Fünftes Kapitel.

Physiologische Funktion der Zentralteile.

Wäre uns der Verlauf und Zusammenhang aller nervösen Leitungsbahnen bekannt, so würde zur Einsicht in die physiologische Funktion der Zentralteile doch eine Bedingung noch fehlen: die Kenntnis des Einflusses, welchen die zentrale Gangliensubstanz, in der die Nervenfasern endigen, oder durch die sie zusammenhängen, auf die geleiteten Vorgänge ausübt. Dieser Einfluß läßt sich nur ermitteln, indem man die Funktion der Zentralteile direkt durch die Beobachtung zu bestimmen sucht.
    Wir trennen die nervösen Zentralorgane zur Erforschung ihrer Funktion in dieselben Abteilungen, welche die Morphologie derselben bereits unterscheiden läßt. Da die äußere Form von den inneren Strukturverhältnissen abhängig ist, so darf vorausgesetzt werden, daß jeder der äußerlich zu unterscheidenden Teile ein Funktionsgebiet beherrscht, welches bis zu einem gewissen Grade einer getrennten Untersuchung zugänglich ist. Die Wege, welche die letztere einschlägt, sind aber im allgemeinen die nämlichen, deren wir uns bei der Verfolgung der Leitungsbahnen bedient haben. Wie dort die bei Unterbrechungen der Bahn eintretenden Leitungsstörungen, so benützen wir hier die Funktionsstörungen, die nach Wegnahme des betreffenden Zentralteils beobachtet werden. Meist nur in sekundärer Weise kommen andere Hilfsmittel, wie die vergleichend-anatomische Untersuchung oder die Beobachtung der veränderten Funktion unter pathologischen Bedingungen, zur Anwendung.
    Die einfachste Form zentraler Funktion ist die Reflexbewegung, denn sie ist der einfachen Leitung der Reizungsvorgänge noch am meisten verwandt. Insofern er eine besondere Form der Leitung ist, haben wir den Reflexvorgang im vorigen Kapitel besprochen. Aber schon bei ihm kommt der Einfluß der zentralen Substanz in mehrfacher Weise zur Geltung. Zunächst werden die Reflexe nicht wie die Reizungsvorgänge in den Nervenfasern nach beiden Seiten, sondern nur in der einen Richtung von der sensorischen nach der motorischen Bahn hin geleitet1). Sodann machen sich in ihrer Abhängigkeit von den Reizen, durch die sie verursacht sind, deutlich die eigentümlichen Erregbarkeitsverhältnisse der grauen Substanz geltend. Schwache und kurz dauernde Reize erregen meistens keine Reflexbewegungen, sobald diese aber eintreten, können sie die durch den gleichen Reiz bewirkte direkte Muskelzuckung an Stärke und Dauer weit übertreffen. Endlich spricht sich die zentrale Natur dieser Vorgänge in der Abhängigkeit aus, in der sich die Reflexzentren von anderen zentralen Gebieten, mit denen sie in Verbindung stehen, befinden. Längst ist beobachtet, daß durch Wegnahme des Gehirns die Reflexerregbarkeit des Rückenmarks gesteigert wird. Von den höheren Zentralorganen scheinen also fortwährend Einflüsse auszugehen, welche die Reizbarkeit der tiefer gelegenen Reflexzentren vermindern. Man pflegt solche Einflüsse allgemein als hemmende Wirkungen zu bezeichnen. Eine stärkere Hemmung erfahren meistens die Reflexzentren, wenn irgend welche andere sensorische Zentralteile, mit denen sie zusammenhängen, gleichzeitig gereizt werden. Der durch Erregung einer sensibeln Rückenmarkswurzel ausgelöste Reflex wird also gehemmt, wenn man gleichzeitig eine andere sensible Wurzel erregt2). Nur die Nervenwurzeln, die mit einander in gleicher Höhe und auf derselben Seite in das Mark eintreten, machen in dieser Beziehung eine Ausnahme: ihre gleichzeitige Reizung bewirkt entweder, wenn die Reize schwach sind, Zunahme der Reflexe durch Summierung der Erregungen oder, bei stärkeren Reizen, denselben Erfolg, als wenn nur die eine Wurzel gereizt wäre, also keine Zunahme, aber auch keine Hemmung der Zuckungen3). Ähnlich der Erregung anderer sensibler Nerven wirkt die Reizung zentraler Gebiete, sobald dieselben irgend einem Teile der sensorischen Leitungsbahn zugehören. So hemmt namentlich Reizung der Hinterstränge des Rückenmarks und der sensorischen Ganglien, der Vierhügel und Thalami, die Reflexe4). Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Einfluß der Großhirnhemispharen demselben Gebiet von Erscheinungen zugehört, indem auch er vielleicht von den Endigungen der sensorischen Leitungsbahn in der Hirnrinde ausgeht. Der Umstand, daß diese Hemmung durch die Großhirnlappen mit jener Unterdrückung der Reflexe, welche der Wille ausführt, wahrscheinlich identisch ist, steht einer solchen Annahme nicht im Wege, da die Willenserregungen überhaupt auf einer Wechselwirkung motorischer und sensorischer Centren beruhen5). Hiernach dürfte der Mechanismus der Reflexhemmung überall ein übereinstimmender sein. Reflexe werden gehemmt, wenn die sensorischen Zellen, welche ihre Erregung auf motorische übertragen sollen, gleichzeitig von andern sensorischen Gebieten her Einwirkungen empfangen. Doch müssen diese Einwirkungen den reflexauslösenden sensorischen Zellen in einer bestimmten Richtung zufließen, wenn die Hemmung stattfinden soll. Diejenigen sensorischen Elemente, welche in gleicher Höhe und auf derselben Seite liegen, verstärken, wenn sie miterregt werden, den Reflexvorgang, allen andern kommt in höherem oder geringerem Grade die hemmende Wirkung zu6).

1) Zuweilen hat man zwar auch einen Übergang der Erregungen von der motorischen auf die sensorische Nervenbahn, eine Reflexempfindung, angenommen. Aber die hierher gezählten Erscheinungen gehören zum Teil, wie das Gefühl der Anstrengung bei der Muskelbewegung, in ein ganz anderes Gebiet, zum Teil sind sie überhaupt zweifelhafter Natur. Vgl. volkmann, Nervenphysiologie in WAGNER'S Handwörterbuch der Physiol. II, S. 530.

2) HERZEN (und schiff), expériences sur les centres moderateurs de l'action réflexe. Turin 1864. p. 32.

3) S. unten Kap. VI.

4) SETSCHENOW (physiologische Studien über die Hemmungsmechanismen für die Reflextätigkeit des Rückenmarks. Berlin 1863) fand, daß Reizung des Thalamus, der Vierhügel und der medulla oblongata die Reflexe hemmt; in Betreff der Reizung des Rückenmarks erhielt er ein negatives Resultat, wahrscheinlich weil er sich des wenig wirksamen Kochsalzes zur Reizung bediente. In einer späteren Arbeit (über die elektrische und chemische Reizung der sensibeln Rückenmarksnerven des Frosches, Graz 1868) bestätigt aber setschenow die von Herzen (a. a. O.) gefundene Tatsache, daß Reizung der sensibeln Rückenmarkswurzeln auch bei geköpften Tieren die Reflexe herabsetzt, woraus offenbar auf hemmende Einwirkungen, die im Rückenmark selbst entstehen, geschlossen werden muß. In der Tat findet man nun, daß Erregung der Hinterstränge mit schwachen elektrischen Reizen, unter den notwendigen Cautelen zur Verhütung von Stromesschleifen auf die motorischen Gebiete ausgeführt, die Reflexerregbarkeit deutlich herabsetzt. Hiernach glaube ich allgemein den Satz aufstellen zu können, daß Reizung sensorischer Zentralteile hemmend auf die Reflexe wirkt.

5) Vgl. den fünften Abschnitt. Bei direkter Reizung der Großhirnlappen hat man allerdings bis jetzt keine Hemmung der Reflexe beobachtet. Doch erheischt dieser Punkt mit Rücksicht auf die verschiedenen Provinzen der Hirnrinde noch eine genauere Untersuchung. Auch ist zu erwägen, erstens daß bei Tieren, deren großes Gehirn vollständig erhalten ist, die Reflexe eben wegen des Einflusses der Willensinnervation an und für sich schon schwächer sind, und zweitens daß die Hirnrinde in besonders hohem Grade die veränderte Reizbarkeit der zentralen Substanz zeigt. Aus diesen Gründen kann im vorliegenden Fall dem negativen Resultat kein großer Wert beigemessen werden.

6) Setschenow (a. a. O.) hat alle Fälle von Reflexhemmung auf die Wirksamkeit besonderer reflexhemmender Zentren, als welche er ursprünglich die Vierhügel, Thalami und den obern Teil der medulla oblongata ansah, zurückzuführen gesucht. Auch die Verstärkung der Reflexe nach der Enthauptung leitete er von dem Wegfall jener Zentren her. Diese Ansicht hat setschenow später in doppelter Hinsicht modifiziert: erstens indem er auch im Rückenmark Hemmungszentren anerkannte (über die elektr. und chem. Reizung etc. S. 40), und zweitens insofern er eine Hemmung von jenen zentralen Zentren aus nur noch bei Schmerzerregungen, nicht für tactile Reflexe statuierte (SETSCHENOW und PASCHUTIN, neue Versuche am Hirn und Rückenmark des Frosches. Berlin 1865, S. 78). Was die letztere Unterscheidung betrifft, so wäre es wohl möglich, daß die auf tactile Reize eintretenden Bewegungen überhaupt nicht Rückenmarksreflexe, sondern kombinierte Reflexwirkungen höher gelegener Nervenzentren gewesen sind. Trennt man nämlich das Gehirn unter der medulla oblongata ab, so zeigt zwar das Rückenmark große Reflexerregbarkeit auf chemische, elektrische und stärkere mechanische Reize, aber bloße Tasteindrücke sind in der Regel erfolglos. Nach dem oben aufgestellten Prinzip ist es nun begreiflich, daß die Zentren des Mittelhirns auf Reflexe, die von ihnen selbst ausgehen, nicht hemmend wirken können. Daß übrigens auch sensible Reflexe von höher gelegenen Nervenzentren aus gehemmt werden können, hat goltz an einem Beispiel gezeigt. Leise Berührung der Rückenhaut löst beim Frosch das Quaken aus: dieser Reflex tritt mit einer Art mechanischen Zwanges ein bei Tieren, deren Großhirnlappen entfernt wurden; so lange die letzteren erhalten sind, bleibt er sehr häufig aus. (Goltz, Beiträge zur Lehre von den Funktionen der Nervenzentren des Frosches. Berlin 1869. S. 41.) Hier handelt es sich also zugleich um einen Fall, in welchem unzweifelhaft die Hemmung von den Großhirnlappen ausgeht. So würden denn nach dem jetzigen Stand der Untersuchung, wenn man der SETSCHENOW'schen Theorie folgen wollte, überall im ganzen Cerebrospinalorgan Hemmungszentren vorauszusetzen sein. Schon Goltz hat daher die Annahme bevorzugt, daß allgemein die Reflexe gehemmt werden durch Erregungen, welche den die Reflexübertragung vermittelnden Zellen von andern sensibeln Nervenfasern zufließen (a. a. O. S. 43 u. f.). Ich muß diese Annahme nur in dem einen Punkte berichtigen, daß die Erregungen der reflexübertragenden Zelle in bestimmten Richtungen zufließen müssen, wenn Hemmung stattfinden soll, und daß, wenn dieser Zufluß von einer andern Seile her geschieht, von Fasern nämlich, durch die sie mit den ihr zunächst liegenden Zellen verknüpft ist, keine Hemmung, sondern eine Verstärkung der Erregung stattfindet. Was die Hemmung durch Reizung anderer sensorischer Teile betrifft, so ist die Erklärung, welche schon herzen und schiff von dem Vorgange geben, mit dieser Theorie verwandt; doch fassen sie die Hemmung als eine Ermüdungserscheinung auf, was mir durch viele Beobachtungen, wo schwache Reize bei völlig unermüdetem Zentralorgane Hemmung verursachen, widerlegt zu werden scheint. (herzen a. a. O. p. 65.) Den Einfluß der Enthauptung führen sie darauf zurück, daß der Reiz, sobald er über eine kleinere Strecke zentralen Gebiets sich ausbreite, einen stärkeren Effekt hervorbringen könne (ebend. p. 41), eine Anschauung, welche mit der Tatsache, daß nur der Wegfall bestimmter Zentralgebiete die Reflexsteigerung herbeiführt, ebenso wie mit den allgemeinen Eigenschaften der Nervensubstanz in entschiedenem Widerspruch steht. Hierauf werden wir in Kap. VI näher eingehen, wo auch erst für die allgemeine Theorie der Hemmungswirkungen der Ort ist.

Die einfache Reflexbewegung ist ein Vorgang, welcher an und für sich den niedrigeren Zentralgebieten des Nervensystems zufällt. Denn eine sensible Reizung wird auf eine motorische Bahn da am leichtesten und unter den einfachsten Bedingungen übergehen, wo sensible und motorische Nervenkerne nahe bei einander gelagert und durch Zentralfasern verbunden sind. Diejenigen Teile des Zentralorgans, aus welchen unmittelbar einander zugeordnete Empfindungs- und Bewegungsnerven hervortreten, also das Rückenmark und das verlängerte Mark, sind daher auch vorzugsweise der Sitz der Reflexaktion. Wie das Rückenmark in seiner ganzen Länge ein gleichförmiges Ursprungsgesetz seiner Nerven zeigt, so verhalten sich auch die von demselben ausgehenden Reflexe gleichförmig, indem sie lediglich nach den früher erörterten Leitungsgesetzen mit wachsendem Reiz oder wachsender Reizbarkeit sich ausbreiten (Kap. IV). Von verwickelterer Beschaffenheit sind die Reflexe, welche dem verlängerten Mark angehören. Dieses Organ ist der Sitz einer Anzahl zusammengesetzter Reflexbewegungen, denen bei verschiedenen physiologischen Funktionen eine wichtige Rolle zukommt. Hierher gehören namentlich die Bewegungen des Ein- und Ausatmens, sowie einige mit ihnen nahe zusammenhängende Vorgänge, wie das Husten, Niesen, Erbrechen, ferner die Muskelwirkungen beim Schluckakte, die mimischen Bewegungen, die Herzbewegungen und die Gefäßinnervation. Viele dieser Reflexe stehen in inniger Wechselbeziehung, worauf schon der Umstand hinweist, daß die peripherischen Bahnen für die verschiedenen Reflexe vielfach in den nämlichen Nervenstämmen verlaufen. Einzelne der genannten Vorgänge, wie die Atmungs- und Herzbewegungen, erfolgen, weil sie gleichzeitig von anderen Ursachen abhängen, auch dann noch, wenn die Reflexbahnen unterbrochen sind; die Vorgänge stehen daher in diesem Fall nur unter dem mitbestimmenden Einfluß des Reflexes. Andere, wie die Schluckbewegungen, scheinen reine Reflexe zu sein, indem sie durch Unterbrechung der sensibeln Leitung zu dem Reflexzentrum aufgehoben werden, auch wenn die motorische Leitung zu den Muskeln, welche der betreffenden Bewegung vorstehen, unversehrt geblieben ist. Alle diese durch das verl. Mark vermittelten Reflexe unterscheiden sich von den Rückenmarksreflexen dadurch, daß die sensibeln Reize in der Regel sogleich auf eine größere Zahl motorischer Bahnen übergehen. Schon bei schwachen Reizen ist deshalb die Bewegung ausgebreiteter, indem entweder gleichzeitig oder sukzessiv verschiedene Muskelgruppen in Aktion versetzt werden. Viele sind daher auch von vornherein bilateral, breiten sich nicht erst bei starken Reizen auf die andere Seite aus. So sind an den Atembewegungen, welche durch Erregung der Lungenausbreitung des zehnten Hirnnerven ausgelöst werden, stets motorische Wurzeln beteiligt, die beiderseits aus der medulla oblongata sowie aus dem Hals- und Brustteil der Wirbelsäule entspringen. Zugleich ist die Atembewegung das Beispiel eines Reflexes, welcher vermöge einer Art von Selbststeuerung den Grund zu seiner fortwährenden rhythmischen Wiederholung in sich trägt. Während nämlich das Zusammensinken der Lunge bei der Exspiration reflektorisch die Inspiration in Wirkung versetzt, erregt umgekehrt die Aufblähung der Lunge bei der Inspiration die Exspirationsmuskeln. Ist der bei der Einatmung stattfindende Reflexantrieb der Exspiratoren zu schwach, um eine aktive Anstrengung derselben hervorzubringen, so hemmt er nur die antagonistischen Inspiraratoren. Dies ist der Fall bei der gewöhnlichen ruhigen Atmung, bei welcher nur die Inspiration, nicht die Exspiration mit aktiver Muskelanstrengung verbunden ist7). Durch eine andere Weise der Selbstregulierung scheint bei den Schluckbewegungen die regelmäßige Aufeinanderfolge der Vorgänge vermittelt zu sein. Der Akt des Schluckens besteht in Bewegungen des Gaumensegels, des Kehlkopfs, des Schlundes und der Speiseröhre, die, sobald ein Reiz auf die Schleimhaut des weichen Gaumens einwirkt, regelmäßig in derselben Zeitfolge sich an einander reihen8). Vielleicht wird in diesem Fall die Sukzession der Bewegungen dadurch vermittelt, daß die Reizung des weichen Gaumens zunächst nur die Bewegung der Gaumenmuskeln bewirkt, daß aber die letztere selbst wieder ein Reiz ist, welcher reflektorisch die Hebung des Kehlkopfes und die Kontraktion der Schlundmuskeln hervorbringt. So sind wahrscheinlich alle diese Reflexe des verlängerten Marks, deren nähere Schilderung wir übrigens der Physiologie überlassen müssen, ausgezeichnet durch die Kombination von Bewegungen zur Erzielung bestimmter Effekte, wobei die Art der Kombination oft durch eine Selbstregulierung zu Stande kommt, die in der wechselseitigen Beziehung mehrerer Reflexmechanismen begründet liegt. Eine weitere bemerkenswerte Eigenschaft dieser Reflexe besteht darin, daß die motorische Bahn einer bestimmten Reflexbewegung zuweilen noch mit einer zweiten sensibeln Bahn in Verbindung steht, von welcher aus nun die nämliche Bewegung angeregt werden kann. Insbesondere von den Zentren der Atmung erstrecken sich solche sensorische Seitenbahnen, durch welche das kombinierte Zusammenwirken der Respirationsmuskeln auch noch zu andern Zwecken als denen der Luftfüllung und Luftentleerung der Lunge nutzbar gemacht wird. Hierher gehört die Verbindung der sensibeln Nerven der Kehlkopf- und Luftröhrenschleimhaut (des obern und teilweise auch des untern Kehlkopfnerven), sowie der in der Nase sich ausbreitenden Zweige des fünften Hirnnerven mit dem Zentrum der Exspiration. Reizung jener sensibeln Gebiete bewirkt daher zuerst Hemmung der Inspiration und dann heftige Exspiration. Der letzteren geht aber, weil die unten zu erwähnenden Einflüsse automatischer Erregung fortdauern, eine kräftige Inspiration als nächste Folge der entstandenen Hemmung voran. So sind demnach Husten und Niesen Exspirationsreflexe, die aber nicht von dem sensibeln Gebiet der Ausbreitung des Lungenvagus aus erregt werden, von welchem der gewöhnliche Antrieb zur Exspiration ausgeht. Husten und Niesen unterscheiden sich übrigens dadurch, daß die Reizung der Nasenäste des Trigeminus immer neben den Respirationsmuskeln zugleich den motorischen Angesichtsnerven, den Facialis, zum Reflex anregt. Hierdurch bildet dieser Reflex den unmittelbaren Übergang zu den mimischen Reflexen des Lachens, Weinens, Schluchzens u.s.w., bei denen sich ebenfalls die Antlitzmuskeln mit den Respirationsmuskeln zu kombinierten Bewegungen vereinigen9). Wie von dem Zentrum der Exspiration eine sensible Seitenbahn zur Schleimhaut der Luftwege geht, so führt eine ähnliche vom Zentrum der Inspiration zur allgemeinen. Körperbedeckung. Man erklärt sich auf diese Weise die Inspirationsbewegungen, welche starke Reizung, namentlich Kältereizung, der Haut herbeiführt.

7) S. mein Lehrbuch der Physiologie, 3te Aufl., S. 389.

8) Ebend. S. 187.

9) Diese sowie die übrigen mimischen Reflexe werden wegen ihrer vorwiegend psychologischen Bedeutung im Kapitel von den Ausdrucksbewegungen näher besprochen werden.

Aber nicht nur ist insgemein in der medulla oblongata eine bestimmte motorische Reflexbahn mit verschiedenen sensorischen Bahnen verknüpft, sondern es kann auch umgekehrt eine und dieselbe sensorische Bahn mit mehreren Reflexzentren in Verbindung treten, so daß bei ihrer Reizung verschiedenartige Bewegungsreflexe gleichzeitig entstehen. Hierher gehören schon die oben erwähnten mimischen Reflexe, bei denen sich Atmungsbewegungen mit Bewegungen der Antlitzmuskeln kombinieren. Durch eine ähnliche Beziehung kommt, teilweise wenigstens, die Wechselwirkung der Atmungs- und Herzbewegungen zu Stande. Zum Herzen gehen zweierlei Nervenbahnen, welche die Schlagfolge desselben in entgegengesetzter Weise verändern: die einen sind Beschleunigungsnerven, sie erhöhen die Frequenz der Herzschläge, die andern sind Hemmungsnerven, sie vermindern dieselbe oder bringen das Herz gänzlich zum Stillstand. Beide können reflektorisch erregt werden, aber bestimmte sensible Bahnen stehen mit dem Zentrum der Beschleunigungsfasern, welche sich vorzugsweise in den Rückenmarksnerven für das letzte Hals- und erste Brustganglion des Sympathicus zum Herzen begeben, andere mit dem Zentrum der Hemmungsfasern, welche vorzugsweise in den Herzästen des Vagus verlaufen, in nächster Verbindung. So bewirkt Reizung der meisten sensibeln Nerven, namentlich der Hautnerven, der Kehlkopfnerven, der Eingeweidenerven, Hemmung, Reizung der in die Muskeln tretenden sensibeln Fäden Beschleunigung des Herzschlags; die letztere Erfahrung erklärt die gesteigerte Herzaktion, welche stets allgemeine Muskelanstrengungen begleitet. Von ähnlich entgegengesetztem Einflusse sind nun die Bewegungen der Lunge, ihr Aufblähen beschleunigt, ihr Zusammensinken vermindert die Herzfrequenz. Deshalb sind die Atembewegungen regelmäßig von Schwankungen des Pulses begleitet, indem dessen Häufigkeit bei der Inspiration zu-, bei der Exspiration abnimmt. In Folge dieses Wechsels wird aber die Blutbewegung im Ganzen durch verstärkte Atembewegungen beschleunigt. Eine ähnliche Wechselwirkung findet sich zwischen den Reflexbeziehungen der Herz- und Gefäßinnervation. Die Gefäße sind gleich dem Herzen von bewegenden und hemmenden Nerven beeinflußt, welche beide reflektorisch erregt werden können. Die Reizung der meisten sensibeln Nerven löst den Bewegungsreflex aus, wirkt also auf jene Nervenfasern, welche, da sie die kleinen arteriellen Blutgefäße verengern und so in den größern Arterien Erhöhung des Blutdrucks hervorbringen, die pressorischen Fasern genannt werden; nur die der gereizten Hautstelle selbst zugehörigen Gefäße pflegen sich sogleich oder nach einer rasch vorübergehenden Verengerung zu erweitern und so die bekannte Hyperämie und Röte der gereizten Teile zu veranlassen. Aber einzelne sensible Gebiete gibt es, welche umgekehrt mit den hemmenden oder depressorischen Fasern der Gefäße in direktem Reflexzusammenhang stehen, deren Reizung also ausgebreitete Erweiterung der kleineren Gefäße nach sich zieht10). Hierher gehören namentlich gewisse Fasern des Vagus, die im Herzen selbst als dessen sensible Nerven sich ausbreiten, Fasern, die wahrscheinlich speziell dieser durch den Reflex vermittelten Wechselwirkung zwischen Herz- und Gefäßinnervation bestimmt sind. Die normale physiologische Reizung derselben wird nämlich bei gesteigerter Herzaktion, eintreten. Eine solche bewirkt nun Erhöhung des Blutdrucks und stärkere Bluterfüllung des arteriellen Systems, Wirkungen, die nur kompensiert werden können durch eine Erweiterung der kleinen Arterien, welche dem Blute den Abfluß in die Venen gestattet und damit gleichzeitig den arteriellen Blutdruck herabsetzt. So stehen alle diese Reflexe des verlängerten Marks in einer Wechselwirkung, vermöge deren sich die von jenem Zentralorgan abhängigen Funktionen gegenseitig regulieren und unterstützen. Ein heftiger Kältereiz auf die äußere Haut bewirkt reflektorisch Inspirationskrampf und Herzstillstand. Der Gefahr, welche hierdurch dem Leben droht, wird aber gesteuert, indem die ausgedehnte Lunge reflektorisch Exspiration und Beschleunigung der Herzbewegungen erregt, während gleichzeitig die Reizung der Haut durch einen weiteren Reflex Verengerung der kleineren Arterien herbeiführt und so die allzu weit gehende Entleerung des still stehenden Herzens verhütet.
    Wahrscheinlich sind die Nervenkerne des verlängerten Marks samt den zwischen ihnen verlaufenden Zentralfasern als die hauptsächlichsten Reflexzentren dieses Zentralorgans zu betrachten. Die kompliziertere Beschaffenheit seiner Reflexe scheint sich hinreichend aus den veränderten anatomischen Bedingungen jener Nervenkerne zu erklären. Indem dieselben im allgemeinen strenger von einander isoliert sind als die Ursprungszentren der Rückenmarksnerven, dafür aber bestimmte Kerne durch besondere Zentralfasern unter einander sowie mit bestimmten Fortsetzungen der Rückenmarksstränge wahrscheinlich näher verknüpft sind, erklärt sich wohl die in sich abgeschlossenere und deutlicher auf einen bestimmten Zweck gerichtete Natur der Oblongatareflexe. Insoweit sich Rückenmarksfasern in größerer Zahl an den Reflexen der medulla oblongata beteiligen, ist es möglich, daß sich dieselben zunächst in grauer Substanz sammeln und dann erst von dieser aus mit den ihnen zugeordneten Nervenkernen in Verbindung treten. So werden also vielleicht die motorischen Respirationsfasern in einem besonderen Ganglienkern gesammelt, der mit dem Vaguskern in Verbindung steht. Manchen der zerstreuten grauen Massen in der reticulären Substanz könnte eine solche Bedeutung zukommen. Dagegen ist es nicht wahrscheinlich, daß so komplizierte Bewegungen wie die Atem-, Schluck- und mimischen Bewegungen je einen einzigen Ganglienkern als ihnen eigentümliches Reflexzentrum besitzen. Abgesehen nämlich davon, daß derartige Zentren für kompliziertere Reflexe nicht nachgewiesen werden konnten, widerstreitet die Natur jener Bewegungen selbst dieser Annahme. So müssen wir für die Atembewegungen augenscheinlich zwei Reflexzentren voraussetzen, eines für die In-, ein anderes für die Exspiration. Gewisse mimische Bewegungen, wie Lachen, Weinen, erklären sich viel anschaulicher, wenn man eine Reflexverbindung annimmt, welche gewisse sensible Bahnen gleichzeitig mit den Respirationszentren und bestimmten Teilen des Facialiskernes verbindet, als wenn man ein besonderes Hilfsganglion statuiert, welches diese komplizierten Bewegungen in unerklärlicher Weise zur Ausführung bringt. Ebenso sind die Schluckbewegungen viel einfacher, analog den Atembewegungen, aus dem Prinzip der Selbstregulierung abzuleiten, indem man annimmt, daß der erste Bewegungsakt des ganzen Vorgangs zugleich den Reflexreiz für den nächsten, dieser für den weiter folgenden mit sich führt11).

l0) Der Ausdruck pressorische und depressorische Nerven ist, wie oben angedeutet, lediglich den als Folgeerscheinung ihrer Reizung eintretenden Veränderungen des Blutdrucks entnommen. Die pressorischen Fasern regen die Ringmuskeln der Gefäße zur Kontraktion an; da aber diese Wirkung an den kleinen Arterien wegen ihrer relativ mächtigsten Muskellage am meisten sich geltend macht, so entsteht hierdurch in den dem Herzen benachbarten großen Arterien Zunahme des Blutdrucks. Die Ringmuskeln der Gefäße sind nun außerdem, wie wir unten sehen werden, durch eine fortwährende automatische Reizung in stetiger Kontraktion: auf diese wirkt die Erregung der depressorischen Fasern hemmend, es erfolgt so Erweiterung der kleinen Arterien und Abnahme des Blutdrucks. Vergl. mein Lehrb. der Physiol. 3te Aufl. §. 73. (S. 317 u. f.)

11) Als Zentren für einzelne der Reflexe des verl. Marks hat SCHRÖDER van der Kolk namentlich die unteren und oberen Oliven betrachtet. Die ersteren sollten der Bewegungskombination beim Sprechen und Schlucken, die letzteren bei den mimischen Bewegungen dienen. (SCHRÖDER v. d. Kolk, Bau und Funktionen der medulla spinalis und oblongata. S. 165 u. f.) Aber schon die Anatomie der Leitungsbahnen ist dieser Annahme nicht günstig. Vgl. Kap. IV.

Unter den vier sogenannten spezifischen Sinnesreizen gibt es nur zwei, die von ihren sensibeln Nerven aus Reflexe vermitteln: es sind dies erstens die Geschmackseindrücke und zweitens der Lichtreiz. Die ersteren stehen in Reflexbeziehung zu den Bewegungen des mimischen Ausdrucks, Reflexe, von denen einzelne sich, wie schon oben bemerkt wurde, leicht mit Atmungsreflexen kombinieren, woraus auf eine nähere Verbindung der entsprechenden Reflexzentren geschlossen werden kann12). Der Lichtreiz verursacht regelmäßig einen doppelten Reflex: erstens Schließung des Augenlids mit Richtung beider Augen nach innen und oben, und zweitens Verengerung der Pupille; beide Reflexe sind bilateral, doch ist bei schwächeren Erregungen die Bewegung auf der gereizten Seite die stärkere13). Vom Hör- und Riechnerven sind uns keine Reflexe bekannt. So innig, wie wir sehen werden, die Beziehung des Hörnerven zu jenen Bewegungsantrieben ist, die von dem großen Gehirn ausgehen, so ist demselben doch das Gebiet des eigentlichen Reflexes verschlossen. Bei beiden Nerven hängt dies ohne Zweifel mit den Bedingungen ihrer zentralen Vertretung zusammen, die sie mit motorischen Nervenkernen nirgends in direkte Verbindung setzt.

12) Der Geschmack ist die einzige unter den sogenannten spezifischen Sinnesenergien, die an zwei verschiedene Nerven, an den Glossopharyngeus und den Zungenast des Trigeminus, gebunden zu sein scheint. (Vgl. mein Lehrb. der Physiol. S. 627.) Die hauptsächlichste Reflexverbindung beider ist die mit dem Facialis, welcher die mimischen Bewegungen beherrscht; die Beziehung der letzteren Bewegungen sowie des Niesens, das durch peripherische Reizung des Nasenastes vom Trigeminus entsteht, zu den Atembewegungen erklärt sich am einfachsten, wenn man außerdem eine Verbindung der Kerne genannter Nerven mit dem Vaguskern voraussetzt, welcher letztere wahrscheinlich direkt durch Zentralfasern mit den Ursprüngen der motorischen Respirationsnerven verbunden ist, und zwar der eine Teil des Kerns mit den Inspirations-, der andere mit den Exspirationsnerven. Bei den mimischen Bewegungen findet ebenso wie beim Niesen hauptsächlich Exspirationsreflex statt. Die lang anhaltende oder stoßweise Inspiration, die dem wirklichen Zustandekommen dieses Reflexes voranzugehen pflegt, ist darin begründet, daß der Exspirationsreflex zuerst nur eine Zeit lang die Inspiration gehemmt hatte, worauf der in anderweitigen Ursachen begründete Antrieb zur letzteren bedeutend ansteigt. (Vgl. mein Lehrb. der Physiol., S. 395.) Das Zentrum der sensibeln Geschmacksnerven steht also ohne Zweifel mit dem exspiratorischen Teil des Vaguszentrums in Verbindung.

13) Die Schließung des Augenlids ist Reflex auf den Facialis, die Verengerung der Pupille und die Aufwärts- und Innenwendung Reflex auf den Oculomotorius. Alle diese Bewegungen sind zugleich Fälle von Mitbewegung. Wenn wir z. B. das Auge willkürlich schließen, so wenden wir immer zugleich den Augapfel nach oben und innen, und wenn wir die letztere Bewegung ausführen, so verengert sich gleichzeitig die Pupille. Da der Lichtreiz alle drei Bewegungen simultan hervorbringt, so ist man nicht berechtigt bloß die eine Wirkung, etwa diejenige auf die Augenlider, als reflektorische und die andere als Mitbewegung aufzufassen; wohl aber ist es sehr leicht denkbar, daß Bewegungen, die in genauer Reflexverbindung stehen, auch insofern einander assoziiert sind, als mit der willkürlichen Hervorbringung der einen Bewegung immer die anderen sich verbinden.

Hinsichtlich ihrer Fähigkeit, bei starkem Reiz oder gesteigerter Reizbarkeit ausgebreitetere Reflexe hervorzubringen, welche über das Gebiet der engeren Reflexverbindung hinausgreifen, verhalten sich die Hirnnerven weit verschiedener als die Rückenmarksnerven. Fast ganz auf sein engeres Reflexgebiet beschränkt ist der Sehnerv; höchstens breitet sich hier die Verbindung mit dem Augenschließmuskel auf die weiteren Zweige des Antlitznerven aus, und es entstehen so bei übermäßigen Lichtreizen Krämpfe aller Gesichtsmuskeln. Eine größere Ausdehnung können schon die von den Geschmacksnervenfasern ausgehenden Reflexe gewinnen, indem sie außer dem Antlitznerven leicht auch das Vaguszentrum ergreifen. Gleichfalls meist auf ihr ursprüngliches Reflexgebiet beschränkt bleibt die Reizung der sensibeln Respirationsnerven. Die stärkste Erregung der zentralen Stränge des Lungenvagus bewirkt neben dem Inspirationstetanus keine weiteren Reflexe. Ausgebreiteter sind schon die Reflexbeziehungen jener Fasern, welche mit dem Exspirationszentrum in Verbindung gesetzt sind. Reizung der sensibeln Kehlkopfnerven, namentlich ihrer peripherischen Enden, ergreift leicht außer den Exspiratoren noch die Muskeln des Antlitzes und der oberen Extremität. In die allseitigste Reflexbeziehung ist aber der mächtigste sensible Hirnnerv, der Trigeminus, gesetzt. Er ist derjenige Empfindungsnerv des Körpers, dessen Reizung am leichtesten und häufigsten allgemeine Reflexkrämpfe im Gefolge hat. Zunächst greift seine Reizung auf seine eigene, die Kaumuskeln versorgende motorische Wurzel, dann auf den Antlitznerven, die Respirationsnerven über, worauf endlich allgemeine Krämpfe eintreten. Dieses Verhalten erklärt sich leicht einerseits daraus, daß der Trigeminus unter allen sensibeln Wurzeln die größte sensible Fläche beherrscht, und daß daher auch seine Nervenkerne ein weites Gebiet einnehmen, das zu vielseitigen Verbindungen mit motorischen Ursprungszellen Veranlassung gibt, anderseits kommen die speziellen Lagerungsverhältnisse seiner Kerne in Rücksicht. Die oberen dieser Kerne sind über die eigentliche medulla oblongata hinauf in die Brücke verlegt, in jenes Gebilde also, in welchem die aufsteigenden Markstränge unter Interpolation grauer Substanz zu den verschiedenen Bündeln des Hirnschenkels sich ordnen. Erstrecken sich nun, wie es wohl denkbar ist, Zentralfasern der Quintuskerne zu solchen grauen Massen der Brücke, in welchen alle motorischen Leitungsbahnen des Körpers vertreten sind, so wird die Leichtigkeit, mit der gerade nach Quintusreizung allgemeine Muskelkrämpfe entstehen, verständlich. Vorzugsweise leicht treten aber die letzteren auf, wenn die zentralen Wurzelfasern jenes Nerven gereizt werden. Verletzungen des verl. Marks in der Nähe der Quintuskerne haben daher allgemeine Reflexkrämpfe im Gefolge, wobei übrigens an diesen auch die Reizung anderer sensibler Wurzeln der medulla oblongata beteiligt sein mag 14).

14) Nach Nothnagel (Virchow's Archiv, Bd. 44, S. 4) erstreckt sich das Gebiet der medulla oblongata, dessen mechanische Reizung allgemeine Reflexkrämpfe auslöst, vom oberen Ende der alae cinereae bis über den locus coeruleus, über den es weiter hinauf wegen experimenteller Schwierigkeiten nicht verfolgt werden kann; innen beginnt es am lateralen Rand der runden Erhabenheiten, außen endet es am lateralen Rand des locus coeruleus, von da nach abwärts ist es unbestimmter begrenzt. Das so umschriebene Gebiet entspricht nun im wesentlichen dem Ursprung aller sensibeln Hirnnerven vom Quintus bis zum Vagus. Nach den Ergebnissen, welche die Reizung der Nervenstämme und ihrer peripherischen Ausbreitungen liefert, kann aber nicht wohl gezweifelt werden, daß die Reflexe auch in diesem Fall vorzugsweise durch die Reizung der Wurzelfasern des Quintus erregt werden. Daß die so entstehenden Konvulsionen Reflexe sind, geht mit Wahrscheinlichkeit aus Versuchen hervor, in denen nothnagel die vor der medulla oblongata gelegenen Hirnteile sukzessiv abtrug. Es zeigte sich hier, daß die Krämpfe aufhörten, sobald die Brücke an ihrem hinteren Ende getrennt war. Danach ist also wahrscheinlich die Brücke der Ort der Reflexübertragung.

Mehrere unter den motorischen Gebieten, welche aus Anlaß eines Reflexes in Funktion treten können, empfangen gleichzeitig Impulse, die unmittelbar von ihren Zentralpunkten ausgehen. Alle solche Erregungen, welche den Nervenzentren nicht von außen mitgeteilt sind, sondern in ihnen selbst entspringen, pflegt man automatische Erregungen zu nennen. Nicht nur Muskelbewegungen, sondern auch Empfindungen und Hemmungen bestimmter Bewegungen können auf diese Weise entstehen. Nicht immer ist es leicht, die automatische Reizung von solchen Erregungen zu unterscheiden, die aus äußeren Reizen hervorgehen oder wenigstens dem erregten Zentrum von außen, z. B. von irgend einem anderen Punkt des Zentralorgans, mitgeteilt sind. Auf alle unsere Sinne wirken fortwährend schwache Reize ein, welche zum Teil in den Strukturverhältnissen der Sinnesorgane selbst ihren Grund haben. Diese schwachen Erregungen, wie sie z. B. durch den Druck bewirkt werden, unter dem die Netzhaut im Auge, die schallperzipierenden Membranen im Gehörlabyrinth stehen, sind natürlich für die empfindenden Nervenzentren durchaus den äußeren Erregungen äquivalent. Bei den Bewegungen ist zwar an den eigentlichen Reflexen der Ursprung aus einem äußern Reiz immer deutlich zu erkennen. Dies ist nicht so bei einigen noch zu besprechenden Bewegungen, welche von höher gelegenen Zentralteilen ausgehen, und bei denen oft erst eine genauere Analyse des Vorgangs zeigt, daß auch hier die Bewegung in äußeren Reizen ihren letzten Ursprung hat. Sondern wir nun solche Falle ab, in denen entweder nachweisbar oder wahrscheinlich der Vorgang aus äußeren Reizen hervorgeht, so scheint für alle automatischen Erregungen die nämliche oder doch eine sehr übereinstimmende Form innerer Reizung den Ursprung zu bilden. Überall sind es Zustände oder Veränderungen des Blutes, aus welchen die inneren Reizungserscheinungen hervorgehen. Am augenfälligsten ist dies bei den für die vegetativen Lebensvorgänge ausnehmend wichtigen automatischen Erregungen, die in den Nervenkernen des verlängerten Marks entspringen; schwieriger wird es bei gewissen Erregungsvorgängen der höheren Zentralteile, die Natur der inneren Reize nachzuweisen. Von dem Rückenmark ist es zweifelhaft, ob es überhaupt der Sitz automatischer Erregung sei15).

15) Die Erscheinungen, welche auf automatische Erregungen im Rückenmark zurückgeführt wurden, sind im wesentlichen folgende. Bei Kaltblütern, denen das Gehirn samt der medulla oblongata genommen ist, scheint zuweilen noch eine gewisse Spannung der Muskeln zu bestehen, welche man auf eine automatische Reizung der letzlern von ihren Zentralpunkten im Rückenmark aus zurückgeführt hat. Die Tatsache wird aber zweifelhaft, weil man bei Fröschen bei Durchschneidung eines Muskelnerven auch mit den genauesten Messungshilfsmitteln keine Spur von Verlängerung des zugehörigen Muskels beobachten kann. (heidenhain, physiologischestudien. Berlin, 1856. S. 32. Wundt, Lehre von der Muskelbewegung. Braunschweig 1858. S. 51.) Dagegen kam BRONDGEEST (onderzoekingen over den tonus der willekeurige spieren. Utrecht 1860. S. 90) zu dem Resultate, daß die Muskeln sich allerdings von ihren Nerven aus in dauernder Kontraktion befinden, aber nur so lange als die sensibeln Wurzeln des Rückenmarks erhalten sind. Doch ist auch diese Kontraktion nur dann vorhanden, wenn man das Tier vertikal aufhängt, nicht wenn man das Bein unterstützt, z. B. auf Quecksilber lagert. (Cohnstein, Archiv f. Anatomie u. Physiologie. 1863. S. 165.) Unzweifelhaft handelt es sich also in diesem Fall um eine Reflexerregung. Außerdem hat man noch für die Schließmuskeln der Blase und des Mastdarms sowie für den Erweiterer der Pupille automatische Zentren im Rückenmark angenommen. Die ersteren sind aber vielleicht gleichfalls nur in reflektorischer Kontraktion, und das Zentrum für den Dilatator der Pupille scheint nach neueren Untersuchungen höher oben, in der medulla oblongata, zu liegen. (Vgl. mein Lehrb. der Physiol. S. 718.) Sollten demnach überhaupt noch automatische Erregungen sich nachweisen lassen, die vom Rückenmark ausgehen, so treten dieselben doch jedenfalls sehr zurück gegen jene automatischen Vorgänge, deren Sitz das verl. Mark ist.

Die meisten der Reflexzentren, welche wir im verlängerten Mark kennen gelernt haben, sind zugleich automatische Zentren. Die betreffenden Bewegungen dauern daher fort, auch wenn der sensorische Teil der Reflexbahn unterbrochen wurde. Hierher gehören die Atem- und Herzbewegungen sowie die Innervation der Blutgefäße. Jeder dieser Bewegungen entsprechen, wie wir sahen, zwei Zentren, die jedenfalls auch räumlich gesondert sind: den Atembewegungen Zentren der In- und der Exspiration, den Herzbewegungen Zentren der Beschleunigung und der Hemmung des Herzschlags, der Gefäßinnervation Zentren der Verengerung und der Erweiterung des Gefäßraumes. Von diesen Reflexzentren ist nun immer nur je eines zugleich automatisches Zentrum oder steht wenigstens unter der vorwiegenden Wirkung der inneren Reize: so bei den Atembewegungen das Zentrum der Inspiration, bei den Herzbewegungen das Zentrum der Hemmung des Herzschlags, bei der Gefäßinnervation das Zentrum der Gefäßverengerung. Vielleicht ist es die Lage der betreffenden Nervenkerne und die Art der Blutverteilung in denselben, wodurch sie den automatischen Erregungen vorzugsweise zugänglich werden. Der normale physiologische Reiz aber, der, wie es scheint, alle diese Zentren in Erregung versetzt, ist jene Beschaffenheit des Blutes, welche sich beim Stillstand der Atmung oder überall da ausbildet, wo die Entfernung der oxydierten Blutbestandteile gehindert ist. Im allgemeinen also scheinen Oxydationsprodukte des Blutes, teils das letzte Verbrennungsprodukt, die Kohlensäure, teils niedrigere noch unbekannte Oxydationsstufen, die Reize für die genannten Zentren abzugeben16). Jede Anhäufung von Kohlensäure und andern Oxydationsprodukten erregt also das inspiratorische Zentrum: es entsteht eine Einatmung, bei welcher, wie oben bemerkt wurde, in Folge der Aufblähung der Lunge das Exspirationszentrum reflektorisch erregt wird. So schließt in jener automatischen Reizung der Kreis der Selbstregulierungen sich ab, durch welche der Atmungsprozeß fortwährend im Gange erhalten wird. Den ersten Anstoß gibt die Blutveränderung: sie erregt als innerer Reiz die Einatmung. Damit ist aber auch der weitere periodische Verlauf von selbst gegeben. Dem durch die Ausdehnung der Lunge erregten Exspirationsreflex folgt beim Zusammensinken des Organs Inspirationsreflex und gleichzeitig in Folge der erneuten Ansammlung von Oxydationsprodukten abermalige automatische Reizung des Inspirationszentrums.

16) Dies wird durch die Tatsache bewiesen, daß zwei Blutveränderungen Atmungsnot hervorbringen, d. h. reizend auf das Inspirationszentrum einwirken können: erstens Überschuß an Kohlensäure bei zureichendem Sauerstoffzutritt und zweitens mangelnder Sauerstoff bei zureichendem Abfluß der Kohlensäure. Vgl. mein Lehrb. der Physiologie S. 387.

Noch nicht sichergestellt ist, von welchen Reizen die automatische Erregung des Hemmungszentrums für das Herz und des pressorischen Zentrums für die Blutgefäße ausgeht; aber manches spricht dafür, daß die nämlichen Blutveränderungen hier zu Grunde liegen. Man nimmt gewöhnlich an, daß es sich in beiden Fällen nicht um Erregungen handelt, die, wie die automatische Atmungsinnervation, in Folge der Selbstregulierung der Reizung, rhythmisch auf- und abwogen, sondern die dauernd in gleichmäßiger Größe anhalten. Man folgert dies daraus, daß Trennung der Hemmungsnerven des Herzens, der Vagusstämme, den Herzschlag dauernd beschleunigt, und daß Trennung der Gefäßnerven eine dauernde Erweiterung der kleinen Arterien herbeiführt. Aber diese Tatsachen schließen nicht aus, daß nicht die automatische Erregung in beiden Fällen zwischen gewissen Grenzen auf- und abschwanke. In der Tat sprechen hierfür mehrere Erscheinungen, wie die abwechselnden Verengerungen und Erweiterungen, die man zuweilen an den Arterien beobachtet, und die meist nach Durchschneidung der Nerven verschwinden, ferner der Zusammenhang der Pulsfrequenz mit der Atmung, der zwar teilweise, wie wir gesehen haben, von den Volumänderungen der Lunge abhängt und durch Reflex sich erklärt, zum Teil aber noch auf einen andern Ursprung hinweist, da längerer Stillstand der Atmung, mag er in In- oder Exspirationsstellung erfolgen, auch das Herz zum Stillstande bringt. Beim Erstickungstod tritt ferner regelmäßig neben starker Erregung der Inspirationsmuskeln Verengerung der Blutgefäße und Hemmung des Herzschlags ein. Hiernach dürfen wir wohl annehmen, daß die automatische Reizung aller jener Zentren der medulla oblongata auf analogen Blutveränderungen beruht, und die beobachteten Verschiedenheiten können leicht in den Verhältnissen der peripherischen Nervenendigung ihren Grund haben. Wir dürfen nämlich nicht übersehen, daß das Inspirationszentrum mit gewöhnlichen motorischen Nerven in Verbindung steht, deren Muskeln Schwankungen der Reizstärke, wenn sie nicht allzu rasch auf einander folgen, mit Remissionen ihrer Tätigkeit beantworten. Anders verhält sich dies mit den Herz- und Gefäßnerven. Sie treten zunächst mit den Ganglien des Herzens und der Gefäßwandungen in Verbindung und modifizieren nur die von den letzteren an und für sich schon ausgehenden Innervationseinflüsse. Von allen Nerven getrennt, pulsiert das Herz, wenn auch in geändertem Rhythmus, fort, und bleibt die Gefäßwandung wechselnder Verengerungen und Erweiterungen fähig. Die Ursachen, welche die Innervation dieser peripherischen Zentren bestimmen, sind wahrscheinlich denjenigen sehr ähnlich, welche im verl. Mark der Atmungsinnervation zu Grunde liegen, und gleich diesen aus automatischen und reflektorischen Vorgängen zusammengesetzt, wobei der rhythmische Verlauf am Herzen und das Gleichgewicht zwischen Erregung und Hemmung an den Gefäßen ebenfalls durch Selbstregulierungen zu Stande kommt, deren nähere Natur aber noch unerforscht ist17). Überall nun wo ein in einem Nerven geleiteter Reiz durch das Mittelglied von Ganglienzellen, sei es erregend, sei es hemmend, auf motorische Apparate wirkt, da wird der Vorgang in seinem Verlauf verlangsamt, so daß er sich über eine größere Zeit verteilt18). Demgemäß können auch Schwankungen der Reizung, die verhältnismäßig rasch vorübergehen, in solchen Fällen immer noch mit einer gleichmäßig andauernden Erregung beantwortet werden. So stehen denn Atmungs-, Herz- und Gefäßinnervation auch insofern in gegenseitiger Beziehung, als die automatischen Erregungen, aus welchen sie entspringen, wahrscheinlich auf die nämliche Quelle zurückleiten. Die Zentren dieser Bewegungen bieten, wie es scheint, den inneren Reizen besonders günstige Angriffspunkte, denn kein anderes Zentralgebiet reagiert so empfindlich wie diese auf Schwankungen der Blutbeschaffenheit. Bei den übrigen Teilen des zentralen Nervensystems kommen, wie es scheint, die Einflüsse des Blutes erst dadurch zur Wirksamkeit, daß von jenen Zentren der Atmungs-, Herz- und Gefäßinnervation aus der Blutstrom Veränderungen erfährt, welche zur Quelle zentraler Reizung werden, so daß, direkt oder indirekt, die meisten automatischen Erregungen im verlängerten Mark ihren Ursprung haben. So bilden Erregungen des Gefäßnervenzentrums, welche den Blutstrom im Gehirn hemmen, wahrscheinlich in sehr vielen Fällen die Ursache allgemeiner Muskelkrämpfe. Der Ausgangspunkt der Reizung ist hier wohl meistens die Brücke, vielleicht zuweilen auch ein weiter nach vorn gelegener motorischer Hirnteil, wie die vorderen Hirnganglien, Streifehhügel und Linsenkern19). Abgesehen von solchen heftigeren Reizungszufällen, die durch Einflüsse der Gefäßinnervation oder ihnen ähnlich wirkende Zirkulationshemmungen bedingt sind, stehen aber die unmittelbar vor dem verlängerten Mark gelegenen motorischen Zentren unter einer dauernden automatischen Innervation, als deren wahrscheinliche Quelle ebenfalls das Blut betrachtet werden muß. Säugetiere nehmen, so lange die Hirnbrücke erhalten ist, auch wenn alle vor ihr gelegenen Teile entfernt wurden, eine Körperhaltung an, welche auf der dauernden Innervation zahlreicher Muskeln beruht: die Tiere bleiben aufrecht oder in einer andern mit Muskelanstrengung verbundenen Stellung. Bei niedereren Wirbeltieren, welche keine eigentliche Brücke besitzen, nimmt in dieser Beziehung die medulla oblongata selbst deren Stelle ein. Ein Frosch, der vordem verlängerten Mark enthauptet ist, kann in diesem Zustand Monate lang erhalten werden: während der ganzen Zeit bleibt er aufrecht sitzen, atmend und die Nahrung, die man ihm in den Schlund bringt, verschluckend, aber er rührt sich nicht von der Stelle, außer wenn er gereizt wird, wo er zusammengesetzte Reflexbewegungen ausführt.

17) Zwar sind bis jetzt nur Hypothesen in dieser Beziehung möglich, immerhin können solche dazu dienen, das Wesen der Vorgänge vorläufig zu veranschaulichen. So könnte man z. B. annehmen, das Blut wirke durch in ihm enthaltene Stoffe (vielleicht gleichfalls durch seine Oxydationsprodukte) erregend auf die Bewegungsganglien, und zwar schneller auf diejenigen, die den Vorhof zur Kontraktion anregen, bei der Zusammenziehung der Vorhöfe werde aber ein Reflex ausgelöst, welcher die Bewegungen wieder hemmt.

18) Vergl. Kap. VI.

19) Die Krämpfe, welche bei der Verblutung sowie nach Kompression der Hirnarterien entstehen, entspringen, wie KUSSMAUL und TENNER zeigten, höchst wahrscheinlich in der Brücke, indem dieselben aufhören, sobald die Brücke abgetragen ist. (MOLESCHOTT'S Untersuchungen zur Naturlehre des Menschen III, S. 77.) Doch ist es möglich und sogar wahrscheinlich, daß ein Teil der erregten Zentren schon in der medulla oblongata gelegen ist. Dies ist nach andern Tatsachen mindestens für die Respirationsnerven anzunehmen. Daß ein Schnitt am unteren Ponsrand alle Bewegungen aufhebt, beweist noch nicht, daß auch alle ihren Ursprung im Pons haben, da bei Säugetieren diese Verletzung rasch auf die medulla oblongata selbst zerstörend einwirkt. Die Epilepsie und die verschiedenen epileptiformen Krämpfe haben wahrscheinlich häufig in einer Zirkulationsstörung der motorischen Hirnteile, die in den Zentren der Gefäßinnervation entspringt, ihre Ursache, ebenso die Zuckungen im Todeskampfe, welche mit den Krämpfen bei der Verblutung die nächste Verwandtschaft zeigen. Vgl. KUSSMAUL und TENNER a. a. 0., S. 90 f. SCHROEDER v. d. Kolk, Bau und Funktionen der medulla spinalis und oblongata S. 193 f. Auch bei den S. 183 erwähnten Reflexkrämpfen kann möglicher Weise neben dem Reflex die Erregung des Gefäßzentrums wirksam gewesen sein.

Von den über der Hirnbrücke gelegenen Teilen scheinen automatische Erregungen nur unter gewissen Bedingungen auszugehen, die unter physiologischen Verhältnissen entweder niemals oder nur zeitweise verwirklicht sind, und die bei normalen Zuständen wahrscheinlich immer, bei pathologischen wenigstens häufig in den Einwirkungen der Blutzirkulation ihre Quelle haben, welche von den automatischen Zentren der medulla oblongata bestimmt werden. Hierher gehören vor allem jene Reizungserscheinungen, welche die fast normalen Begleiter des Schlafes sind. Sie äußern sich am häufigsten und oft ausschließlich als Erregungen sensorischer Hirnteile. So entsteht die gewöhnliche, rein sensorische Form des Traumes, bei welcher automatisch erregte Empfindungen, manchmal unter Mitwirkung anderer, die direkt durch äußere Eindrücke geweckt sind, zu Vorstellungen verwebt werden. Zuweilen vermischen sich damit aber auch motorische Erregungen. Es entstehen Muskelbewegungen, am häufigsten an den Sprachwerkzeugen, zuweilen auch am lokomotorischen Apparate, die sich nun mit den Resultaten der sensorischen Erregung zu einer mehr oder weniger zusammenhängenden Reihe von Vorstellungen und Handlungen verknüpfen. Hierbei ist allerdings die automatische Erregung nicht mehr ausschließlich bestimmend, sondern es treten zugleich die mannigfachen Wechselwirkungen der verschiedenen sensorischen und motorischen Zentralteile hervor, wie sie teils in der ursprünglichen Organisation derselben begründet liegen, teils in Folge der Funktion allmälig sich ausgebildet haben. Aber das Eigentümliche des Traumes besteht darin, daß bei ihm der aus solchen Wechselwirkungen hervorgehende Ablauf der Vorstellungen fortwährend unterbrochen und gestört wird durch neue Erregungen, welche von der fortdauernden automatischen Reizung ausgehen, daher jene Incohärenz der Traumvorstellungen, welche eine zusammenhängende Gedankenreihe entweder nicht aufkommen läßt oder in der seltsamsten Weise verändert. Der Ursprung der automatischen Erregungen, welche der Schlaf im Gefolge hat, liegt höchst wahrscheinlich in den Innervationszentren des verlängerten Marks; Behinderungen der Respiration sind sehr häufige Begleiterinnen des Schlafes. Der durch sie bewirkte dyspnoische Zustand des Blutes wirkt wahrscheinlich erregend auf die Gefäßnervenzentren und veranlaßt so Behinderungen des Blutlaufs innerhalb der Schädelhöhle, durch welche hier Erregungen der Zentralteile, insbesondere der Hirnrinde entstehen. Hierfür spricht die Tatsache, daß auch andere Formen der automatischen Reizung, wie dyspnoische Krämpfe, epileptiforme Zuckungen, vorzugsweise leicht während des Schlafes auftreten.
    Wo ähnliche Erregungen des Großhirns im wachen Zustande sich einstellen, da entspringen sie sämtlich pathologischen Zuständen. Überall leitet aber auch hier die Untersuchung auf Veränderungen der Blutzirkulation als die Ursache solcher Erregungen hin. Diese Veränderungen können entweder einen lokalen Ursprung haben, indem sie von den Gefäßen der Hirnhaut oder des Gehirns selbst ausgehen, oder sie können allgemeinere Störungen des Blutlaufs begleiten, daher Gehirnerkrankungen häufig als Folgen von Herz- und Gefäßerkrankungen auftreten20). Aber auch in solchen Fällen, in denen die Gehirnerkrankung nicht direkt aus Veränderungen des Blutlaufs entspringt, sind doch die Zentren der Herz- und Gefäßinnervation in einer latenteren Weise beteiligt, wie sich an den Veränderungen des Pulsschlags verrät, welche alle Formen der geistigen Störung zu begleiten scheinen und oft als früheste Symptome dieselbe verraten. Diese Erscheinungen bestätigen den überall durch die psychiatrische Erfahrung festgestellten Satz, daß jede geistige Störung, auch wenn sie einen rein funktionellen Ursprung haben sollte, doch unausbleiblich anatomische Veränderungen im Gehirn herbeiführt. Letztere sind es, welche auch hier, wie in anderen Organen, eigentlich erst die Störung zur Krankheit machen. Jene Rückwirkung auf den Puls, durch welche dieser zum empfindlichsten Reagens auf Gehirnerkrankung wird, hat ohne Zweifel darin ihren Grund, daß die Zirkulationsstörung innerhalb der Schädelhöhle, die pathologische Veränderungen des Gehirns immer begleiten muß, auf die gegen solche Einflüsse besonders empfindlichen Zentren des Herzens und der Gefäße zurückwirkt21).

20) Solche liegen namentlich den gewöhnlichen Hyperämieen und Apoplexieen des Gehirns, aber zuweilen auch dauernden psychischen Funktionsstörungen zu Grunde. Hasse, Nervenkrankheiten, S. 360, 382. Griesinger, Pathologie und Therapie der psych. Krankheiten. 2te Aufl. S. 199.

21) Als allgemeine Form des Pulses beobachtet man bei Geisteskranken, wie wolff gefunden hat, den langsam abfallenden Puls (pulsus tardus), der meistens sowohl Zustände der Erregung wie solche der Erschöpfung begleitet. Diese Pulsform deutet auf eine geschwächte Energie der Gefäßzentren hin, sie wird in ähnlicher Weise bei allen Erschöpfungszuständen der Zentralorgane, z. B. als Nachwirkung heftigen Schrecks, beobachtet. (Wolff, allg. Zeitschr. f. Psychiatrie Bd. 26, S. 273.)

Sind die Veränderungen im Gehirn auf umschriebene Herde beschränkt so sind auch die begleitenden Reizungserscheinungen lokale: es treten Schmerzen und Zuckungen ein, welche der Ausbreitung bestimmter Nerven folgen, ohne daß die zentralen Funktionen im allgemeinen direkt gestört werden. Am augenfälligsten und dauerndsten sind die Erscheinungen bei solchen Herderkrankungen, die Teile des Hirnstamms oder der Hirnganglien treffen; viel unbedeutender sind die Störungen bei umschriebenen Erkrankungen der Hirnrinde, und dieselben pflegen sehr bald vollständig zu schwinden, offenbar in Folge der ausgiebigen Stellvertretungen, welche hier stattfinden (Kap. IV). Ganz anderer Art sind die Reizungserscheinungen, welche sich in Folge ausgebreiteter Veränderungen einstellen. Sie gehen zunächst von der Hirnrinde aus, und diffuse Erkrankungen der Gefäßhaut pflegen die gewöhnlichen direkten Ursachen solcher Veränderungen zu sein. Hier sind nun die Reizungserscheinungen in hohem Grade denen ähnlich, wie sie normaler Weise im Schlafe auftreten, nur können sie einen weit intensiveren Grad erreichen. Wie jene gehören sie teils dem sensorischen, teils dem motorischen Gebiete an. Die sensorische Erregung äußert sich in Empfindungen und Vorstellungen der verschiedenen Sinne, oft an Stärke denjenigen gleich, welche durch äußere Eindrücke geweckt werden können, und daher nicht von ihnen zu unterscheiden. Solchen Halluzinationen gesellen sich Veränderungen der subjektiven Empfindungen, des Muskelgefühls, der Organgefühle, bei, von welchen wesentlich die Richtung des Gemütszustandes abhängt. Motorische Reizungserscheinungen treten in der Form von Zwangshandlungen auf, welche meist durch ihre ungewöhnliche Energie auffallen. Auch hier vermengen sich, wie in den Träumen und Traumhandlungen, die aus automatischer Reizung hervorgegangenen Empfindungen und Bewegungstriebe mit der in der ursprünglichen und erworbenen Organisation des Gehirns begründeten Disposition zu einem zusammenhängenden, mit den Resten früherer Empfindungen verwebten Vorstellungsverlauf22). In allen diesen pathologischen Fällen machen die Reizungserscheinungen regelmäßig im weiteren Verlauf Lähmungssymptomen Platz, welche davon herrühren, daß dieselben Ursachen, welche anfänglich erregend auf die nervösen Elementarteile wirkten, allmälig die Funktionsfähigkeit derselben vernichten. So treten bei den Herderkrankungen umschriebene Lähmungen der Bewegung, bei den diffusen Erkrankungen der Hirnrinde Schwächezustände auf, welche das ganze Funktionsgebiet des Gehirns ergreifen. Indem bald mehr eine sensorische, bald mehr eine motorische Provinz von der Veränderung betroffen wird, bald die Zentralteile der äußeren Sinne, bald die der subjektiven Empfindungen vorzugsweise alteriert sind, bald die automatische Reizung, bald die Abstumpfung der Funktion sich in den Vordergrund drängt, gewinnt der Irrsinn seine außerordentlich mannigfachen Formen und Färbungen. So liegt denn die Annahme nahe, daß alle Arten automatischer Reizung der Zentralteile, mögen dieselben physiologische sein oder als pathologische Störungen auftreten, im wesentlichen auf übereinstimmende Ursachen zurückzuführen sind, nämlich auf Zersetzungsprodukte der Gewebe, die entweder schon normaler Weise, wie bei gewissen besonders reizbaren Zentralteilen, den automatischen Zentren des verl. Marks, oder erst wenn sie in Folge von Störungen des Blutaustausches in ungewöhnlicher Menge sich anhäufen, die Reizung hervorbringen.

22) Ein merkwürdiges Zeugnis für diese Analogie der ursächlichen Momente zwischen Traum und geistiger Störung liefert vielleicht die von allison hervorgehobene Erscheinung nächtlicher Geisteskrankheit (nocturnal insanity), wo die Individuen bei Tage anscheinend vollkommen geistig gesund sind, während bei Nacht regelmäßig Halluzinationen, Tobsuchtanfälle u. s. w. auftreten. (Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. 26, S. 618.)

Vielfach hat man Innervationsvorgänge, bei denen in keinerlei Weise ein derartiger Ursprung aus inneren, durch das Blut bedingten Reizen sich nachweisen läßt, dennoch unter die automatischen Erregungen gerechnet, indem man von der Ansicht ausging, daß überall, wo eine äußere Ursache nicht unmittelbar nachgewiesen werden könne, eine solche innere Reizung anzunehmen sei. So sollten insbesondere die willkürlichen Bewegungen aus automatischer Innervation hervorgehen; aber auch für den Verlauf jener Vorstellungen, welche nicht unmittelbar aus äußeren Sinnesreizen stammten, war man geneigt das nämliche vorauszusetzen. Natürlich mußten dann diese Vorgänge in den höheren Nervenzentren von den klarer erkannten automatischen Erregungen der niedrigeren Zentralgebilde, bei denen nachweislich überall das Blut den Erreger spielt, völlig getrennt werden. Man setzte voraus, daß im ersten Fall die körperliche Maschine durch die von ihr verschiedene, aber sie beherrschende Seele in Bewegung gesetzt werde. Erst an einem anderen Ort werden wir auf die psychologischen Grundlagen dieser Anschauung eingehen können. Hier ist nur hervorzuheben, daß bei Betrachtung des physiologischen Mechanismus keinerlei zwingender Grund vorliegt, solche fremdartige Kräfte zu Hilfe zu nehmen, die als ein deus ex machina irgendwo in den Zusammenhang der physiologischen Vorgänge eingreifen, denselben in Gang setzen oder unterbrechen. Wer freilich bei einem Kräftezusammenhang nur das Bild eines gestoßenen Körpers im Auge hat, der seine Bewegung direkt auf andere fortpflanzt, der muß bei den physiologischen Äußerungen des Nervensystems notwendig auf den Gedanken kommen, daß hier fortwährend Wirkungen ohne Ursachen auftreten. Wer sich aber daran erinnert, daß schon bei einem verhältnismäßig einfachen Mechanismus Kräftewirkungen fast beliebig lange latent bleiben, und daß daher die Wirkungen von ihren Ursachen weit getrennt sein können, der wird sich nicht entschließen in jedem Vorgang, der nicht als ein einfaches Beispiel von Bewegungsübertragung sich darstellt, nun alsbald eine Bewegung ohne physikalische Ursache zu sehen. In der Tat wird es uns aber die allgemeine Mechanik des Nervensystems als eine wesentliche Eigenschaft der zentralen Substanz kennen lehren, daß sie Kräftewirkungen in sich aufsammelt, um dieselben später erst unter neu hinzutretenden Bedingungen frei zu machen23). Da nun alle tierischen Bewegungen, mit Ausnahme der oben besprochenen, bei denen die automatische Reizung vom Blute ausgeht, auf vorausgegangene Vorstellungen, Empfindungen oder Eindrücke auf Empfindungsfasern zurückweisen, so kann man in der Reflexbewegung, bei welcher die äußere Reizung von Empfindungsfasern sogleich in eine innere Erregung motorischer Fasern sich umsetzt, das Urbild aller zusammengesetzten Innervationsvorgänge sehen. Freilich darf man nicht meinen, mit dem Satze, alle zentralen Funktionen seien in gewissem Sinne komplizierte Reflexe, irgend etwas schon erklärt zu haben. Es ist damit eben nur ausgesprochen, daß die Bewegungen, welche durch zentrale Erregung entstehen, falls sie nicht, wie die Atem-, Herzbewegungen u. s. w., in die Klasse der automatischen Reizungen durch das Blut gehören, schließlich angeregt worden sind durch äußere Reize, welche die Empfindungsfasern getroffen haben. Deshalb braucht aber weder eine Äquivalenz noch sonst eine feste Beziehung zwischen dem äußeren Empfindungsreiz und der reagierenden Bewegung zu existieren, wie denn schon bei der einfachen Reflexbewegung solches keineswegs der Fall ist. Vielmehr ist jede solche Bewegung wesentlich noch abhängig von den latenten Kräften, welche die gereizten Zentralteile in sich bergen, und von der ganzen Beschaffenheit des physiologischen Mechanismus, auf den zunächst die Erregung einwirkt. Im allgemeinen wird diese Beschaffenheit eine um so kompliziertere, je weiter wir nach oben aufsteigen. Wir wollen daher auch hier wieder in der aufsteigenden Reihenfolge die Zentralteile betrachten. Nur das kleine Gehirn, soll wegen seiner nahen funktionellen Beziehung zur Großhirnrinde unmittelbar vor diese gestellt werden. Die physiologischen Leistungen des Rückenmarks und verlängerten Marks aber sind in der obigen Besprechung der Reflexe und automatischen Erregungen für den gegenwärtigen Zweck vollständig genug erörtert. Wir handeln demnach zunächst von den Gebilden des Hirnstamms, Vierhügeln, Sehhügeln, Ganglien des Hirnschenkelfußes, dann von dem kleinen Gehirn und endlich von den Hemisphären des Großhirns.

23) Vgl. Kap. VI.

Die Vierhügel (Zweihügel, lobi optici der niederen Wirbeltiere) sind, wie bereits die Verfolgung der Leitungsbahnen gezeigt hat, samt den Kniehöckern wesentlich Zentralorgane des Gesichtssinns, und zwar vermittelt das vordere Vierhügelpaar hauptsächlich die sensorischen Leistungen des Sehorgans, an den motorischen Verrichtungen scheinen sich beide zu beteiligen (Kap. IV). Bei den niederem Wirbeltieren, deren lobi optici Hohlräume besitzen, beeinflussen die in die letzteren hereinragenden grauen Hügel (die tori semicirculares) vorzugsweise die Bewegungen, während die Entfernung der Deckplatte Erblindung auf der entgegengesetzten Seite herbeiführt24). Die physiologischen Erfahrungen über die Vierhügel werden unterstützt durch die vergleichende Anatomie, welche lehrt, daß die Ausbildung dieser Zentralteile mit derjenigen des Sehorgans gleichen Schritt hält. Sie sind sehr entwickelt in der durch die Schärfe des Gesichts ausgezeichneten Klasse der Vögel, wo zugleich ihre zentrale Vertretung in den Großhirnlappen die umfangreichste zu sein scheint25). Die Fische, welche durch bedeutende Größe des Augapfels sich auszeichnen, besitzen auch große lobi optici, nur bei einigen blinden Arten (Amblyopsis, Myxine) sind sie mit den Augen verkümmert26).

24) Renzi, ann. univers. 1863, 64. Auszug in Schmidt's Jahrb. der Med. Bd.. 124, S. 154.

25) Das Gehirn neugeborener Vögel, denen GUDDEN beide Augen exstirpiert hatte, blieb unentwickelt; bei neugeborenen Kaninchen, die in derselben Weise behandelt waren, trat sichtlich das Gehörorgan stellvertretend ein, und die Ausbildung des Gehirns wurde nicht merklich gehemmt. (Archiv f. Psychiatrie II, S. 711.)

26) Owen, anatomy of vertebrates I, p 254.

Bei Tieren, denen man alle vor den Vierhügeln gelegenen Hirnteile entfernt hat, finden nicht bloß in Folge von Lichtreizen Reflexe auf die Pupille und die Muskeln des Auges statt, sondern das ganze Verhalten der Tiere beweist, daß sie auch noch durch die Lichteindrücke, welche sie empfangen, in ihren Bewegungen bestimmt werden. So folgen Vögel und Säugetiere, welche in der angegebenen Weise operiert sind, den Bewegungen einer brennenden Kerze mit dem Kopfe27), und Frösche, welche durch Hautreize zu Fluchtbewegungen gezwungen werden, weichen einem in den Weg gestellten Hindernis aus28). Hieraus ist zu schließen, daß von dem Sehzentrum der Vierhügel aus nicht bloß die Augenmuskeln, sondern auch die Muskeln der Ortsbewegung in der Ausübung ihrer Funktion bestimmt werden können. Dies entspricht augenscheinlich der Tatsache, daß in den grauen Massen dieser Zentralteile durch die Schleife auch ein Anteil der Vorderstränge des Rückenmarks endigt. Wir können hiernach nicht wohl zweifeln, daß der Mechanismus, durch welchen vom Sehorgan aus der Muskelapparat unseres Körpers in Bewegung gesetzt wird, in den Vierhügeln seine Stelle hat. Diese Bewegung kann nun aber, so müssen wir annehmen, in doppelter Weise unter dem Einfluß von Lichteindrücken entstehen: erstens in den Vierhügeln selbst, indem hier schon die Lichteindrücke solche zusammengesetzte Bewegungsreaktionen auslösen, welche der Art und Form ihrer Einwirkung entsprechen, und zweitens in der Großhirnrinde, indem erst hier, an der letzten zentralen Endigungsstelle der Opticusfasern, eine derartige Übertragung stattfindet. So wird es begreiflich, daß zwar noch nach dem Wegfall der Hemisphären Bewegungen des Auges und der übrigen Körpermuskeln durch Lichteindrücke angeregt werden, daß aber nicht mehr alle Bewegungen, die bei unverletztem Gehirn vom Gesichtssinne ausgehen, bestehen bleiben. Vergleicht man das Verhalten der Tiere in beiden Fällen, so läßt sich nicht zweifeln, daß die Wegnahme der Großhirnlappen jene Bewegungen aufhebt, welche ein kompliziertes Zusammenwirken der Lichteindrücke teils mit anderen Sinneserregungen, teils mit früher stattgehabten Empfindungen voraussetzen. Direkt durch die Vierhügel finden nur entweder Abänderungen der ohnehin aus anderen Ursachen im Gang befindlichen oder Anregungen solcher Bewegungen statt, welche unmittelbar den Eindrücken folgen, sei es als Reflexe des Augapfels, der Pupille und des Augenschließmuskels, sei es als Abwehrbewegungen gegen starke Lichtreize29). Die sensorischen Erregungen, von denen die in der Grosshirnrinde entspringenden Bewegungen ausgehen, werden der Rinde vielleicht durch die direkte Leitungsbahn zwischen ihr und den Nervenkernen des Opticus in den Kniehöckern zugeführt. Die motorischen Impulse werden aber wohl in der Regel ihren Weg über die Vierhügel nehmen, da in ihnen einmal der zentrale Mechanismus für die Regulierung der mit dem Sehakte zusammenhängenden Bewegungen existiert. Doch können von der Großhirnrinde her jedenfalls auch noch andere motorische Vorrichtungen wirksam werden, so daß von ihr aus mannigfaltigere Bewegungen möglich sind.

27) Longet, Anatomie und Physiologie des Nervensystems, übers. von HEIN. I , S. 385.

28) Goltz, Beitrage zur Lehre von den Funktionen der Nervenzentren des Frosches Berlin 1869. S. 65.

29) Daß Tiere, die alle vor den Vierhügeln gelegenen Hirnteile verloren haben, im Wege stehenden Hindernissen ausweichen, läßt sich deshalb auch nur bei niederen Wirbeltieren, z. B. beim Frosch, beobachten, wo, wie wir unten sehen werden, die lobi optici gleichzeitig einen Teil der Funktion der thalami optici übernehmen. Säugetiere, denen die letzteren genommen sind, vollführen zusammengesetzte Fluchtbewegungen, bei denen sich solche Beobachtungen anstellen ließen, überhaupt nicht mehr.

Von weit unbestimmterer Art sind die Erscheinungen, welche der Verletzung der Sehhügel (thalami optici) nachfolgen. Über die Bedeutung. dieser Hirnganglien bestehen daher äußerst widersprechende Ansichten30). Verletzung der oberflächlichen Schichten der Sehhügel, mit Schonung der unter ihnen gelegenen Hirnschenkelanteile, zieht in der Regel weder Schmerzäußerungen noch Muskelzuckungen nach sich. Nach allem, was wir über die Reizbarkeitsverhältnisse der zentralen Substanz erfahren haben, kann aber natürlich hieraus nicht geschlossen werden, daß in den Sehhügeln keinerlei motorische und sensorische Bahnen endigen. Dem widerspricht schon die Tatsache, daß augenblicklich Schmerzäußerungen und Zuckungen auftreten, sobald man den Schnitt etwas tiefer führt, so daß die Hirnschenkelhaube getroffen wird. Nun tritt aber die letztere, wie die anatomische Untersuchung lehrt, in den Sehhügel ein: es kann also nur geschlossen werden, daß die in der grauen Substanz des letzteren endigenden sensorischen und motorischen Bahnen ihre Reizbarkeit verändern. In der Tat zeigen nun auch die weiteren Erscheinungen, die der Verletzung folgen, daß mindestens Endpunkte motorischer Bahnen in den Sehhügeln gelegen sein müssen. Die Ortsbewegungen werden nämlich in Folge einer solchen Verletzung gestört, indem die Tiere, wenn sie gerade nach vorn gehen wollen, statt dessen eine Kreisbahn beschreiben. Man hat diese Bewegungsform, weil sie der Bewegung eines Pferdes in der Reitbahn gleicht, die »Reitbahnbewegung« (mouvement de manège) genannt31). Fällt die Verletzung in das hintere Drittteil eines Sehhügels, so dreht sich das Tier nach der Seite der unverletzten Hirnhälfte; fällt sie weiter nach vorn, so geschieht die Drehung nach der verletzten Seite32). Die Beobachtung zeigt, daß diesen abnormen Bewegungen eine abnorme Haltung des Körpers zu Grunde liegt, die schon in der Ruhe beobachtet wird, sobald nur die Muskeln in Spannung versetzt werden. Fällt nämlich der Schnitt in das hintere Drittteil des Sehhügels, so entsteht folgende Haltung: die beiden Vorderfüße sind nach der Seite des Schnitts, der eine also nach außen, der andere nach innen gedreht, die Wirbelsäule, namentlich der Hals, ist nach der entgegengesetzten Seite gerichtet. Augenscheinlich ist nun die abnorme Bewegung lediglich die Folge dieser abnormen Haltung. Das Tier muß, wenn es auf alle Muskeln das gleiche Maß willkürlicher Innervation anwendet wie früher, statt geradeauszugehen, nach derselben Seite sich bewegen, nach welcher Wirbelsäule und Kopf gedreht sind, ähnlich wie ein Schiff, dessen Steuer man dreht, aus seiner geraden Bahn abgelenkt wird. Unterstützt wird nun diese Bewegung noch durch die Drehung der Vorderbeine, die gleich einem Ruder wirkt, welches von der Seite, gegen die es gekehrt ist, das steuernde Schiff ablenkt. Bei der Verletzung der vorderen Teile des Sehhügels ist die Wirbelsäule nach der entgegengesetzten Seite abgelenkt, daher nun auch die Drehbewegungen die entgegengesetzte Richtung annehmen33).

30) Die Einen halten die Sehhügel für eine Art sensorium commune, für ein Gebilde, in welchem alle Empfindungen zusammenfließen (LUYS, recherches sur le système nerveux, p. 342), nach Andern sollen sie motorische Organe sein, entweder überhaupt Einfluß auf die Ortsbewegung besitzen (longet, Anatomie und Physiol. des Nervensystems I, S. 658) oder speziellen Bewegungen, nämlich denen der Brustglieder, vorstehen (SCHIFF, Lehrbuch l, S. 342). Die erste Ansicht stützt sich vorwiegend auf anatomische, die zweite auf physiologische Untersuchungen. Übrigens ist der von LUYS behauptete Zusammenhang des Sehhügels mit allen sensorischen Nervenbahnen nicht nachzuweisen, anderseits aber ein solcher mit motorischen Bahnen zweifellos. Auch vom rein anatomischen Standpunkte ist also die erste Ansicht unhaltbar. Was die zweite betrifft, so ist der Ausdruck Longet's "Herd des Nerveneinflusses auf die Ortsbewegungen" so allgemein, daß er eine bestimmte Auskunft über die Funktion des Sehhügels nicht gibt. Der durch Schiff wieder unterstützten Ansicht von Saucerotte, SERRES u. A., daß die Thalami ausschließlich in Beziehung zur Bewegung der Vorderextremitäten stehen, widersprechen die durch andral gesammelten pathologischen Beobachtungen (longet a. a. 0. S. 412), und was die Resultate der Vivisection betrifft, so ist einerseits konstatiert, daß auch Lähmungen der Hinterglieder nach Sehhügelverletzungen vorkommen, anderseits hervorzuheben, daß ein ungleicher Grad der Lähmung beider Gliedpaare, insbesondere vollständige Lähmung der Vorderglieder, in vielen Fallen von Hemiplegie beobachtet wird (Vulpian, Physiologie du système nerveux, p. 658). Es fällt hier in Betracht, daß operative Eingriffe entweder nur einen Teil der Funktionen des Sehhügels aufheben, oder aber, wenn man die vollständige Exstirpation versucht, umgebende Teile mit zerstören. Nur über den einen Punkt sind gegenwärtig fast alle Beobachter einig, daß der Sehhügel seinen Namen mit Unrecht führt, daß er nicht, wie man früher angenommen hatte, das hauptsächlichste Ursprungsganglion des Sehnerven ist.

31) Die Reitbahnbewegung hat man mit anderen Formen gestörter Ortsbewegung unter den "Zwangsbewegungen" zusammengefaßt. Diese Generalbezeichnung ist überhaupt und insbesondere auch für die durch Sehhügelverletzungen verursachten Reitbahnbewegungen nicht passend, da nicht, wie man allerdings geglaubt hat, die Tiere durch einen inneren Zwang zu den Bewegungen getrieben werden. Können auch die ersten Fluchtbewegungen, die das Tier, geängstigt durch die Operation, ausführt, leicht den Eindruck eines solchen Zwanges machen, so stellt sich doch bald unzweifelhaft heraus, daß es hier immer um eine Störung teils der aus den gewöhnlichen Ursachen eintretenden Ortsbewegung, teils der normalen Spannung der Muskeln während der Ruhe sich handelt.

32) Auf diese Weise hat Schiff den Widerspruch zwischen MAGENDIE und LONGET vermittelt, von denen der Erste nur Drehung nach der Seite des Schnitts, der Letztere nur Drehung nach der entgegengesetzten Seite wahrgenommen hatte. (Schiff, Lehrbuch der Physiol. I, S. 343.)

33) Schiff, welcher zuerst auf den Zusammenhang der Reitbahnbewegungen mit der Haltung der Wirbelsäule und der Vorderglieder hinwies, hat, wie schon oben. erwähnt, eine Veränderung an den Hintergliedmaßen bei Sehhügelverletzungen nicht beobachtet. Dies hat möglicher Weise darin seinen Grund, daß Schiff's Durchschneidungen vorzugsweise die inneren Teile der Sehhügel trafen, während die äußersten, welche ohne gleichzeitige Verletzung des nucleus caudatus nicht wohl getroffen werden können, möglicher Weise erst motorische Bahnen der Hinterextremitäten enthalten. Wird der Hirnschenkel tiefer unten, nahe der Brücke verletzt, so treten aber auch Störungen in den Bewegungen der Hinterglieder ein, und dann ist, wie zu erwarten, die Ablenkung von der geraden Bahn bei den Ortsbewegungen noch viel bedeutender, indem die Tiere nicht mehr, wie bei der Reitbahnbewegung, einen Kreis beschreiben, in dessen Peripherie sich ihre Längsachse befindet, sondern indem sie sich um ihre eigene Ferse drehen. Man hat diese Form der Bewegung "Zeigerbewegung" genannt, weil bei ihr der Körper der Tiere sich ähnlich einem Uhrzeiger dreht. Bei den tiefer unten ausgeführten Hirnschenkelverletzungen ist es aber stets zweifelhaft, in wieweit mit Fasern der Haube auch solche des Fußes getroffen sind.

Sind auf diese Weise die gestörten Ortsbewegungen augenscheinlich abzuleiten aus den veränderten Muskelspannungen, so sind dagegen über die Ursache der letzteren die Beobachter nicht einig; insbesondere hat man darüber gestritten, ob die Erscheinungen als Lähmungen des Willenseinflusses oder als dauernde Reizungen zu deuten seien34). Wenn nur zwischen diesen beiden Anschauungen die Wahl offen stände, so müßte zweifellos der ersten der Vorzug gegeben werden. Die lange Dauer, der Störung, wenn die Sehhügelverletzung eine vollständige war, namentlich aber die Beobachtung, daß im Moment der Verletzung, falls diese den reizbaren Hirnschenkel getroffen hat, also unter dem Einfluß der Reizung, zuweilen eine Bewegung entsteht, die jener gerade entgegengesetzt ist, welche später dauernd sich ausbildet, scheinen hier entscheidend. Wenn demnach im allgemeinen die Erscheinungen auf eine Lähmung zurückzuführen sind, so ist jedoch damit nicht gesagt, daß diese Lähmung den Willenseinfluß trifft. Trotz der Bewegungsstörungen besteht nämlich der Willenseinfluß auf die Muskeln fort, falls nur die vor dem Sehhügel gelegenen Hirnteile erhalten bleiben. Umgekehrt behalten viele Tiere, z. B. Kaninchen, noch nach Wegnahme der Großhirnlappen und der Ganglien des Streifenhügels ihre normale Körperstellung bei und führen, wenn man ihre Haut reizt, zweckmäßige und geordnete Fluchtbewegungen aus; spontan, ohne direkte Verursachung durch äußere Reize, treten aber keine Bewegungen mehr ein. Verletzt man endlich beim Frosch, dessen Großhirnlappen entfernt wurden, und der ebenfalls keine willkürlichen Bewegungen mehr macht, den Thalamus oder den Zweihügel der einen Seite, so geschehen alle auf sensible Reizung eintretenden Fluchtbewegungen im Reitbahngang. Diese Tatsachen beweisen offenbar, daß nicht diejenigen Bahnen, welche die Leitung der Willensimpulse zu den Muskeln vermitteln, in den Sehhügeln sich sammeln, sondern daß die letzteren im Gegenteil solche Zentren der Lokomotion sind, welche noch unabhängig vom Willen funktionieren können, deren sich übrigens immerhin auch der Wille zur Hervorbringung gewisser kombinierter Bewegungsformen bedienen mag. Zunächst sind es aber Tasteindrücke, welche die von den Sehhügeln ausgehende Erregung der lokomotorischen Werkzeuge bestimmen. In diesen Organen findet somit ebenfalls eine Umsetzung von Sinneserregungen in kombinierte Muskelbewegungen, eine Art zusammengesetzten Reflexes statt. Die Sehhügel verhalten sich zur allgemeinen Sinnesfläche der Haut ähnlich wie die Vierhügel zum Sehorgan. Sie sind diejenigen Zentren, welche die funktionelle Verbindung der Ortsbewegungen mit den Tastempfindungen vermitteln. Dieses physiologische Resultat stimmt vollständig mit dem anatomischen Ergebnis überein, wonach in den Sehhügeln Abzweigungen der motorischen und der sensorischen Leitungsbahn endigen, und zwar, da die Haube des Hirnschenkels eine Fortsetzung der Rückenmarkstränge darstellt, solche Abzweigungen, welche der allgemeinen Körperbedeckung und den Muskeln der Ortsbewegung entsprechen. Die so aus anatomischen und physiologischen Gründen wahrscheinliche Analogie der Sehhügel mit den Vierhügeln scheint nur in einer Beziehung eine unvollständige zu sein. Tiere, denen die Vierhügel geraubt sind, erblinden vollständig; Tiere, deren Sehhügel zerstört wurden, verlieren aber nicht die Sensibilität der Haut. Dieser Unterschied hat wahrscheinlich in dem verschiedenen Verlauf der direkt zur Großhirnrinde emporsteigenden sensorischen Fasern seinen Grund. Die zentralen Opticusfasern nämlich, welche aus den Nervenkernen der Kniehöcker zur Hirnrinde gelangen, sind dem vorderen Vierhügelpaar so sehr genähert, daß sie mit diesem immer gleichzeitig getrennt werden müssen. Dagegen verläuft die direkt aufsteigende Bahn der Hinterstränge vollständig getrennt von jenem Teil derselben, welcher in die Sehhügel eintritt, indem letzterer die Haube bilden hilft, erstere aber dem Hirnschenkelfuße sich anschließt, dessen äußerste Bündel sie wahrscheinlich ausmacht.

34) Die Lähmungstheorie wurde hauptsächlich von Schiff (a. a. O. S. 346); die Reizungstheorie von Brown - SÉQUARD (lectures on the central nervous System p. 193) vertreten. Nach der letzteren müßten sich natürlich die Kreuzungen entgegengesetzt verhalten. Nach der Lähmungstheorie bedeutet z. B. Drehung der Wirbelsäule nach der Seite des Schnitts Lähmung der entgegengesetzten, nach der Reizungstheorie Krampf der gleichseitigen Rotatoren der Wirbelsäule. Ähnlich ist es, wenn man der Ansicht MEYNERT'S folgt, daß die einseitige Aktion gewisser Muskeln bei Sehhügelverletzungen auf gestörter Muskelempfindung beruht (Wiener med. Jahrb. 1872, II). Nach ihm soll nämlich die vom Willen ausgehende Kontraktion stärker ausfallen als normal, weil die Muskelempfindung teilweise aufgehoben sei. Hier müßten daher wieder die Kreuzungsverhältnisse die umgekehrten sein, als bei der Lähmungstheorie. Übrigens hat MEYNERT bereits mit Recht auf die mangelhafte Unterscheidung der verschiedenen Bestandteile des Hirnschenkels in den bisherigen. Experimenten hingewiesen.

Aus der hier aufgestellten Ansicht über die Bedeutung der Sehhügel erklären sich, wie mir scheint, die Bewegungsstörungen, welche der halbseitigen Verletzung derselben folgen, viel vollständiger als aus einer der seitherigen Hypothesen. Die Bewegungen unserer Skelettmuskeln sind zunächst abhängig von den Sinneseindrücken; sie richten sich nach diesen, noch bevor der Wille bestimmend und verändernd einwirkt. In erster Linie stehen aber hier die beiden räumlich auffassenden Sinne, also neben dem Gesichtssinn der Tastsinn. Unsere unwillkürlichen oder durch den Willen zwar zuerst angeregten, aber nun der unwillkürlichen Selbstregulierung überlassenen Bewegungen richten sich fortwährend nach den Tasteindrücken. Durch sie werden insbesondere die Ortsbewegungen sowie die Tastbewegungen der Arme und Hände geregelt. Ebenso sind diejenigen Muskelspannungen, die in den verschiedenen ruhenden Körperstellungen, wie beim Sitzen, Stehen, eintreten, durch die Tasteindrücke bestimmt. Die letzteren lösen in den Sehhügelzentren motorische Innervationen aus, welche genau der in den Tasteindrücken sich spiegelnden Körperhaltung entsprechen. Nehmen wir nun an, daß eines jener bilateralen Zentren entfernt sei, so können die von ihm abhängigen Innervationen nicht mehr erfolgen, während das Zentrum der anderen Seite noch fortwährend funktioniert: so müssen denn die schon in den ruhenden Körperstellungen bemerkbaren Verbiegungen eintreten, mit welchen, wie wir gesehen haben, unmittelbar die Störungen bei der Bewegung zusammenhängen. Diese letzteren sind teils direkt durch jene Verbiegungen, teils dadurch verursacht, daß während der Bewegung die veränderte Innervation natürlich im gleichen Sinne sich geltend macht. Aber dabei bleibt die Leitung der Empfindungseindrücke zum Gehirn und der willkürlichen Bewegungsimpulse zu den Muskeln erhalten. So kommt es, daß die anfänglichen Störungen mit der Zeit geringer werden, ja vollständig sich ausgleichen können, ohne daß die anatomische Veränderung beseitigt oder auch nur gemindert wäre. Willkürlich verbessert das Tier seine falschen Bewegungen, und es lernt so allmälig die Störungen des niedrigeren Zentralorgans durch das höhere kompensieren. Bei der Annahme einer teilweisen Lähmung des Willenseinflusses auf die Muskeln bleibt diese Kompensation vollkommen unerklärlich35).

35) Wenigstens wurde die Annahme, daß der Wille durch energischere Anstrengungen allmälig diese Lähmung seines eigenen Einflusses überwinde, eine äußerst gezwungene sein. Dieser Annahme liegt übrigens eine Voraussetzung zu Grunde, welche seither fast die herrschende bei den Physiologen gewesen ist, die Voraussetzung nämlich, daß es nur eine Leitungsbahn zwischen jeder motorischen und sensibeln Provinz des Körpers und dem Zentralorgane gebe, oder mit andern Worten, daß jede Provinz nur einmal im Gehirn vertreten sei. Dies steht, wie MEYNERT zuerst eindringlich hervorgehoben hat, mit den anatomischen Tatsachen, und, wie wir hinzufügen können, ebenso mit den physiologischen Erfahrungen in Widerspruch. Aber auch der Vermutung MEYNERT's, daß es sich bei den Sehhügelverletzungen um Störungen der Muskelempflndungen handle (Wiener med. Jahrb. 1872, II), kann ich nicht beistimmen. Die Bewegungsempfindung der Muskeln hat nämlich, wie weiter unten und ausführlicher in Abschnitt II u. III auseinander gesetzt werden soll, zweifellos ihren Sitz in der Großhirnrinde, und zwar in denselben Elementen, in welchen hier die motorische Innervation entspringt.

Die in die Sehhügel eintretenden motorischen Bahnen erfahren, wie früher erwähnt wurde, beim Menschen und bei den Tieren nur teilweise Kreuzungen. Diese physiologische Tatsache gewinnt nun Licht durch die physiologischen Funktionen des Sehhügels. Wenn wir die wahrscheinliche Bedeutung der partiellen Kreuzungen überhaupt darin erkannten, daß durch sie verschiedenartige Muskelgruppen beider Körperhälften zu gemeinsamen Funktionsherden geführt werden, so wird dies vor allem für jene Zentralteile gelten, welche unabhängig vom Willen in Wirksamkeit treten können. Unter ihnen muß aber vorzugsweise das regulatorische Zentrum der Ortsbewegung derartige Verbindungen erforderlich machen. Aus den Verkrümmungen, welche die Teile nach einseitiger Sehhügelverletzung erfahren, lassen sich hier sogar die einzelnen Bahnen, welche sich kreuzen und nicht kreuzen, bestimmen. Bei den Säugetieren sind wahrscheinlich die Rotatoren der Wirbelsäule sowie die Pronatoren (Vorwärtsdreher) und Beuger der Vorderextremität durch eine geradläufige, die Supinatoren (Rückwärtsdreher) und Strecker durch eine gekreuzte Bahn vertreten36). Rechts liegt also das Zentrum für die Beuger und Pronatoren der rechten, die Strecker und Supinatoren der linken Seite, links das Zentrum für die Strecker und Supinatoren der linken, die Beuger und Pronatoren der rechten Seite. Für die Hinterextremität gelten wahrscheinlich dieselben Verhältnisse. Findet, wie zu vermuten ist, die Kreuzung durch die hintere Commissur statt, so werden demnach in dieser die Bahnen für die Strecker und Supinatoren gelegen sein, während die Bahnen für die Beuger und Pronatoren sowie für die Muskeln des Halses und der Wirbelsäule in den geradläufigen Bahnen der Haube verlaufen. Durchschneidung eines Sehhügels in seinem hinteren Teil bewirkt daher bei aufrechter Stellung statt des gewöhnlichen Gleichgewichts der Muskelspannungen auf der gleichen Seite Auswärtsrollung, auf der entgegengesetzten Einwärtsrollung der Extremität und gleichzeitig eine Krümmung der Wirbelsäule nach der dem Schnitt entgegengesetzten Seite, nach welcher auch der Reitbahngang bei eintretender Ortsbewegung gerichtet ist37). Diese Verkrümmungen treten aber, wie wir annehmen, deshalb ein, weil von den Hautstellen der Seite, auf welcher der Sehhügel getrennt ist, keine Erregungen mehr in den Zentren dieses Hirnganglions anlangen, womit auch die durch solche Erregungen ausgelöste motorische Innervation ausbleibt. Von den sensorischen Bahnen ist also hierbei vorausgesetzt, daß sie bloß gleichseitig im Sehhügel vertreten sind, eine Annahme, die sich allerdings nicht direkt beweisen läßt, weil die zum Sehhügel geleiteten sensorischen Erregungen; eben nicht bewußte Empfindungen sind.

36) Beugung und Pronation, Streckung und Supination sind nämlich im allgemeinen an einander gebunden, teilweise sind sie sogar von den nämlichen Muskeln abhängig, so daß jedenfalls übereinstimmende Bahnen für dieselben vorausgesetzt werden müssen.

37) Die Umkehrung des letzteren bei Verletzungen, die in den vorderen Teil des Sehhügels fallen, steht zu der kombinierten Wirkung der beiderseitigen Muskeln nicht in Beziehung, da sie nur in der wahrscheinlich am Boden der Sehhügel eintretenden Kreuzung der Bahnen für die Muskeln der Wirbelsäule, wodurch nun die Verkrümmung der letzteren eine der vorigen entgegengesetzte wird, ihren Grund hat. Leitet man die Verdrehungen mit BROWN-SÉQUARD von einer dauernden Reizung oder mit meynert von verminderter Muskelempfindung ab, so muß man natürlich entgegengesetzte Kreuzungsverhältnisse annehmen: es würden also dann die Bahnen für die Beuger und Pronatoren, so wie für die Muskeln der Wirbelsäule sich kreuzen, diejenigen für die Strecker und Supinatoren auf der nämlichen Seite verbleiben.

Es ist denkbar, daß mit dieser Beziehung der Körperbewegungen zu den Tasteindrücken die Funktion des Sehbügels noch nicht erschöpft ist. Möglich, daß durch die Fasern, die aus ihm zum tractus opticus verfolgt werden können, die Beziehung der Gesichtseindrücke zu den Körperbewegungen, welcher schon die Vierhügel teilweise bestimmt sind, sich vervollständigt. Indem derselbe motorische Mechanismus, der von den Tasteindrücken aus reguliert wird, auch vom Sehorgan angeregt werden kann, begreift es sich, daß eine solche Einrichtung wesentlich zur Vereinfachung der zentralen Verrichtungen beitragen würde. Möglich auch, daß noch Verbindungen mit Zentralbahnen anderer Sinnesnerven existieren; nachgewiesen sind aber solche bis jetzt nicht, und deshalb sind umfänglichere Verbindungen dieser Art unwahrscheinlich. Bei den niederen Wirbeltieren scheinen die Funktionen, welche bei den Säugetieren den Sehhügeln zukommen, teilweise den Zweihügeln oder lobi optici übertragen zu sein. Wenigstens stimmen die Störungen, welche die Verletzung oder Abtragung der Zweihügel bei Fröschen im Gefolge hat, abgesehen von den gleichzeitig eintretenden Störungen des Sehens, im wesentlichen mit den Erscheinungen überein, die man nach Sehhügelverletzungen beobachtet38). Dies entspricht einigermaßen der anatomischen Tatsache, daß die Thalami bei diesen Tieren sehr unbedeutende Gebilde sind im Vergleich mit den stark entwickelten Zweihügeln.

38) Goltz, Funktionen der Nervenzentren des Frosches, S. 52 u. f.

Man darf wohl vermuten, daß der basale Teil des Streifenhügelkopfes, da in ihm einerseits zentrale Olfactoriusfasern, anderseits motorische Bündel, die im Hirnschenkelfuße verlaufen, ihr Ende finden, für das Geruchsorgan eine ähnliche Bedeutung hat wie das Vierhügelsystem für das Sehen, die Thalami für das Tastorgan, d. h. daß er diejenigen Bewegungen des Körpers bestimmt, die von den Geruchseindrücken abhängen. Die den Streifenhügel mit dem Sehhügel verbindenden Fasern mögen vielleicht auch hier der Mitbenutzung der im Sehhügel angelegten Bewegungsmechanismen bestimmt sein. Doch ist dieses zentrale Riechganglion wegen seines innigen Zusammenhangs mit den übrigen Ganglien des Fußes bis jetzt der isolierten Untersuchung nicht zugänglich gewesen.
    Die Hauptmasse des Streifenhügels samt dem Linsenkern bildet, wie die physiologische Prüfung lehrt, einen wesentlichen Knotenpunkt jener motorischen Leitungsbahn, welche die Übertragung der Willensimpulse an die Muskeln vermittelt. Beim Menschen sind Zerstörungen des Streifenhügels durch Blutergüsse, Geschwülste u. dergl. die häufigste Ursache der gekreuzten halbseitigen Lähmungen. Diese ergreifen in den einzelnen Fällen die verschiedenen Körpermuskeln in verschiedenem Grade: oft sind die oberen Extremitäten mehr paralysiert als die unteren, zuweilen ist vorzugsweise das Gebiet des Facialis und die Muskulatur der Sprache gelähmt; die näheren lokalen Bedingungen dieser Verschiedenheiten sind aber noch unbekannt; Schlüsse auf die einzelnen motorischen Zentren lassen sich also daraus nicht ziehen. Bei Tieren, namentlich Kaninchen, pflegt die Ausrottung eines Streifenhügels gar keinen sichtlichen Erfolg zu haben. Nach der Abtragung der beiden Ganglien hören zwar die willkürlichen Bewegungen auf, aber die Tiere bleiben aufrecht stehen oder sitzen, sie fallen nicht gelähmt zusammen, und wenn ihre Haut gereizt wird, so entfliehen sie, wobei sie häufig die Fluchtbewegungen so lange fortsetzen, bis sie durch ein äußeres Hindernis aufgehalten werden39). Diese Bewegungen haben, wie wir oben sahen, ihre Ursache darin, daß Vier- und Sehhügel erhalten sind, welche noch Bewegungsreaktionen auf Sinneseindrücke vermitteln können. Vollständig ebenso wie Entfernung der Streifenhügel wirkt die Abtragung der Hemisphärenlappen, namentlich ihrer vorderen Teile. Die Streifenhügel geben sich hierin als Gebilde zu erkennen, die von der Rinde und ihren Markfasern viel abhängiger sind als die Vier- und Sehhügel, welche letzteren auch nach Entfernung der Hirnlappen noch bestimmte physiologische Verrichtungen erfüllen.

39) Diese Fluchtbewegungen haben MAGENDIE sogar zu der Annahme Veranlassung gegeben, in Folge der Abtragung der gestreiften Körper bemächtige sich der Tiere ein unwiderstehlicher Trieb zur Vorwärtsbewegung. (Lecons sur les fonctions du système nerveux I, p. 280.) Es ist jetzt allgemein anerkannt, daß die Tiere ruhig sitzen bleiben, wenn man bei der Operation jede sensible Reizung vermeidet. Die eintretenden Bewegungen sind also offenbar Fluchtanstrengungen, die sich von Fluchtbewegungen, welche vollkommen unversehrte Tiere ausführen, nur insoweit unterscheiden, als dies durch den Wegfall der an die höheren Großhirnteile gebundenen Funktionen, Wille, Überlegung u. dergl., bedingt wird. Beim unverletzten Tier ist die Fluchtbewegung von zwei Ursachen abhängig, von dem unwillkürlichen Antrieb zur Flucht, welcher in den mittleren Hirnganglien seinen Sitz hat, und von jenen komplizierteren Selbstregulierungen, die von den vorderen Hirnlappen ausgehen. Bei den der Vorderlappen oder der beiden Streifenhügel beraubten Tieren fällt zwar dieser zweite Einfluß hinweg; darin liegt aber noch kein Grund, mit Schiff den Ausdruck Fluchtbewegungen hier ganz zu verwerfen. (Schiff, Lehrb. der Physiol. I, S. 340.)

Die Resultate der pathologischen Beobachtung und der Vivisektion stimmen demnach darin überein, daß die Streifenhügel Durchgangspunkte sind für die Leitung der Willensimpulse von den Hemisphärenlappen zu den Muskeln. Aber beide Resultate stehen insofern nicht im Einklang, als die Folgen der Zerstörung dieser Ganglien beim Menschen viel intensiver zu sein pflegen; namentlich bringt hier schon die Beseitigung eines Streifenhügels, die bei Tieren spurlos vorübergehen kann, eine deutliche halbseitige Lahmung hervor. Die Hauptursache dieses Unterschieds liegt ohne Zweifel in der verschiedenen relativen Bedeutung, welche die vorderen rein motorischen gegenüber den hinteren gemischten Hirnganglien besitzen. Je tiefer wir in der Reihe der Säugetiere herabgehen, um so mehr überwiegen die letzteren über die ersteren, um so geringer werden darum die Störungen, welche die Entfernung der vorderen Hirnganglien im Gefolge hat, um so intensiver jene, welche die Verletzung der Vier- und Sehhügel nach sich zieht. Während also beim Menschen die Reitbahnbewegungen und andere Störungen bei Degenerationen der Sehhügel und Hirnschenkel oft ganz fehlen, immer aber bald kompensiert werden, sind umgekehrt die Funktionshemmungen nach Streifenhügelerkrankungen bei ihm viel entschiedener ausgeprägt. Dieses Verhältnis entspricht der anatomischen Tatsache, daß mit steigender Gehirnentwicklung die Ganglienmasse der Streifenhügel im Vergleich mit den Vier- und Sehhügeln immer mehr zunimmt und ihr größtes Übergewicht endlich beim Menschen erreicht40).

40) Ein annäherndes Maß für das Verhältnis des Streifenhügels (samt Linsenkern) zu den Vier- oder Sehhügeln läßt sich aus den Durchmesserverhältnissen der in beide Gangliengruppen eintretenden Fasermassen, des Fußes und der Haube, entnehmen. Das Verhältnis der Höhe des Fußes zu derjenigen der Haube ist nun nach MEYNERT beim Menschen annähernd = l : 1, bei Affen, Hunden, Pferden = 1 : 2, bei Katzen = 1 : 5, bei Schwein, Reh und Agouti = 1 : 6, beim Meerschweinchen = 1 : 8. Ferner beträgt beim Menschen die Masse der Hemisphären 78 % des ganzen Gehirns, beim Affen 70, beim Hunde und Pferde 67, bei Katze und Reh 62, beim Meerschweinchen 45%. Diese Zahlen zeigen, daß mit der Masse des Hirnschenkelfußes auch die der Heinisphären wächst, während diese von der Haube und ihren Ganglien unabhängig ist. (MEYNERT, Sitzungsber. der Wiener Akademie. Bd. 60, S. 447. Arch. f. Psychiatrie II, S. 633.) Beim Menschen ist ferner während des Fötallebens und noch längere Zeit nach der Geburt der Fuß sehr wenig entwickelt. (Wiener Sitzungsberichte a. a. O., S. 452.)

Die physiologische Bedeutung der vorderen Hirnganglien (mit Ausnahme der dem zentralen Olfactoriusgebiet zugehörigen Basis des Streifenhügelkopfes) werden wir demnach mit Wahrscheinlichkeit darin sehen können, daß sich in denselben verschiedene motorische Leitungsbahnen vereinigen, welche von der Großhirnrinde aus zu kombinierter Funktion angeregt werden. Die Ganglien des Hirnschenkelfußes werden mit einem Wort als Organe solcher kombinierter Bewegungen zu betrachten sein, welche von der Hirnrinde aus ihre Impulse empfangen. Manche dieser Bewegungen können zweifelsohne gleichzeitig von den Seh- und Vierhügeln aus erregt werden: so die Bewegungen der Extremitäten bei den Ortsveränderungen und anderen zu den Eindrücken des Tast- und Gesichtssinnes in direkter Beziehung stehenden Handlungen. In diesem Falle sind die von den Stammganglien regierten Bewegungen einförmiger, ein einfacherer Mechanismus liegt ihnen zu Grunde, während von den Hemisphärenganglien verschiedenartigere Bewegungskombinationen in Gang gesetzt werden können; letztere werden dann auch vielfach in jenen einfacheren Mechanismus der zunächst bei den geläufigen Bewegungen wirksamen Zentren verändernd und regulierend eingreifen. So wird es denn erklärlich, daß, selbst nachdem die Vier- und Sehhügel verletzt oder zerstört sind, noch normale Ortsbewegungen und andere ähnliche Handlungen, die gewöhnlich ohne den fortwährenden Einfluß der Hirnlappen vonstatten gehen, erfolgen können. Aber diese Bewegungen müssen dann erst aus einer größeren Zahl möglicher Bewegungsformen ausgewählt und eingeübt werden, um ihnen so allmälig eine ähnliche mechanische Sicherheit zu geben. Immerhin werden sie sich durch ihre direktere Abhängigkeit von den bewußten Sinneseindrücken und vom Willen auszeichnen, daher denn auch leicht die Störungen wieder sichtbar werden, sobald sich die Aufmerksamkeit von den Bewegungen abwendet. Andere kombinierte Bewegungen aber gibt es, die überhaupt nur von den vorderen motorischen Ganglien und durch sie von der Hirnrinde aus beherrscht werden, weil ihre Abhängigkeit von den Sinneseindrücken eine minder unmittelbare ist. Hierher gehören vor allem die Sprachbewegungen. In der Tat ist die Sprachstörung eine überaus häufige Folge der Streifenhügelerkrankungen beim Menschen41).

41) Ladame, Symptomatologie und Diagnostik der Hirngeschwülste. Würzburg 1865. S. 180.

Denselben Erfolg, welchen die Zerstörung der Hirnganglien nach sich zieht, hat die Trennung der in dieselben eintretenden Leitungsbahnen, der Hirnschenkel. So zahlreich die Beobachtungen sind, welche die experimentierende Physiologie über die Folgen der Hirnschenkelverletzungen gesammelt hat, so ist deren Ertrag doch ein verhältnismäßig spärlicher, weil sich selten ermessen läßt, welche der verschiedenen den Hirnschenkel zusammensetzenden Leitungsbahnen getroffen wurde. Ist nun aber der Hirnschenkelfuß getrennt, so ist die Bedeutung der Symptome augenscheinlich eine andere, als wenn die Haube und Schleife verletzt wurden. Im ersten Fall tritt eine Lähmung des Willenseinflusses auf die Muskeln ein, während die von den unteren Hirnganglien beherrschten Bewegungen, die nach den unmittelbar stattfindenden Sinneseindrucken reguliert werden, fortbestehen. Im zweiten Fall hören umgekehrt diese letzteren Bewegungen auf, während die durch den Willen hervorgebrachten, nach frühern und gegenwärtigen bewußten Empfindungen eingerichteten Bewegungen fortdauern. Im allgemeinen ist in keinem dieser Fälle die Lähmung eine vollständige, da hier die willkürliche, dort die unwillkürliche Regulation der Bewegungen erhalten bleibt. Zudem ist niemals eine totale einseitige Trennung des Fußes oder der Haube möglich; auch wirken die Kreuzungen der Leitungsbahnen ausgleichend. Um beide Formen der unvollständigen Lähmung, diejenige durch Aufhebung des Willenseinflusses und diejenige durch direkte Regulation nach den Sinneseindrücken, von einander zu scheiden, wollen wir die erste als Parese, die zweite als Ataxie bezeichnen. Beide Formen der unvollständigen Lähmung unterscheiden sich von der vollständigen, der Paralyse, dadurch daß alle Bewegungen möglich bleiben, aber gestört sind. Bei der Parese, welche den Verletzungen des Hirnschenkelfußes, seiner Ganglien oder der Markausstrahlungen der letzteren in den Hemisphärenlappen nachfolgt, ist die unwillkürliche Regulation der Bewegungen noch vorhanden, aber der Einfluß des Willens ist mehr oder weniger gehemmt, so daß die von ihm abhängigen Bewegungen nur mit Anstrengung oder selbst gar nicht ausgeführt werden können. Die schleppende, mühselige Weise der Bewegung charakterisiert daher diese Störung. Bei der Ataxie, die man nach Trennung der Haube und Schleife und ihrer Ganglien sowie in ganz ähnlicher Weise nach der Verletzung anderer Zentralteile, in welchen sensorische und motorische Leitungsbahnen zusammentreffen, beobachtet, ist der Einfluß des Willens auf die Muskeln erhalten, aber die Koordination der Bewegungen, die unter normalen Bedingungen unwillkürlich, unter der unmittelbaren Leitung der Sinneseindrücke geschieht, ist gestört; die Bewegungen sind daher unsicher, und in Folge der oft mißlingenden Versuche durch Willensanstrengung das Gleichgewicht zu gewinnen werden sie zitternd. Der Paretische hat einen schleppenden, der Ataktische einen wankenden Gang42). Natürlich sind oft bei pathologischen Funktionsstörungen und nach physiologischen Eingriffen die Erscheinungen aus Parese und Ataxie gemischt, so z. B. bei Degenerationen, welche Teile des Streifen- und Sehhügels gleichzeitig ergreifen, nach Verletzungen, welche den Fuß und die Haube des Hirnschenkels gleichzeitig treffen. Man hat auch in diesen Fällen meistens bloß eine teilweise Lähmung des Willenseinflusses, eine Parese, vorausgesetzt, während zweifelsohne in vielen physiologischen Versuchen Parese und Ataxie neben einander bestanden. So beruhen die Reitbahnbewegungen der Tiere nach Hirnschenkelverletzungen wahrscheinlich in den meisten Fällen auf einer Mischung der Symptome, und es dürfte im einzelnen Fall schwer zu entscheiden sein, wie viel der Parese, wie viel der Ataxie zuzurechnen ist. Denn eine ähnliche Abweichung der Bewegungen, wie sie die einseitige Aufhebung der unwillkürlichen Regulierung hervorbringt, muß auch der einseitigen Parese nachfolgen43). Sobald die Verletzung der Hirnschenkel jenes Gebiet trifft, in welchem die nach oben aufsteigenden Leitungsbahnen mit der Seitenbahn des kleinen Gehirns zusammentreffen, im Gebiet der Hirnbrücke, mengen sich außerdem diejenigen Erscheinungen bei, welche der aufgehobenen Funktion des Kleinhirns zu folgen pflegen.

42) Parese und Ataxie sind an und für sich rein symptomatische Begriffe. Der erste bezeichnet die unvollständige Lähmung, der zweite die mangelnde Regulation der Bewegungen. Während nun die unvollständige Lähmung immer sich auf die teilweise Aufhebung des Willenseinflusses bezieht, tritt eine mangelhafte Regulation außer nach Funktionsstörungen der hinteren Hirnganglien und der ihnen entsprechenden Teile des Hirnschenkels überhaupt in allen den Fällen ein, in welchen die normale Einwirkung der Sinneseindrücke auf die Bewegungen aufgehoben ist. So werden wir namentlich sehen, daß Verletzungen und Erkrankungen des kleinen Gehirns sowie der hinteren Rückenmarksstränge mit Ataxie verbunden sind.

43) Die jetzt geläufige Erklärung der Reitbahnbewegungen, die zuerst von LAFARGUE und LONGET angebahnt und dann von Schiff vervollständigt wurde, führt dieselben ausschließlich auf eine Parese zurück. (Longet, Anatomie und Physiol. des Nervensystems I, 356 f. Schiff, Lehrb. der Physiol. I, S. 346.) Obgleich, wie gesagt, nicht zu bestreiten ist, daß die Parese einen ähnlichen Einfluß ausüben und daher auch unter Umständen an den Erscheinungen mitbeteiligt sein kann, so glaube ich doch aus folgenden Gründen die einseitige Aufhebung der unwillkürlichen Koordination als die wesentliche Ursache der Reitbahnbewegung betrachten zu müssen. 1) Einseilige Abtragung eines Streifenhügels oder des ihm entsprechenden Hirnlappenrnarks, derjenigen Teile also, von welchen offenbar die willkürlichen Impulse ausgehen, bringt keine Reitbahnbewegung hervor. 2) Hat man dagegen die beiden Streifenhügel und Hirnlappen abgetragen, so daß alle willkürlichen Bewegungen aufgehört haben, so erfolgen nach einseitigen Verletzungen der Vier- und Sehhügel oder der Hirnschenkel die durch sensible Reize ausgeführten Fluchtbewegungen in der Form des Reitbahnganges. — Gewöhnlich hat man mit den nach Trennung der Großhirnschenkel eintretenden Bewegungsstörungen auch jene Erscheinungen zusammengeworfen, welche nach einseitigen Verletzungen des Kleinhirns und der Kleinhirnschenkel eintreten. Wir werden unten sehen, daß die letzteren auf einen durchaus andern Ursprung hinweisen.

Die Bewegungsstörungen nach vollständiger Entfernung des kleinen Gehirns lassen im allgemeinen dem Symptomenbild der Ataxie sich zurechnen. Alle Bewegungen werden schwankend und unsicher; dabei ist aber der Einfluß des Willens auf die einzelnen Muskeln nicht aufgehoben; nur die Fähigkeit, die Wirkungen derselben zu geordneten Bewegungen zu verbinden, scheint verloren. Wird bloß eine beschränkte Stelle des kleinen Gehirns verletzt oder durchschnitten, so gestalten sich die Erscheinungen verschieden, je nachdem die Verletzung den Wurm oder die Seitenteile trifft. Nach einem Schnitt durch die vorderste Gegend des Wurms fallen die Tiere nach vorwärts; bei ihren spontanen Bewegungen ist der Körper vorn übergeneigt, fortwährend zum wiederholten Fallen bereit. Ist der hintere Teil des Wurms durchschnitten worden, so wird dagegen der Körper nach rückwärts gebeugt, und es ist eine Neigung zu retrograden Bewegungen vorhanden44). Hat man die eine Seitenhälfte verletzt oder abgetragen, so fällt das Tier sogleich auf die der Verletzung entgegengesetzte Seite, und daran schließen sich heftige Drehbewegungen um die Körperachse, die meistens nach der verletzten, zuweilen aber auch nach der gesunden Seite gerichtet sind45). Außerdem bemerkt man im Moment des Schnitts konvulsivische Bewegungen der Augen, welchen eine dauernde Ablenkung derselben, meist im nämlichen Sinne, in welchem auch die Rollbewegung stattfindet, nachfolgt. Wurde z. B. die rechte Kleinhirnhälfte durchschnitten, so werden beide Augen nach rechts gedreht, wobei das rechte etwas nach unten, das linke nach oben sich richtet46). Beide Lageänderungen können in derselben Weise hervorgebracht werden, wenn man auf der verletzten Seite den äußeren geraden und den oberen schrägen Augenmuskel, auf der unverletzten den inneren geraden und den unteren schrägen Augenmuskel in stärkere Spannung versetzt47).

44) RENZI, ann. universal. 1863, 64. Auszug in Schmidt's Jahrb. der Medicin. Bd. 124, S. 157. Auch nach Degenerationen des Cerebellum beim Menschen hat man zuweilen eine Neigung den Kopf nach rückwärts zu werfen beobachtet; doch sind diese Fälle verhältnismäßig selten, wahrscheinlich weil die Veränderung meistens sich nicht auf die Mitte beschränkt. (Ladame, Hirngeschwülste, S. 93.)

45) Über die Richtung der nach Kleinhirnverletzungen eintretenden Rollbewegungen sind die verschiedenen Beobachter durchaus uneins. Nach Magendie (lecons sur les fonctions du syst. nerv. I, p. 257) sowie nach GRATIOLET und Leven (comptes rendus 1860, II, p. 917) erfolgt die Drehung gegen die verletzte, nach Lafargue (Longet a. a. 0., I, S. 356) und LUSSANA (journ. de la physiol. V, p. 433) nach der unverletzten Seite. Nach Schiff (Physiologie I, S. 353) geschieht die Rollung im letzteren Sinne, wenn der Brückenarm getrennt wurde, im ersteren, wenn die Kleinhirnhälfte selbst durchschnitten ist, und BERNARD (lecons sur la physiol. du syst. nerv. I, p. 488) bemerkt, daß Verletzungen des hintern Teils der Brückenarme Rotation nach derselben Seite, Verletzungen des vorderen Teils Rotation nach der entgegengesetzten Seite hervorruft. Hiernach scheint es nicht unwahrscheinlich, daß die Widersprüche in den Angaben von den weiter unten zu besprechenden Kreuzungsverhältnissen herrühren.

46) Zugleich tritt eine Rollung oder Raddrehung um die Blicklinie ein, wie sie diesen Augenstellungen immer entspricht: es ist nämlich das rechte Auge nach rechts, das linke nach links um seine Blicklinie gerollt. GRATIOLET et Leven, comptes rend. 1860, II, p. 917. Leven et Ollivier, Arch. génér, de méd. 1862. XX, p. 513. Über den Zusammenhang der Raddrehungen mit den Augenstellungen vgl. mein Lehrb. der Physiol. 3te Aufl., S. 629.

47) S. mein Lehrb. der Physiol. 3te Aufl., S. 634 u. S. 568, Fig. 108.

Beim Menschen lassen sich vorübergehend Erscheinungen, die den Symptomen nach Kleinhirnverletzungen vollständig gleichen, durch alle diejenigen Ursachen hervorbringen, welche Schwindel erzeugen. Drehung auf der Ferse, Schaukeln, Karusselfahren und andere rasch vor sich gehende aktive oder passive Bewegungen, die Alkoholintoxication, die Einwirkung eines stärkeren konstanten Stromes auf das Hinterhaupt rufen Bewegungsstörungen hervor, welche bald den nach totaler Entfernung, bald den, nach partieller Verletzung des Kleinhirns eintretenden Symptomen objektiv vollständig gleichen. In der Tat ist es nun höchst wahrscheinlich bei allen jenen schwindelerregenden Einwirkungen das Kleinhirn, von welchem die Erscheinungen herrühren, so daß den auf solche Weise am Menschen angestellten Versuchen die Bedeutung transitorischer Funktionsstörungen dieses Zentralorgans zukommt, wobei sie zugleich vor dem Experiment am Tiere die Möglichkeit einer gleichzeitigen Beobachtung des subjektiven Zustandes voraus haben. Daß es das Cerebellum ist, in welchem der von zentralen Ursachen ausgehende Schwindel seinen Sitz hat, machen hauptsächlich die Versuche mit dem konstanten Strom wahrscheinlich. Der letztere bringt nämlich nur dann Schwindel hervor, wenn das Hinterhaupt in querer Richtung vom Strome durchflossen wird48). Auch hat man nach starker Alkoholeinwirkung zuweilen Blutergüsse im Cerebellum gesehen49). So ist denn zu vermuten, daß der Schwindel durch Drehen, Schaukeln und andere Bewegungen des Körpers ebenfalls im gleichen Organ seinen Ursprung hat. Wahrscheinlich wirkt hierbei die Bewegung des Kopfes direkt als ein Druck oder Stoß auf die weiche Nervenmasse.

48) PURKINJE, der zuerst diese galvanischen Versuche anstellte, brachte die Elektroden in beide Ohren (RUST's Magazin der Heilkunde 1827, Bd. 23, S.297). Hierbei bekommt man nach meinen Beobachtungen schon bei schwächeren Strömen die Sehwindelerscheinungen, als wenn man nach HITZIG'S Vorgang (Archiv f. Anatomie und Physiol. 1871, S. 727) die fossae mastoideae als Einströmungsstellen wählt. Allerdings treten aber im ersten Fall meistens nebenbei subjektive Gehörserscheinungen auf, welche die Beobachtung stören können.

49) Von Flourens, Lossana und RENZI beobachtet. Siehe den letzteren in SCHMIDT's Jahrb. Bd. 124, S. 158.

Am vollständigsten unter allen diesen Schwindelerscheinungen lassen die galvanischen sich studieren50). Sobald die Kette geschlossen wird, schwankt der Körper nach der Seite der Anode, die Augen werden zuerst nach der entgegengesetzten, dann aber, während der Strom geschlossen bleibt, langsam nach der nämlichen Seite gedreht. Die erste stoßweise Bewegung wird mit wachsendem Strom immer stärker und dauernder, so daß die zweite ganz verschwinden kann. Gleichzeitig erweitern sich langsam die beiden Pupillen. Subjektiv hat man im Moment des Kettenschlusses das Gefühl, als werde dem Körper auf der Seite der Kathode die Stütze entzogen. Die Gesichtsobjekte scheinen sich in einem der scheinbaren Drehung und Widerstandsentziehung des Körpers entgegengesetzten Sinne, also gegen die Anode hin zu bewegen. Gewöhnlich ist diese horizontale Scheinbewegung mit einer vertikalen kombiniert, indem bei der Anode die Objekte nach aufwärts, bei der Kathode nach abwärts bewegt scheinen. Zuweilen kommt es vor, daß man statt der Scheinbewegung der Objekte eine solche des eigenen Körpers im entgegengesetzten Sinne zu fühlen glaubt, so als werde dieser passiv nach der Seite der Kathode gedreht, auf der er gleichzeitig zu versinken scheint. Dieses Gefühl ist fast immer dann vorhanden, wenn während des Versuchs die Augen geschlossen werden; doch kommt es auch im letzteren Falle vor, daß die Scheinbewegung objektiviert, nämlich auf das dunkle Gesichtsfeld bezogen wird. Offenbar haben die objektiv wahrnehmbaren Symptome die Bedeutung kompensierender Bewegungen. Weil man den Körper nach der Seite der Kathode gedreht und ihm hier die Stütze entzogen glaubt, so dreht man ihn unwillkürlich gegen die Anode hin und sucht sich hier festzuhalten. Unterdrückt man diese kompensierende Bewegung, so kann das Gefühl, als werde dem Körper die Stütze entzogen, sein wirkliches Umfallen herbeiführen. Eine erste Andeutung dieses Ereignisses bemerkt man häufig im Moment des Kettenschlusses: der Körper sinkt nämlich in der Tat zuerst nach der Seite der Kathode, stellt aber dann rasch durch Drehung gegen die Anode das Gleichgewicht wieder her. Zuerst erfolgt also Drehung im Sinne der Scheinbewegung und dann erst Drehung im Sinne der Kompensation dieser Scheinbewegung. Dieser Fall ist es nun, der beim Auge regelmäßig zur Beobachtung kommt: das Auge wird, wie wir oben bemerkten, immer zuerst momentan gegen die Kathode gedreht, worauf dann die langsamere und dauernde Kompensationsbewegung im entgegen gesetzten Sinne eintritt. Ganz ähnliche objektive und subjektive Erscheinungen erfolgen, wenn man sich längere Zeit rasch auf der Ferse dreht. Die Objekte geraten zum Teil schon während der Drehung, nämentlich aber sobald man mit derselben einzuhalten sucht, in eine Scheinbewegung nach der entgegengesetzten Richtung. Je stärker diese ist, um so mehr sucht man unwillkürlich die Scheinbewegung durch die eigene Bewegung auszugleichen: so kommt es, daß zuletzt bei starkem Schwindel ein fast unwiderstehlicher Zwang entsteht, die Drehung in der einmal begonnenen Richtung fortzusetzen. Werden die Augen geschlossen, so ist der Schwindel mehr subjektiv: es entsteht das Gefühl, als wenn auf derjenigen Seite, welche der Richtung der Drehung gegenüberliegt, dem Körper der Halt fehlte, man sucht daher unwillkürlich auf der andern Seite nach einer Stütze oder setzt, wenn eine solche nicht gefunden wird, die Drehung fort. Unterdrückt man die kompensierende Bewegung, so stürzt, wie bei den galvanischen Versuchen, der Körper auf der Seite zusammen, auf der ihm die Stütze entzogen scheint. Die Augen sind, so lange die Drehung dauert, und im ersten Moment nach derselben, in einem ihr entgegengesetzten Sinne abgelenkt, worauf dann auch bei ihnen die kompensierende Bewegung im Sinne der Drehung erfolgt. Bei starkem Schwindel, welchen Ursprungs derselbe übrigens sein möge, treten endlich zu den erwähnten Scheinbewegungen der Objekte noch andere Sehstörungen hinzu: die Gegenstande erscheinen undeutlich, mit verwaschenen Rändern, die Umrisse unterbrochen, die Gestalt verzerrt. Im höchsten Grad des Schwindels können diese Symptome der Amblyopie in völlige Verdunklung des Gesichtsfeldes übergehen.

50) Vgl. PURKINJE a. a. O. Brenner, Untersuchungen und Beobachtungen auf dem Gebiete der Elektrotherapie. Leipzig 1868. l, S. 75. Hitzig, Archiv f. Anatomie und Physiol. 1871. S. 724.

So sind der Drehschwindel und der galvanische Schwindel offenbar Vorgänge von analoger Art, und beide gleichen in ihren objektiven Symptomen vollständig den Erscheinungen nach halbseitigen Verletzungen der Kleinhirnhermisphären. Die unwiderstehliche Gewalt, mit welcher hier die Tiere um die Längsachse ihres Körpers rotieren, kann nur mit der Nötigung des Schwindelnden verglichen werden, seinen Körper in derjenigen Richtung zu drehen, welche der scheinbaren Drehung der Gesichtsobjekte oder der Stelle der aufgehobenen Unterstützung des Körpers entgegengesetzt ist51). Da bei der Schließung stärkerer Ströme vorzugsweise in der Nähe der positiven Elektrode oder Anode, bei der Öffnung in der Nähe der negativen, der Kathode, die Funktion der Nervenfasern gehemmt wird, so stehen die galvanischen Schwindelerscheinungen wahrscheinlich mit den Störungen nach einseitiger Kleinhirnverletzung im unmittelbarsten Zusammenhang: denn die Schließung des Stroms muß auf die der Anode benachbarte, die Öffnung auf die der Kathode benachbarte Kleinhirnhälfte analog einer durch Abtragung oder Durchschneidung erzeugten Funktionshemmung wirken. In der Tat kehren bei der Öffnung der Kette die Erscheinungen vollständig sich um. Jetzt scheint bei der Anode dem Körper die Stütze entzogen, die kompensierende Drehung geschieht nach der Kathode hin. u. s. f.52). In allen Fällen geschieht also die Drehung des Körpers nach der Seite der Funktionshemmung, nur im ersten Moment sinkt derselbe zuweilen nach der entgegengesetzten, gerade so wie dies in der Regel nach einseitigen Kleinhirnverletzungen stattfindet.

51) PURKINJE hat zuerst auf die Analogie der nach gewissen Hirnverletzungen eintretenden Bewegungen mit den Schwindelerscheinungen hingewiesen (RUST's Magazin, Bd. 23, S. 285). HENLE (rationelle Pathologie II, 2. S. 56) dehnte diese Theorie auf alle so genannte Zwangsbewegungen, also namentlich auch auf die Reitbahnbewegungen nach Verletzung der Hirnschenkel aus. Aber nur die Rotationen nach einseitiger Verletzung des Kleinhirns geschehen mit jenem Zwang, der dem unwiderstehlichen Trieb zur Drehung beim Schwindel gleicht.

52) Bei schwacheren Strömen sind die Schwindelerscheinungen beim Öffnen der Kette, falls die vorausgegangene Schließung einige Zeit andauert, sogar viel deutlicher.

Auch der Drehschwindel ist zum Teil ohne Zweifel zentralen Ursprungs. In Folge der Drehbewegung wird das Cerebellum durch die Zentrifugalkraft einen Druck nach der Seite der Drehung erfahren; dem entspricht dann, daß auf der entgegengesetzten Seite die Unterstützung des Körpers aufgehoben scheint, und daß die kompensierende Bewegung in der fortgesetzten Drehung besteht. Aber nebenbei können in diesem Fall auch peripherische Ursachen mitwirken. Jede wirkliche oder scheinbare Bewegung der Gesichtsobjekte, welche mit einer gewissen Geschwindigkeit geschieht, kann nämlich Schwindel erzeugen. Indem die Augen unwillkürlich der Bewegung der Objekte folgen, können sie doch niemals fixierend die letzteren festhalten, es treten daher kompensierende Bewegungen der Augen und unter Umständen des ganzen Körpers in der entgegengesetzten Richtung ein. Da dem in der Richtung der Scheinbewegung abgelenkten Auge fortwährend die Gegenstände entschwinden, ohne daß es dieselben weiter verfolgen kann, so sucht es unwillkürlich nach einer Stellung zurückzukehren, von welcher aus es von neuem die bewegten Objekte fixierend verfolgen und dadurch deutlicher auffassen kann; in solchem Bestreben wird es von entsprechenden Bewegungen des ganzen Körpers unterstützt. In diesem Kampf der Augen- und Körperbewegung mit der Bewegung der Objekte, bei dem es niemals zu einer deutlichen Auffassung der letzteren kommen kann, besteht eben der Gesichtsschwindel. Im Gebiet der Tasteindrücke und Muskelempfindungen kommen aber ähnliche Erscheinungen vor. Wenn man sich rasch auf der Ferse dreht, so wird diese Bewegung, nachdem sie einmal in Gang gekommen ist, wegen der erlangten lebendigen Kraft mit einer so geringen Muskelanstrengung fortgesetzt, daß die letztere zu der stattfindenden Drehung, von welcher uns die Tastempfindungen Aufschluß geben, gar nicht im Verhältnisse steht. Hält man daher plötzlich an, so entsteht die Empfindung, als wenn der Körper gewaltsam nach der entgegengesetzten Seite gedreht oder umgeworfen würde; diese Gleichgewichtsstörung kann aber nur durch Fortsetzung der Drehung im ursprünglichen Sinne oder durch Festhalten des Körpers auf der Seite der ursprünglichen Drehrichtung äquilibriert werden. In allen diesen Fällen sind also die Zwangsbewegungen Versuche zur Herstellung eines gestörten Gleichgewichts. Die Störung des Gleichgewichts ist aber entweder dadurch veranlaßt, daß die Objekte durch ihre wirkliche oder scheinbare Bewegung fortwährend der verfolgenden Bewegung unserer wahrnehmenden Organe entfliehen, oder dadurch daß wir durch Inkongruenzen zwischen Tastempfindung und Muskelanstrengung an unsern eigenen Bewegungen irre werden. Beide oft mit einander verbundene Formen des Schwindels sind also Störungen des Gleichgewichts unseres Körpers, welche in einer gestörten Auflassung von Bewegungen, sei es äußerer oder eigener, ihren Grund haben. Schon die bloße Vorstellung einer Inkongruenz zwischen der Bewegung durch den Raum und den zu derselben verfügbaren Muskelanstrengungen kann daher Schwindel erregen, wie z. B. beim Sehen in die Tiefe oder in eine steile Höhe.
    Wie die Rotation des Körpers Erscheinungen herbeiführt ähnlich denen, die einer seitlichen Verletzung des Kleinhirns folgen, so entspricht der bei andern schnellen Bewegungen eintretende Schwindel offenbar andern Funktionsstörungen dieses Organs. Die totale Unsicherheit aller Bewegungen z. B., wie sie bei der Seekrankheit vorkommt, gleicht einer Funktionsstörung des ganzen Cerebellum; diese wird offenbar herbeigeführt durch das unregelmäßige Schwanken des Schiffes, durch welches das Organ in allen möglichen Richtungen mechanische Stöße empfängt.
    Die Ursachen der Symptome nach Kleinhirnverletzungen sind durch den Nachweis, daß sie nichts anderes als Schwindelanfälle darstellen, von verschiedener Form je nach der Stelle der Verletzung, ihrer Erklärung bereits nahe gerückt. Von der Lage und Stellung unserer Glieder verschaffen uns die Eindrücke, welche in Folge dieser Lage und Stellung auf die sensibeln Nerven der Teile einwirken, eine Vorstellung. Man hat vielfach geglaubt, die letztere komme ausschließlich durch Empfindungen zu Stande, welche bei der Kontraktion der Muskeln stattfinden. In der Tat besitzen wir für Kraft und Umfang der Muskelzusammenziehung ein ziemlich scharfes Maß in Empfindungen, welche jeden motorischen Innervationsvorgang begleiten. Da dieselben, auch wenn die Hautsensibilität aufgehoben ist, z. B. nach Durchschneidung der hinteren Rückenmarkswurzeln oder nach dem Abziehen der Haut, fortdauern, während sie bei allen Störungen der motorischen Innervation gleichfalls gestört sind, so ist es wahrscheinlich, daß sie nicht in den Muskeln, sondern in den zentralen Apparaten stattfinden, von welchen der motorische Innervationsvorgang ausgeht53). Aber so wichtig die Bewegungsempfindungen zur Regulation der Bewegungen sind, so sind doch sie bei der Bildung der Vorstellungen von der dauernden Stellung unserer Glieder wahrscheinlich nicht wesentlich beteiligt, sondern hier scheint die Hauptrolle teils den Tastempfindungen teils jenen Empfindungen zuzukommen, welche von den Lageänderungen der Teile, also von den Drehungen der Gelenke, den Verkürzungen der Muskeln u. s. w. herrühren, und welche durch sensible Nerven vermittelt werden, die mit den Tastnerven der Haut verlaufen. Es gibt zwei Tatsachen, welche diese Auffassung begründen: erstens die eigentümlichen Bewegungsstörungen, welche bei Tieren nach Durchschneidung der hinteren Nervenwurzeln eintreten, und zweitens die Symptome der Ataxie, welche beim Menschen Degenerationen der Hinterstränge des Rückenmarks begleiten. Nach der Durchschneidung der sensibeln Nervenwurzeln bleibt die Fähigkeit der Bewegung erhalten, nichts spricht dafür, daß die Bewegungsempfindungen aufgehoben seien, wie man irrtümlich geglaubt hat; die Tiere besitzen immer noch ein Maß für die Kraft ihrer Bewegungen. Wenn nun trotzdem die letzteren gestört sind, zuweilen ungeschickt oder so ausgeführt werden, daß unbequeme Stellungen eintreten, so liegt es offenbar nahe vorauszusetzen, daß zwar die Innervationsempfindungen erhalten blieben, daß aber in Folge der Operation jene Eindrücke nicht mehr perzipiert werden, welche über die Lage und Stellung der Glieder Aufschluß geben54). Ähnlich verhalten sich jene Bewegungsstörungen, welche beim Menschen in Folge der so genannten grauen Degeneration der hinteren Rückenmarksstränge beobachtet werden. Neben einer mehr oder weniger vollständigen Unempfindlichkeit der Haut findet man, daß das Gefühl für das Gleichgewicht des Körpers sowie die Wahrnehmung der Stellung der Glieder gestört ist: beträchtliche Dislokationen der letzteren oder passive Bewegungen, die man mit ihnen vornimmt, können daher unbemerkt bleiben; dagegen sind willkürliche Bewegungen möglich, und der Kranke behält für Kraft und Umfang seiner aktiven Muskelanstrengungen ein ziemlich genaues Maß 55). Offenbar sind nun die Erscheinungen nach Kleinhirnverletzungen von analoger Art. Auch hier kann von einer absoluten Aufhebung der Bewegungsempfindungen nicht wohl die Rede sein. Selbst nach vollständiger Entfernung des kleinen Gehirns lernen die Tiere, falls sie nur die Operation längere Zeit überleben, wieder zweckmäßige Bewegungen ausführen, nur eine gewisse Unsicherheit derselben bleibt immer bestehen. Wenn die im Momente der Operation eintretenden Störungen so viel stürmischer sind als z. B. bei der Ataxie in Folge grauer Degeneration der Hinterstränge, so liegt wohl vor allem in der Plötzlichkeit des Eingriffs der Grund. Beim Menschen sind auch umfangreiche Degenerationen des Kleinhirns mit verhältnismäßig unbedeutender Störung der Bewegungen beobachtet.

53) Der Ausdruck "Innervations- oder Bewegungsempfindungen" ist daher jedenfalls dem früher meist gebrauchten "Muskelempfindungen" vorzuziehen. Näheres über die Bewegungsempfindungen vgl. im zweiten Abschnitt.

54) Über die Bewegungsstörungen nach Durchschneidung der sensibeln Nervenwurzeln vgl. Bernard, Lecons sur la physiol. du système nerveux I, p. 248. Gegen die früher schon von Bell und neuerdings auch von BERNARD ausgesprochene Ansicht, wonach alle Bewegungsempfindungen von sensibeln Fasern abhängen, welche in den hintern Nervenwurzeln in das Ruckenmark eintreten, hat bereits W. ARNOLD mit Recht bemerkt, daß dieser Auflassung das Verhalten der Tiere nach einseitiger Durchschneidung der sensibeln Wurzeln durchaus nicht entspricht. (W. ARNOLD, die Verrichtungen der Wurzeln der Rückenmarksnerven. Heidelberg, 1844, 8. 112.) Nach dieser Operation ist das Verhalten der beiden Hinterextremitäten allerdings kein gleichmäßiges. Der Frosch zieht z. B. das empfindlich gebliebene Bein auch während der Ruhe an, das unempfindliche läßt er fast in jeder Stellung, die man ihm gibt. Sobald aber das Tier Bewegungen ausführt, lassen sich in den Bewegungen der beiden Seiten keine wesentlichen Unterschiede mehr erkennen, wie solches doch offenbar der Fall sein müßte, wenn auf der operierten Seite jede Spur einer Bewegungsempfindung erloschen wäre.

55) Leyden, Virchow's Archiv, Bd. 47, S. 32. Die früher schon von Eigenbrodt (ebend. Bd. 23, 571) beobachtete Tatsache, daß Kranke, deren Drucksinn in Folge von Anästhesie bedeutend geschwächt ist, einen Kraftsinn von normaler Schärfe besitzen können, hat LEYDEN bestätigt, zugleich aber gefunden, daß auch beim Heben des Gewichtes immerhin der Schwellenwert des Reizes eine bedeutendere Größe als im normalen Zustande besitzen muß, um perzipiert zu werden (a. a. O., S. 329).

Durch diese Erwägungen werden einige der Theorien, welche man über die Bedeutung des kleinen Gehirns aufgestellt hat, von vornherein beseitigt. Wir können dieses Organ weder mit FLOURENS als den allgemeinen Koordinator der Körperbewegungen, noch mit luys als die Kraftquelle aller motorischen Innervation, noch mit LUSSANA. als den Sitz der Muskelempfindungen betrachten, weil sich nicht einsehen läßt, wie die Ordnung, Kraft und das Maß der Bewegungen im Laufe der Zeit bis zu einem gewissen Grade wenigstens wiederhergestellt werden können, wenn das Zentralorgan, von welchem Ordnung, Kraft oder Empfindung der Bewegungen ausgehen, nicht wiederersetzt wird56). Andere Hypothesen ermangeln in noch höherem Grade der tatsächlichen Begründung: so die von den Phrenologen in Umlauf gebrachte Beziehung des kleinen Gehirns zum Geschlechtstrieb oder die von einigen Beobachtern behauptete Bedeutung desselben für den Gesichtssinn57). Durch die Funktionshemmung des kleinen Gehirns wird offenbar nur die Auffassung jener sensibeln Eindrücke gestört, welche die Empfindungen von der Stellung der Glieder und von der Unterstützung des Körpers, so weit solche auf die Bewegungsinnervation von Einfluß sind, bedingen. Ist die Funktionshemmung eine einseitige, so erfolgt die peripherische Störung im allgemeinen auf der gegenüberliegeoden Körperseite: auf dieser sinkt nun das Tier im Moment der Verletzung zusammen, um dann, wie bei anderen Formen des Schwindels, durch rasche unwillkürliche Drehung nach der andern Seite, auf welcher das Gefühl für die Stellung des Körpers erhalten blieb, die verlorene Unterstützung zu gewinnen. Doch ist die Richtung der Drehung, wie wir bemerkt haben, nicht ganz konstant. Dies würde sich erklären, wenn man voraussetzt, daß auf der ganzen Seitenbahn des kleinen Gehirns von den strickförmigen Körpern an bis zu den Brückenarmen sich die Kreuzung der Fasern allmälig vollzieht, so daß dieselbe erst vollendet ist in den Brückenarmen, während bei Trennungen, die das kleine Gehirn treffen, bald die eine bald die andere Körperseite vorwiegend von der Störung betroffen wird, je nachdem eine Stelle getrennt wurde, an welcher der größere Teil der Fasern noch ungekreuzt oder schon gekreuzt ist. In dieser Beziehung mögen auch wohl bei verschiedenartigen Tieren Unterschiede obwalten. So ist es augenfällig, daß bei Vögeln die Störungen nach halbseitigen Kleinhirnverletzungen meistens beide Körperseiten mehr oder weniger ergreifen58). Diese Erscheinung hängt vielleicht mit der Bewegungsweise der Tiere zusammen, indem die Unterglieder bei den Flugbewegungen nicht, wie bei den Ortsbewegungen der Säugetiere, abwechselnd sondern synchronisch wirksam sind. Darnach ist zu vermuten, daß sich im Cerebellum des Vogels die gekreuzten und ungekreuzten Fasern das Gleichgewicht halten. Die Annahme liegt nahe, daß mit diesen Verhältnissen auch der fast gänzliche Mangel der Seitenteile des Kleinhirns zusammenhängt.

56) Die Auffassung von Flourens gründet sich hauptsächlich auf die Erscheinungen, welche der Wegnahme des ganzen Kleinhirns oder der schichtenweisen Abtragung desselben zu folgen pflegen (Untersuchungen über die Eigenschaften und Verrichtungen des Nervensystems, S. 34); einseitige Verletzungen hat Flourens nur bei Vögeln ausgeführt und hier keine Drehbewegungen, sondern nur Schwäche auf der entgegengesetzten Seite beobachtet (ebend. S. 104). LUYS sucht auf anatomischem Wege darzutun, daß in dem Kleinhirn ausschließlich motorische Fasern zusammenfließen (recherches sur le système nerveux p. 118 et 563), ein Satz, der jedenfalls in Bezug auf die Fasern der untern Kleinhirnstiele irrtümlich ist. Die nämliche Hypothese hat übrigens WEIR Mitchell entwickelt, welcher durch Kälteanwendung auf das Organ und Gefrieren desselben ähnliche Bewegungsstörungen erzielte, wie sie der mechanischen Verletzung oder Abtragung zu folgen pflegen. (Gaz. des hôpitaux 1872. No. 1 et 2.) Des größten Beifalls hat sich in der neueren Zeit die Theorie von Lussana zu erfreuen gehabt, welcher das kleine Gehirn als das Organ des Muskelsinns auffaßt (Journal de la physiologie t. V, p. 418 et t. VI, p. 169), und gewiß ist dieselbe insofern ein Fortschritt, als in ihr an die Stelle des unbestimmten Ausdrucks "Coordinator der Bewegungen" eine plausible Ursache getreten ist, welche der mangelnden Koordination zu Grunde gelegt wird. Aber die Tiere machen, namentlich wenn sie längere Zeit am Leben erhalten werden können, durchaus nicht den Eindruck, als wenn ihnen jedes Gefühl für die Kraft und den Umfang ihrer Bewegungen abhanden gekommen sei. Im Gegenteil scheinen sie die mangelnde Koordination zum Teil dadurch wieder zu gewinnen, daß bei der Ausgleichung jener Störungen, welche die Bewegungen unsicher machen, neben andern Einflüssen auch das Kraftgefühl mitwirkt. Es scheint mir ganz unbegreiflich, wie die Tiere selbst nach umfangreichen Zerstörungen des Kleinhirns allmälig wieder leidlich sollten gehen lernen, wenn jede Innervationsempfindung aufgehoben wäre. Auch der Umstand, daß das Cerebellum zu denjenigen Teilen gehört, dessen Degenerationen beim Menschen am seltensten von Sprachstörungen begleitet sind (ladame, S. 23, 98), spricht gegen LUSSANA'S Hypothese, da sich eine Aufhebung des Muskelsinns ohne tief greifende Sprachstörungen nicht denken läßt.

57) Die Beweisgründe der Phrenologen für den Satz, daß das kleine Gehirn Organ des Geschlechtstriebes sei, finden sich gesammelt in dem Werke von COMBE: on the fonctions of the cerebellum by Dr. Gall, Vimond and others. Edinburgh 1838. Die kritiklose Weise, in welcher hier und in anderen phrenologischen Schriften Zitate aus alten Schriftstellern, mangelhaft untersuchte Krankheitsfälle und der Selbsttäuschung dringend verdächtige Beobachtungen zu einem Beweismaterial angehäuft werden, das lediglich durch seine Masse imponieren soll, würde selbst dann die Berücksichtigung verbieten, wenn nicht allen diesen Arbeiten von Anfang bis zu Ende die Voreingenommenheit des Urteils aufgeprägt wäre. Übrigens ist bemerkenswert, daß noch neuerdings Beobachter, denen eine ähnliche Befangenheit nicht zugeschrieben werden kann, wie LUSSANA (journ. de la phys. t. V, p. 440) und R. Wagner (Göttinger Nachrichten 1860, S. 33), auf pathologische Beobachtungen gestüzt eine Beziehung des Kleinhirns zu den Geschlechtsfunktionen für möglich halten. Aber es kommt in Betracht, daß in pathologischen Fällen häufig benachbarte Teile mitgestört sind. So sind auch die Konvulsionen, die man zuweilen bei Degenerationen des Cerebellum beobachtet (LADAME, S. 90), höchst wahrscheinlich durch Zirkulationsstörungen in den an der Hirnbasis gelegenen Teilen, medulla oblongata und Brücke, verursacht, welche, wie wir gesehen haben, meistens der Sitz epileptiformer Anfälle sind. Möglicherweise handelte es sich in den Fällen., in welchen man bei Kleinhirnerkrankungen eine Steigerung des so genannten erotischen Sinnes konstatierte, um eine gesteigerte Reflexerregbarkeit jener selben Hirnteile; serres (anat. compar. du cerveau t. II, p. 601, 717; hat die Ansicht von gall dahin modifiziert, daß bloß dem mittleren Teil des Kleinhirns jene Bedeutung zukomme; aber schon Longet hat bemerkt, daß gerade Affectionen des Wurms am leichtesten auf das verl. Mark zurückwirken; zugleich hebt derselbe hervor, daß man durch Reizung des Marks bis in den Halsteil, niemals aber durch Reizung des kleinen Gehirns Priapismus hervorrufen könne (Anatomie und Physiol. des Nervensystems I, S. 615). Gegenüber vereinzelten Beobachtungen ist es endlich entscheidend, daß die Statistik der Kleinhirntumoren die Ansicht der Phrenologen nicht im geringsten bestätigt (Ladame, S. 99). Vom vergleichend-anatomischen Standpunkte haben Leuret (anatomie comparée du système nerveux I, p. 219) sowie R. Owen (anatomy of vertebrates I, p. 287) hervorgehoben, daß im Tierreich die Energie der Geschlechtsfunktionen und die Entwicklung des Cerebellum durchaus nicht gleichen Schritt halten. Dagegen bemerkt der letztere, daß ein stark entwickeltes Cerebellum durchweg auf eine stark entwickelte Körpermuskulatur zurückschließen lasse. In der Tat ist dieser Parallelismus durch das ganze Wirbeltierreich, von den Fischen bis herauf zu den Säugetieren, zu konstatieren. So sind es die durch ihre gewaltige Muskelkraft ausgezeichneten Riesen der Säugetierwelt, die Elefanten, die Walfische, die durch ein massiges, an seiner Oberfläche vielfach gefaltetes Kleinhirn sich auszeichnen (owen vol. III, p. 88). Diese Tatsachen sprechen für nichts weiter als für eine Beziehung des Kleinhirns zu den Körperbewegungen, wofür auch schon die physiologischen Erfahrungen eintreten, deuten lassen sie sich ebensowohl nach den Hypothesen von FLOURENS oder von Lussana wie im Sinne derjenigen Ansicht, welche wir unten entwickeln werden. — Störungen des Gesichts sind bei Affektionen des Kleinhirns mehrfach beobachtet worden. BROWN-SEQUARD, der solche Fälle gesammelt hat, meint aber selbst, daß Druck auf die Vierhügel die Ursache gewesen sei (journal de la physiol. t. IV, p. 413). Oft sind ohne Zweifel die oben beschriebenen Bewegungsstörungen des Auges Ursache der Sehstörungen. Es ist wahrscheinlich, daß hierauf viele der von Renzi, LUSSANA (journ. de la phys. V, p. 173), LUYS (recherches, p. 564) teils selbst angestellten, teils gesammelten Beobachtungen zurückzuführen sind. LUYS vermutet eine spezielle Beziehung des Kleinhirns zu den Accomodationsbewegungen. RENZI möchte in ihm ein Organ sehen, in welchem Zweigbahnen aller Sinnesnerven zusammenlaufen. Er nimmt in ihm den Sitz der "sensuellen Aufmerksamkeit" an, von welchem aus die verschiedenen Sinnesorgane zentrifugal innerviert werden, ein Vorgang, welcher die Bedingung einer gehörigen Koordination der Bewegungen sein soll. (Referat von Teile in Schmidt's Jahrb. S. 189, 160.) Aber diese Ansicht läßt, obgleich sie unverkennbar einer richtigen Erkenntnis auf der Spur ist, durchaus dunkel, wie die Koordination eigentlich zu Stande kommt; auch können die anatomischen Prämissen, auf welche sie sich stützt, heute nicht mehr zugegeben werden. Die Meinung Schiff's (Physiologie I, 8. 355), daß die Rollungen nach einseitiger Verletzung des Cerebellum von einer halbseitigen Lähmung der Wirbelsäule herrühren, wird heute wohl von Niemandem mehr geteilt, da sie weder die Erscheinungen erklärt noch mit der Anatomie der Leitungswege irgendwie in Einklang zu bringen ist.

58) LUSSANA, journ. de la physiol. V, p. 433.

Am Auge kommen nun die nämlichen Verhältnisse zur Geltung wie an den Organen der Ortsbewegung. Auch hier haben wir zu unterscheiden erstens die Bewegungsempfindungen, welche die motorische Innervation begleiten, und zweitens Empfindungen der sensiblen Fläche des Organs, der Netzhaut. Dazu kommen dann noch jene Eindrücke, welche der Augapfel bei seinen Bewegungen auf die sensibeln Nerven der Bindehaut und anderer Teile der Orbita ausübt. Die Kraft und den Umfang unserer Augenbewegungen ermessen wir sicherlich, wie namentlich aus noch später mitzuteilenden Tatsachen hervorgehen wird59), aus den Innervationsempfindungen; eine Vorstellung von der jeweiligen Stellung des Auges gewinnen wir aber wahrscheinlich aus jenen sensibeln Eindrücken, welche durch die Pressungen und Zerrungen der umgebenden Teile bedingt sind. Aus der gestörten Beziehung der Netzhautempfindungen und vielleicht auch dieser zuletzt genannten Lageempfindungen zu den Bewegungen des Auges lassen sich nun die wahrnehmbaren Veränderungen vollständig ableiten, während die allmälige Ausgleichung derselben entschieden gegen eine Aufhebung der Bewegungsempfindungen spricht, da diese Ausgleichung durch willkürliche Bewegungen geschieht, zu deren Regulation gerade die Bewegungsempfindungen benutzt werden müssen. Für die direkte Vertretung der Sehnervenfasern im Kleinhirn sprechen insbesondere auch die eigentümlichen Störungen der Lichtempfindung, die Amblyopie oder völlige Verdunkelung des Gesichtsfeldes, welche häufig den Schwindel begleiten. So tritt denn nach halbseitiger Funktionshemmung des kleinen Gehirns am Auge das ähnliche ein was wir an den Organen der Ortsbewegung beobachten. Es wird nämlich einseitig die Empfindung von der Beziehung des Sehfeldes zum Raum und von der Lage des Auges in der Orbita aufgehoben. Aber die einseitige Störung trifft in diesem Fall nicht mit der hälftigen Scheidung des Körpers zusammen, sondern es ist, wie die Versuche mit dem galvanischen Strom wahrscheinlich machen, in jedem Auge die der Funktionshemmung des Cerebellum entgegengesetzte Seite gestört. Die Scheinbewegung der Objekte erfolgt nämlich, wie wir gesehen haben, von der Anode gegen die Kathode, ist also von der Seite der Funktionshemmung nach der gegenüberliegenden Seite gerichtet. Nun setzt eine solche Scheinbewegung eine Bewegung des Auges in entgegengesetzter Richtung voraus, bei der aber die Auffassung dieser Bewegung aus irgend einer Ursache gestört ist. So können wir auf die einfachste Weise eine Scheinbewegung der Objekte hervorbringen, wenn wir den Augapfel mit der Hand gewaltsam in einer bestimmten Richtung bewegen. Zerrt man z. B., während das linke Auge geschlossen ist, das rechte nach rechts, so tritt eine Scheinbewegung nach links ein. Wenn nun, sobald ein galvanischer Strom von rechts nach links durch das Gehirn geht, jedes Auge vorzugsweise auf der linken Seite die Empfindung seiner Lage in der Augenhöhle einbüßt, so muß im Moment wo diese Empfindungsstörung eintritt dies denselben Effekt für das Sehen hervorbringen, als wenn das Auge plötzlich gewaltsam nach rechts gezerrt worden wäre. Ohne daß Bewegungsempfindungen stattgefunden hätten, besitzen wir doch plötzlich eine geänderte Vorstellung von der Lage des Auges, es muß also auch hier eine Scheinbewegung der Objekte, und zwar, da das Auge von links nach rechts dislociert scheint, eine Scheinbewegung von rechts nach links erfolgen. Diese Scheinbewegung wirkt nun alsbald zurück auf die Bewegung des Auges: indem dasselbe zunächst der Scheinbewegung zu folgen sucht, wird es ebenfalls nach links gerichtet, da es ihm aber nicht gelingt, die Objekte zu fixieren, so nimmt es allmälig eine der Scheinbewegung entgegensetzte Stellung an. Auf diese Weise entsteht jener Kampf der Augenbewegungen, wie wir ihn bei allen Formen des Gesichtsschwindels beobachten. Die zentralen Opticusfasern, deren Erregung durch die Beziehung zu den Bewegungen des Auges die Vorstellung von der Lage des Sehfeldes vermittelt, müssen also im Cerebellum in ganz analoger Weise wie in den Vierhügeln vertreten sein: d. h. in der rechten Hälfte des Organs die rechte, in der linken die linke Hälfte der beiden Netzhäute. Ist es das vordere Marksegel, welches diese Verbindung vermittelt, so wäre anzunehmen, daß jeder Vierhügel eine Vertretung der ihm zugehörigen Opticusbahn nach der entsprechenden Kleinhirnhälfte sendet. Auch für die sensorischen Fasern, welche die Eindrücke von den Pressungen in der Augenhöhle nach dem kleinen Gehirn leiten, also für die nach dem Kleinhirn abgeleitete Zweigbahn der in der Augenhöhle sich ausbreitenden Trigeminusfasern, sind wohl ähnliche Kreuzungsverhältnisse wahrscheinlich. Es muß nämlich, wenn zugleich die Empfindung von der Lage des Augapfels in der Orbita gestört ist, nach unserer Theorie vorausgesetzt werden, daß die Außenwand der linken und die Innenwand der rechten Augenhöhle in der rechten, die Innenwand der linken und die Außenwand der rechten Augenhöhle in der linken Cerebellumhälfte durch sensorische Fasern vertreten seien, oder mit andern Worten: die Fasern der Außenwand müssen sich kreuzen, ehe sie im Cerebellum endigen, die Fasern der Innenwand müssen ungekreuzt bleiben. Wie in den Hirnganglien Innen- und Außenhälfte beider Netzhäute, Ein- und Auswärtswender beider Augäpfel einander zugeordnet sind, so hier im Cerebellum außerdem noch Innen- und Außenwand beider Augenhöhlen. Ähnliche korrespondierende Kreuzungsverhältnisse müssen nun auch in Bezug auf die Vertretungen der motorischen Körperprovinzen und der ihnen zugeordneten sensibeln Hautflächen angenommen werden. Im vorderen Teil des Cerebellum werden also die Haut- und Muskelprovinzen von der hintern Seite, im hintern Teil diejenigen von der vorderen Seite, und in jeder Cerebellumhälfte werden die Muskel- und Hautprovinzen der entgegengesetzten Körperhälfte vertreten sein; ähnlich den sensibeln Hautnerven werden sich endlich jene Fasern verhalten, welche die so genannten Gemeingefühlsempfindungen von den Pressungen der Teile, den Beugungen der Gelenke u. s. w. vermitteln.

59) Vgl. Abschnitt III. Kap. XIV.

Eine gewisse Bestätigung erhält diese Erklärung durch die Tatsache, daß Störungen der Bewegung, welche den nach Kleinhirnverletzungen gleichen, und welche sich, wo sie der subjektiven Beobachtung zugänglich sind, in der Form von Schwindelerscheinungen kundgeben, eintreten können, wenn durch peripherische Ursachen die Empfindungen der räumlich auffassenden Sinne gestört werden. So kann Anästhesie der Haut oder Zubinden der Augen Ataxie und schwindelähnliche Zufälle herbeiführen. Bei Tieren kann sogar schon Blendung oder Zubinden des einen Auges fehlerhafte Richtung der Ortsbewegungen verbunden mit auffälliger Unsicherheit derselben zur Folge haben. Vielleicht gehören in dieselbe Kategorie peripherischer Störungen die merkwürdigen Erscheinungen, welche die Verletzung der halbzirkelförmigen Kanäle des Ohrs hervorruft. Auch sie bestehen in taumelnden Bewegungen, denen eines Schwindelnden ähnlich. Die Bogengange sind vielleicht, wie goltz vermutet, peripherische Endapparate für die Erhaltung des Gleichgewichts, die einer Wasserwaage gleichen, indem in ihnen die regulierenden Eindrücke durch den Druck der Labyrinthflüssigkeit zu Stande kommen60). Es ist möglich, daß gerade der Kopf mit einem speziell für diesen Zweck bestimmten Apparat ausgerüstet ist, weil bei ihm diejenigen Momente, welche sonst die Empfindung von der Lage der Teile vermitteln, Pressungen durch Muskelspannungen, Gelenkbewegungen u. dergl., fast ganz hinwegfallen. Die Nerven zu den Bogengängen verlaufen im Stamm des Acusticus, der ja durch seinen Ursprung in besonders nahe Beziehung zum kleinen Gehirn gesetzt scheint. Es ist also annehmbar, daß jener Äquilibrierungsapparat ebenso wie andere Sinnesflächen im kleinen Gehirn seine Vertretung hat.

60) FLOURENS, comptes rendus. 1861. LII, p. 643. GOLTZ, PFLÜGER'S Archiv f. Physiologie III, S. 172.

Übrigens ist nicht zu übersehen, daß es sich bei den Funktionsstörungen des Cerebellum nirgends um eine wirkliche Aufhebung der Empfindungen handelt. Nur jene Empfindungseindrucke hören auf, welche direkt auf die Regulierung der Bewegungen einwirken. Es bleiben aber erhalten sowohl die zusammengesetzten Bewegungen, welche von den gemischten Hirnganglien, den Vier- und Sehhügeln, unter der unmittelbaren Einwirkung der Sinneserregungen beherrscht werden, wie solche bewußte Empfindungen, welche nicht unmittelbar in Bewegungsantriebe sich umsetzen. Eben sowenig werden die willkürlichen Bewegungen an sich aufgehoben, da selbst nach vollständiger Zerstörung des Cerebellum der Wille noch über jeden einzelnen Muskel seine Herrschaft ausüben kann. Nur hierdurch wird es auch erklärlich, daß die Störungen nach Kleinhirnverletzungen allmälig sich ausgleichen können. Diese Ausgleichung geschieht, indem mittelst der fortdauernden Empfindungen allmälig die willkürlichen Bewegungen neu reguliert werden. Aber eine gewisse schwerfällige Unsicherheit bleibt immer zurück. Man sieht es den Bewegungen an, daß sie erst aus einer Überlegung hervorgehen müssen. Jene unmittelbare Sicherheit der Bewegungen, wie sie das unverletzte Tier besitzt, ist verloren. Auch hier kommt demnach das Prinzip der mehrfachen Vertretung der Körperteile im Gehirn zur Geltung. Das kleine Gehirn ist der unmittelbaren Regulation der Willkürbewegungen durch die Empfindungseindrücke bestimmt. Es ist dasjenige Zentralorgan, welches die von der Großhirnrinde aus angeregten Bewegungen des tierischen Körpers in Einklang bringt mit der Lage desselben im Raume. Hierdurch aber wird es zu einem der wichtigsten Vermittlungsorgane mit der Außenwelt.
    Was uns die Anatomie über den Verlauf der in das kleine Gehirn ein- und der aus ihm austretenden Leitungswege gelehrt hat, scheint in zureichender Übereinstimmung mit dieser Auffassung zu stehen. In den untern Kleinhirnstielen nimmt dieses Organ eine Vertretung der allgemeinen sensorischen Bahn auf, welche von Seiten des Sehnerven und der vordersten sensibeln Hirnnerven wahrscheinlich ergänzt wird durch Fasern, die im vorderen Marksegel und in den Bindearmen verlaufen. Seine obere Verbindung aber geschieht hauptsächlich durch die Brückenarme, die mit dem Hirnschenkelfuß direkt zu den vorderen Teilen der Hirnrinde emporstreben. Eine besondere Erwägung erheischt nur noch die Verbindung mit dem Hörnerven; deren unterer Teil in den dem Strickkörper sich anschließenden Zentralfasern des Acusticus liegt, während der obere, wie man vermutet, in den oberen Kleinhirnstielen ebenfalls zu jenem vorderen Teil der Großhirnrinde verläuft, von welchem die motorische Innervation ausgeht. Es liegt nahe in dieser Anordnung einen Ausdruck für die eigentümliche Beziehung der Gehörempfindungen zu den Bewegungen unseres eigenen Körpers zu sehen. Wenn das Kleinhirn überhaupt jene sensorische Zweigbahn ablenkt, welche Empfindungseindrücken entspricht, die von direktem Einfluß auf unsere willkürlichen Bewegungen sind, so wird es begreiflich, daß derjenige Sinnesnerv, welcher objektiven Sinneseindrücken eine eminente Beziehung zur Bewegung gibt, in der nämlichen Bahn vertreten ist. Aber wir werden den Satz vielleicht richtiger umkehren: weil zentrale Acusticusfasern denselben Verlauf nehmen, der im übrigen denjenigen sensorischen Fasern zugewiesen ist, welche die Bewegungen nach der Stellung unseres Körpers im Raum regulieren, so muß den Gehöreindrücken ein ähnlicher Einfluß auf die von der Großhirnrinde aus erfolgenden Bewegungsantriebe zukommen. Solcher Einfluß gibt sich in der Tat bekanntlich darin kund, daß rhythmischen Gehöreindrücken unwillkürlich unsere Bewegungen in entsprechendem Rhythmus sich anschließen. Aber für die Schallreize kann ebenso wenig wie für die übrigen Sinnesreize, welche das Maß und die Ordnung unserer Bewegungen beeinflussen, der Weg über das Kleinhirn der einzige sein, der sie zur Großhirnrinde emporführt, da umfangreiche Zerstörungen jenes Organs beim Menschen und bei Tieren ohne Beeinträchtigung der Schallperzeption beobachtet sind. Auch hier wird also nur der unmittelbar die Bewegungen bestimmende Einfluß der Schalleindrücke in der über das Cerebellum gehenden Bahn seine Vertretung finden.
    Die zuletzt erörterten Beziehungen führen uns zur physiologischen Betrachtung der Großhirnhemisphären.
    Längst haben sowohl physiologische Versuche wie pathologische Beobachtungen gezeigt, daß örtlich beschränkte Zerstörungen der Hirnlappen sowie Reizungen derselben keine wahrnehmbare Veränderung der Funktionen hervorbringen. Bei Tieren kann man die Hirnlappen schichtenweise bis zu einer beträchtlichen Tiefe abtragen, ohne daß weder Schmerzäußerungen noch Bewegungen entstehen, ja ohne daß nachher eine Störung zu sehen ist. Höchstens, wenn die Abtragung in weitem Umfange geschah, erscheinen die Tiere schwerfälliger, stumpfsinniger; aber auch diese Veränderung schwindet gewöhnlich bald wieder. Eine Taube, der man den einen Großhirnlappen völlig oder von beiden ansehnliche Stücke entfernt hat, ist nach Tagen oder Wochen in nichts mehr von einem völlig gesunden Tier zu unterscheiden. Je entwickelter das Großhirn ist, um so mehr schwindet allerdings diese scheinbare Indifferenz gegen seine Mißhandlungen. Bei Kaninchen und noch mehr bei Hunden ist der Stumpfsinn, die allgemeine Trägheit der Bewegungen schon viel deutlicher als bei Vögeln, und beim Menschen hat man zwar örtlich beschränkte Texturveränderungen, namentlich wenn sie allmälig entstanden, ebenfalls symptomlos verlaufen sehen, aber irgend ausgebreitetere Verletzungen sind hier meistens von Störungen der willkürlichen Bewegung, seltener von solchen der Sinne oder der psychischen Funktionen begleitet 61). Was die letzteren betrifft, so scheinen dieselben bleibend nur in solchen Fällen alteriert zu sein, wo die Rinde beider Großhirnlappen in umfangreicherem Maße verändert ist. Totale Zerstörung eines Großhirnlappens hat man beim Menschen mehrfach ohne nachweisbare Störung der Intelligenz beobachtet62). Alle diese Erscheinungen deuten mit Bestimmtheit darauf hin, daß die verschiedenen Teile der Großhirnrinde in höherem Grade als die Elemente der anderen Zentralgebilde stellvertretend für einander funktionieren können. Namentlich erklärt sich auf diese Weise die durchgehends zu beobachtende Erscheinung, daß die anfänglich bestehenden Störungen allmälig mehr oder weniger vollständig sich ausgleichen 63).

61) Vgl. die Fälle bei LONGET (Anat. und Physiol. des Nervensystems I, S. 542 f.) und LADAME (Hirngeschwülste S. 186 f.); außerdem s. Wunderlich, Pathologie und Therapie, 2te Aufl. III, 1, S. 550 f., Hasse, Krankheiten des Nervensystems, S. 572. Bei Beurteilung der Beobachtungen ist nicht zu vergessen, daß Vivisektionen häufig durch Blutungen einen Druck auf die Teile der Hirnbasis herbeiführen, während in den Fällen, wo Tumoren der Hirnlappen beim Menschen sich ausbilden solche allmälig in Folge ihres Wachstums auf umgebende Teile wirken. Im allgemeinen hat man daher anzunehmen, daß bei den Vivisektionen die Anfangs-, bei den pathologischen Beobachtungen die Endsymptome durch Affektionen anderweitiger Gebilde getrübt sind.

62) Longet, Anatomie u. Physiol. des Nervens. I, S. 539.

63) Solche Ausgleichungen kommen naturgemäß hauptsächlich bei Vivisektionen zur Beobachtung, da in pathologischen Fällen die anatomische Störung sich weiter auszubreiten pflegt. Zuweilen folgt aber auch hier bei Tumoren der Großhirnlappen heftigeren Anfangssymptomen eine längere Wiederkehr des normalen Zustandes. Zwei Fälle dieser Art hat Hasse beobachtet (Nervenkrankheiten, S. 572). Bei gewissen Funktionen, deren Substrate vorzugsweise in einer Großhirnhälfte zur Wirkung gelangen, scheinen allmälig die entsprechenden Gebilde der andern Seite vicariierend einzutreten: so bei der Zerstörung des Sprachfeldes (s. unten). Über die Restitution der Funktionen nach Abtragung der Großhirnlappen bei Vögeln vgl. Flourens (a. a. 0. S. 92) und Voit (Sitzungsber. der bair. Akademie. Juni 1868. S. 105). VOIT hatte bei seinen Versuchen das Großhirn sogar möglichst vollständig entfernt. Trotzdem unterschieden sich die Tauben nach einigen Monaten von gesunden scheinbar nur dadurch, daß sie spontan keine Nahrung aufnahmen. In einem Fall schien eine teilweise Regeneration der Großhirnhälften von dem gebliebenen Reste aus eingetreten zu sein.

Tiefer greifende Störungen beobachtet man, wenn beide Großhirnlappen vollständig aus der Schädelhöhle entfernt werden. Vögel oder Kaninchen, bei denen diese Operation ausgeführt ist, bleiben in aufrechter Haltung stehen oder sitzen. In Folge sensibler Reize können sie zu Fluchtbewegungen angetrieben werden, aber spontan verlassen sie ihren Platz nicht; ebenso nehmen sie keine Nahrung mehr zu sich. Bei künstlicher Fütterung können sie Monate lang am Leben erhalten werden, ohne daß sich in diesem Zustande etwas änderte64). Hier also ist, da die Möglichkeit der Stellvertretung fehlt, auch eine Wiederkehr der Funktion nicht möglich65). Man hat aus diesen Beobachtungen geschlossen, daß bei den ihrer Großhirnhemisphären beraubten Tieren Intelligenz und Wille verloren seien. In der Tat wird damit wohl der Zustand der Tiere ziemlich treffend bezeichnet, nur muß man sich gegenwärtig halten, daß hierin keine Erklärung, sondern höchstens eine abgekürzte Beschreibung jenes Zustandes liegt. Alle Bewegungen, außer denen, die durch unmittelbar einwirkende Sinnesreize ausgelöst werden, sind aufgehoben. Nichts deutet ferner an, daß die Tiere früher gehabte Sinnesvorstellungen mit den gegenwärtigen Eindrücken verknüpfen und sich darnach in ihren Handlungen richten. Damit stehen auch die Beobachtungen am Menschen in Einklang, einerseits die tiefe Depression des geistigen Zustandes bei umfangreichen Zerstörungen der Hirnlappen, anderseits die schon früher hervorgehobene Tatsache, daß bei allen dauernderen Formen geistiger Störung anatomische Veränderungen der Großhirnrinde sich nachweisen lassen.

64) FLOURENS, S. 28, 80.

65) Bei den oben zitierten Versuchen von VOIT beruhte, wie schon angedeutet, die teilweise Restitution zweifelsohne darauf, daß ein Rest der Hirnlappen nicht entfernt wurde.

Da aus der Vivisektion sowohl wie aus der pathologischen Beobachtung mehr als jenes allgemeine Resultat sich nicht ableiten läßt, so liegt es nahe nach einer Vervollständigung desselben aus andern Quellen zu suchen. Hier kann nun teils die vergleichende Anatomie, teils die vergleichende Untersuchung der individuellen Unterschiede des menschlichen Hirnbaus zu Rate gezogen werden. Die erstere hat aber aus denselben Gründen wie die Vivisektion nur ein sehr allgemeines Resultat ergeben. Wir können zwar ungefähr abschätzen, ob eine bestimmte Spezies intelligenter sei als eine andere. Doch nur selten sind wir im Stande zu erkennen, daß gewisse Geistesfähigkeiten besonders ausgeprägt sind; und wo dies der Fall ist, da handelt es sich durchweg um Fähigkeiten so komplizierter Art, daß nur die roheste Auffassung der physiologischen Hirnfunktionen daran denken konnte, solche Eigenschaften unmittelbar in der Ausbildung bestimmter Hirnteile sich äußern zu sehen. So blieb man denn bei dem vagen Ergebnisse stehen, daß die Masse der Großhirnlappen und namentlich ihre Oberflächenentfaltung durch Furchen und Windungen mit steigender Intelligenz zunimmt. Dieser Satz wird aber sogleich wesentlich durch die Bedingung eingeschränkt, daß beide Momente, Masse und Faltung der Oberfläche, in erster Linie von der Körpergröße der Tiere abhängig sind. Bei den größten Tieren sind die Hemisphären absolut, bei den kleinsten relativ, d. h. im Verhältnis zum Körpergewicht, größer, und die Faltungen der Oberfläche nehmen mit der Gehirngröße zu: alle sehr großen Tiere haben daher gefurchte, die sehr kleinen in der Regel glatte Hirnlappen 66). Außerdem ist die Organisation von wesentlichem Einflusse. Unter den auf dem Lande lebenden Säugetieren haben die Insectivoren das windungsärmste, die Herbivoren das windungsreichste Gehirn, in der Mitte stehen die Carnivoren; die meerbewohnenden Säugetiere gehen, obgleich sie Fleischfresser sind, den Herbivoren voran. So kommt es, daß der oben aufgestellte Salz überhaupt nur in doppelter Beziehung Gültigkeit beanspruchen kann: erstens bei der weitesten Vergleichung der Gehirnentwicklung im Wirbeltierreich, wo aber das Ergebnis von verhältnismäßig geringem Wert ist, weil neben der Intelligenz noch viele rein physiologische Funktionen, Ortsbewegungen, Sinnestätigkeiten, vollkommener werden, und zweitens umgekehrt bei der engsten Vergleichung von Tieren verwandter Organisation und ähnlicher Körpergröße. Im letzteren Fall ist eigentlich allein das Resultat ein schlagendes. Vergleicht man z. B. die Gehirne verschiedener Hunderassen oder der menschenähnlichen Affen und des Menschen, so kann kein Zweifel sein, daß die intelligenteren Rassen oder Arten größere und windungsreichere Hemisphären besitzen. Weitaus am bedeutendsten ist dieser Unterschied zwischen dem Menschen und den übrigen Primaten67).

66) LEURET et Gratiolet, anatomie comparée du système nerveux, II, p. 290.

67) HUSCHKE fand das durchschnittliche Gewicht des männlichen Gehirns germanischer Rasse im Alter zwischen 30 und 40 Jahren = 1424, des weiblichen Gehirns = 1273 Grm. (Schädel, Hirn und Seele, S. 60). Bei den tiefer stehenden Menschenrassen scheint das Hirn an Gewicht kleiner und namentlich an Windungen ärmer zu sein; doch fehlt es darüber an zureichenden Bestimmungen (ebend. S. 73). Sicherer sind in dieser Beziehung die Messungen der Schädelkapazität, welche auf das Hirnvolum zurückschließen lassen. (Huschke S. 48 f. BROCA, mémoires d'anthropologie. Paris 1871, p. 191.) Über das Verhältnis der einzelnen Hirnteile zu einander beim Menschen und bei verschiedenen Tieren vgl. HUSCHKE a. a. O. .S. 93 f., H. Wagner (Maßbestimmungen der Oberfläche des großen Gehirns. Cassel und Gottingen, 1864, S. 35, 39) fand die Gesamtoberfläche des Gehirns beim Menschen 21960–1877, beim Orang 533,5 Cm. Das Gewicht des letzteren Gehirns betrug 79,7 Grm.

Dies führt uns unmittelbar zur zweiten der oben namhaft gemachten Quellen, zur Vergleichung der individuellen Unterschiede des menschlichen Hirnbaus. Wenn die Masse und Oberflächenfaltung des Gehirns zu einem um so sichereren Maß der Intelligenz werden, je näher sich die der Vergleichung unterworfenen Formen stehen, so wird man erwarten dürfen, daß dies im höchsten Grade der Fall sein werde bei Individuen der nämlichen Spezies. In der Tat ist es nun für den Menschen durch die Beobachtung zweifellos erwiesen, daß Individuen von hervorragender Begabung große und windungsreiche Hemisphären besitzen68). Das physiologische Verständnis der Hirnfunktionen wird freilich auch durch dieses Ergebnis nicht viel gefördert. So liegt denn die Frage nahe, ob nicht eine Beziehung der Massen- und Oberflächenentwicklung der einzelnen Teile der Hirnlappen zu bestimmten Richtungen der Intelligenz sich nachweisen lasse. Die Phrenologie, welche aus dem Bestreben einen solchen Nachweis zu führen hervorging, ist ebensowohl an der Kritiklosigkeit ihrer Methode wie an der Mangelhaftigkeit ihrer physiologischen und psychologischen Vorbegriffe gescheitert. Die Phrenologen sahen die geistigen Funktionen als Verrichtungen einer Anzahl innerer Sinne an, welchen sie in ähnlicher Weise ihre besonderen Organe anwiesen, wie jeder der äußeren Sinne sein eigenes Organ besitzt. Um die Untersuchung dieser Organe am lebenden Menschen möglich zu machen, beliebte es ihnen, dieselben alle an die Oberfläche des Gehirns zu verlegen und einen Parallelismus der Schädel- und Hirnform vorauszusetzen, welcher nachweislich nicht existiert. Indem man der psychologischen Begriffszersplitterung der Phrenologie gegenüber auf die Einheit und Unteilbarkeit der Intelligenz hinwies, lag es nahe anzunehmen, daß auch das Organ derselben ein unteilbares sei. Diese Vorstellung ist bis jetzt in der Physiologie die herrschende geblieben. Ihr schienen die physiologischen Beobachtungen vollständig zu entsprechen, da dieselben im allgemeinen lehrten, daß die teilweise Wegnahme der Hirnlappen nur die geistigen Funktionen im Ganzen schwächt, nicht etwa, wie nach den Sätzen der Phrenologie erwartet werden müßte, einzelne Seelenvermögen beseitigt und andere unversehrt läßt.

68) Der obige Satz wurde von gall aufgestellt (Gall et SPURZHEIM, anatomie et physiol. du système nerveux II, p. 251) und dann von Tiedemann bestätigt (das Hirn des Negers mit dem des Europäers und Orang-Utangs verglichen. Heidelberg 1837, S. 9). K. Wagner, dem man die wissenschaftliche Verwertung mehrerer Gehirne hervorragender Männer (GAUSS, DIRICHLET, C. Fr. Hermann u. a.) verdankt, widersprach demselben. (Göttinger gel. Anz. 1860, S. 65. Vorstudien zu einer wissenschaftl. Morphologie und Physiologie des Gehirns. Göttingen 1860, S. 33.) C. VOGT (Vorlesungen über den Menschen, I, S. 98) hat aber mit Recht darauf hingewiesen, daß Wagner's eigene Zahlen für jenen Satz eintreten, wenn man aus denselben diejenigen Beispiele herausgreift, welche wirklich Individuen von unzweifelhaft hervorragender Begabung betreffen. Zum selben Resultat ist auch broca gekommen (mémoires d'anthropologie, p. 185). Übrigens bedarf es kaum der Bemerkung, daß auch hier die sonstigen Faktoren, die Rasse, Körpergröße, Alter, Geschlecht, in Rücksicht gezogen werden müssen. Ein normales Hottentottengehirn würde, hat schon GRATIOLET bemerkt, im Schädel eines Europäers Idiotismus bedeuten. Außerdem ist die Oberflächenfaltung, namentlich die der Stirnlappen, offenbar von wesentlicherer Bedeutung als das Volum oder Gewicht des Gehirns. (H. Wagner, a. a. 0., S. 36.)

Nichts desto weniger beruht offenbar auch diese Vorstellung auf einer unklaren Auffassung der physiologischen Beziehungen des Gehirns zum gesamten Organismus. Sie konnte nur so lange die Herrschaft behaupten, als man von den Strukturverhältnissen des Gehirns lediglich keine Notiz nahm, und mußte weichen, sobald die Anatomie zur Einsicht geführt hatte, daß alle Körperteile im Gehirn und zwar schließlich in der Großhirnrinde vertreten sind. Es ist daher bezeichnend, daß die Gehirnanatomen immer wieder zu Vorstellungen zurückkehrten, die den Ansichten der Phrenologie verwandt waren, während in der Physiologie noch unbestritten der Satz von der unteilbaren Funktion der Großhirnlappen güllig blieb. Freilich verfielen jene Vorstellungen, abgesehen von ihrer ganz und gar hypothetischen Natur, immer wieder in den Fehler, daß sie entweder teils den inneren Sinnen der Phrenologen, teils den Vermögen der Psychologen ihre abgegrenzten Organe im Gehirn anzuweisen suchten. Dieser Ansicht liegt aber eine Annahme zu Grunde, auf deren Widerlegung die ganze neuere Nervenphysiologie gerichtet ist, die Annahme nämlich von der spezifischen Funktion der nervösen Elementarteile. Die ältere Nervenphysiologie hatte eine solche in beschränkterer Bedeutung zugelassen, indem sie den Satz von der spezifischen Energie der Nerven aufstellte, welcher besagte, daß jeder Nerv entweder motorisch oder sensibel sei und im letztern Fall in einer der fünf Sinnesqualitäten (Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Gefühl) auf Reize reagiere. Hier war doch mit der spezifischen Energie immer noch ein klarer und einfacher Begriff verbunden. Sollten aber Farbensinn, Formensinn oder Verstand, Phantasie, Gedächtnis u. s. w. an verschiedene Elementarteile gebunden sein, so wurden nicht nur viel mannigfaltigere Funktionen, sondern überdies solche vorausgesetzt, mit denen ein einfacher Begriff sich schlechterdings nicht mehr verbinden ließ. Wir können uns vorstellen, daß eine bestimmte Nervenfaser oder eine bestimmte Ganglienzelle nur in der Form der Lichtempfindung oder des motorischen Impulses funktioniere, nicht aber, wie etwa gewisse zentrale Elemente der Phantasie, andere dem Verstande dienen sollen. Augenscheinlich liegt hier der Widerspruch darin, daß man sich komplexe Funktionen an einfache Gebilde gebunden denkt. Wir müssen aber notwendig annehmen, daß elementare Gebilde auch nur elementarer Leistungen fähig sind. Solche elementare Leistungen sind nun im Gebiet der zentralen Funktionen Empfindungen, Bewegungsanstöße, nicht Phantasie, Gedächtnis u. s. f. Dazu kommt, daß die Experimentalphysiologie der Lehre von der spezifischen Energie selbst in jener einfacheren Form, in der ihr innere Unwahrscheinlichkeit nicht vorgeworfen werden kann, den Boden entzogen hat. Die morphologische Ähnlichkeit aller Nerven, die vollständige Gleichheit ihrer physikalischen und chemischen Eigenschaften mußte schon zu der Ansicht führen, daß die Verschiedenheit ihrer Leistung lediglich in den Stätten ihrer peripherischen und zentralen Endigung, nicht aber in spezifischen Eigenschaften der Nerven selbst ihren Grund habe. Bestätigt wurde dies durch Versuche, in denen man die Durchschnittsenden verschiedenartiger Nerven mit einander verheilte, und wo es nun gelang durch Reizung eines sensibeln Nerven direkte Muskelzuckung, durch Reizung eines motorischen Empfindung hervorzubringen69). Was für die peripherischen Nervenfasern erwiesen ist, wird man wohl auch auf die zentralen ausdehnen müssen, und so blieben denn nur noch die Ganglienzellen als solche Elementarteile übrig, denen möglicher Weise spezifische Unterschiede zukommen könnten. Aber auch hier begegnet uns wieder der Umstand, daß außer in Größe und Form und etwa in der Ursprungsart ihrer Fortsätze die Ganglienzellen keine Unterschiede darbieten; vollends in der Großhirnrinde sind sie überall, von unbedeutenden Differenzen abgesehen, im wesentlichen in der gleichen Weise angeordnet. Es läßt sich also nicht verkennen, daß auch die spezifische Funktion der Ganglienzellen, sofern man diese von der inneren Struktur, nicht von den äußeren Verbindungen der Zellen abhängig sein läßt, mindestens höchst zweifelhaft geworden ist. Wie es sich aber auch in dieser Beziehung verhalten möge: daß hier gleichfalls das einzelne Element nur zu elementaren Funktionen befähigt ist, folgt schon aus der erfahrungsmäßigen Gültigkeit dieses Satzes für die Nervenfasern, deren Ursprungs- oder Endpunkte die Zellen sind. Im allgemeinen wird es also zwei Klassen von Zellen der Hirnrinde geben: solche, die von außen kommende Eindrücke aufnehmen (sensorische Zellen), und solche, von denen Bewegungsimpulse ausgehen (motorische Zellen)70). Da Bewegungen im allgemeinen eine Reaktion auf Empfindungen sind, so werden Verbindungswege zwischen beiderlei Zellen anzunehmen sein, den verschiedenen sensorischen und motorischen Gebieten aber werden von einander abgegrenzte Teile der Hirnrinde entsprechen, weil wir im allgemeinen bis in die Hirnrinde die einzelnen sensorischen und motorischen Faserbündel einen geschiedenen Verlauf nehmen sehen. Wie die Großhirnrinde die von der Körperperipherie in die Zentralorgane aufsteigenden Bahnen aufnimmt, so muß sie auch in gewissem Sinne ein Spiegelbild jener Körperperipherie sein. Deshalb braucht aber das Spiegelbild dem Urbilde nicht vollständig zu entsprechen. Es kann einfacher und verwickelter sein, und in gewissem Sinn ist wohl beides der Fall. Einfacher ist es insofern, als je ein Punkt der Hirnrinde ein empfindendes oder motorisches Gebiet von gewisser Ausdehnung beherrschen kann; verwickelter ist es, weil jedes peripherische Gebiet nicht einfach, sondern mehrfach in der Großhirnrinde vertreten ist. Es existiert also hier gleichsam ein vervielfältigtes Spiegelbild, von dem jeder Teil seine besondere Bedeutung oder Beziehung hat.

69) PHILIPEAUX und VULPIAN durchschnitten z. B. beim Hunde den Halsstamm des Vagus sowie den in der Nähe liegenden Hypoglossus, und es gelang ihnen den zentralen Vagusstumpf mit dem peripherischen Hypoglossusstumpf zusammenzuheilen. Als dann der Vagus höher oben gereizt wurde, traten Bewegungen in der betreffenden Zungenhälfte ein. (Journal de la physiologie VI, p. 421, 474.)

70) Wir nehmen hier den Ausdruck sensorisch und motorisch natürlich wieder im weitesten Sinne. Vergl. S. 104.

Die experimentelle Physiologie und Pathologie vermag für diese neue Auffassung der Großhirnfunktionen bis jetzt allerdings nur wenige Beweisgründe beizubringen, aber die wenigen sind entscheidend. Wir haben schon im vorigen Kapitel gesehen, daß von bestimmten Teilen der Großhirnrinde aus beschränkte Muskelerregungen hervorgebracht werden können (Kap. IV). Diese Tatsache beseitigt nicht nur den Satz von der Wirkungslosigkeit der Reize, sondern sie weist speziell einzelne Rindenpartien als einfach motorische auf. Sind dies, wie man wohl vermuten darf, solche Rindenteile, in denen die direkte Bahn motorischer Fasern endigt, so werden an den nicht reizbaren Stellen teils sensorische Elemente, teils solche, die Zentralfasern der Hirnganglien aufnehmen, gelegen sein.
    Von diesem Standpunkte aus läßt nun auch den Unterschieden des Hirnbaues in dem Tierreiche ein besseres Verständnis sich abgewinnen. Da die vordern Teile der Hirnrinde diejenigen Elemente enthalten, von welchen die direkte motorische Innervation ausgeht, nebst den Zwischenelementen, welche die Verbindung der ersteren mit dem Kleinhirn, mit den Hirnganglien sowie wahrscheinlich mit den vorzugsweise das Occipitalhirn einnehmenden sensorischen Elementen vermittelt, so ist es offenbar das Vorderhirn, in welchem sich die bedeutsamste Funktion der Großhirnrinde konzentriert, Empfindungseindrücke, nachdem sie kürzere oder längere Zeit latent geblieben, in außerordentlich zusammengesetzte und vielgestaltige Bewegungen umzusetzen. Indem nun alles, was wir Wille und Intelligenz nennen, sobald es bis zu seinen physiologischen Elementarphänomenen zurückverfolgt wird, in lauter solche Umsetzungen sich auflöst, werden wir demnach vorzugsweise zwischen der Entwicklung des Vorderhirns und der Entwicklung der Geistesfunktionen eine Beziehung erwarten dürfen. In der Tat läßt sich dies bis zum Menschen herauf durchweg bestätigen. Mit der zunehmenden Präponderanz des Vorderhirns ist stets zugleich größerer Windungsreichtum und asymmetrische Bildung seiner beiden Seitenhälften verbunden71). So scheint denn auch beim Menschen vorzugsweise die Faltung des Vorderhirns ein Zeichen hervorragender Geisteskräfte zu sein72), und jene pathologischen Rückbildungen des Gehirns, welche die Herabsetzung der Intelligenz und des Willens im paralytischen Blödsinn begleiten, treffen vorzugsweise die Stirnlappen73). Auch die weit umfangreichere Entwicklung, die bei den meisten Säugetieren die zentrale Vertretung der Riechnerven gegenüber dem Menschen und den übrigen Primaten besitzt, kann hier herbeigezogen werden. Den dadurch bedingten Unterschieden im Gehirnbau gehen jedenfalls entsprechende Unterschiede der Vorstellungen parallel, die sich aber, eben weil beim Menschen jene Teile wenig entwickelt sind, fast ganz unserer Schätzung entziehen.

71) Die größere Asymmetrie der Furchen am Vorderhirn gegenüber dem Hinterhirn läßt sich wegen der einfacheren Beschaffenheit derselben deutlicher am Gehirn der anthropoiden Affen (Orang, Schimpanse), sowie des menschlichen Fötus als an demjenigen des erwachsenen Menschen erkennen. Daß nach gratiolet diese Asymmetrie insgemein mit einer stärkeren Ausbildung der linkseitigen Furchen verbunden ist, wurde schon früher (S. 172) bemerkt.

72) H. Wagner (a. a. O. S. 36) fand für die relative Oberflächenentwicklung der einzelnen Hirnlappen folgende Zahlen, welche die Oberfläche eines jeden Lappens in Prozenten der Gesamtoberfläche ausdrücken:
                                        Stirnlappen.                     Scheitellappen.                     Hinterhauptslappen.                     Schläfelappen.
Gehirn von Gauss                 40,8                                     20,7                                         17,4                                                 20,0
Gehirn eines Handwerkers   38,8                                    21,4                                         17,3                                                  21.2
Übrigens sind diese Messungen zu klein an Zahl, um sichere Schlüsse zuzulassen. Auch kommen die Geschlechtsunterschiede in Betracht. Am weiblichen Gehirn, dessen sämtliche Teile an Volum und Oberfläche kleiner sind, scheint vorzugsweise der Hinterhauptslappen schwächer entwickelt. H. Wagner fand daher für ein Frauengehirn ähnliche Proportionalzahlen wie für das Gehirn von GAUSS.

73) Meynert, Vierteljahrsschrift f. Psychiatrie. 1867. S. 166.

Diesen anatomischen und physiologischen Ergebnissen tritt eine wichtige Reihe pathologischer Beobachtungen zur Seite, durch welche für eine Gruppe von Bewegungen, für die Sprache, das motorische Zentrum ebenfalls in einen bestimmten Teil des Vorderhirns, nämlich in die nach vorn von der Sylvischen Spalte und in der Tiefe derselben gelegenen Rindengebiete verlegt wird. Namentlich das hintere Drittteil der unteren Frontalwindung sowie der Insellappen scheinen diesem Gebiete zuzugehören. In zahlreichen Fällen hat die Beobachtung gezeigt, daß dem Symptomenbild der Aphasie, des aufgehobenen oder gestörten Sprachvermögens, Blutergüsse, Erweichungen oder andere anatomische Veränderungen der angegebenen Teile zu Grunde liegen74). Bei der eigentlichen Aphasie sind zweierlei Fälle zu unterscheiden, solche, in denen einfach die Möglichkeit fehlt, einem Begriff sein sprachliches Zeichen zu geben, und andere, in denen verschiedene Wörter mit einander verwechselt werden. Es existieren daher möglicher Weise zweierlei Sprachzentren, eines, in welchem die Auslösung der jeder Vorstellung zugehörenden Sprachinnervation durch die entsprechenden sensorischen Erregungen stattfindet, und ein anderes, in welchem die Sprachinnervation erst jene kombinierten motorischen Erregungen in Gang bringt, welche die artikulierten Sprachlaute unmittelbar erzeugen. Die Funktionshemmung des ersten Zentrums würde dem Verlust des Wortgedächtnisses, die des zweiten der verkehrten Wortbildung zu Grunde liegen75). An eine anatomische Trennung beider Zentren kann nicht gedacht werden. Es läßt sich nur sagen, daß dieselben einander benachbart sein müssen, da man bei Erkrankungen des nämlichen Rindengebietes jeden dieser Fälle von Aphasie sowohl für sich als auch beide vereinigt beobachtet hat. Es wurde früher (Kap. IV) bemerkt; daß die Aphasie bei einseitigen, meist linkseitigen Gehirnveränderungen beobachtet wird. In den zahlreichen Fällen, in denen trotz der bleibenden anatomischen Veränderung das Übel sich hebt oder vermindert, mag dann wohl vorzugsweise die bisher weniger tätige entgegengesetzte Hälfte die Stellvertretung übernehmen.

74) Auszuschließen von der eigentlichen Aphasie sind jene Fälle, in denen das Vermögen zu sprechen durch pathologische Veränderungen peripherischer Nerven oder niederer Zentralteile, z. B. des Hypoglossuskerns, verloren ging. Hier ist die vom Großhirn ausgehende motorische Innervation ungestört, aber die bei den Sprachbewegungen mitwirkenden Muskeln können nicht mehr funktionieren. Bei der eigentlichen Aphasie können alle Bewegungen in der richtigen Weise ausgeführt werden, nur die vom Großhirn ausgehenden Impulse fallen hinweg oder kommen in unrichtiger Weise zur Wirkung. Der lokalisierte Sitz des Sprachvermögens schließt übrigens nicht aus, daß nicht auch bei Degenerationen anderer Hirnteile Erscheinungen beobachtet werden, die dem Bilde der Aphasie mehr oder weniger entsprechen. Dies wird immer eintreten, sobald solche Degeneration Markbündel trifft, die in den dem zentralen Sprachorgan zugehörigen Teilen der Hirnrinde endigen.

75) Die erste Form der Aphasie hat man als amnemonische, die zweite als ataktische bezeichnet. Ogle, med. times and gaz. Dec. 1867, p. 706.

So bestätigt auch die physiologische und pathologische Beobachtung den Satz, daß überall, wo sich die Verrichtungen der Großhirnteile in ihre elementaren Bestandteile zergliedern lassen, auch nur elementare physiologische Funktionen übrig bleiben. Denn so verwickelt die Sprachbewegungen auch sind, so setzen sie sich doch notwendig aus einfachen motorischen Innervationen zusammen. An eine spezifische Energie der einzelnen zentralen Gebiete kann nicht mehr gedacht werden; ebenso wenig aber an ein unteilbares Eintreten der Hirnhemisphären für alle ihre Verrichtungen. Wie Intelligenz und Wille keine einfachen Grundkräfte sind, so sind auch die Großhirnlappen keine einfachen Organe. Komplexe Verrichtungen kommen überall durch ein Zusammenwirken vieler Elemente zu Stande, deren jedes für sich nur einfachster Leistungen fähig ist.
    Wir haben bei der Zergliederung der Funktion sowohl der übrigen Hirnteile wie des Rückenmarks uns schon überzeugt, daß die zuletzt entwickelten Sätze auch für sie ihre Gültigkeit besitzen. Als Schlußergebnis dieser ganzen physiologischen Untersuchung lassen sich daher die folgenden vier Prinzipien aufstellen:
    1) Das Prinzip der Verbindung der Elementarteile: Jedes Nervenelement ist mit anderen Nervenelementen verbunden und wird erst in dieser Verbindung zu physiologischen Funktionen befähigt.
    2) Das Prinzip der Indifferenz der Funktion: Kein Element vollbringt spezifische Leistungen, sondern die Form seiner Funktion ist von seinen Verbindungen und Beziehungen abhängig.
    3) Das Prinzip der stellvertretenden Funktion: Für Elemente, deren Funktion gehemmt oder aufgehoben ist, können andere die Stellvertretung übernehmen, sofern sich dieselben in den geeigneten Verbindungen befinden.
    4) Das Prinzip der lokalisierten Funktion: Jede bestimmte Funktion hat einen bestimmten Ort im Zentralorgan, von welchem sie ausgeht, d. h. dessen Elemente in den zur Ausführung der Funktion geeigneten Verbindungen stehen.
    Der dritte dieser Sätze hängt mit dem zweiten unmittelbar zusammen, da die Stellvertretung offenbar erst möglich wird durch die Indifferenz der Funktion. Der vierte aber wird durch den dritten einigermaßen limitiert; insofern eine Funktion, sobald Stellvertretungen stattfinden, auch nicht mehr genau an denselben Ort gebunden bleibt.
 
Die Ansichten über die physiologische Funktion der Zentralteile gingen ursprünglich von der anatomischen Zergliederung aus. Man suchte nach einer Bedeutung der einzelnen Hirnteile, und da die Beobachtung hierfür keine Anhaltspunkte bot, so half die Phantasie aus. Die einzelnen Seelenvermögen, Perzeption, Gedächtnis, Einbildungskraft u. s. w., wurden willkürlich und von den verschiedenen Autoren natürlich in sehr verschiedener Weise lokalisiert76). Es ist hauptsächlich haller's Verdienst einer naturgemäßeren Auffassung, welche sich an die physiologische Beobachtung anschloß, die Bahn gebrochen zu haben, eine Reform, die mit seiner Irritabilitätslehre nahe zusammenhängt. Die wesentliche Bedeutung der letzteren bestand darin, daß sie die Fähigkeiten der Empfindung und Bewegung auf verschiedenartige Gewebe, jene auf die Nerven, diese auf die Muskeln und andere kontraktile Elemente zurückführte77). Als die Quelle dieser Fähigkeiten betrachtete haller das Gehirn. Mit der Seele und den psychischen Funktionen stehe dieses nur insofern in Beziehung, als es das sensorium commune oder der Ort sei, wo alle Sinnestätigkeiten ausgeübt werden, und von dem alle Muskelbewegungen entspringen. Dieses sensorium erstrecke sich über die ganze Markmasse des großen und kleinen Gehirns78). Es sei zwar zweifellos, daß jeder Nerv von einem bestimmten Zentralteil seine physiologischen Eigenschaften empfange, daß also, wie auch die pathologische Beobachtung bezeuge, das Sehen, Hören, Schlucken u. s. w. irgendwo im Gehirn seinen Sitz habe, doch scheint es ihm nach den Ursprungsverhältnissen der Nerven, daß dieser Sitz nicht bestimmt begrenzt, sondern im allgemeinen über einen größeren Teil des Gehirns ausgedehnt sei79). Den Commissurenfasern schreibt Haller die Bedeutung zu, daß sie die stellvertretende Funktion gesunder für kranke Teile vermitteln, und die Unerregbarkeit des Hirnmarks leitet er davon ab, daß die Nervenfasern in dem Maße ihre Empfindlichkeit verlieren, als sie im Hirnmark in zahlreiche Zweige sich spalten80).

76) Vergl. die Aufzählung bei HALLER , elementa physiologiae. Lausann. 1762. IV, p. 397.

77) Siehe die historische Kritik der Irritabilitätslehre in meiner Lehre von der Muskelbewegung. Braunschweig 1858, S. 155.

78) Elem. physiol. IV, p. 395.

79) Ebend. p. 397.

80) "Hypolhesin esse video et fateor" fügt er vorsichtig hinzu. (Ebend. p. 399.)

Der so gewonnene Standpunkt blieb der Physiologie unverloren. Aber die Bestrebungen nach einer physiologischen Lokalisierung der Geistesvermögen kehrten trotzdem fortwährend wieder, und wie früher gingen sie in der Regel von den Anatomen aus. Zu einem wirklichen System von dauerndem Einflusse wurde diese Lehre durch gall erhoben, dessen Verdienste um die Erforschung des Gehirnbaues unbestreitbar sind81). Die durch gall begründete Phrenologie82) legt die Vorstellung zu Grunde, daß das Gehirn aus inneren Organen bestehe, welche den äußeren Sinnesorganen analog seien. Wie diese die Auffassung der Außenwelt, so sollten jene gleichsam die Auffassung des inneren Menschen vermitteln. Die einzelnen im Gehirn lokalisierten Fähigkeiten werden daher auch geradezu innere Sinne genannt. Gall hat derselben 27 unterschieden83), bei deren Bezeichnung er übrigens nach Bedürfnis die Ausdrücke Sinn, Instinkt, Talent und sogar Gedächtnis gebraucht. So unterscheidet er Ortssinn, Sprachsinn, Farbensinn, Instinkt der Fortpflanzung, der Selbstverteidigung, poetisches Talent, esprit caustique, métaphysique, Sachgedächtnis, Wortgedächtnis u. s. w. Die gewöhnlich angenommenen Seelenvermögen, Perzeption, Verstand, Vernunft, Wille u. s. w., haben unter den phrenologischen Begriffen keine Stelle. Diese Grundkräfte der Seele sind nach Gall's Ansicht nicht lokalisiert, sondern sie sind gleichmäßig bei der Funktion aller Gehirnorgane, ja selbst der äußeren Sinnesorgane wirksam. Jedes dieser Organe ist nach ihm eine "individuelle Intelligenz"84). Für die Analogie der Gehirnorgane mit den Sinnesorganen entnimmt Gall ein Argument aus seinen anatomischen Untersuchungen. Wie jeder Sinnesnerv ein Bündel von Nervenfasern, so sei das ganze Gehirn eine Vereinigung von Nervenbündeln85).

81) Gall et SPURZHEIM, anatomie et Physiologie du système nerveux. Vol. I. Paris, 1810. Vgl. ferner: Untersuchungen über die Anatomie des Nervensystems, von denselben. Dem französ. Institut überreichtes Mémoire nebst dem Bericht der Commissäre. Paris und Strassburg 1809. Die beiden Hauptverdienste Gall's um die Gehirnanatomie bestehen darin, daß er die Zergliederung des Gehirns von unten nach oben einführte, und daß er die durchgängige Faserung des Hirnmarkes nachwies.

82) Das GALL'sche System ist ausführlich dargestellt in Bd. II—IV des oben zitierten Werkes.

83) SPURZHEIM hat sie auf 35 vermehrt. Vergl. Combe, System der Phrenologie, deutsch von HIRSCHFELD. Braunschweig 1833, S. 101 f.

84) Vol. IV, p. 341.

85) Vol. I, p. 271. Vol. II, p. 372.

Bei der empirischen Begründung dieser Lehren wurde von Gall und seinen Nachfolgern dem Gehirn der Schädel substituiert: über die Ausbildung der einzelnen Organe sollte die Schädelform Auskunft geben. Daher das Bestreben jene möglichst an die Oberfläche des Gehirns zu verlegen. Schon hierin tritt eine Tendenz, die Beobachtungen vorausgefaßten Meinungen anzubequemen, zu Tage, welche sich in allen Einzeluntersuchungen wiederholt und die angeblichen Resultate derselben völlig wertlos macht. Aber hiervon abgesehen bildeten die wahrhaft ungeheuerlichen psychologischen und physiologischen Grundvorstellungen der phrenologischen Lehren einen bedenklichen Rückschritt gegenüber dem weit geklärteren Standpunkt, den haller eingenommen. Während dieser das richtige Prinzip bereits ahnt, daß in den Zentralorganen die peripherischen Organe des Körpers vertreten sein müssen, machen die Phrenologen das Gehirn zu einem für sich bestehenden Komplex von Organen, für welche sie spezifische Energien der verwickeltsten Art voraussetzen. Alle Fehler der psychologischen Vermögenstheorie verschwinden gegen diese gedankenlose Aufzählung der kompliziertesten Fähigkeiten, deren jede einer einzelnen Nervenfaser oder einem bestimmten Faserbündel zugeschrieben wird. Trotz dieser offenliegenden Schwächen erfreute sich das phrenologische System eines Beifalls, der ihm eine auffallende Berücksichtigung in der wissenschaftlichen Literatur zu Teile werden ließ. So ist LEURET'S vergleichende Anatomie des Nervensystems hauptsächlich von der Tendenz einer Widerlegung der phrenologischen Lehren durchdrungen86).

86) LEURET, anatomie comparée du Systeme nerveux, tome I. Eine kleinere durchweg treffende Kritik der Phrenologie hat Flourens geliefert: examen de la phrénologie. Paris 1842.

Von jetzt ab gingen auf lange Zeit die anatomische und die physiologische Untersuchung gesonderte Wege. Die deutschen Anatomen kehrten im allgemeinen zu den Vorstellungen HALLER'S zurück, waren aber gleichzeitig beeinflußt von der SCHELLING'schen Naturphilosophie: so namentlich CARUS87) und der um die Morphologie des Gehirns hochverdiente Burdach88). Die Physiologie der Zentralteile wurde um dieselbe Zeit von den französischen Experimentatoren, namentlich von Magendie und Flourens, neu begründet. In den Vorstellungen, welche diese Forscher über die Bedeutung der Zentralteile entwickelten, läßt sich eine Reaktion gegen die phrenologischen Ansichten nicht verkennen. Bei MAGENDIE machte sich dieselbe zunächst darin geltend, daß er seine Erklärungen strenge den beobachteten Tatsachen anpasste89). Er sah nach der Ausrottung der Streifenhügel die Tiere nach vorwärts fliehen: so nahm er denn in ihnen eine die Vorwärtsbewegung hemmende Kraft an. Nach Schnitten in das Kleinhirn beobachtete er eine Neigung rückwärts zu fallen: hier sollte nun umgekehrt eine vorwärts treibende Kraft ihren Sitz haben. Ebenso leitete er die Reitbahnbewegungen bei Hirnschenkelverletzungen aus dem aufgehobenen Gleichgewicht rechts- und linksdrehender Kräfte her. flourens verband mit derselben Treue der Beobachtung klarere psychologische Begriffe. Seine Untersuchungen erstreckten sich hauptsächlich auf das verlängerte Mark, die Vierhügel, das kleine und große Gehirn. Das erstere bestimmte er als das Zentrum der Herz- und Atembewegungen, die Vierhügel als Zentralorgane für den Gesichtssinn, das Cerebellum als den Koordinator der willkürlichen Bewegungen, die Großhirnlappen als den Sitz der Intelligenz und des Willens90). Aber diese Teile verhielten sich, wie er fand, zu den von ihnen abhängigen Funktionen verschieden. Die zentralen Eigenschaften des verl. Marks sah er auf einen kleinen Raum, seinen noeud vital, beschränkt, dessen Zerstörung augenblicklich das Leben vernichte. Die höheren Zentralteile dagegen treten mit ihrer ganzen Masse gleichmäßig für die ihnen zugewiesene Funktion ein. Dies schließt er daraus, daß die Störungen, die durch teilweise Abtragung der Großhirnlappen, des Kleinhirns oder der Vierhügel verursacht werden, im Laufe der Zeit sich ausgleichen. Der kleinste Teil dieser Organe kann demnach, so nimmt er an, für das Ganze funktionieren. Hierdurch trat die Lehre FLOURENS' in scharfen Gegensatz zu den phrenologischen Vorstellungen, zugleich aber entsprach sie ziemlich getreu der Beobachtung. So kam es, daß sie bis in die neueste Zeit in der Physiologie die herrschende Anschauung blieb. Aber augenscheinlich kehren hier in psychologischer Beziehung ähnliche Schwierigkeiten wieder, wie sie sich der Organenlehre der Phrenologen entgegensetzen. Intelligenz und Wille sind komplexe Fähigkeiten. Daß dieselben in jedem kleinsten Teil der Großhirnlappen ihren Sitz haben sollen, ist im Grunde ebenso schwer begreiflich, als daß Sprachgedächtnis, Ortssinn u. s. w. irgendwo lokalisiert seien. Zudem bleibt es dunkel, welche Bedeutung den einzelnen Teilen, welche die anatomische Zergliederung der Hirnhemisphären unterscheiden läßt, zukommen soll, wenn diese sich in funktioneller Beziehung etwa ebenso gleichartig verhalten wie die Leber. Ohne Zweifel hierdurch veranlaßt kehrten die Anatomen, wo sie sich auf Spekulationen über die Bedeutung der Gehirnteile einließen, meistens zu der Vorstellung einer Lokalisation der geistigen Fähigkeiten zurück91). So kam es denn auch, daß die durch FLOURENS in die Wissenschaft eingeführten Ansichten hauptsächlich in Folge einer innigeren Verbindung der anatomischen und der physiologischen Beobachtung allmälig wankend wurden. Von entscheidendem Gewichte war hierbei einerseits die Untersuchung der Elementarstruktur der Zentralorgane, anderseits die Nachweisung der gleichförmigen physikalischen und physiologischen Eigenschaften der Nerven. Die so vorbereitete Wendung gehört der neuesten Zeit an. Die Grundanschauungen, zu denen sie führt, haben wir oben darzulegen und auf die Physiologie der einzelnen Zentralteile anzuwenden versucht.

87) C. G. CARUS, Versuch einer Darstellung des Nervensystems und insbesondere des Gehirns. Leipzig 1814. Später hat sich dieser Autor einer gemäßigtern phrenologischen Anschauung zugewandt und dieselbe in mehreren Werken vertreten. (Grundzüge einer neuen Cranioskopie. Stuttgart 1841. Neuer Atlas der Cranioskopie, 2te Aufl. Leipzig 1864. Symbolik der menschl. Gestalt, 2te Aufl., S. 121.)

88) BURDACH, vom Bau und Leben des Gehirns. Bd. 3. Leipzig 1826.

89) MAGENDIE, lecons sur les fonctions du Systeme nerveux. Paris 1839.

90) FLOURENS, recherches expér. sur les fonctions du système nerveux. 2me édit. Paris 1842.

91) Vergl. z. B. Arnold, Physiologie. I, S. 836. Huschke, Schädel, Hirn und Seele. S. 174.