Zweites Kapitel.

Bauelemente des Nervensystems.

In die Zusammensetzung des Nervensystems gehen dreierlei Bauelemente ein: erstens Zellen von eigentümlicher Form und Struktur, die Nervenzellen oder Ganglienzellen, zweitens faserige oder röhrenförmige Gebilde, welche als Fortsätze dieser Zellen entstehen, die Nervenfasern oder Nervenröhren, und drittens eine bald formlose, bald faserige Zwischensubstanz, welche man im allgemeinen dem Bindegewebe zurechnet. Die Nervenzellen machen einen wesentlichen Bestandteil aller Zentralteile aus. In den höheren Nervenzentren sind sie aber auf bestimmte Gebiete beschränkt, die teils durch ihren größeren Reichtum an Blutkapillaren, teils durch Pigmentkörnchen, die sowohl im Protoplasma der Zellen wie in der umgebenden Interzellularsubstanz angehäuft sind, eine dunklere Färbung besitzen. Durch die Begrenzung dieser grauen Substanz gegen die weiße oder Marksubstanz lassen sich daher leicht mit freiem Auge die zellenführenden Teile der Zentralorgane erkennen. Die faserigen Elemente erstrecken sich teils als Fortsetzungen der peripherischen Nerven in die Zentralorgane hinein, teils verbinden sie innerhalb dieser verschiedene Gruppen von Nervenzellen mit einander. Von solchen verbindenden Fasern ist namentlich auch die graue Substanz durchsetzt. Die Nervenfaser ist somit durch das ganze Nervensystem verbreitet, während die Nervenzelle auf einzelne Orte beschränkt bleibt. Beiderlei Elemente sind aber überall eingebettet in eine Kittsubstanz.. Diese bildet als weiche, größtenteils formlose Masse den Träger der zentralen Zellen und Fasern; man hat sie hier als Neuroglia oder Nervenkitt bezeichnet; als ein festeres, sehnenähnlich gefasertes Gewebe durchzieht und umhüllt sie die peripherischen Nerven in der Form des so genannten Neurilemmas, als eine glasartig durchsichtige, sehr elastische Haut, welche nur an einzelnen Stellen Zellkerne führt, umkleidet sie endlich alle peripherischen und einen Teil der zentralen Nervenröhren in der Gestalt der SCHWANN’schen Primitivscheide. Diese Kittsubstanzen bilden ein stützendes Gerüste für die nervösen Elemente; außerdem sind sie die Träger der Blutgefäße, und das Neurilemma verleiht den nicht durch feste Knochenhüllen geschützten peripherischen Nerven die erforderliche Widerstandskraft gegen mechanische Einwirkungen 1).

1) Die Nouroglia der Zentralorgane besitzt im allgemeinen eine feinkörnige, zum Teil auch feinfaserige Beschaffenheit. Viele der eingebetteten zelligen Elemente gleichen den Lymphkörpern, andere tragen durch ihre zahlreichen fein verästelten Ausläufer vollständig den Charakter der Bindegewebszellen (DEITERS, Untersuchungen über Gehirn und Rückenmark. Braunschweig 1865. S. 45 u Tafel II, Fig. 10). Durch diese Eigenschaften nähert sich die Neuroglia der Nervencentren am meisten der embryonalen Form der Bindesubstanz. Zugleich besitzt aber die zwischen den zelligen Gebilden liegende Masse immerhin eine eigentümliche, einigermaßen dem protoplasmatischen Inhalte der Ganglienzellen ähnliche Beschaffenheit. Manche Beobachter sind dadurch veranlaßt worden, der Neuroglia selbst eine nervöse Natur zuzuschreiben (R. Wagner, Göttinger gel. Anz. 1859, No. 6, HENLE und Merkel, Zeitschr. für rat. Med. 3. R., Bd. 34, S. 49. Ähnlich noch neuerdings Rindfleisch, Archiv f. mikroskop. Anatomie VIII, S. 453). Aber dieser Ansicht widerstreiten durchaus die Vorstellungen über den wechselseitigen Zusammenhang der unbestreitbar nervösen Elementarteile, der Ganglienzellen und Nervenfasern, welche sich aus den unten zu erwähnenden Tatsachen ergeben.

Die Nervenzellen entbehren wahrscheinlich überall der eigentlichen Zellhülle. Sie stellen bald runde, bald mehreckig gestaltete Protoplasmaklumpen dar (Fig. 3), welche so außerordentliche Größenunterschiede zeigen, daß manche kaum mit Sicherheit von den kleinen Körperchen des Bindegewebes unterschieden werden können, während andere die Sichtbarkeit mit bloßem Auge erreichen und demnach zu den größten Elementarformen des tierischen Körpers gehören. Charakteristisch für sie ist der Reichtum an Pigmentkörnern, die bald ziemlich gleichmäßig im Protoplasma verteilt sind, bald an einer Stelle vorzugsweise sich sammeln; bei den stärksten Vergrößerungen erscheint außerdem der Inhalt der Zelle von feinsten Fasern durchzogen (Fig. 6). Gegen das körnig getrübte Protoplasma kontrastiert der lichte, deutlich bläschenförmige und mit einem Kernkörperchen versehene Kern. In manchen Zellen, namentlich des Sympathicus, werden zwei Kerne beobachtet. In den Zentralorganen sind die Zellen ohne weiteres in die weiche Bindesubstanz eingebettet, in den Ganglien sind sie häufig von einer bindegewebigen und elastischen Scheide umgeben, welche oft unmittelbar in die schwanN’sche Scheide einer abgehenden Nervenfaser sich fortsetzt (Fig. 3c). Obgleich nicht in allen Fällen Faserursprünge aus Zellen sich beobachten lassen, so ist es doch wahrscheinlich, daß meist sogar mehrere Nervenfasern aus einer Nervenzelle hervorgehen. Viele dieser Fortsätze sind aber so außerordentlich zart, daß sie leicht spurlos abreißen können.
    Nicht weniger wie die Nervenzellen wechseln die Nervenfasern in ihrer Formbeschaffenheit (Fig. 4). Als die gewöhnlichen Bestandteile derselben pflegt man einen zentral gelegenen zylindrischen Faden, den Achsenzylinder, eine diesen umhüllende Substanz, welche durch einen Gerinnungs- oder Zersetzungsprozess nach dem Tode sich erst deutlich in wulstförmigen Massen ausscheidet, die Markscheide, und endlich die SCHWANN’sche Primitivscheide zu betrachten. Von diesen drei Bestandteilen ist aber der Achsenzylinder der allein wesentliche. Viele, ja wahrscheinlich die meisten Nervenfasern treten als hüllenlose Achsenzylinder aus zentralen Zellen hervor. Erst weiterhin werden sie von der Markscheide, in der Regel in noch späterem Verlauf von der SCHWANN’schen Primitivscheide umkleidet. Die meisten zentralen Nervenfasern besitzen noch eine Markscheide, aber keine SCHWANN’sche Scheide mehr; in der grauen Substanz hört vielfach auch die Markscheide auf (Fig. 4d). In andern Fällen, namentlich an den peripherischen Endigungen und im Gebiet des sympathischen Nervensystems, ist der Achsenzylinder unmittelbar, ohne zwischengelegenes Mark, von der mit Kernen besetzten Primitivscheide umgeben (c). Die nämliche Beschaffenheit besitzen durchweg die Nervenfasern der Wirbellosen. Auch in den peripherischen Endorganen bleiben als letzte Endzweige der Nerven in der Regel nur noch schmale Achsenfasern übrig, die sich büschel- oder netzförmig verzweigen (e). Ist hiernach der Achsenzylinder das einzige nie fehlende Element der Faser, so ist es aber zweifelhaft, ob derselbe den letzten und einfachsten Formbestandteil darstellt. Denn die Beobachtung zeigt, daß die Achsenfaser an ihrem zentralen Ende häufig, gegen ihr peripherisches vielleicht immer in zahlreiche feinere Fibrillen zerfällt, welche dort entweder unmittelbar in eine Nervenzelle oder in ein die Zellen umspinnendes Fasernetz eintreten, hier in Sinnesorganen oder Muskeln sich ausbreiten (Fig. 4e, Fig. 5 und Fig. 6). Biese Tatsachen sowie das zuweilen vorkommende fibrilläre Ansehen der Achsenfaser auch in ihrem weiteren Verlaufe haben die Vermutung angeregt, daß dieselbe stets aus Primitivfibrillen zusammengesetzt sei 2). In der Tat sprechen für diese Auffassung nicht bloß die physiologischen Verhältnisse, welche besonders bei gewissen Sinnesorganen, wie dem Auge und Ohr, eine außerordentlich feine Teilung der Leitungswege wahrscheinlich machen, sondern auch manche anatomische Tatsachen, wie namentlich die verschiedenen Durchmesserverhältnisse verschiedener Klassen von Nervenfasern, welche ihre plausibelste Erklärung darin finden, wenn man annehmen darf, daß in den breiteren Fasern eine größere Zahl von Leitungsbahnen zusammengefaßt sei.

2) M. SCHULTZE, observationes de cellularum fibrarumque nervearum structura. Bonner Universitäts-progamm 1868. Derselbe in STRICKER'S Gewebelehre S. 108 f.

    In jedem ihrer Fortsätze nimmt die Nervenzelle entweder einen ungeteilten Achsenfaden oder ein Bündel von Primitivfibrillen auf. Wie diese letzteren sich in ihr durchflechten, ob sie in ihr ganz oder teilweise endigen, oder ob Fasern, die durch den einen Fortsatz eingedrungen sind, in kontinuierlichem Verlauf in die Fasern eines anderen Fortsatzes übergeben: alle diese Fragen müssen noch als offene betrachtet werden. Nur das eine läßt sich fast mit Bestimmtheit aussagen, daß die Ganglienzellen nicht etwa bloße Knotenpunkte darstellen, in welchen die Nervenfasern ihre Verlaufsrichtung ändern, sondern daß in ihnen nicht selten auch die Zahl derselben bald vermehrt bald vermindert werden kann, indem in der einen Verlaufsrichtung mehr Fasern eintreten, als in der andern hervorkommen. Von der Art, wie in der Ganglienzelle verschiedene Fasersysteme mit einander verknüpft werden, sind sichtlich die hauptsachlichsten Modifikationen ihrer Form abhängig. Häufig tritt ein ungeteilt bleibender starker Achsenzylinder in deutlichen Gegensatz zu einer großen Zahl fibrillär zerfallender Fortsätze, welche von DEITESRS3), dem Entdecker dieses Strukturschemas, Protoplasmafortsätze genannt worden sind (Fig. 3a). Der Achsenzylinder kommt in der Regel aus dem Zentrum der Zelle hervor, während die Protaplasmafortsätze in der Peripherie derselben entspringen. Es scheint, daß solche Zellen die häufigste, wenn auch nicht die einzige Form der zentralen Elemente des Cerebrospinalorgans sind: der Achsenfortsatz gehört wohl in der Regel einer von der Peripherie herkommenden Nervenfaser zu, die Protoplasmafortsätze scheinen sich stets in zahlreiche Fibrillen zu spalten, welche sich schließlich in ein feinstes Fasernetz auflösen, das, in die Neuroglia eingebettet, wahrscheinlich teils verschiedene Zellen mit einander verbindet teils, indem sich aus ihm wieder gröbere Zweige sammeln, Nervenfasern zum Ursprunge dient. In etwas abweichender, wenn auch im Ganzen ähnlicher Weise scheinen sich die Ursprungsverhältnisse in in manchen Ganglienzellen des sympathischen Systems zu gestalten. Hier soll einerseits ein stärkerer Achsenfaden, der nach Manchen aus dem Kern, nach Andern aus dem Kernkörperchen entspringt, die Zelle verlassen, anderseit ein Netz feinster Fibrillen aus dem Protoplasma hervorkommen und in eine spiralig gedrehte Faser übergehen, die den ersten Achsenfaden umwindet.

3) DEITERS, Untersuchungen über Gehirn und Rückenmark des Menschen und der Säugetiere. Braunschweig 1865. S. 53 f.

    So scheint, wenn nicht überall, so doch an vielen Orten, eine doppelte Weise des Zusammenhangs der Ganglienzellen und der Nervenfasern zu existieren. Auf der einen Seile verläßt die Zelle eine ungeteilte Faser in Gestalt des Achsenfortsatzes, auf der andern Seite kommen aus ihr meist zartere Fortsätze hervor, die sich sogleich weiter teilen, und in ein feines Fibrillennetz übergehen, welches wahrscheinlich einer zweiten Gattung von Nervenfasern zum Ursprunge dient. Nachgewiesen ist diese doppelte Form des Zusammenhangs namentlich für die Zellen der Vorderhörner des Rückenmarks, sowie für die größeren Nervenzellen der Rinde des großen und des kleinen Gehirns, wogegen es noch sehr zweifelhaft ist, ob an andern Orten, wie in den Hinterhörnern des Rückenmarks, in vielen grauen Kernen des Gehirns und an den kleineren Zellen der Rinde, die Elemente dem nämlichen Strukturbilde sich fügen. Insbesondere die Ganglienzellen kleinerer Gattung lassen niemals mit Sicherheit einen Achsenfortsatz erkennen, es ist also möglich, daß sie nur durch jenes die Neuroglia durchziehende Fasernetz unter einander und mit Nervenfasern in Verbindung stehen. Vielfach zeichnen sich ferner namentlich die größeren Ganglienzellen dadurch aus, daß die Fortsätze derselben eine gewisse Konstanz ihrer Richtung besitzen: so die Zellen der Rinde dos großen und kleinen Gehirns und, insbesondere bei niederen Wirbeltieren, die Ganglienzellen der Vorderhörner des Rückenmarks. Die Annahme liegt hier nahe, daß durch die regelmäßige Verlaufsrichtung der Fortsätze zugleich die vorherrschenden Leitungswege innerhalb des betreffenden Zentralgebietes bezeichnet werden4). Ein direkter Zusammenhang verschiedener Zellen durch verbindende Fortsätze wurde übrigens früher zwar vielfach angenommen, aber von den geübtesten Beobachtern selten oder niemals gesehen5), ein negatives Resultat, welches, wie wir jetzt vermuten können, wahrscheinlich davon herrührt, daß die Ganglienzellen in der Regel nur durch das feine Fasernetz innerhalb der Neuroglia mit einander verbunden sind.

4) MEYNERT, Vierteljahrsschrift f. Psychiatrie, 1. Jahrg. 1867, S. 198 f.
5) DEITERS, Untersuchungen über Gehirn und Rückenmark. S. 67.

    Die chemischen Baustoffe, aus welchen sich die Formelemente des Nervensystems zusammensetzen, sind bis jetzt nur mangelhaft erkannt. Abgesehen von den leimgebenden und elastischen Substanzen, welche den Umhüllungs- und Stutzgeweben, dem Neurilemma, der Primitivscheide und teilweise der Neuroglia der Nervenzentren, angehören, führt die Nervenmasse eine Anzahl von Stoffen, denen sie vorzugsweise ihre physikalischen Eigenschaften verdankt. Es sind dies Körper, die in ihren Löslichkeitsverhältnissen den Fetten ähnlich sind, in ihrer chemischen Konstitution aber manchfach abweichen. Außer in der Nervensubstanz sind sie in den Blut- und Lymphkörpern, im Eidotter, Sperma und in geringerer Menge noch in manchen andern Flüssigkeiten gefunden worden. Der wichtigste dieser Stoffe ist das Lecithin, ein sehr zusammengesetzter Körper, in welchem die Radicale von Fettsäuren, der Phosphorsäure und des in den meisten tierischen Fetten enthaltenen Glyzerins mit einander gepaart und mit einer starken Aminbase, dem Neurin, verbunden sind6). Das Lecithin zeichnet sich einerseits vermöge des hohen Kohlen- und Wasserstoffgehalts durch seinen bedeutenden Verbrennungswert, anderseits vermöge der komplexen Beschaffenheit, die es besitzt, durch seine leichte Zersetzbarkeit aus. Neben ihm findet sich in der Nervensubstanz ein in seiner Konstitution noch unerforschter Körper, das Cerebrin, welches, da es sich beim Kochen mit Säuren in eine Zuckerart und andere unbekannte Zersetzungsprodukte spaltet, zu den stickstoffhaltigen Glycosiden gerechnet wird 7). Endlich geht Cholesterin8), ein fast in allen Geweben und Flüssigkeiten vorkommender fester Alkohol von hohem Kohlenstoffgehalt, in ziemlich reichlicher Menge in die Zusammensetzung des Nervengewebes ein. Auch das Cerebrin und Cholesterin besitzen einen bedeutenden Verbrennungswert, doch sind sie weniger leicht zersetzbar als das Lecithin. Neben diesen Substanzen enthält das Nervengewebe in beträchtlicher Quantität Stoffe, die man in die Klasse der Eiweißkörper rechnet, deren Konstitution und chemisches Verhalten aber noch kaum erforscht sind. Wir wissen nur, daß die Hauptmasse der die Eiweißreaktion gebenden Stoffe in fester, gequollener Form im Gehirn und den Nerven vorkommt und daß sie durch ihre Löslichkeit in verdünnten Alkalien und Säuren die nächste Ähnlichkeit mit dem wichtigsten eiweißartigen Bestandteil der Milch, dem Caseïn, zeigt9).

6) Die Konstitution des gewöhnlichen Lecithins ist nach Diakonow C44 H90 NPO9 = Distearylglycerinphosphorsäure + Trimethyloxäthylammoniumhydroxyd (Neurin). Nach STRECKER können aber noch andere Lecithine entstehen, indem an Stelle des Radikals der Stearinsäure andere Fettsäureradikale treten.
7) Nach W. müller hat das Cerebrin die (empirische) Zusammensetzung C37 H33 NO3.
8) C26 H44O.
9) Näheres über die chemischen Bestandteile des Nervengewebes vgl. in meinem Lehrbuch der Physiologie 3. Aufl. S. 471 f.

    Über den physiologischen Zusammenhang aller dieser Bestandteile besitzen wir keine Aufschlüsse. Ebenso ist über die Verteilung derselben in den einzelnen Elementarteilen des Nervengewebes wenig bekannt. Sichergestellt ist nur, daß in den peripherischen Nervenfasern der Achsenfaden die allgemeinen Kennzeichen der Eiweißstoffe darbietet, während die Markscheide in ihrem physikalischen Verhalten ganz und gar einem in Wasser gequollenen Gemenge von Lecithin und Cerebrin gleicht10). Ebenso besteht in den Ganglienzellen der Kern nach seinem mikrochemischen Verhalten wahrscheinlich aus einer komplexen eiweißähnlichen Substanz, während in dem Protoplasma eiweißähnliche Stoffe mit Lecithin und seinen Begleitern gemengt sind. Dieselben Bestandteile scheinen dann teilweise in die Interzellularsubstanz einzudringen.

10) Verteilt man nämlich einen dieser Stoffe oder ein Gemenge derselben in Wasser, so entstehen Formen, welche unter dem Mikroskop vollständig dem aus Nervenfasern ausgelaufenen und gequollenen Mark gleichen. Man hat dieselben als Myelinformen bezeichnet. Wo sie beobachtet werden, da läßt sich schon mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Vorhandensein von Lecithin und Cerebrin schließen.

    Diese Tatsachen machen es wahrscheinlich, daß die Nervensubstanz der Sitz einer chemischen Synthese ist, in Folge deren aus den durch das Blut zugeführten komplexen Nahrungsstoffen schließlich noch komplexere Körper hervorgehen, welche zugleich durch ihren hohen Verbrennungswert eine bedeutende Summe disponibler Arbeit darstellen. Zunächst zeugt für diese Richtung des Nervenchemismus das Auftreten des Lecithins in so bedeutenden Mengen, daß eine Entstehung desselben an Ort und Stelle offenbar wahrscheinlicher ist als eine Ablagerung aus dem Blute. Als Muttersubstanzen des Lecithins und der es begleitenden, vielleicht als Nebenprodukte entstehenden Körper sind hierbei wahrscheinlich die eiweißähnlichen Stoffe der Ganglienzelle und des Achsenzylinders anzusehen. Daß in tierischen Elementarteilen einfachere Eiweißstoffe in zusammengesetztere übergeführt werden können, ist kaum mehr zu bezweifeln. Insbesondere spricht hierfür, daß phosphorhaltige Substanzen, welche sonst den Alluminaten in ihrer Zusammensetzung und in ihrem chemischen Verhalten ähnlich sind, unter Verhältnissen vorkommen, welche eine Bildung derselben innerhalb der tierischen Zelle äußerst wahrscheinlich machen. Ein phosphorhaltiger Körper dieser Art scheint insbesondere der Hauptbestandteil der Zellenkerne zu sein, aus welchem wohl auch der Kern der Ganglienzellen besteht, das Nucleïn11). Solche phosphorhaltige eiweißähnliche Stoffe sind, wie hoppe-seyler vermutet, Zwischenstufen zwischen dem eigentlichen Eiweiß und den Lecithinkörpern. Sie scheinen häufige Begleiter der Eiweißstoffe, namentlich des Caseïns zu sein12). Hiernach darf man vorläufig wohl vermuten, daß in der Ganglienzelle zunächst komplexe eiweißähnliche Körper sich bilden; vielleicht ist auch der Achsenzylinder aus solchen zusammengesetzt. Als ein zweiter bereits auf einer Spaltung beruhender Vorgang würde dann die Bildung des Lecithins und der andern leicht verbrennlichen Nervenstoffe zu betrachten sein. Der ganze Chemismus der Nervensubstanz ist somit augenscheinlich auf die Bildung von Verbindungen gerichtet, in welchen sich ein hoher Verbrennungs- oder Arbeitswert anhäuft.

11) Miescher in HOPPE-SEYLER'S physiologisch - chemischen Untersuchungen, 4. S. 452.
12) LUBAVIN ebend. S. 463.

    Über die funktionelle Bedeutung der einzelnen Formelemente des Nervensystems vermag natürlich nur das physiologische Experiment endgültige Auskunft zu geben. Aber da dasselbe die Teile niemals getrennt zu untersuchen vermag, sondern immer nur in den Vereinigungen, in denen sie die nervösen Organe und Gewebe bilden, so sind wir doch in dieser Beziehung auf die Anatomie mit unsern Vermutungen hingewiesen. Daß in den Nervenzellen die zentralen Funktionen ihren Sitz haben, während den Nervenfasern die Leitung der von den Nervenzellen ausgehenden oder von den peripherischen Anhangsapparaten, den Sinnesorganen, ihnen übermittelten Vorgängen zufällt, schließen wir vorzugsweise aus den Strukturverhältnissen beider Gebilde. Die Nervenzelle bildet einen Mittelpunkt, der meistens von verschiedenen Seiten her Fasern in sich aufnimmt, die Nervenfaser verbindet in ununterbrochenem Verlauf die peripherischen Organe mit den Nervenzentren und die letzteren wieder unter sich. Dieses Strukturbild scheint unmittelbar der Idee zu entsprechen, daß durch das Nervensystem der funktionelle Zusammenhang aller Organe vermittelt werde. So hat sich denn aus physiologischen Postulaten und anatomischen Anschauungen eine Vorstellung von der Bedeutung der nervösen Bauelemente und von ihrer wechselseitigen Verbindung entwickelt, von der sich nicht leugnen läßt, daß sie teilweise eine hypothetische ist, die aber den gegenwärtigen Standpunkt unserer anatomischen und physiologischen Kenntnisse getreu reflektiert. Die Nervenzellen des Cerebrospinalorgans sind, so nehmen wir an, ein System von Zentralpunkten, welche unter sich in die vielseitigste Verbindung gesetzt sind, und von denen außerdem bestimmte Gruppen mit den peripherischen Elementarteilen, welche unter der Herrschaft des Nervensystems stehen, mit Muskeln, Drüsenzellen und Sinnesepithelien, zusammenhängen. Die Nervenzellen und Nervenfasern bilden ein zusammenhängendes Netz, dessen Knotenpunkte die Zellen sind, und von dem außerdem zahlreiche Fäden nach der Peripherie des Körpers auslaufen, wo die Anhangsgebilde des Nervensystems gleichsam die äußeren Befestigungspunkte jenes Netzes bilden, in dessen Mitte Gehirn und Rückenmark gelegen sind. Von den Ganglien des Sympathicus nimmt man an, daß ihre zelligen Elemente zum Teil wenigstens in dem allgemeinen Zusammenhang der Nervenzellen mit inbegriffen, also weit vorgeschobene Knotenpunkte des nervösen Netzes seien; doch bleibt es immerhin möglich, daß in ihnen nebenbei auch Zellen von der Bedeutung selbständiger Zentralpunkte vorkommen. Alle andern Bauelemente des Nervensystems aber außer den Ganglien und Nervenfasern, also die Neuroglia, die bindegewebigen und elastischen Scheiden betrachtet man als indifferente Stütz- und Umhüllungsgewebe.
    Die Ganglienzellen und Nervenfasern sind, obgleich sie gewöhnlich Elementarteile genannt werden, doch nicht einfache Gebilde, sondern sie besitzen, wie aus der oben gelieferten Schilderung hervorgeht, eine zusammengesetzte Struktur. An der Zelle unterscheiden wir den feinkörnigen oder feinstreifigen Inhalt, den Kern und die Fortsatze; die Faser besteht aus dem Achsenzylinder, der Markscheide und der SCHWANN'schen Scheide. Es erhebt sich daher die Frage, wie jeder dieser Bestandteile zur Funktion der Bauelemente beitragt.
    Bei der Nervenzelle bieten uns die vereinzelten und zum Teil bestrittenen Angaben über den Ursprung von Fortsätzen aus Kern- oder Kernkörperchen, über die Ausstrahlung der Primitivfibrillen im Inhalt etc. noch keine hinreichend sichern Anhaltspunkte, um auf die physiologische Bedeutung dieser einzelnen Teile zu schließen. Indem wir uns also begnügen die Ganglienzelle im Ganzen als elementares Zentralgebilde zu betrachten und die allgemeine Frage, ob spezifische Unterschiede der Funktion für verschiedene Zellen zu postulieren seien, einem späteren Teil dieser Untersuchung vorbehalten13), kann die Anatomie vorläufig nur zur Mitentscheidung über einen Punkt herbeigerufen werden, darüber nämlich, ob alle Nervenzellen durch auslaufende Fasern teils direkt teils indirekt in gegenseitige Verbindung gesetzt sind, oder aber ob es Zellen gibt, welche erste Anfangspunkte von Nervenfasern darstellen. Physiologisch läßt sich diese Frage so formulieren: ob die Nervenzelle in gewissem Sinne immer nur Durchgangsstation oder Seitenglied in einer Kette von Wirkungen ist, oder ob sie unter Umständen auch absoluter Ursprungs- oder Endpunkt einer Leitungsbahn sein kann. Mit Sicherheit wird diese Frage allerdings nicht zu beantworten sein, da die Möglichkeit vorliegt, daß schon ein einziger Fortsatz Primitivfibrillen enthalten kann, welche in ihrem späteren Verlaufe sich trennen. Aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit würde doch für die erste Alternative existieren, wenn sich ergeben sollte, daß alle Nervenzellen mehrere nach verschiedenen Richtungen ausstrahlende Fortsätze besitzen, während die Existenz solcher Zellen, die nur nach einer Richtung eine Primitivfaser entsenden, offenbar der zweiten Annahme günstiger wäre. Einerseits sprechen nun die Lagerungs- und Formverhältnisse der Zellen in demjenigen Teil des Cerebrospinalsystems, in welchem am ehesten absolute Endpunkte zu erwarten wären, in der Hirnrinde (Fig. 3e), zweifelsohne für eine vielseitige Verbindung aller zelligen Elemente durch anastomosierende Fasern, und ebenso scheint in den niedrigeren Gebieten jenes Systems, wie in der grauen Substanz des Rückenmarks, schon der anatomische Augenschein die Zellen als Durchgangsstationen ein- und austretender Fasern darzustellen; anderseits tritt uns aber an vielen andern Orten, wie in den Spinalganglien des Menschen und der Säugetiere14), in den sympathischen Ganglien (Fig. 3c), in den Nervenknoten der Wirbellosen15), zum Teil so regelmäßig das Bild von Zellen entgegen, welche entweder nur einen in eine Nervenfaser übergehenden Fortsatz entsenden, oder aus denen mehrere Fortsätze nur nach einer Richtung hervorgehen, daß der Gedanke an erste Anfangspunkte entspringender Fasern mindestens nahe gelegt wird. Doch ist bei den Schwierigkeiten, welche der Nachweisung der feinsten Zellenfortsätze entgegenstehen, auch hier eine endgültige Erscheinung noch nicht möglich 16). Die Physiologie zeigt im allgemeinen, daß die zentralen Funktionen in mannigfaltiger Wechselwirkung stehen, und sie unterstützt somit die Annahme eines Zusammenhanges ihrer Träger, der zentralen Zellen. Um so vielseitiger ist jene Wechselwirkung, um so zahlreichere Verbindungen sind daher zu erwarten, je verwickelter Bau und Leistungen des betrenenden Zentralgebietes sind. Organe dagegen, in denen sich peripherische Ganglien befinden, wie das Herz, der Darm, lassen durchweg eine größere Selbständigkeit der Innervation erkennen, indem die letztere sogar nach der Trennung der betreffenden Organe vom Gesamtkörper noch fortdauern kann. Diese Tatsache entspricht aber augenscheinlich dem Befund, daß jene Bilder, welche den Schein absoluter Endpunkte der Leitungsbahnen erwecken, vorzugsweise den niedrigeren Zentralgebilden, den Ganglien, angehören.

13) Vergl. Kap. V und VI.
14) In den Spinalganglien der Fische sind übrigens die Zellen durchgehends bipolar, ihr einer Fortsatz ist gegen das Rückenmark, ihr andrer gegen die Peripherie gerichtet (Fig. 3 b).
15) Vgl. Solbrig, die feinere Struktur der Nervenelemente bei den Gasteropoden. Leipzig 1872. Taf. VI und VII.
16) Ganglienzellen, die der Fortsätze gänzlich ermangeln, so genannte apolare Zellen, sind in vielen Fällen ohne Zweifel Trugbilder, welche durch die Verstümmelung zarter Fortsätze entstanden sind; in andern Fällen mag es sich um in Entwicklung begriffene Ganglienzellen handeln, aus denen später noch die Fortsätze hervorwachsen (Kölliker, Gewebelehre. 5. Aufl. S. 255).

    Da von den Bestandteilen der Nervenfaser der Achsenfaden der einzig konstante ist, so leidet es keinen Zweifel, daß er oder die in ihn eingehende Primitivfibrille auch der physiologisch wesentlichste Bestandteil sei. Ihm werden wir also die Funktion der Leitung der von den Zellen ausgehenden oder ihnen teils von der Peripherie teils von andern zentralen Zellen zugeführten Vorgange zuschreiben müssen. Sowohl die Art des Vorkommens der Markscheide wie ihre physikalischen Eigenschaften scheinen am ehesten der Vorstellung Raum zu geben, daß sie ein Zusammenfließen der in der Achsenfaser oder ihren Primitivfibrillen bei der Leitung der nervösen Prozesse ablaufenden innern Vorgänge verhindere, daß sie also an der isolierten Leitung beteiligt sei. In den Zentralorganen und in den peripherischen Nerven ist daher die Markscheide vorzugsweise da zu finden, wo viele Nervenfasern dicht beisammen liegen, während sie fehlt wo größere Massen von Bindesubstanz sich zwischen die einzelnen einschieben, wie dies nahe dem zentralen und zum Teil auch nahe dem peripherischen Ende vorzukommen pflegt. Sodann findet sie sich an denjenigen Nerven, deren Funktion eine möglichst vollständige Isolierung der Leitungsvorgänge hauptsächlich erforderlich macht, an den sensibeln und motorischen, sie fehlt vielen sympathischen oder gangliösen Nerven, bei denen die unbestimmte Ausbreitung der in Folge der Reizung eintretenden Vorgänge auf eine minder strenge Befolgung des Gesetzes der isolierten Leitung hinweist.

Auf die manchfachen Versuche in die Struktur der Nervenzellen und Nervenfasern tiefer einzudringen, sind wir in der obigen Darstellung nicht eingegangen, weil die betreffenden Befunde und ihre Deutung noch allzu sehr Gegenstand des Streites sind. Vor allem gehören hierher die Angaben, welche sich auf den Ursprung von Nervenfasern aus dem Kern oder Kernkörperchen der Zellen beziehen, wie solche nach einander von HARLESS17), G. WAGENER18), J. ARNOLD19), FROMMANN20), COURVOISIER21), SOLBRIG22) u. A. gemacht, auf der andern Seite aber von KÖLLIKER23), SCHULTZE24), Schwalbe25), WALDEYER26) teils bezweifelt teils entschieden bekämpft worden sind. Nach manchen Angaben scheint die von DEITERS hervorgehobene doppelte Ursprungsweise der Nervenzellen die Bedeutung zu haben, daß der Achsenfortsatz aus dem Kern oder Kernkörperchen, die feineren Fortsätze aus dem Protoplasma der Zellen hervorkommen. So entspringt nach J. ARNOLD und COURVOISIER auch aus vielen sympathischen Nervenzellen außer einer dem Kern oder Kernkörperchen entstammenden Achsenfaser ein feines Fasernetz, das sich zu einem die erstere umschlingenden Spiralfaden sammelt27), und solbrig konnte an manchen Nervenzellen der Gasteropoden eine aus dem Kernkörperchen hervorkommende Faser auf längere Strecken verfolgen, außerdem kam immer eine stärkere Faser aus dem Inhalt der Zelle hervor; einen Ursprung aus dem Kern leugnet der letztere Beobachter. Ein ähnliches Zusammenfließen feinster Fasern zu einem Nervenfortsatz, wie es an sympathischen Zellen beschrieben wurde, beobachtete FROMMANN auch an den Zellen des Rückenmarks und der Spinalganglien: vom Kernkörperchen aus sah er feine Fibrillen den Kern durchdringen und in diesem teils in Körnchen übergehen, welche abermals durch feine Fibrillen mit Körnchen des Protoplasmas zusammenhingen, teils in eigentümliche Röhren eintreten, welche als besondere Fortsätze die Zelle zu verlassen schienen28). Eine wichtige Ergänzung zu der Entdeckung der doppelten Ursprungsform der Zellenfortsätze durch DEITERS bildet endlich die in der neuesten Zeit von GERLACH29) und RINDFLEISCH30) gemachte Entdeckung, daß die graue Substanz der Zentralorgane von einem Netze äußerst feiner nervöser Fasern durchzogen ist, in welches die Protoplasmafortsätze nach vielfacher Teilung sich auflösen, und aus welchem, wie GERLACH wahrscheinlich gemacht hat, eine zweite von den Achsenfortsätzen verschiedene Kategorie von Nervenfasern hervorgeht (Fig. 5). Bestätigt sich die weitere Vermutung dieses Anatomen, daß manche Zellen, z.B. die der Hinterhörner des Rückenmarks, nur Protoplasmafortsätze entsenden, und demnach nur vermittelst des nervösen Netzes mit Nervenfasern zusammenhängen, so würden sich hieraus zwei wesentlich verschiedene Gattungen von Nervenzellen ergeben, solche mit der doppelten und solche mit nur einer Ursprungsform.

17) Müller’sArchiv 1846, S. 28.
18) Zeitschr. f. wissensch. Zoologie VIII, S. 455.
19) VIRCHOW's Archiv, Bd. 31, S. 1.
20) Ebend. S. 129.
21) SCHULTZE'S Archiv f. mikroskop. Anat. II, S. 13.
22) Die feinere Struktur der Nervenelemente bei den Gasteropoden. Leipzig 1872. S. 43.
23) Gewebelehre. 5. Aufl., S. 253.
24) Stricker’s Gewebelehre, S. 135.
25) SCHULTZE's Archiv IV, S. 64.
26) Zeitschr. f. rat. Med., 3. R., Bd. 20, S. 241.
27) Vgl. mein Lehrbuch der Physiologie, 3. Aufl., S. 466.
28) FROMMANN, Anatomie des Rückenmarks, Thl. II. Jena 1867, S. 42. KÖLLIKER, Gewebelehre, 5. Aufl., S. 252.
29) Stricker's Handbuch der Lehre von den Geweben. S. 677. Med. Zentralblatt 1872, S. 273,
30) Archiv für mikroskop. Anatomie VIII, S. 453. Vgl. n. BUTZKE, Archiv f. Psychiatrie III, S. 578.

Nach anderer Richtung wurde eine feinere Zergliederung der Nervenelemente durch M. schultze versucht. Von der Beobachtung ausgehend, daß der Achsenzylinder sowohl bei seinem Ursprung aus der Ganglienzelle (Fig. 6) wie bei seiner letzten Endigung in den Sinnesorganen sich häufig in feine Fibrillen zerfasert, nimmt er an, daß derselbe in seinem ganzen Verlaufe ein Bündel von Primitivfibrillen darstellt, und er bringt hiermit Andeutungen einer faserigen Struktur, wie sie zuweilen an Achsenzylindern wahrgenommen werden, in Zusammenhang. In der Tat läßt sich abgesehen von diesen Beobachtungen mehreres für eine derartige Zusammensetzung des Achsenzylinders anführen. Erstens gehört hierher das anatomische Verhalten der Nerven bei den Wirbellosen sowie der meisten sympathischen Nerven bei den Wirbeltieren. Beide stimmen im wesentlichen überein: jede Nervenfaser zeigt nämlich innerhalb einer von Kernen besetzten Primitivscheide einen fibrillären und häufig zugleich feinkörnigen Inhalt; eine Markscheide ist nicht zu erkennen (Fig. 4c). Höchst wahrscheinlich besteht daher jede solche Nervenfaser aus einem von einer Scheide umschlossenen Fibrillenbündel31). Zweitens ist der Durchmesser der Nervenfasern bei den niederen Wirbeltierklassen im allgemeinen größer als bei den höhern32), ein Verhältnis, welches vorzugsweise auf Rechnung der Achsenfaser kommt, und welches daher am leichtesten verständlich wird, wenn man annimmt, daß bei den Kaltblütern in der Regel eine größere Zahl von Primitivfibrillen in eine Nervenfaser zusammengefaßt sei. Es bleibt dann freilich noch dieses letztere Verhältnis zu erklären. Dasselbe ist vielleicht in den Eigentümlichkeiten der Ernährung oder Wärmeökonomie der verschiedenen Tierklassen begründet, welche bei den Warmblütern möglicherweise einen vollständigeren Schutz der Fibrillen durch die Markscheide erforderlich machen. Drittens findet man, daß im Mittel der Durchmesser der vorderen (motorischen) Wurzelfasern des Rückenmarks größer ist als derjenige der hintern (sensibeln)33). Nun machen es die physiologischen Tatsachen höchst wahrscheinlich, daß es einen wesentlichen Unterschied in den innern Eigenschaften zwischen sensibeln und motorischen Nervenfasern nicht gibt. Existierte ein solcher, und fände derselbe in jenen Durchmesserunterschieden seinen Ausdruck, so wäre anderseits eine größere Konstanz derselben zu erwarten. Diese ist aber durchaus nicht vorhanden: nur im Mittel ist der Durchmesser der vorderen Wurzelfasern größer als derjenige der hintern, dabei kommen dort einzelne schmälere, hier einzelne breitere Fasern vor. Solch' ein inkonstanter Unterschied wird nun am leichtesten verständlich, wenn man annimmt, daß die leitenden Elemente selbst, die Primilivfibrillen, nicht verschieden sind, daß sie aber in den motorischen Wurzelfasern im allgemeinen zu größeren Bündeln vereinigt werden als in den sensibeln. Den Grund dieses Verhältnisses kann man dann vielleicht darin vermuten, daß bei der Innervation der Muskeln, wie das Phänomen der unwillkürlichen Mitbewegung lehrt, leicht eine größere Zahl von Leitungselementen gemeinsam funktioniert, während der Bau und die Funktion der Sinnesorgane eine schärfere Scheidung der Erregungen während ihrer Leitung wahrscheinlich machen. Es würde also die Bedeutung der Zusammenfassung vieler Primitivfibrillen in einen Achsenzylinder darin gesehen, daß zwischen den einzelnen Fibrillen eines solchen Fadens ein Überspringen der Erregung leichter möglich wäre als von einer Achsenfaser auf eine andere. Dem gegenüber gibt es freilich eine anatomische Tatsache, die der ungeteilten Beschaffenheit der Achsenfaser das Wort redet: dies ist das Verhalten derselben bei ihrer Teilung, wie solche bei allen Tieren innerhalb der peripherischen Organe, bei den Fischen zuweilen schon in den Nervenstämmen gefunden wird. Hierbei ist nämlich stets der Gesamtquerschnitt der Fäden, welche aus der Teilung hervorgehen, erheblich größer als der Querschnitt des Fadens, der sich geteilt hat. Aber es steht nichts im Wege anzunehmen, daß in vielen Fällen, da wo starke Verzweigungen der Nervenfaser vorkommen, auch die Primitivfibrillen sich spalten. Der Umstand, daß solche Verzweigungen vorzugsweise in den zwei Organen vorkommen, in denen man am ehesten geneigt sein kann an die Beherrschung eines größeren peripherischen Gebietes durch Netze, die einer einzigen Endfaser angehören, zu denken, nämlich in den Muskeln und in der Haut, scheint diese Vermutung zu unterstützen. Läßt demnach für die Zusammensetzung der Achsenfaser aus primitiven Fibrillen wohl mehr sich anführen als dagegen eingewandt werden kann, so ist nicht dasselbe von der weiteren hypothetischen Vorstellung zu sagen, die M. Schultze hieran geknüpft hat, wonach die Primitivfibrillen innerhalb der zentralen Zellen niemals endigen sondern nur ihre Verlaufsrichtung ändern sollen, so daß ihr Anfang und Ende nur in den peripherischen Organen gelegen wären. Nach dieser Vorstellung sind alle zentralen Funktionen in Analogie gebracht mit dem Reflexmechanismus. Wie das einfachste anatomische Substrat, das wir für den letzteren annehmen können, eine Primitivfibrille ist, die aus einer hinteren Wurzel in eine sensorische Zelle, aus dieser in eine motorische und aus der letzteren in eine vordere Wurzel tritt, so könnte man sich denken, daß auch die in die sensorischen Zellen der Hirnrinde übergehenden Primitivfibrillen aus diesen wieder austreten und schließlich, vielleicht nach Zurücklegung vieler Zwischenstationen, von einer motorischen Zelle aus rückwärts verlaufen. Aber in den physiologischen Verhältnissen, auf die sie sich zunächst stützt, liegt für eine solche Hypothese durchaus kein Grund vor. Die Physiologie macht allerdings wahrscheinlich, daß eine gewisse Isolierung jener Leitungswege, welche den bewußten Empfindungen und den willkürlichen Bewegungen dienen, stattfindet. Aber für die isolierte Verbindung distincter sensibler und motorischer Punkte vermittelst einer zentralen Endschlinge läßt sich schlechterdings nichts anführen. Ebenso würden sich die Erscheinungen der stellvertretenden Funktion, der Mehrheit der Leitungswege für eine und dieselbe peripherische Provinz, der funktionellen Verbindung beider Hälften des Zentralorgans34) nur in der gezwungensten Weise mit der Hypothese des kontinuierlichen Verlaufs der Primitivfibrillen vereinigen lassen. Dazu kommt schließlich, daß dieselbe in den anatomischen Tatsachen keinerlei Unterstützung findet. Namentlich der Ursprung vieler zentraler Fasern aus einem Terminalnetz und die Vereinigung der Ganglienzellen durch dasselbe scheinen ihr zu widersprechen.

31) Leydig, Histologie des Menschen und der Tiere. Frankf. 1886. S. 59, WALDEYER, SOLBRIG a. a. O.
32) Todd, art. nervous System in Cyclopad. of anatom. vol. III. pag. 593.
33) Henle, Allgem. Anatomie. Leipzig 1841, S. 669.
34) Vgl. Kap. IV und V.