reizung C eine starke Hemmung bestanden hat, während in B entweder erregende Wirkungen überwogen oder gar keine Veränderung der Reizbarkeit existierte. Die letztere Alternative läßt sich nur entscheiden, wenn man wieder in der vorhin angegebenen Weise durch Überlastung die Zuckungen C und R auf null oder auf eine minimale Höhe herabdrückt. Dieses Verfahren lehrte, wie ich hinzufügen will, daß in diesem Fall in der Tat im Versuch B die erregenden Wirkungen im Übergewicht waren.

5) Ebend. S. 72.

Der Unterschied in den Versuchsbedingungen von A und B bestand nun darin, daß in A der Prüfungsreiz sehr nahe bei der vom konstanten Strom gereizten Strecke angebracht wurde, während er in B näher beim Muskel lag. Diese Versuche lehren uns also, daß während eines und desselben Reizungsvorganges an der einen Nervenstrecke die hemmenden, an der andern die erregenden Wirkungen überwogen.
    In allen diesen Fällen hängt es übrigens von der Art der Prüfung ab, welche der einander widerstrebenden Wirkungen, ob die erregende oder hemmende, deutlicher nachweisbar ist. Durchweg sind schwache Reize günstiger zur Nachweisung der Hemmung, stärkere zur Nachweisung der Erregung. Prüft man einen und denselben Reizungsvorgang abwechselnd mit schwachen und mit starken Reizen, so ergibt sich, daß bei den meisten Reizungen während des größten Teils ihres Verlaufs sowohl die erregenden wie die hemmenden Wirkungen gesteigert sind. In derselben Reizungsperiode, in welcher der Effekt schwacher Prüfungsreize ganz unterdrückt wird, kann nämlich der Effekt starker Prüfungsreize vermehrt sein6). Ein Beispiel dieser Art, welches der Periode des Abklingens der Erregung angehört, zeigt die Fig. 59. Die Zuckung C ist durch den untersuchten Reizungsvorgang, R durch den Prüfungsreiz ausgelöst; in A wurde ein schwacher, in B ein starker Prüfungsreiz angewandt. RC bezeichnet in beiden Fällen diejenige Zuckung, welche der Prüfungsreiz unter dem Einfluß der Erregung C bewirkte: sie ist in A gleich null, in B übersteigt sie beträchtlich die Zuckung R. C ist in diesem Fall die Schließungszuckung eines aufsteigenden konstanten Stromes, und es ist der Reizungsvorgang unterhalb der durchflossenen Strecke untersucht worden.

6) Ebend. S. 109 f.

Um ein gewisses Maß zu gewinnen für das Verhältnis, in welchem in jedem Moment der Reizungsperiode die hemmenden zu den erregenden Wirkungen stehen, wird man hiernach am geeignetsten konstant erhaltene Reize von mäßiger Stärke benutzen, die für Hemmung und Erregung ungefähr gleich empfindlich sind. Aus solchen Versuchen ergibt sich nun, daß der Reizungsvorgang, welcher sich nach Einwirkung eines momentanen Reizes, z. B. eines elektrischen Stromstoßes oder einer mechanischen Erschütterung, entwickelt, ungefähr folgenden Verlauf nimmt. Im Moment des Eintritts der Reizung und kurz nach demselben reagiert der Nerv gar nicht auf den schwachen Prüfungsreiz: ob der letztere einwirkt oder nicht, der Reizungsvorgang läuft in der nämlichen Form ab7). Läßt man also zuerst einen Reiz R (Fig. 60), dann einen Reiz C und endlich die beiden Reize R, C gleichzeitig auf die nämliche Stelle oder auf zwei von einander nicht allzuweit entfernte Stellen des Nerven einwirken, so fällt die im dritten Fall gezeichnete Zuckung RC genau mit der stärkeren der beiden Zuckungen R oder C, in unserm Beispiel (Fig. 60 A) mit R, zusammen. Derselbe Erfolg tritt ein, wenn man zwischen den Momenten a, b der Reizung nur eine sehr kurze Zeit verfließen läßt. Sobald aber diese Zwischenzeit um ein merkliches wächst, so übertrifft die kombinierte Zuckung die beiden einfachen, und noch ehe der Zeitunterschied die gewöhnliche Zeit der latenten Reizung erreicht, kann leicht RC die Summe der beiden Zuckungen R und C übertreffen, namentlich wenn man sehr schwache Reize wählt, welche nur minimale Zuckungen auslösen (Fig. 60 B). Dieses Anwachsen der Reizbarkeit nimmt nun zu bis zu einem Zeitmoment, der ungefähr dem Höhepunkt der Zuckung entspricht, um dann einer Wiederabnahme Platz zu machen; doch ist noch eine längere Zeit nach dem Ende der Zuckung die gesteigerte Reizbarkeil nachzuweisen. Die Fig. 57 zeigt diesen weiteren Verlauf vollständig, man sieht in derselben deutlich die größte Prüfungszuckung mit dem Maximum der Zuckung a' zusammenfallen. Demnach läßt sich der zeitliche Verlauf des Reizungsvorganges im allgemeinen in drei Stadien trennen: in das Stadium der Unerregbarkeit, in das Stadium der wachsenden und in das Stadium der wiederabnehmenden Erregbarkeit.

7) Ebend. S. 63 u. 100.

Häufig kommt es vor, daß das letzte Stadium durch eine kurze Zeitperiode unterbrochen wird, während deren plötzlich die Reizbarkeit stark abnimmt, um dann rasch abermals anzusteigen. Diese Abnahme fällt immer mit dem Ende der Zuckung zusammen, sie gibt sich wegen der Schnelligkeit, mit der sie vergeht, nur in einer vergrößerten Latenz des Prüfungsreizes zu erkennen, und sie ist regelmäßig nur bei sehr leistungsfähigen Nerven anzutreffen. Sobald der Nerv ermüdet, schwindet daher diese Erscheinung. Eine solche vorübergehende Hemmung nach Ablauf der Zuckung ist in Fig. 61 sichtbar. Die Zuckung links entspricht dem untersuchten Reizungsvorgang, rechts gehört die nicht bezeichnete Zuckung der einfachen Einwirkung des Prüfungsreizes an, RC ist die vom letzteren unter dem Einfluß der vorausgegangenen Reizung ausgelöste Zuckung. In A ist der Nerv im frischen, vollkommen leistungsfähigen Zustande, in B derselbe Nerv nach der Ermüdung durch mehrmalige Reize untersucht worden8).

8) Ebend. S. 86, 190, 200.

Diese Abhängigkeit der vorübergehenden Hemmungen von der Leistungsfähigkeit der Nerven beweist zugleich, daß es sich hier nicht etwa um eine Erscheinung handelt, welche durch die Trägheit der Muskelsubstanz bedingt ist. Wäre letzteres der Fall, so könnte nicht im einen Fall nach dem Ablauf der Zuckung die Hemmung erscheinen, im andern dagegen ausbleiben, obgleich sich im Verlauf der durch die untersuchte Reizung ausgelösten Muskelkontraktion nichts wesentliches geändert hat. Anders verhält es sich allerdings mit dem in den Anfang der Reizung fallenden Stadium der Unerregbarkeit. Dieses kann teilweise davon herrühren, daß der Muskel, nachdem die Reizung in ihm angelangt ist, eine gewisse Zeit braucht, um in den kontrahierten Zustand überzugehen. Aber teilweise kommt die Erscheinung jedenfalls auch auf Rechnung der hemmenden Kräfte des Nerven. Der Beweis hierfür liegt darin, daß die Dauer jenes Stadiums wesentlich von der Beschaffenheit des auf den Nerven wirkenden Reizes abhängt: dasselbe ist z. B. durchweg beträchtlich verlängert bei demjenigen Erregungsvorgang, welcher zur Seite der Anode des konstanten Stromes abläuft.
    In Bezug auf das Verhältnis der erregenden und hemmenden Wirkungen läßt demnach der ganze Verlauf der Reizungsvorgänge folgendermaßen sich darstellen. Mit dem Eintritt des Reizes beginnen im Nerven gleichzeitig erregende und hemmende Wirkungen. Davon überwiegen zunächst die letzteren bedeutend. Im weiteren Verlauf aber wachsen sie langsamer, während die erregenden Wirkungen schneller zunehmen. Häufig behalten diese ihr Übergewicht bis der ganze Vorgang vollendet ist. Ist ein sehr leistungsfähiger Zustand des Nerven vorhanden, so kommen jedoch unmittelbar nach dem Ablauf der Zuckung noch einmal vorübergehend die hemmenden Wirkungen zur Geltung. Die letztere Tatsache zeigt, daß der Vorgang kein vollkommen stetiger ist, sondern daß der rasche Effekt der erregenden Wirkungen, wie er bei der Zuckung stattfindet, immer eine Reaktion der hemmenden Wirkungen nach sich zieht. Das Freiwerden der Erregung findet etwa ähnlich einer plötzlichen Entladung statt, wobei rasch die für dieselbe disponibeln Kräfte verbraucht werden, so daß während einer kurzen Zeit die entgegengesetzten Kräftewirkungen zum Übergewicht gelangen. Die Fig. 62 versucht diesen Verlauf der Vorgänge graphisch zu versinnlichen. Bei r r' liegt der Moment der Reizung, die Kurve a b stellt den Gang der erregenden, die Kurve c d den Gang der hemmenden Wirkungen dar. Wir nehmen an, daß schon vor der Einwirkung des Reizes erregende und hemmende Antriebe im Nerven vorhanden sind, die sich aber das Gleichgewicht halten: wir setzen sie den Ordinaten xa und xc proportional. Die Erregungskurve macht in dem Zeitmoment m, der dem Ende der Zuckung entspricht, entweder eine rasche Biegung unter die Abszissenlinie (der vorübergehenden Hemmung entsprechend), oder sie setzt (wie die unterbrochene Linie andeutet) kontinuierlich ihren Verlauf fort. Die Hemmungskurve zeichnet durch den raschen Fall in ihrem Anfang sich aus. Was wir Leistungsfähigkeit des Nerven nennen ist nun augenscheinlich eine gleichzeitige Funktion von Hemmung und Erregung. Je leistungsfähiger der Nerv ist, um so mehr sind in ihm sowohl die hemmenden wie die erregenden Kräfte gesteigert. Beim erschöpften Nerven sind beide, vorzugsweise aber die hemmenden Kräfte vermindert. Hier ist daher die Reizbarkeit größer, die vorübergehenden Hemmungen nach Ablauf der Zuckung sind nicht mehr wahrnehmbar, der ganze Verlauf der Zuckung ist gedehnter, und diese hinterläßt eine längere Zeit noch gesteigerte Reizbarkeit. Aber die Abnahme auch der erregenden Kräfte spricht sich in der geringeren Höhe der auf stärkere Reize erfolgenden Zuckungen und in dem langsameren Eintritt der letzteren aus. Auch das Stadium der latenten Reizung ist von längerer Dauer, der Nerv bedarf also, wie es scheint, mehr Zeit, um die zur Auslösung der Muskelzuckung erforderlichen Kräfte zu sammeln9). Erscheinungen, welche denjenigen gleichen, durch welche sich der herabgesetzte Kräftezustand verrät, lassen sich durch die Einwirkung der Kälte hervorbringen, wogegen der Einfluß einer höheren Temperatur umgekehrt in Symptomen sich äußert, die dem Zustand hoher Leistungsfähigkeit ähnlich sind. Freilich besteht der Unterschied, daß die Wärmezufuhr den Kräftevorrat nicht ersetzen kann, daß also, indem durch sie während einer kurzen Zeit der Nerv zu bedeutenden Leistungsäußerungen fähig ist, nur um so rascher die inneren Kräfte desselben verbraucht werden10).

9) Um die beiden hier geschilderten Zustände des Nerven kurz zu bezeichnen, habe ich denjenigen, in welchem der innere Kräftevorrat herabgesetzt ist, den asthenischen, den entgegengesetzten den sthenischen Zustand genannt. (A. a. O., S. 43 und 342.)

10) Ebend. S. 208.

Einer besondern Erwähnung bedarf noch die Reizung durch den konstanten galvanischen Strom. Dieser wirkt im allgemeinen sowohl bei seiner Schließung wie bei seiner Öffnung erregend auf den Nerven, in beiden Fällen ist aber der Reizungsvorgang im Bereich der Anode ein wesentlich anderer als im Bereich der Kathode. In der Nähe der letzteren sind bei Strömen von nicht allzu bedeutender Stärke die der Schließung zunächst folgenden Vorgänge von derselben Beschaffenheit, wie sie nach momentanen Reizen in der ganzen Länge des Nerven gefunden werden: der einzige Unterschied besteht darin, daß die erregenden und hemmenden Wirkungen in ermäßigtem Grade fortdauern so lange der Strom geschlossen ist, indem zugleich fortwährend die Erregung im Übergewichte bleibt. Anders verhält es sich aber in der Nähe der Anode: hier sind hemmende Kräfte von bedeutender Stärke wirksam, welche mit der Stromintensität weit rascher zunehmen als die erregenden Wirkungen, so daß bei etwas stärkeren Strömen, falls die Anode gegen den Muskel hin liegt, die an derselben stattfindende Hemmung die Fortpflanzung der an der Kathode beginnenden Erregung zum Muskel hindert. In Folge davon nimmt mit der Verstärkung des aufsteigend gerichteten Stromes die Schließungszuckung sehr bald wieder ab, und verschwindet endlich ganz. Diese anodische Hemmung beginnt an der Anode selbst im Moment der Schließung, sie breitet dann aber langsam und allmälig abnehmend in weitere Entfernung sich aus. Sie legt nämlich je nach der Stromstärke nur zwischen 80 und 500 Mm. in der Sec. zurück, bleibt also weit hinter dem mit einer Schnelligkeit von 26–32 Meter forteilenden Erregungsvorgang zurück. Mit der Stärke des Stromes nimmt die Geschwindigkeit der Hemmung bedeutend zu, und sie breitet nun auch über die Kathode sich aus. Bei der Öffnung des Stromes verschwinden die während der Schließung vorhandenen Unterschiede mehr oder weniger rasch, und zugleich kommen an der Kathode vorübergehend die hemmenden Wirkungen zum Übergewichte: in diesem Ausgleichungsvorgang besteht die Öffnungsreizung. Sie geht vorzugsweise von der Gegend der Anode aus, wo die während der Schließung bestandene Hemmung in Erregung umschlägt, eine Schwankung, die um so rascher geschieht, je stärker der Strom war. Die Eigentümlichkeit der vom konstanten Strom ausgelösten Reizungsvorgänge läßt hiernach im allgemeinen dahin sich feststellen, daß die erregenden und hemmenden Wirkungen, die bei andern Reizungen sich gleichmäßig über den Nerven verbreiten, nach der Lage der Elektroden sich scheiden, indem bei der Schließung in der Gegend der Kathode die erregenden, in der Gegend der Anode die hemmenden Kräfte überwiegen, bei der Öffnung aber eine Ausgleichung stattfindet, welche vorübergehend die entgegengesetzte Kräfteverteilung herbeiführt11).

11) Vgl. die ausführlichere Zusammenstellung der Ergebnisse über die Reizung durch den konstanten Strom in meinen Untersuchungen S. 223 f.

Ehe wir zu den theoretischen Folgerungen aus den oben mitgeteilten Versuchsergebnissen übergehen, sei eine kurze Auseinandersetzung der zur Gewinnung derselben angewandten Methoden hier eingeschaltet. Zur Aufzeichnung der Zuckungskurven des Muskels habe ich mich in allen Fällen des Pendelimyographion bedient, zur Reizung des Nerven bald der Schließung oder Öffnung konstanter Ströme, bald der Induktionsschläge, bald endlich mechanischer Erschütterungen, welche durch den Fall eines Hammers, der den Nerven zusammendrückte, hervorgebracht wurden. Als Prüfungsreiz diente stets ein Öffnungsinduktionsschlag. Die Fig. 63 zeigt in schematischer Darstellung eine Versuchsanordnung, bei welcher der zu untersuchende Reizungsvorgang die Schließungserre-gung durch den konstanten Strom war. Das Pendelmyographion besteht aus einem schweren gusseisernen Pendel p, dessen Schwingungsdauer annähernd 1/2 Sekunde beträgt, und das an einem soliden Gestell aufgehängt ist. An dem Pendel ist eine Glasplatte g befestigt, welche vor dem Versuch über der Lampe berußt wird, auf sie zeichnet der Muskel seine Zuckungen. An seinem unteren Ende trägt das Pendel einen Daumen d, welcher beim Schwingen desselben an die kleinen Stromunterbre-cher s, s' anschlägt, und dadurch die Reizungen auslöst, s und s' sind auf dem Tisch des Myographiongestells befestigt: beide halten dadurch einen Strom geschlossen, daß ein vertikal gestelltes Metallstäbchen, welches eine Platinplatte trägt, mit diesem an eine Platinspitze federnd andrückt. Wird nun durch den Daumen d das Metallstäbchen umgeworfen, so wird jener Kontakt aufgehoben und damit der Strom unterbrochen. k ist die Kette, deren Schließung im Nerven den zu untersuchenden Reizungsvorgang auslösen soll. Von ihr aus gehen die Leitungsdrähte 1, 2 zum Unterbrecher s, und vom letzteren die Drähte 3, 4 zum Nerven n. So lange nun s geschlossen ist, bildet der Platinkontakt eine Leitung, deren Widerstand gegen denjenigen der Nervenstrecke ver-schwindend klein ist, so daß kein irgend merkbarer Strom sich durch die letztere ergießt. Sobald aber durch das Anschlagen des Daumens d der Kontakt gelöst wird, so geht der volle Strom durch 1 und 3 zum Nerven und von diesem durch 4 und 2 zur Kette zurück. k' ist die Kette für den als Prüfungsreiz dienenden Induktionsschlag. Von derselben führt der Leitungsdraht 6 direkt zur primären Induktions-spirale I, der Draht 5 führt zunächst zum Unterbrecher s' und dann von diesem zu I. Die mit den Enden der sekundären Induktionsspirale II verbundenen Drähte 7 und 8 führen zu einer Nervenstrecke, die im vorliegenden Beispiel etwas unter der durch die Kette k gereizten Stelle liegt. So lange nun die Kette k' durch den Kontakt s' geschlossen ist, fließt der Strom durch die Spirale I, und es findet dabei keine Induktionswirkung auf die Spirale II statt. Sobald aber jener Kontakt durch das Anschlagen des Daumens d unterbrochen wird, hört der Strom in l plötzlich auf, und es entsteht ein Öffnungsindukti-onsstrom in II, welcher auf die zwischen 7 und 8 gelegene Nervenstrecke als Reiz wirkt. An der Sehne des Muskels m ist ein (hier nicht abgebildeter) Hebel befestigt, welcher eine feine Spitze trägt, mittelst deren der Verlauf der Zuckung auf die Glasplatte g vom Muskel selbst gezeichnet wird. Da die Geschwindigkeit des Pendels keine gleichförmige ist, so sind übrigens selbstverständlich die Raum-werte nicht einfach den Zeitgrößen proportional, sondern es müssen diese aus jenen mittelst des Pendelgesetzes berechnet werden. Vor jeder einzelnen Schwingung gibt man dem Pendel eine bestimmte Ablenkung und stellt die Unterbrecher s, s' so ein, daß die Zuckungskurven möglichst in der Mitte des Schwingungsbogens beginnen. Bei allen hier abgebildeten Zeichnungen betrug jene Ablenkung und demnach die Schwingungsamplitude des Pendels etwa 10 Winkelgrade.
    Der Versuch wird nun folgendermaßen ausgeführt. Man läßt zuerst durch den am Muskelhebel befestigten Stift eine einfache Abszissenlinie zeichnen. Dies geschieht dadurch, daß man das Pendel, während die beiden Ketten k, k' geöffnet sind, eine Schwingung ausführen läßt. Dann bestimmt man die beiden Punkte der Abszissenlinie, welche den Zeitmomenten der Reizung durch die Kette k und durch den Öffnungsinduktionsschlag entsprechen. Zu diesem Zweck wird das Pendel, während beide Ketten geschlossen sind, langsam mit der Hand zuerst nach s und dann nach s' geführt: bei der Lösung des Kontaktes s zeichnet dann der Muskel in Folge der Schließungserregung, bei s' in Folge der Reizung durch den Öffnungsinduktionsschlag einen vertikalen Strich. Hierauf werden in je einem Schwingungsversuch die durch Schließung des konstanten Stromes bewirkte Erregung C ohne nachherige Einwirkung des Prüfungsreizes, und die durch den letzteren bewirkte Zuckung R ohne vorausgegangene Erregung C ausgelöst: hier läßt man zuerst das Pendel schwingen, während die Kette k' geöffnet und k geschlossen, dann während k geöffnet und k' geschlossen ist. Endlich geht man zum letzten Versuch über: k und k' werden geschlossen und so nach einander während derselben Schwingung die Erregungen C und R ausgelöst. Die Versuche lassen sich nun in der mannigfachsten Weise variieren, indem man 1) den Unterbrechern s und s' die verschiedensten Stellungen gegen einander gibt, von der Distanz null an (gleichzeitige Reizung) bis zur größtmöglichen Entfernung, 2) indem man die Stärke des Kettenstroms k durch einen Rheostaten und durch Vermehrung der zur Kette verbundenen konstanten Elemente abstuft, 3) indem man die Intensität des Prüfungsreizes durch Veränderung der Distanz zwischen primärer und sekundärer Induktionsspirale wechseln läßt, 4) indem man sukzessiv verschiedene Stellen des Nerven sowohl vor als hinter dem Strom mit dem Induktionsschlag auf ihre Reizbarkeit prüft. Rücksichtlich der hierbei sowie bei andern Formen der Reizung (Öffnungserregung durch den konstanten Strom, Erregung durch Stromstöße, durch mechanische Erschütterungen, thermische Modifikation u. s. w.) einzuschlagenden Methoden muß ich auf die ausführliche Darstellung in meinen Untersuchungen zur Mechanik der Nerven verweisen12).

12) Seite 4, 21, 121, 160, 196. Die dem vorliegenden Kapitel beigegebenen Zuckungskurven sind sämtlich nach den vom Froschmuskel auf berußtes Papier gezeichneten Originalen in Holz geschnitten.

Als wir oben den wahrscheinlichen Molekularzustand des Nerven ins Auge faßten, haben wir gesehen, daß in demselben fortwährend positive und negative Molekulararbeit geleistet wird. Die positive Molekulararbeit für sich würde entweder als frei werdende Wärme oder als äußere Arbeit, z. B. Muskelzuckung, sich zu erkennen geben; die negative Molekulararbeit für sich würde ein Verschwinden solcher Arbeitsleistungen, Latentwerden von Wärme oder Hemmung einer ablaufenden Muskelreizung, bedingen. Das Gleichgewicht zwischen positiver und negativer Molekulararbeit aber führt den stationären Zustand des Nerven mit sich, in welchem weder die Temperatur desselben geändert noch eine äußere Arbeit geleistet wird. Wenn wir nun unter dem Einfluß eines äußeren Reizes einen Vorgang entstehen sehen, welcher entweder eine Muskelzuckung hervorruft oder auch nur dem prüfenden Reize gegenüber als gesteigerte Reizbarkeit sich kundgibt, so bedeutet dies offenbar, daß die positive Molekulararbeit zugenommen hat. Wenn umgekehrt eine ablaufende Muskelzuckung gehemmt wird oder die Reaktion gegen einen Prüfungsreiz abnimmt, so bedeutet dies, daß die negative Molekulararbeit größer geworden ist. Somit kommen wir zu dem allgemeinen Satze: durch den Anstoß des Reizes wird sowohl die positive als die negative Molekulararbeit des Nerven vergrößert. Nach den früher geführten Erörterungen werden wir uns also vorstellen, daß der Reizanstoß sowohl die Vereinigung der Atome komplexer chemischer Moleküle zu festeren Verbindungen als auch den Wiederaustritt aus diesen und die Rückkehr in jene loseren und zusammengesetzteren Verbindungen beschleunigt, aus welchen die Nervensubstanz besteht. Auf der Restitution dieser komplexen Moleküle beruht die Erholung des Nerven, aus der Verbrennung zu festeren und schwerer zersetzbaren Verbindungen geht seine Arbeitsleistung hervor, auf ihr beruht aber auch seine Erschöpfung. Äußere Arbeit, Muskelzuckung oder Erregung von Ganglienzellen, kann der Reiz nur dadurch herbeiführen, daß er die positive Molekulararbeit stets in bedeutenderem Grade als die negative beschleunigt. Aus der ersteren wird dann jene Arbeit der Erregung hervorgehen, welche an bestimmte Organe, Muskeln oder Ganglienzellen, übertragen noch weiter in andere Formen von Arbeit transformiert werden kann. Zugleich müssen sich positive und negative Molekulararbeit in der durch das Verhältnis der erregenden und hemmenden Wirkungen bestimmten Folge über die Zeit verteilen. Zunächst folgt also, dem Stadium der Unerregbarkeit entsprechend, eine Anhäufung vorrätiger Arbeit, wahrscheinlich dadurch daß der Reizanstoß zahlreiche Teilmoleküle aus ihren bisherigen Verbindungen löst. Hierauf beginnt eine Verbrennung, welche wohl von den losgerissenen Teilmolekülen ausgeht und dann die leicht verbrennlichen Bestandteile der Nervenmasse überhaupt ergreift, wobei also eine große Menge vorrätiger sich in wirkliche Arbeit umwandelt. Geschieht diese Verbrennung sehr schnell, so überwiegt wieder während einer kurzen Zeit die negative Molekulararbeit, die Restitution komplexer Moleküle (vorübergehende Hemmungen). Im allgemeinen aber bleibt nach dem Ablauf der Zuckung noch längere Zeit ein Überschuß positiver Molekulararbeit, der sich in der verstärkten Wirkung eines hinzutretenden zweiten Reizes kundgibt. Die nämlichen Kurven, durch welche wir uns die Beziehungen von Erregung und Hemmung versinnlichten, gelten daher auch für das Verhältnis der positiven zur negativen Molekulararbeit (Fig. 62). Das Gleichgewicht zwischen beiden während des Ruhezustandes wird durch die Gleichheit der Anfangsordinaten xa, xc und x'b, x'd angedeutet. Im allgemeinen ist aber der innere Zustand des Nerven, nachdem der Reizungsvorgang vorbei gegangen ist, nicht mehr genau derselbe wie vorher, denn es ist nicht nur in jedem Moment der Reizung das Gleichgewicht zwischen positiver und negativer Arbeit gestört, sondern es ist auch im Ganzen mehr an positiver Arbeit ausgegeben als an negativer, an Arbeitsvorrat gewonnen worden. Dies spricht sich darin aus, daß der Flächenraum der oberen Kurve größer als derjenige der untern ist, ein Unterschied, der um so bedeutender wird, je mehr der Nerv sich erschöpft. Mit der Zeit wird dieser immer unfähiger zu jener Restitution seiner zusammengesetzten Bestandteile, auf welcher die Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit beruht. Der leistungsfähige Nerv erholt sich daher leichter, und je erschöpfter der Nerv schon ist, um so erschöpfender wirken neue Reizungen.
    Von der ganzen Summe positiver Molekulararbeit, welche durch den Reiz im Nerven frei wird, wandelt sich ohne Zweifel immer nur ein Teil in erregende Wirkungen um oder geht, wie wir uns ausdrücken können, über in Erregungsarbeit, ein anderer Teil mag zu Wärme, ein dritter wieder zu vorrätiger (negativer) Arbeit werden. Die Erregungsarbeit ihrerseits wird nur zum Teil zur Auslösung äußerer Reizeffekte, Muskelzuckung oder Reizung von Ganglienzellen, verwendet, da während der Zuckung und nach derselben immer noch gesteigerte Reizbarkeit besteht. Ein neu hinzutretender Reiz findet also immer noch einen Überschuß von Erregungsarbeit vor. Erfolgt kein neuer Reizanstoß, so geht jener Überschuß höchst wahrscheinlich in Wärme über. Nachdem zunächst an der gereizten Stelle die Erregungsarbeit entstanden ist, wirkt sie auf die benachbarten Teile, wo nun ebenfalls die vorhandene Molekulararbeit sich teilweise in Erregungsarbeit umsetzt, u. s. f. Nun hat aber der durch den momentanen Reiz ausgelöste Vorgang immer eine längere Dauer. Während also Erregungsarbeit ausgelöst wird, fließen der betreffenden Stelle neue Reizanstöße aus ihrer Nachbarschaft zu. So erklärt sich jenes Anschwellen der Erregung, welches wir bei der Reizung verschiedener Punkte des Nerven wahrnahmen.
    Die Reizung durch den konstanten Strom unterscheidet sich nun lediglich dadurch, daß bei ihr die Summen positiver und negativer Molekulararbeit nicht gleichförmig verteilt sind, sondern daß, während der Strom geschlossen ist, in der Gegend der Anode die negative, in der Gegend der Kathode die positive Molekulararbeit überwiegt. Dieser Gegensatz wird begreiflich, wenn man erwägt, daß es hier offenbar die Elektrolyse ist, welche die inneren Veränderungen des Nerven herbeiführt. An der positiven Elektrode werden elektronegative, an der negativen elektropositive Bestandteile ausgeschieden. An beiden Orten wird also durch die Arbeit des elektrischen Stromes Dissoziation herbeigeführt. In Folge derselben muß zunächst Arbeit verschwinden, aber sobald die losgerissenen Teilmoleküle die Neigung haben unter sich festere Verbindungen einzugehen, als aus denen sie ausgeschieden wurden, so kann auch die positive Molekulararbeit zunehmen, d. h. es kann ein Teil der verschwundenen Arbeit wieder gewonnen werden. Die Reizungserscheinungen führen nun zu dem Schlusse, daß das erstere regelmäßig in der Gegend der Kathode, das zweite in der Nähe der Anode stattfindet. Die näheren chemischen Vorgänge sind uns hierbei noch unbekannt, aber an Beispielen eines analogen Kräftewechsels aus dem Gebiet der elektrolytischen Erscheinungen fehlt es nicht. So scheidet sich bei der Elektrolyse des Zinnchlorürs an der Kathode Zinn aus, in welchem die zu seiner Trennung angewandte Arbeit als Arbeitsvorrat verbleibt, an der Anode dagegen erscheint Chlor, das sich sogleich mit dem Zinnchlorür zu Zinnchlorid verbindet, wobei Warme frei wird. Ähnliche Erfolge können überall eintreten, wo die Produkte der Elektrolyse chemisch auf einander einwirken. Bei der Öffnung des durch eine Nervenstrecke fließenden Stromes erfolgt wegen der Polarisierung derselben eine schwächere elektrolytische Zersetzung in einer dem ursprünglichen Strom entgegengesetzten Richtung, die im Verein mit der allmäligen Ausgleichung der chemischen Unterschiede die Erscheinungen der Öffnungsreizung verursacht.
    Was die Beziehung der hier in ihrem allgemeinen Mechanismus geschilderten Vorgänge zu den elektrischen Veränderungen des gereizten Nerven betrifft, so ist die Tatsache beachtenswert, daß nach den Untersuchungen von bernstein13) die Schwankung des Nervenstroms, die einer momentanen Reizung des Nerven nachfolgt, durchschnittlich schon 0,0006–0,0007 Sec. nach dem Eintritt des Reizes ihr Ende erreicht hat, somit vollständig in das Stadium der Unerregbarkeit des Nerven hineinfällt14). Die Schwankung hängt daher wahrscheinlich mit den hemmenden Kräften oder mit dem Übergang positiver in negative Molekulararbeit zusammen.

13) PFLÜGER'S Archiv f. Physiologie I, S. 190. Untersuchungen über den Erregungsvorgang im Nerven- und Muskelsysteme. Heidelberg 1871. S. 30.

14) Die Schwankung des Muskelstromes ist von etwas längerer Dauer: sie nimmt etwa 0,004" in Anspruch (Bernstein, Untersuchungen S. 64), eine Zeit die aber gleichfalls noch innerhalb der Grenzen des Stadiums der Unerregbarkeit liegt.

Wir wenden uns zu den Reizungsvorgängen in der Ganglienzelle15) Hier gehen wir von der Reizung des Nerven aus und suchen zu ermitteln, in welcher Weise deren Verlauf abgeändert wird, wenn sie Ganglienzellen durchwandern muß. Am einfachsten läßt dieser Versuch folgendermaßen sich ausführen. Man reizt zunächst durch einen Stromstoß von geeigneter Stärke eine motorische Nervenwurzel, deren Zusammenhang mit dem Rückenmark erhalten blieb; dann wird ebenso der zentrale Stumpf einer sensibeln Wurzel gereizt, welche in gleicher Höhe und auf derselben Seite in das Mark eintritt. Die beiden Zuckungen werden vom Muskel aufgezeichnet, und zugleich wird der Versuch so eingerichtet, daß der Zeitpunkt der Reizung dem nämlichen Punkt der Abszissenlinie beider Zuckungskurven entspricht. Die Unterschiede im Eintritt und Verlauf der zwei Zuckungen geben dann ein unmittelbares Maß ab für den Einfluß der zwischenliegenden Ganglienzellen. Denn denken wir uns die Verbindung zwischen sensibler und motorischer Wurzel durch bloße Nervenfasern vermittelt, so würde bei der Kürze des Weges ein irgend erheblicher Unterschied der Zuckungen nicht zu erwarten sein.

15) Die nachfolgenden Resultate sind Versuchen entnommen, die in der zweiten Abteilung meiner Untersuchungen zur Mechanik der Nerven und Nervenzentren ausführlicher dargestellt werden sollen.

Zunächst macht man nun hierbei die Beobachtung, daß es bedeutend stärkerer Reize bedarf, um von der sensibeln Wurzel aus Zuckung hervorzubringen. Wählt man möglichst instantane Stromstöße, z. B. Induktionsschläge, so ist es sogar häufig gar nicht möglich überhaupt Reflexzuckungen auszulösen, da man zu Strömen von solcher Stärke greifen müßte, daß Stromesschleifen auf das Rückenmark selbst befürchtet werden müßten. Ist nun aber die Reflexreizbarkeit groß genug, um den Versuch ausführen zu können, so wiederholen sich an den beiden Zuckungen im stark vergrößerten Maßstabe jene Unterschiede, die uns bei der Reizung zweier verschieden weit vom Muskel entfernter Stellen des Bewegungsnerven entgegengetreten sind (vgl. Fig. 56). Die Reflexzuckung tritt nämlich außerordentlich verspätet ein, und sie ist von viel längerer Dauer. Wählen wir z. B. die beiden Reize so, daß die Zuckungshöhen gleich werden, so zeigen die zwei Kurven den in Fig. 64 dargestellten, Verlauf. Ein wesentlicher Unterschied von den an verschiedene Stellen des motorischen Nerven ausgelösten Zuckungen liegt hier nur darin, daß, um der Reflexzuckung die gleiche Höhe zu geben, nicht ein schwächerer, sondern ein stärkerer Reiz gewählt werden mußte. Die Unterschiede im Verlauf der Erregung sind aber hier so bedeutend, daß sie ihren Charakter nicht ändern, wie man auch die Intensität der Reize wählen möge. Zwar nimmt mit der Verstärkung der Reize nicht nur die Höhe, sondern auch die Dauer der Reflexzuckungen zu, während sich die Zeit der latenten Reizung vermindert. Aber die schwächsten Reflexzuckungen zeigen immer noch eine verlängerte Dauer und die stärksten einen verspäteten Eintritt, auch wenn man jene mit den stärksten und diese mit den schwächsten direkten Zuckungen vergleicht. Aus diesen Tatsachen folgt offenbar, daß die Ganglienzelle zunächst jede in ihr anlangende Reizung hemmt. Schwächere Reizungen können durch diese Hemmung ganz unterdrückt werden. Sobald aber einmal die Erregung zum Durchbruch kommt, so dauert diese in der Ganglienzelle länger an, als in der Nervenfaser. Nun haben wir gesehen, daß auch in der letzteren die Reizung zunächst hemmende Kräfte auslöst, welche das Anwachsen der Erregung eine Zeit lang zurückhalten. Der Verlauf der Erregung in der Ganglienzelle scheint sich also nur dadurch zu unterscheiden, daß bei ihm alle Stadien von größerer Dauer sind. Dies wird begreiflich, wenn wir annehmen, daß vor allem die hemmenden, außerdem aber auch die erregenden Kräfte eine größere Stärke besitzen. Auf die Macht der Hemmung weist die geringere Reizbarkeit und die lange Dauer der latenten Reizung, auf die Größe der Erregung die längere Dauer der Zuckung hin.
    Die Ganglienzelle besitzt in hohem Grade die Eigenschaft, daß die Effekte der ihr zugeführten Reize sich anhäufen und verstärken. Schwache Reize, welche vereinzelt spurlos vorübergehen, können daher, wenn sie öfter wiederholt werden, schließlich Reflexzuckungen auslösen. Aus diesem Grunde ohne Zweifel ist der konstante Strom ein wirksamerer Reflexreiz als ein einzelner Stromstoß. Namentlich aber verfehlen selbst die schwächsten Stromstöße, wenn sie oft wiederholt den sensibeln Nerven treffen, selten schließlich einen Reflex herbeizuführen; doch können mehrere Sekunden und selbst Minuten verfließen, bis dieser Effekt eintritt. Auch in dieser Beziehung kann jedoch kein fundamentaler Unterschied vom Verhallen des Nerven behauptet werden. Eine Summation der Reizwirkungen kann bei dem letzteren ebenfalls stattfinden, nur ist sie bei ihm auf eine viel kürzere Zeit beschränkt, ein Unterschied welcher augenscheinlich unmittelbar mit dem verschiedenen Verlauf der Erregung zusammenhängt, Die früher (Kap. IV) erwähnte veränderte Reizbarkeit der zentralen Nervensubstanz steht offenbar mit diesen Erscheinungen in unmittelbarer Verbindung. Denn dort schon wurden wir zu der Vorstellung geführt, daß in der grauen Substanz schwache oder rasch vorübergehende Reize latent, werden, daß dieselbe aber anderseits zu einer Häufung der ihr zugeführten Reize vorzugsweise disponiert ist.
    Diese nächsten Ergebnisse der Reizungsversuche werden nun bestätigt und erweitert durch diejenigen Erscheinungen, welche wir unter solchen Bedingungen auftreten sehen, unter denen die Reizbarkeit der Ganglienzellen in ungewöhnlicher Weise gesteigert wird. Solche Steigerungen der Reflexreizbarkeit können durch sehr verschiedene Ursachen herbeigeführt werden. Die den physiologischen Verhältnissen nächstliegende ist die oft wiederholte Reizung, die wirksamste die Vergiftung mit gewissen, die zentrale Nervensubstanz direkt alterierenden Stoffen. In beiden Fällen gleichen sich die eintretenden Erscheinungen vollständig, nur daß die oft wiederholte Reizung ein unsicheres Mittel ist und niemals eine so enorme Steigerung der Reizbarkeit gestattet, wie sie bei der Vergiftung möglich ist. Unter den verschiedenen Nervengiften ist aber wieder, wie längst bekannt, das Strychnin das wirksamste Reflexgift. Es verdankt diese Eigenschaft wahrscheinlich dem Umstande, daß seine Wirkung sich fast ganz auf die Ganglienzellen des Rückenmarks beschränkt, während andere Nervengifte teils auf die höheren Nervenzentren, teils auf die peripherischen Nerven Wirkungen ausüben, welche den Einfluß auf das Rückenmark ganz oder teilweise aufheben.
    Die Wirkungen der Vergiftung sind nun im allgemeinen folgende: l) Es genügen viel schwächere Reize, um Reflexzuckung auszulösen, bald wird sogar eine Grenze erreicht, wo die Reflexreizbarkeit größer wird als die Reizbarkeit des motorischen Nerven. 2) Schon bei den schwächsten Reizen, die eben Zuckung erregen, ist diese höher und namentlich länger dauernd als unter normalen Verhältnissen, bei gesteigerter Giftwirkung geht sie sehr bald in eine tetanische Kontraktion über. 3) Der Eintritt der Zuckung wird immer mehr verspätet, so daß die Zeit der latenten Reizung auf mehr als das Doppelte ihrer gewöhnlichen Dauer vergrößert werden kann. Zugleich nehmen die Unterschiede in der Zeit der latenten Reizung bei starken und schwachen Reizen enorm zu: auf der Höhe der Giftwirkung zeigt der Reflextetanus kaum Gradunterschiede mehr, ob man die stärksten oder die schwächsten Reize wählen möge, aber bei den letzteren ist der Eintritt desselben außerordentlich verspätet. Die Fig. 65 zeigt ein Beispiel dieser Veränderungen. Die Kurve A ist im Anfang der Giftwirkung, die Kurven B sind auf der Höhe derselben gezeichnet, a wurde durch einen stärkeren, b durch einen schwächeren momentanen Reiz ausgelöst; in beiden Fällen ist wieder zur Vergleichung eine direkte Zuckung ausgeführt worden.
    Diese Verlängerung der latenten Reizung steht ohne Zweifel in unmittelbarem Zusammenhang mit der gesteigerten Reizbarkeit. In der durch das Gift veränderten Ganglienzelle kann offenbar der Reiz eine längere Zeit nachwirken, um, nach Überwindung der anfänglichen Hemmung, zuletzt die Erregung auszulösen. Es tritt hier etwas ähnliches ein, wie bei der Summierung der Reizungen, nur fällt die Wiederholung des äußern Reizes hinweg. Wir müssen demnach annehmen, daß der Reiz in der veränderten Ganglienzelle eine Menge auf einander folgender Reizungen hervorbringt, welche sich summierend schließlich Erregung bewirken. Dies führt zu der Vorstellung, daß in Folge der Veränderung die hemmenden Kräfte nicht merklich alteriert worden sind, daß aber die erregenden Kräfte nicht, wie es im normalen Zustande geschieht, alsbald nach ihrem Freiwerden ganz oder großenteils wieder gebunden werden, sondern daß sie allmälig sich ansammeln.
    In entgegengesetzter Weise werden jene äußeren Einflüsse wirken, welche wir schon im vorigen Kapitel als hemmende kennen lernten. Wir sehen solche hemmende Wirkungen eintreten, wenn sensorische Teile, mit denen die betreffenden Ganglienzellen irgendwie in Verbindung stehen, erregt werden. Nur bei der Reizung der in gleicher Höhe und auf derselben Seite entspringenden sensibeln Wurzelfasern erfolgt nicht Hemmung, sondern Summierung der Erregungen (Kap. V). Hieraus ergibt sich, daß das Erscheinen der Hemmung von der Verbindungsweise der zentralen Gebilde abhängt. Da aber die Verbindungen, so viel wir wissen, durch die Faserfortsätze der Ganglienzellen vermittelt werden, so kann diese Tatsache wohl auch so ausgedrückt werden: von dem Verhältnis, in welchem die einzelnen Fortsätze einer Zelle zu einander stehen, hängt es ab, ob in derselben die Reizungsvorgänge sich summieren oder hemmen. Vielleicht daß dereinst hierin die verschiedene Ursprungsform der Zellenfortsätze ihre Erklärung findet. Bis jetzt lassen sich aber in dieser Beziehung kaum Vermutungen äußern. Gewisse Ursprungsformen gibt es jedenfalls, welche ein totales Verschwinden der Reizeffekte in den Ganglienzellen mit sich führen. Solcher Art müssen wir uns offenbar die Verbindung der motorischen Wurzelfasern mit den großen Zellen der Vorderhörner denken, da Reizung jener Fasern zentralwärts nie über die genannten Zellen sich ausbreitet.
    Man hat den Versuch gemacht, sich die hemmende Wirkung als eine Art Interferenz der Reizungen vorzustellen. Denkt man sich den Reizungsvorgang als eine oszillatorische Bewegung, so könnten sich unter Umständen die auf einander stoßenden Reizwellen ganz oder teilweise auslöschen16). Aber diese Annahme, die zudem über das einfache Auslöschen der Reizung, wie es z. B. in den vorderen Ganglienzellen des Rückenmarks in Bezug auf die motorischen Reizungen stattfindet, gar keine Rechenschaft geben würde, findet in den uns über den Verlauf der Erregung bekannt gewordenen Tatsachen keine Stütze. Dagegen liegt es nahe auch jene Hemmungen komplizierter Reizeffekte, wie sie uns z. B. bei der Reflexhemmung entgegentreten, auf die fortwährend in der Nervensubstanz wirksamen hemmenden Kräfte zurückzuführen. Hierbei ist nur die Voraussetzung erforderlich, daß es gewisse Verbindungsweisen der Fasern mit den Zellen gibt, wobei die den letzteren zugeführte Reizung so sehr die hemmenden Kräfte innerhalb der Zellen frei macht, daß dadurch nicht nur die durch die nämliche Reizung ausgelösten, sondern auch die etwa von anderen Wegen her zugeführten Erregungen ausgelöscht werden. Eine Unterstützung findet diese Annahme teils in dem mehrfach erwähnten Beispiel der motorischen Zellen des Rückenmarks, teils in der Tatsache, daß schwächere Reizungen in allen Ganglienzellen verschwinden. Hemmung ist somit ein Erfolg, der allgemein bei der Reizung der Ganglienzellen von ihren Nerven aus eintritt. Vollständig gehemmt wird die von den motorischen Nerven in den Zellen der Vorderhörner anlangende Reizung. Die Zellen der Hinterhörner wirken in der Richtung derjenigen Fasern, welche in den Hintersträngen nach oben laufen, weniger hemmend als in der Richtung der Verbindungsfasern mit den Vorderhörnern. Von den Ganglienzellen des Gehirns, namentlich der Hirnrinde, können wir nach den Verhältnissen ihrer Reizbarkeit vermuten, daß sie hemmende Wirkungen äußern, die aber wohl ebenfalls nach verschiedenen Richtungen von verschiedener Stärke sind und so die Ursache sein mögen, daß bestimmte Zellengebiete zu gemeinsamer Funktion sich vereinigen.

16) Auf diesen Gedanken bat E. Cyon eine Theorie der zentralen Hemmungen gegründet. (Bulletin de l'acad. de St. Petersbourg. VII. Dec. 1870.) Die tatsächlichen Grundlagen derselben, die sich auf die Gefäßinnervation beziehen, hat Heidenhain angefochten. (PFLÜGER'S Archiv f Physiologie IV. S. 551.)

Wir wollen es versuchen diese Vorstellungen in ein anschauliches Bild zu bringen, indem wir die nämliche Molekularhypothese, aus der wir die Reizungsvorgänge im Nerven ableiteten, auch hier anwenden. Vorläufig wollen wir für die Ganglienzelle einen ähnlichen stationären Zustand voraussetzen, wie er für den Nerven angenommen wurde, einen Zustand also, bei dem die Leistung positiver und negativer Molekulararbeit im Gleichgewicht stehen. Durch den zugeführten Reiz werden nun wieder beide Arbeitsmengen vergrößert werden. Aber alles deutet darauf hin, daß zunächst die Vergrößerung der negativen Molekulararbeit bedeutend überwiegt, daher ein momentaner Reizanstoß in der Regel gar keine Erregung auslöst. Wiederholen sich jedoch die Reize, so wird bei den folgenden allmälig die negative im Verhältnis zur positiven Molekulararbeit verringert, bis endlich die letztere so weit angewachsen ist, daß Erregung entsteht.
    Wir können uns demnach vorstellen, daß in der gereizten Ganglienzelle regelmäßig ein analoger Vorgang statthat, wie er sich im Nerven bei der Schließung des konstanten Stromes an der Anode entwickelt. Unter der Wirkung des Reizes geschehen solche Vorgänge, die in der Überführung festerer in losere Verbindungen, also in der Anhäufung vorrätiger Arbeit bestehen, in gesteigertem Maße. Aber während bei der Wirkung des Stromes auf den Nerven die elektrolytische Aktion wahrscheinlich solche Zersetzungen einleitet, die normaler Weise im Nerven nicht stattfinden, müssen wir wohl annehmen, daß die Reizung der Ganglienzelle nur die ohnehin vorzugsweise auf Bildung komplexer chemischer Moleküle, also auf Ansammlung vorrätiger Arbeit gerichtete Wirksamkeit derselben steigert. Es führt uns dies auf einen wesentlichen Unterschied der Nervenfasern von den zentralen Zellen, auf welchen auch andere physiologische Erwägungen hinweisen. Die Ganglienzellen sind nämlich die eigentlichen Werkstätten jener Stoffe, welche die Nervenmasse zusammensetzen. In den Nervenfasern werden diese Stoffe in Folge der physiologischen Funktion zum größten Teile verbraucht, aber sie können in ihnen, wenn wir von jener ungenügenden und teilweisen Restitution absehen, wie sie bei jeder Reizung die Zersetzung begleitet, offenbar nicht gebildet werden. Denn getrennt von ihren Ursprungszellen verlieren die Fasern ihre nervösen Bestandteile, und die Wiedererneuerung der letzteren muß von den Zentralpunkten ausgehen. Auch im Zustand der Funktionsruhe besteht demnach in der Ganglienzelle kein völliges Gleichgewicht des Stoff- und Kräftewechsels. Aber die Abweichung findet hier im entgegengesetzten Sinne statt als in der Nervenfaser. In der letzteren prävaliert die Bildung definitiver Verbrennungsprodukte, bei welcher stets positive Arbeit geleistet wird; in der Zelle hat die Erzeugung komplexer Verbindungen, in denen sich vorrätige Arbeit ansammelt, das Übergewicht. So wahr es ist, daß im Tierkörper im Ganzen die positive Arbeitsleistung, also die Verbrennung der komplexen organischen Verbindungen, die Oberhand hat, so ist es doch eine durchaus falsche Auffassung, wenn man diese Art des Stoff- und Kräftewechsels als die ausschließliche ansah. Vielmehr finden nebenbei immer noch Reduktionen, Auflösungen festerer in losere Verbindungen statt, wobei negative Arbeit geleistet, d. h. Arbeitsvorrat angesammelt wird. Gerade das Nervensystem ist eine wichtige Stätte solcher Anhäufung vorrätiger Arbeit. In die Bildung der Nervensubstanz gehen Verbindungen ein, welche teilweise zusammengesetzter sind als die Nahrungsstoffe, aus denen sie herstammen, und welche einen außerordentlich hohen Verbrennungswert besitzen, in denen also eine große Menge vorrätiger Arbeit verborgen ist. Die Ganglienzellen, die Bildnerinnen dieser Verbindungen, gleichen in gewissem Sinne den Pflanzenzellen. Auch sie sammeln vorrätige Arbeit auf, welche, nachdem sie beliebig lange latent geblieben, wieder in wirkliche Arbeit übergeführt werden kann. So sind die Ganglienzellen die Vorratsstätten für künftige Leistungen. Die Hauptverbrauchsorte der von ihnen aufgesammelten Arbeit aber sind die peripherischen Nerven und ihre Endorgane.
    Das verschiedene Verhalten der Zellen gegen Reize, welche sie treffen, weist uns nun ferner darauf hin, daß es in jeder Zelle zweierlei Gebiete gibt, deren eines sich in seinem Verhallen gegen Reize dem der peripherischen Nervensubstanz verwandter zeigt, während das andere davon in höherem Grade abweicht. Wir wollen jenes die peripherische, dieses die zentrale Region der Ganglienzelle nennen, womit übrigens keine Bestimmung über die räumliche Lage der beiden Gebiete gegeben sein soll. Die zentrale Region ist, so nehmen wir an, vorzugsweise die Werkstätte jener komplexen Verbindungen, welche die Nervensubstanz bilden, und damit der Ansammlungsort vorrätiger Arbeit. Eine ihr zugeführte Reizbewegung beschleunigt nur die Molekularvorgänge in der ihnen einmal angewiesenen Richtung und verschwindet daher ohne äußeren Effekt. Anders in der peripherischen Region. Sie nimmt zwar auch noch Teil an der Verwandlung wirklicher in vorrätige Arbeit, aber außerdem findet sich in ihr bereits ein intensiverer Stoffverbrauch mit Arbeitserzeugung, wobei ein Teil des Verbrauchsmaterials ihr von der zentralen Region aus zufließt. Wird sie von einem Reize getroffen, so wird zunächst auch hier die negative Molekulararbeit in höherem Grade als die positive gesteigert. Doch während die erstere bald wieder auf ihre gewöhnliche Größe herabsinkt, dauert die letztere länger an, sie kann daher entweder nach einem größeren Zeitraume der Latenz oder wenigstens falls neue Reizanstöße hinzutreten Erregung hervorbringen. Auch hier wird übrigens, wie beim Nerven, immer nur ein Teil der positiven Molekulararbeit in Erregungsarbeit und wiederum nur ein Teil der letzteren in äußere Erregungseffekte übergehen, ein anderer Teil der positiven Molekulararbeit wird wieder in negative zurückkehren, die Erregungsarbeit kann ganz oder teilweise in andere Formen von Molekularbewegung verwandelt werden. Ferner wird, sobald einmal Erregung entstanden ist, die angehäufte Erregungsarbeit verhältnismäßig rasch aufgebraucht, analog einer explosiven Zersetzung. Entsprechend der stärkeren Hemmung hat sich jedoch eine größere Summe von Erregungsarbeit anhäufen können und ist, demgemäß auch der auftretende Reizeffekt ein stärkerer als bei der Reizung des Nerven. Die reizbare Region der Ganglienzelle und die peripherische Nervensubstanz verhalten sich in dieser Beziehung etwa ähnlich wie ein Dampfkessel mit schwer beweglichem und ein solcher mit leicht beweglichem Ventil. Dort muß die Spannkraft der Dämpfe zu einer bedeutenderen Größe anwachsen, bis das Ventil bewegt wird, der Dampf entströmt dann aber auch mit größerer Kraft. Wahrscheinlich zeigt übrigens die peripherische Region der Ganglienzelle in verschiedenen Fällen ein verschiedenes Verhalten, indem sie bald mehr, bald weniger der peripherischen Nervensubstanz sich annähert. So werden z. B., wie schon bemerkt, die durch die Ganglienzellen der Hinterhörner nach oben geleiteten sensibeln Erregungen weniger verändert als die außerdem durch die Ganglienzellen der Vorderhörner vermittelten Reflexerregungen. Es mag sein, daß diese Unterschiede durch die Zahl zentraler Zellen, welche die Reizung durchlaufen muß, bedingt sind. Es ist aber auch denkbar, daß zwischen denjenigen Gebieten der Ganglienzelle, welche wir zentrale und peripherische Region genannt haben, ein allmäliger Übergang stattfindet, und daß gewisse Fasern in mittleren Regionen endigen, in welchen zwar die Hemmung keine vollständige, aber doch die Fortpflanzung der Reizung bedeutender erschwert ist.
    Jene eigentümliche Steigerung der Reflexreizbarkeit, welche durch wiederholte Reize oder durch Giftwirkungen herbeigeführt wird, läßt nun so sich deuten, daß in Folge dieser Einflüsse die einmal ausgelöste positive Molekulararbeit nicht mehr oder unvollständiger als gewöhnlich wieder in negative zurückverwandelt werden kann. In Folge dessen häuft sie so lange sich an, bis Erregung entsteht. Mit andern Worten: die genannten Einwirkungen hindern die Restitution der Gangliensubstanz, und sie machen es dadurch verhältnismäßig schwachen äußeren Anstößen möglich eine rasch um sich greifende Zersetzung herbeizuführen, in Folge deren die vorrätigen Kräfte in kurzer Zeit erschöpft werden.
    Die Erscheinungen der wechselseitigen Hemmung solcher Erregungen, die von verschiedenen Seiten her den nämlichen Ganglienzellen zugeführt werden, sowie die Tatsache, daß durch gewisse Zellen die Reizung nur in einer Richtung sich fortpflanzt, in der entgegengesetzten aber gehemmt wird, machen endlich noch folgende Annahmen nötig. Reizungen, welche die zentrale Region einer Ganglienzelle ergreifen, führen eine Fortpflanzung der hier stattfindenden Molekularvorgänge auf die peripherische Region herbei, ebenso bedingen Reizungen, welche die peripherische Region treffen, eine Ausbreitung der hier ausgelösten Molekularbewegung über die zentrale Region. Die innere Wahrscheinlichkeit dieses Satzes erhellt aus der bekannten Tatsache, daß alle chemischen Vorgänge, bei denen der Gleichgewichtszustand komplexer Moleküle einmal gestört worden ist, gleichsam eine Tendenz zu ihrer Ausbreitung in sich tragen. Die Explosion der kleinsten Menge von Chlorstickstoff genügt, um viele Pfunde dieser Substanz zu zersetzen, und ein einziger glühender Span kann das Holz eines ganzen Waldes verbrennen. Im vorliegenden Fall könnte nur darin eine Schwierigkeit zu liegen scheinen, daß jedesmal je nach der Richtung über eine und dieselbe Masse entgegengesetzte Molekularvorgänge sich ausbreiten. Aber wir müssen erwägen, daß diese Vorgänge in jeder Region der Zelle fortwährend neben einander bestehen, und daß, wie schon der fortwährende Austausch der Stoffe verlangt, zwischen beiden Regionen ein kontinuierlicher und allmäliger Übergang stattfindet. Es mag hier wieder an das Beispiel des durch den konstanten Strom veränderten Nerven erinnert werden. Im Bereich der Anode überwiegen hemmende, im Bereich der Kathode erregende Molekularvorgänge. Aber durch Prüfungsreize von verschiedener Stärke läßt sich nachweisen, daß an der Anode nicht nur die Hemmung, sondern auch die Erregung gesteigert ist, und anderseits pflanzt sich der hemmende Vorgang bei wachsender Stromstärke bis zur Kathode und noch über dieselbe hinaus fort.
    Ähnlich nun, müssen wir uns vorstellen, breiten sich auch in der Ganglienzelle die Molekularvorgänge aus. Wird also durch einen der zentralen Region zugeführten Reiz hier verstärkte negative Molekulararbeit ausgelöst, so ergreift dieser Vorgang auch die peripherische Region; umgekehrt wenn in dieser durch den Reiz die positive Molekulararbeit so anwächst, daß Erregung entsteht, so zieht die letztere auch die zentrale Region in Mitleidenschaft. So können wir uns z. B. das Verhallen der Ganglienzellen in den Hinter- und Vorderhörnern des Rückenmarks zu den ein- und austretenden Fasern durch die Fig. 66 veranschaulichen. M soll eine Zelle des Vorderhorns, S eine solche des Hinterhorns bedeuten. c und c' seien die zentralen, p und p' die peripherischen Regionen derselben. In der Vorderhälfte des Marks kann die Reizung nur von m' nach m, innerhalb der hinteren Hälfte nur von s nach s' sich fortpflanzen, der von m oder s' ausgehende Reiz dagegen wird in c, c' gehemmt. Eine Übertragung der Reizung zwischen S und M aber kann nur in der Richtung von S nach M stattfinden, nicht umgekehrt, weil der bei m einwirkende Reiz in c erlischt, der bei m' einwirkende kann zwar bis c' geleitet werden, muß aber hier ein Ende finden, weil, wie wir voraussetzen, die zentrale Region einer Zelle immer nur von ihrer eigenen peripherischen Region aus in die Molekularbewegung der Erregung versetzt werden kann. Endlich muß die von s ausgehende Reflexerregung durch eine bei s' einwirkende Reizung gehemmt werden, weil die in c' entstehende Molekularbewegung der Hemmung auf die peripherische Region sich auszubreiten strebt, wodurch die hier beginnende Erregung ganz oder teilweise aufgehoben wird.
    Auch die Reizerfolge peripherischer Ganglien, wie des Herzens, der Blutgefäße, des Darmes, ordnen sich ungezwungen diesen Gesichtspunkten unter. Ob die Reizung der zu solchen Ganglien tretenden Nerven Erregung oder Hemmung zur Folge hat, wird ebenfalls von ihrer Verbindungsweise mit den Ganglienzellen abhängen. Die Hemmungsfasern des Herzens werden also z. B. in der zentralen, die Beschleunigungsfasern in der peripherischen Region der Ganglienzellen dieses Organs endigen; verschiedene Apparate für beide Vorgänge anzunehmen, ist nicht erforderlich. Modifiziert wird der Erfolg der Reizung nur dadurch, daß jene Ganglien sich gleichzeitig in einer fortwährenden automatischen Reizung befinden, so daß die von außen herzutretenden Nerven nur regulatorisch auf die Bewegungen wirken. Übrigens zeigen auch hier die Ganglienzellen die Eigenschaft der Ansammlung und Summation der Reize. Starke Erregung der Hemmungsnerven des Herzens verursacht zwar nach sehr kurzer Zeit Herzstillstand, bei etwas schwächeren Reizungen tritt aber dieser erst nach mehreren Herzschlägen ein. Noch deutlicher ist dieselbe Erscheinung bei den Beschleunigungsnerven, wo regelmäßig mehrere Sekunden nach Beginn der Reizung verfließen, bis eine merkliche Beschleunigung eintritt. Anderseits wirkt aber auch der Reiz, nachdem er aufgehört hat, immer noch längere Zeit nach, indem das Herz erst allmälig zu seiner früheren Schlagfolge zurückkehrt.
    In diesen peripherischen Zentralteilen sind die Verhältnisse offenbar noch viel einfacher, teils weil die Ganglienzellen weniger komplizierte Verbindungen mit einander eingehen, teils weil in Folge der einfacheren Strukturbedingungen eine gewisse Veränderlichkeit der funktionellen Eigenschaften hinwegfällt, die beim Gehirn und Rückenmark zu erkennen ist. In diesen Zentralorganen können nämlich, wie die Erscheinungen der stellvertretenden Funktion und der Übung zeigen, die Leitungsbedingungen unter Umständen außerordentlich wechseln. Wenn in gewissen Teilen des Zentralorgans die Hauptbahn unterbrochen wird, so kann irgend ein anderer, bisher untergeordneter Leitungsweg zur Hauptbahn sich ausbilden. Ebenso lehren die Einflusse der Übung, daß kombinierte Bewegungen, deren erste Ausführung schwierig und nur unter steter Kontrolle des Willens möglich war, allmälig immer leichter und zuletzt vollkommen unwillkürlich ausgeführt werden. In allen diesen Fällen handelt es sich aber um Leitungen, welche zum Teil auch durch Ganglienzellen, die in den Verlauf von Nervenfasern eingeschoben sind, vermittelt werden. Es beweisen demnach die in Rede stehenden Erscheinungen, daß, wenn ein Erregungsvorgang durch eine Ganglienzelle in bestimmter Richtung häufig geleitet wird, hierdurch diese Richtung auch bei künftigen Reizungen, welche die nämliche Zelle treffen, vorzugsweise zur Leitung disponiert wird. In die Ausdrücke der oben entwickelten Hypothese übersetzt, würde dies bedeuten, daß die oft wiederholte Leitung in einer bestimmten Richtung auf dem der letzteren entsprechenden Weg mehr und mehr der zentralen Substanz die der peripherischen Region eigentümliche Beschaffenheit verleiht. Eine derartige Umwandlung steht nun in der Tat durchaus im Einklang mit den allgemeinen Gesetzen der Reizung. Schon im peripherischen Nerven nehmen, wenn ein Reiz wiederholt denselben trifft, die hemmenden Kräfte immer mehr ab: zunächst, so lange die Leistungsfähigkeit nicht erschöpft wird, steigt daher die Reizbarkeit mit oft wiederholter Reizung. Die letztere führt also augenscheinlich allgemein eine Umwandlung der Nervensubstanz mit sich, wobei diese die Eigenschaft einbüßt, jene mit der Restitution der inneren Kräfte verbundene hemmende Wirkung auszuüben, welche vorzugsweise den zentralen Elementarteilen zukommt. —
    Unsere Betrachtung der physiologischen Eigenschaften des Nervensystems hat begonnen mit der Tatsache, daß dieses System den Zentralherd aller physiologischen Funktionen bildet, ebenso wie die Gesamtheit der Entwicklungsvorgänge von ihm auszugehen scheint. Die Mechanik der Nervenelemente hat uns nun die allgemeine Erklärung jenes Satzes geliefert. In den Ganglienzellen sammelt der Tierkörper vorzugsweise vorrätige Arbeit, die zu künftiger Verwendung bereit liegt. Der Reichtum dieses Vorrats und die Form seiner Aufsammlung wird bestimmt teils durch die ursprüngliche Bildung des Nervensystems, die Erbschaft frühe-rer Geschlechter, teils durch die Einwirkungsart der von außen auf dasselbe einströmenden Sinnesreize. Die letzteren können ebenfalls entweder in den Zentralteilen latent werden, indem sie lediglich innere Vorgänge auslösen, oder sie können unmittelbar in äußere Arbeit, in Erregung der Nerven und Muskeln sich umsetzen, Vorgänge, die ihrerseits wieder gleich den Sinnesreizen nach innen zurückwirken. So steht jene Zentralstätte der physiologischen Leistungen unter dem fortwährenden verändernden Einfluß äußerer Begegnungen. Die zwei Grundeigenschaften des Nervensystems aber, äußere Eindrücke aufzunehmen, um in seiner eigenen inneren Anlage durch dieselben mitbestimmt zu werden, und aufgesammelten Arbeitsvorrat teils unter dem unmittelbaren, teils unter dem fortwirkenden Einfluß äußerer Eindrücke in Bewegungen umzusetzen: diese zwei Grundeigenschaften sind es, auf welche die beiden psychologischen Grundfunktionen, die Sinnesvorstellung und die spontane Bewegung, zurückweisen, deren spezieller Betrachtung wir in den folgenden Abschnitten uns zuwenden.