Einleitung.

l. Aufgabe der physiologischen Psychologie.

Das vorliegende Werk gibt durch seinen Titel schon zu erkennen, daß es den Versuch macht, zwei Wissenschaften in Verbindung zu bringen, die, obgleich sie sich beide fast mit einem und demselben Gegenstande, nämlich vorzugsweise mit dem menschlichen Leben, beschäftigen, doch lange Zeit verschiedene Wege gewandelt sind. Die Physiologie gibt über jene Lebenserscheinungen Aufschluß, welche sich durch unsere äußeren Sinne wahrnehmen lassen. In der Psychologie schaut der Mensch sich selbst gleichsam von innen an und sucht sich den Zusammenhang derjenigen Vorgänge zu erklären, welche ihm diese innere Beobachtung darbietet. So verschieden aber auch im Ganzen der Inhalt unseres äußeren und inneren Lebens sich zu gestalten scheint, so gibt es doch zwischen beiden zahlreiche Berührungspunkte, denn die innere Erfahrung wird fortwährend durch äußere Einwirkungen beeinflußt, und unsere inneren Zustände greifen in den Ablauf des äußeren Geschehens vielfach bestimmend ein. So eröffnet sich ein Kreis von Lebensvorgängen, welcher der äußern und innern Beobachtung gleichzeitig zugänglich ist, ein Grenzgebiet, welches man, so lange überhaupt Physiologie und Psychologie von einander getrennt sind, zweckmäßig einer besonderen Wissenschaft, die zwischen ihnen steht, zuweisen wird. Aus solchem Grenzgebiet eröffnen sich aber von selbst Ausblicke nach dies- und jenseits. Eine Wissenschaft, welche die Berührungspunkte des inneren und äußeren Lebens zu ihrem Objekte hat, wird veranlaßt sein mit den hier gewonnenen Anschauungen so weit als möglich den ganzen Umfang der beiden andern Disziplinen, zwischen denen sie als Vermittlerin steht zu vergleichen, und alle ihre Untersuchungen werden endlich in der Frage gipfeln, wie denn äußeres und inneres Dasein in ihrem letzten Grunde mit einander zusammenhängen. Die Physiologie und die Psychologie können jede für sich von dieser Frage leicht Umgang nehmen. Die physiologische Psychologie kann ihr nicht aus dem Wege gehen.
    Somit weisen wir unserer Wissenschaft die Aufgabe zu: erstlich diejenigen Lebensvorgänge zu erforschen, welche, zwischen äußerer und innerer Erfahrung in der Mitte stehend, die gleichzeitige Anwendung beider Beobachtungsmethoden, der äußern und der innern, erforderlich machen, und zweitens von den bei der Untersuchung dieses Gebietes gewonnenen Gesichtspunkten aus die Gesamtheit der Lebensvorgänge zu beleuchten und auf solche Weise wo möglich eine Totalauffassung des menschlichen Seins zu vermitteln.
    Diese Aufgabe bedarf aber in einer Beziehung noch der schärferen Begrenzung. Indem nämlich die physiologische Psychologie die Wege zwischen innerem und äußerem Leben durchmißt, schlägt sie zunächst diejenigen ein, welche von außen nach innen führen. Mit den physiologischen Vorgängen beginnt sie und sucht nachzuweisen, wie diese das Gebiet der innern Beobachtung beeinflussen; erst in zweiter Linie stehen ihr die Rückwirkungen, welche das äußere durch das innere Sein empfängt. So sind denn auch die Ausblicke, welche sie nach den beiden Grundwissenschaften, zwischen denen sie sich eingeschoben hat, wirft, vorzugsweise nach der einen, der psychologischen Seite gerichtet. Der Name physiologische Psychologie deutet dies an, indem er als den eigentlichen Gegenstand unserer Wissenschaft die Psychologie bezeichnet und den physiologischen Standpunkt nur als nähere Bestimmung hinzufügt. Der Grund dieses Verhältnisses liegt wesentlich darin, daß alle jene Probleme, welche sich auf die Wechselbeziehungen des inneren und äußeren Lebens beziehen, bisher im wesentlichen einen Bestandteil der Psychologie gebildet haben, während die Physiologie Gegenstände, bei deren Untersuchung der Spekulation eine wesentliche Rolle zufallen mußte, gern aus dem Bereiche ihrer Untersuchungen ausschloß. Doch haben in neuerer Zeit gleichzeitig die Psychologen begonnen, sich mit der physiologischen Erfahrung vertrauter zu machen und die Physiologen die Nötigung empfunden, über gewisse Grenzfragen, auf die sie gestoßen, sich bei der Psychologie Rat’s zu erholen. Die so aus ähnlichen Bedürfnissen entsprungene Begegnung hat der physiologischen Psychologie den Ursprung gegeben. Die Probleme dieser Wissenschaft so nahe sie auch die Physiologie berühren, ja vielfach auf das eigenste Gebiet derselben übergreifen, haben großenteils bisher zur Domäne der Psychologie gehört, das Rüstzeug aber, welches sie zur Bewältigung dieser Probleme herbeibringt, ist gleichmäßig beiden Mutterwissenschaften entliehen. Die psychologische Selbstbeobachtung geht Hand in Hand mit den Methoden der Experimentalphysiologie, und aus der Anwendung dieser auf jene haben sich als ein eigener Zweig der Experimentalforschung die psychophysischen Methoden entwickelt. Will man auf die Eigentümlichkeit der Methode das Hauptgewicht legen, so läßt daher unsere Wissenschaft als Experimentalpsychologie von der gewöhnlichen, rein auf Selbstbeobachtung gegründeten Seelenlehre sich unterscheiden.
    Es gibt zwei Haupterscheinungen, welche jene Grenzscheide, wo die äußere nicht mehr ohne die innere Beobachtung ausreicht, und wo diese auf die Hilfe jener sich angewiesen sieht, deutlich bezeichnen: die Empfindung, eine psychologische Tatsache, welche unmittelbar von gewissen äußeren Grundbedingungen abhängt, und die Bewegung aus innerm Antrieb, ein physiologischer Vorgang, dessen Ursachen sich im Allgemeinen nur in der Selbstbeobachtung zu erkennen geben. In der Empfindung schauen wir die Scheidewand zwischen beiden Gebieten gleichsam von innen, von der psychologischen Seite, in der Bewegung von außen, von der physiologischen Seite an.
    Die Empfindung ist nach Intensität und Qualität zunächst durch ihre äußeren Ursachen, die physiologischen Sinnesreize, bestimmt. Ihre weiteren Umgestaltungen erfährt sie aber unter dem Einfluß der in der inneren Beobachtung gegebenen Vorbedingungen. Diese sind es, durch welche aus Empfindungen Vorstellungen der Außendinge und aus einfachen zusammengesetzte Vorstellungen entstehen, durch welche sich die Vorstellungen zu Reihen und Gruppen verbinden und in diesen ihren Verbindungen dem Bewußtsein kürzere oder längere Zeit verfügbar bleiben. Dennoch machen sich auch hier äußere Einflüsse fortwährend geltend: der Wechsel und die Verbindung der Vorstellungen werden zum Teil bedingt durch den Wechsel und die Verbindung der Eindrücke, der Aufbau zusammengesetzter Vorstellungen aus einfachen ist an gewisse physiologische Verhältnisse unserer Sinnes- und Bewegungswerkzeuge geknüpft, und endlich wird sogar der scheinbar ganz innerliche Verlauf der Gedanken von bestimmten Zuständen und Vorgängen im zentralen Nervensystem begleitet. So erstrecken sich von der psychophysischen Peripherie her Ausläufer bis tief in die Mitte des Seelenlebens.
    Auf der andern Seite reflektieren sich die innern Vorgänge in äußern Bewegungen. Durch die letzteren kehrt der Kreis der Prozesse, welche zwischen äußerem und innerem Sein hin- und herschweben, wieder zu seinem Ausgangspunkte zurück. Bei den einfachsten dieser Bewegungen fehlt das psychologische Zwischenglied, oder es entgeht wenigstens unserer Selbstbeobachtung: die Bewegung erscheint hier als unmittelbarer Reflex des Reizes, daher man gerade in diesem Fall für sie den Namen Reflexbewegung gewählt hat. In dem Maße aber als psychologische Vorgänge zwischen den Eindruck und die von ihm ausgelöste Bewegung treten, wird die letztere nach räumlicher Ausbreitung und zeitlichem Geschehen unabhängiger von jenem und bedarf nun mehr und mehr zu ihrer Erklärung derjenigen Momente, welche die innere Beobachtung darbietet, bis endlich nur noch die letztere über ihren Eintritt unmittelbare Rechenschaft gibt. Hier sind wir am Endglied der Reihe angelangt: wie bei der Reflexbewegung die psychologische Mitte, so entgeht uns jetzt der physiologische Anfang oder entzieht sich wenigstens unserer Nachweisung, nur der innere Vorgang und die äußere Reaktion auf denselben bleiben uns zugänglich.
    Die Psychologie nimmt zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften eine mittlere Stellung ein. Den ersteren ist sie deshalb verwandt, weil für das innere und äußere Geschehen insoweit übereinstimmende Untersuchungs- und Erklärungsprinzipien zur Anwendung kommen, als dies der Begriff des Geschehens überhaupt mit sich bringt. Für die Geisteswissenschaften bildet sie die grundlegende Lehre. Denn jede Äußerung des menschlichen Geistes hat ihre letzte Ursache in Elementarerscheinungen der inneren Erfahrung. Geschichte, Rechts- und Staatslehre, Kunst- und Religionsphilosophie führen daher zurück auf psychologische Erklärungsgründe. Die physiologische Psychologie aber steht, da sie die Beziehungen des äußeren und inneren Geschehens vorzugsweise zu untersuchen hat, mit ihrer einen Hälfte selbst noch innerhalb der Naturwissenschaft, von der aus sie die nächste Vermittlerin zu den Geisteswissenschaften bilden muß.
    Unter den Naturwissenschaften unterscheidet man bekanntlich die beschreibenden und die erklärenden oder die Zweige der Naturgeschichte und der Naturlehre. Beide sind von einander abhängig. Denn die Beschreibung gewinnt erst dann ihren wissenschaftlichen Wert, wenn ihr erklärende Prinzipien zu Grunde liegen, während anderseits die Beschreibung und die auf sie gegründete Klassifikation der Erscheinungen der Erklärung den Weg bahnt. Je weniger ausgebildet eine Wissenschaft ist, um so mehr fließen in ihr Beschreibung und Erklärung zusammen. Namentlich werden in der Regel Klassifikationsversuche für Erklärungen gehalten. So fallen denn auch die meisten Bearbeitungen der empirischen Psychologie vorzugsweise dem Gebiete einer Naturgeschichte der Seele zu, ohne sich dessen immer bewußt zu sein. Auch die in neuerer Zeit zu einem eigenen Wissenszweig erhobene psychologische Durchforschung der Geschichte und Völkerkunde reiht einer Naturgeschichte der Seele im weiteren Umfange sich an. Denn die Völkerpsychologie hat es durchweg mit zusammengesetzten Erscheinungen zu tun, welche ihre Beleuchtung durch das individuelle Bewußtsein empfangen müssen, da sie den aus diesem geschöpften psychologischen Gesetzen unterzuordnen sind, eine Aufgabe, welche im wesentlichen klassifikatorischer Art ist. Dagegen gehören die Untersuchungen der physiologischen Psychologie durchaus einer Naturlehre der Seele zu. Ihr Streben ist ganz auf die Nachweisung der psychischen Elementarphänomene gerichtet. Sie sucht die letzteren zu finden, indem sie zunächst von den physiologischen Vorgängen ausgeht, mit denen sie im Zusammenhang stehen. So nimmt unsere Wissenschaft nicht sogleich inmitten des Schauplatzes der innern Beobachtung ihren Standpunkt, sondern sie sucht von außen in denselben einzudringen. Hierdurch wird es ihr gerade möglich das wirksamste Hilfsmittel der erklärenden Naturforschung, die experimentelle Methode, zu Rate zu ziehen. Denn das Wesen des Experimentes besteht in der willkürlichen und, sobald es sich um die Gewinnung gesetzlicher Beziehungen zwischen den Ursachen und ihren Wirkungen handelt, in der quantitativ bestimmbaren Veränderung der Bedingungen des Geschehens. Nun können aber, wenigstens mit einiger Sicherheit, nur die äußeren, physischen Bedingungen der inneren Vorgänge willkürlich verändert werden, und vor allem sind nur sie einer direkten Maßbestimmung zugänglich. Es ist also klar, daß von einer Anwendung der experimentellen Methode nur auf dem psychophysischen Grenzgebiete die Rede sein kann. Nichtsdestoweniger würde man Unrecht tun, wenn man auf diesen Grund hin die Möglichkeit einer Experimentalpsychologie bestreiten wollte, denn es ist zwar richtig, daß es nur psychophysische, keine rein psychologischen Experimente gibt, falls man nämlich unter den letzteren solche versteht, die von den äußeren Bedingungen des inneren Geschehens ganz absehen. Aber die Veränderung, die durch Variation einer Bedingung gesetzt wird, ist nicht bloß von der Natur der Bedingung sondern auch von der des Bedingten abhängig. Die Veränderungen im inneren Geschehen, die man durch den Wechsel der äußeren Einflüsse von denen es abhängt, herbeiführt, werden also eben damit auch über das innere Geschehen selbst Aufschlüsse enthalten. In diesem Sinne ist jedes psychophysische zugleich ein psychologisches Experiment.

Schon KANT hat die Psychologie für unfähig erklärt, jemals zum Range einer exakten Naturwissenschaft sich zu erheben. Die Gründe, die er dabei anführt, sind seither öfter wiederholt worden, ohne daß man sie durch neue vermehrt hätte. Erstens, meint KANT, könne die Psychologie nicht exakte Wissenschaft werden, weil Mathematik auf die Phänomene des inneren Sinnes nicht anwendbar sei, indem die reine innere Anschauung, in welcher die Seelenerscheinungen konstruiert werden sollen, die Zeit, nur eine Dimension habe. Zweitens aber könne sie nicht einmal Experimentalwissenschaft werden, weil sich in ihr das Mannigfaltige der innern Beobachtung nicht nach Willkür verändern, noch weniger ein anderes denkendes Subjekt sich unsern Versuchen, der Absicht angemessen, unterwerfen lasse, auch die Beobachtung an sich schon den Zustand des beobachteten Gegenstandes alterire1). Der erste dieser Einwände ist irrtümlich, der zweite wenigstens einseitig. Es ist nämlich nicht richtig, daß das innere Geschehen nur eine Dimension, die Zeit, hat. Wäre dies der Fall, so würde allerdings von einer mathematischen Darstellung desselben nicht die Rede sein können, weil eine solche immer mindestens zwei Dimensionen, d. h. zwei Veränderliche, die dem Größenbegriff subsumiert werden können, verlangt. Nun sind aber unsere Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle intensive Größen, welche sich in der Zeit an einander reihen. Das innere Geschehen hat also jedenfalls zwei Dimensionen, womit die allgemeine Möglichkeit dasselbe in mathematischer Form darzustellen gegeben ist. Ohne dies wäre auch das Unternehmen herbart's, Mathematik auf Psychologie anzuwenden, von vornherein kaum denkbar, ein Unternehmen, welchem daher, was man über seinen sonstigen Inhalt urteilen möge, das eine Verdienst nicht bestritten werden kann, daß es die Möglichkeit einer Anwendung mathematischer Betrachtungen in diesem Gebiete deutlich in's Licht gesetzt hat2). Was Kant für seinen zweiten Einwand, daß sich nämlich die innere Erfahrung einer experimentellen Erforschung entziehe, beibringt, ist dem rein innerlichen Verlauf der Vorstellungen entnommen, für den sich in der Tat die Triftigkeit desselben nicht bestreiten läßt. Unsere Vorstellungen sind unbestimmte Größen, welche einer exakten Betrachtung erst zugänglich werden, wenn sie in bestimmte Größen verwandelt, d. h. gemessen sind. Zu jeder Größenmessung ist aber ein Maß nötig, welches man zuvor schon besitzen muß: die unbestimmte Größe wird in eine bestimmte verwandelt, dadurch, daß man sie an einer andern bestimmten Größe mißt, mit welcher sie in einer festen Beziehung steht. Solch' feste Beziehungen existieren nur zwischen den Ursachen und ihren Wirkungen, daher es auch zwei Mittel gibt um Größen zu messen: man kann sie nämlich entweder an ihren Ursachen oder an ihren Wirkungen messen. In der Naturlehre ist das letztere die allgemeine Regel, man mißt z. B. die allgemeinen Ursachen des äußeren Geschehens, die Naturkräfte, mittelst ihrer Wirkungen, der Bewegungen, die sie hervorbringen. Wo dagegen in der Psychologie an eine Messung gedacht werden kann, da ist man, wie es scheint, darauf angewiesen, umgekehrt die Wirkungen mittelst ihrer Ursachen zu bestimmen. Das Urälteste Beispiel solch psychologischer Größemessung ist gerade die Zeit. Den Verlauf unserer innern Zustände messen wir an seiner äußern Ursache, nämlich an der Bewegung von Naturobjekten, durch welche ein Wechsel der Vorstellungen herbeigeführt wird. Da wir die zum Maß der Zeit genommenen Bewegungen unmittelbar benützen, um andere äußere Vorgänge nach ihrem zeitlichen Verlauf zu bestimmen, so übersehen wir in diesem Fall leicht den psychologischen Ursprung des ganzen Vorganges. Im wesentlichen aber ist es ein analoges Verfahren, wenn wir die Intensität unserer Empfindungen an der Stärke der äußeren sie verursachenden Eindrücke messen3). Unter Umständen ließe sich vielleicht auch ein Maß für innere Zustände aus ihren äußeren Wirkungen, den von uns ausgeführten Bewegungen, gewinnen; doch ist dieser entgegengesetzte Weg bis jetzt noch nicht eingeschlagen worden, es scheinen also demselben besondere Schwierigkeiten entgegenzustehen. Welche der beiden Maßmethoden man übrigens anwenden möge, immer muß das eine Glied der Kausalbeziehung, sei es die Ursache, der Sinneseindruck, oder die Wirkung, die reagierende Bewegung, außer uns liegen. Bei dem rein innerlichen Geschehen, wie es sich in dem Verlauf reproduzierter Vorstellungen darstellt, sind nun aber sowohl die Ursachen wie die Wirkungen in uns. Zwar läßt das zusammenhängende Spiel unserer Vorstellungen einen ursächlichen Zusammenhang derselben vermuten, aber jenes Spiel entzieht sich so sehr willkürlichen Eingriffen, daß wir nicht einmal immer im Stande sind, mit Sicherheit die Bedingungen eines Ereignisses zu ermitteln, noch weniger an die Feststellung irgend welcher quantitativer Beziehungen denken können. So bliebe höchstens noch eine Möglichkeit, um dennoch zu einer mathematischen Behandlung zu gelangen. Man könnte nämlich hypothetische Voraussetzungen über die fundamentalen Größenbeziehungen bei der Wechselwirkung der Vorstellungen machen, daraus die Folgerungen entwickeln und diese so weit als möglich mit der Erfahrung vergleichen. In der Tat wird dieser Weg in allen Zweigen der mathematischen Physik wenigstens aushilfsweise betreten. Da man selten durch Induktion wirklich bis zu den letzten Tatsachen gelangt, mit welchen eine mathematische Ableitung beginnen kann, auch, wenn dies der Fall sein sollte, jene letzten Voraussetzungen wahrscheinlich selten einfach genug wären, um eine Bewältigung durch den Kalkül zuzulassen, so bleibt in der Regel zwischen dem Punkt wo die Induktion aufhört und demjenigen wo die Deduktion anfängt eine mehr oder minder große Lücke. Demnach beginnen denn die Deduktionen der mathematischen Optik, Elastizitätslehre u. s. w. mit Hypothesen, die keineswegs durch Induktion erwiesen sind, ja die man in der Regel nicht einmal für wahrscheinlich hält, sondern von denen man nur annimmt, daß sie Annäherungen an den wirklichen Tatbestand seien, bei welchen von unberechenbaren Verwickelungen, wie sie in der Natur nie fehlen, abstrahiert ist. Soll trotz dieses hypothetischen Charakters der ersten Voraussetzungen die mathematische Theorie doch als eine einigermaßen begründete gelten, so müssen aber zwei Erfordernisse zusammentreffen: es müssen erstens die Hypothesen, Von denen man ausgeht, wenigstens durch die Induktion vorbereitet sein, diese muß ihnen als den wahrscheinlichsten einfachen Annahmen entgegenführen, und es darf zweitens die schließliche Kontrolle durch die Erfahrung nicht fehlen. Mangelt das erste dieser Erfordernisse, so kann eine mathematische Theorie immer noch als brauchbare Verbindung der Tatsache gelten, mangelt das zweite, so läßt sie sich, wenn das erste vorhanden ist, wenigstens als Anleitung benützen, um Tatsachen, zu denen begründete Vermutung vorhanden ist, auf die Spur zu kommen. Jedes dieser Erfordernisse setzt aber wieder zu seiner Erfüllung die Hilfsmittel der experimentellen Methode voraus. Falls es daher gelänge eine Theorie des inneren Geschehens aus Prinzipien abzuleiten, die durchaus mit jenen im Einklange stünden, welche für die psychophysischen Wechselwirkungen durch die Erfahrung erhärtet sind, so könnte auch eine solche Theorie als vorbereitet durch die Induktion gelten, da jede Betrachtung des Geschehens die Annahme eines Zusammenhangs der Erscheinungen voraussetzen muß. Dagegen wird das zweite der oben angeführten Erfordernisse, die bestätigende Kontrolle durch messende Beobachtung, allerdings nie erfüllt werden können, weil sich die innern Wechselwirkungen einer eigentlichen Messung entziehen. In dieser Beziehung würde also der Theorie immer der Schlußstein zu ihrem Gebäude fehlen. Statt dessen müßte sie sich mit der allgemeinen Nachweisung begnügen, daß die inneren Vorgänge, so weit sie ohne Messung zu kontrollieren sind, im allgemeinen mit den gewonnenen Resultaten im Einklange stehen. Selbst in diesem beschränkteren Sinne wird aber einer mathematischen Behandlung der Boden entzogen, so lange die Gesetze der psychophysischen Wechselwirkungen, trotz der psychologischen Bedeutung, die ihnen zukommt, auf das Gebiet der reinen Selbstbeobachtung nicht zu übertragen sind. In diesem Fall bleibt nur die Tatsache, daß das innere Geschehen so zu sagen einen mathematischen Charakter an sich trägt, insofern Alles was in uns vorgeht dem Begriff der Größe sich unterordnet. Immerhin wird aber auch dann die innere Erfahrung im Geiste mathematischer Betrachtung untersucht werden können, wenngleich zur wirklichen Rechnung nirgends zureichende Anhaltspunkte geboten sind. Dies ist in der Tat der Standpunkt, welchen auch die Experimentalpsychologie im allgemeinen einhalten muß, sobald sie auf diejenigen Gebiete der innern Erfahrung übergeht, in denen für den messenden Versuch kein Raum mehr ist.

1) Kant, metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Sämtliche Werke, Ausg. von Roseskranz,  Bd. 5, S. 310.
2) Herbart , Psychologie als Wissenschaft neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. Ges. Werke, herausgeg. von HARTENSTEIN, Bd. S n. 6.
3) Vergl. den zweiten Abschnitt.

2. Psychologische Vorbegriffe.

Der menschliche Geist vermag es nicht Erfahrungen zu sammeln, ohne sie gleichzeitig mit seiner Spekulation zu verweben. Das erste Resultat solchen natürlichen Nachdenkens ist das Begriffssystem der Sprache. In allen Gebieten menschlicher Erfahrung gibt es daher gewisse Begriffe, welche die Wissenschaft, ehe sie an ihr Geschäft geht, bereits vorfindet, als Ergebnisse jener ursprünglichen Reflexion, die in den Begriffssymbolen der Sprache ihre bleibenden Niederschläge zurückließ. So sind Wärme und Licht Begriffe aus dem Gebiete der äußern Erfahrung, welche unmittelbar aus der sinnlichen Empfindung hervorgingen. Die heutige Physik ordnet beide dem allgemeinen Begriff der Bewegung unter. Aber es wäre nicht möglich gewesen dieses Ziel zu erreichen, ohne daß man die Begriffe des gemeinen Bewußtseins vorläufig angenommen und mit ihrer Untersuchung begonnen hätte. Nicht anders sind Seele, Geist, Vernunft, Verstand etc. Begriffe, welche vor jeder wissenschaftlichen Psychologie existierten. In der Tatsache, daß das natürliche Bewußtsein überall die innere Erfahrung als eine gesonderte Erkenntnisquelle darstellt, kann daher die Psychologie einstweilen ein hinreichendes Zeugnis ihrer Berechtigung als Wissenschaft erblicken, und indem sie dies tut, adoptiert sie zugleich den Begriff Seele, um eben damit das ganze Gebiet der innern Erfahrung zu umgrenzen. Seele heißt uns demnach das Subjekt, dem wir alle einzelnen Tatsachen der innern Beobachtung als Prädikate beilegen. Jenes Subjekt selbst ist überhaupt nur durch seine Prädikate bestimmt, die Beziehung der letzteren auf eine gemeinsame Grundlage soll nichts weiter als ihren gegenseitigen Zusammenhang ausdrücken. Hiermit scheiden wir sogleich eine Bedeutung aus, die das natürliche Sprachbewußtsein immer mit dem Begriff Seele verbindet. Ihm ist die Seele nicht bloß ein Subjekt im logischen Sinne sondern eine Substanz, ein reales Wesen, als dessen Äußerungen oder Handlungen die sogenannten Seelentätigkeiten aufgefaßt werden. Hierin liegt aber eine metaphysische Annahme, zu welcher die Psychologie möglicher Weise am Schlusse ihrer Arbeit geführt werden kann, welche sie jedoch unmöglich schon vor dem Eintritt in dieselbe ungeprüft adoptieren darf. Auch gilt von dieser Annahme nicht, was von der Unterscheidung der innern Erfahrung überhaupt gesagt wurde, daß sie nämlich notwendig sei, um die Untersuchung in Fluß zu bringen. Die Symbole, welche die Sprache zur Bezeichnung gewisser Gruppen von Erfahrungen geschaffen hat, tragen noch heute die Kennzeichen an sich, daß sie ursprünglich nicht bloß im allgemeinen abgesonderte Wesen, Substanzen, sondern daß sie selbst persönli-che Wesen bedeutet haben. Die unvertilgbarste Spur solcher Personifikation der Substanzen ist in dem Genus zurückgeblieben. Der Verstand hat diese phantasievolle Beziehung der Begriffssymbole allmälig abgeschliffen. Teils hat die Personifikation der Substanzen, teils sogar die Substantialisierung der Begriffe ein Ende genommen. Aber wer wollte deshalb auf den Gebrauch der Begriffe selber und auf ihre Bezeichnung Verzicht leisten? Wir reden von Ehre, Tugend, Vernunft, ohne irgend einen dieser Begriffe in eine Substanz übersetzt zu denken. Aus metaphysischen Substanzen sind sie zu logischen Subjekten geworden. So betrachten wir denn auch die Seele vorläufig lediglich als logisches Subjekt der innern Erfahrung, eine Auffassung, die das unmittelbare Resultat der von der Sprache geübten Begriffbildung ist, gereinigt jedoch von jenen Zusätzen einer unreifen Metaphysik, welche überall das natürliche Bewußtsein in die von ihm geschaffenen Begriffe hineinträgt.
    Ein ähnliches Verfahren wird in Bezug auf diejenigen Begriffe verfolgt werden müssen, die wir teils für besondere Beziehungen der innern Erfahrung, teils für einzelne Gebiete derselben vorfinden. So stellt die Sprache zunächst der Seele den Geist gegenüber. Beide sind Wechselbegriffe für eins und dasselbe, denen im Gebiet der äußern Erfahrung Leib und Körper entsprechen. Körper ist jeder Gegenstand der äußern Erfahrung, wie er sich unmittelbar unsern Sinnen darbietet, ohne Beziehung auf ein demselben zukommendes inneres Sein; Leib ist der Körper, wenn er mit eben dieser Beziehung gedacht wird. Ähnlich heißt Geist das innere Sein, wenn dabei keinerlei Zusammenhang mit einem äußeren Sein in Rücksicht fällt, wogegen bei der Seele, namentlich wenn sie dem Geiste gegenübergestellt wird, gerade die Verbindung mit einer leiblichen, der äußern Erfahrung gegebenen Existenz vorausgesetzt ist.
    Während Seele und Geist das Ganze der innern Erfahrung umfassen, wobei nur die Beziehung, in der diese genommen wird, eine verschiedene ist, werden durch die sogenannten Seelenvermögen vielmehr die einzelnen Gebiete derselben bezeichnet, wie sie in der Selbstbeobachtung unmittelbar von einander sich abgrenzen. In den Begriffen Sinnlichkeit, Gefühl, Verstand, Vernunft u. s. w. trägt uns also die Sprache eine Klassifikation der unserer Selbstbeobachtung gegebenen Vorgänge entgegen, die wir, an diese Ausdrücke gebunden, im Ganzen kaum antasten können. Wohl aber ist die genaue Definition dieser Begriffe und ihre Einfügung in eine systematische Ordnung durchaus Sache der Wissenschaft. Wahrscheinlich haben die Seelenvermögen ursprünglich nicht bloß verschiedene Teile des innern Erfahrungsgebietes, sondern ebenso viele verschiedene Wesen bezeichnet, über deren Verhältnis zu jenem Gesamtwesen, das man Seele oder Geist benannte, sich wohl keine bestimmte Vorstellung bildete. Aber die Substantialisierung dieser Begriffe liegt so weit zurück in den Fernen mythologischer Naturanschauung, daß es einer Warnung vor der voreiligen Aufstellung metaphysischer Substanzen hier nicht erst bedarf. Trotzdem hat eine Nachwirkung der mythologischen Auffassung bis in die neuere Wissenschaft sich vererbt. Sie besteht darin, daß den genannten Begriffen noch eine Spur des mythologischen Kraftbegriffs anhaftet: sie werden nicht bloß als Klassenbezeichnungen für bestimmte Gebiete der innern Erfahrung angesehen, was sie in der Tat sind, sondern man hält sie vielfach für Kräfte, durch welche die einzelnen Erscheinungen hervorgebracht werden. Der Verstand gilt für die Kraft, durch welche wir Wahrheiten einsehen, das Gedächtnis für die Kraft, welche Vorstellungen zu künftigem Gebrauche aufbewahrt u. s. w. Der unregelmäßige Eintritt dieser Kräftewirkungen hat aber auf der andern Seite gegen den Namen einer eigentlichen Kraft Bedenken erregt, und so ist der Ausdruck Seelenvermögen entstanden. Denn unter einem Vermögen versteht man dem Wortsinne nach eine solche Kraft, die nicht notwendig und unabänderlich wirken muß, sondern die nur wirken kann. Der Ursprung aus dem mythologischen Kraftbegriff fällt hier unmittelbar in die Augen. Das Urbild für das Wirken einer derartigen Kraft ist offenbar das menschliche Handeln. Die ursprüngliche Bedeutung des Vermögens ist die eines handelnden Wesens. So liegt schon in der ersten Bildung der psychologischen Begriffe der Keim zu jener Vermengung von Klassifikation und Erklärung, welche einen gewöhnlichen Fehler der empirischen Psychologie bildet. Die allgemeine Bemerkung, daß die Seelenvermögen Klassenbegriffe sind, welche der beschreibenden Psychologie zugehören, enthebt uns der Notwendigkeit ihnen schon hier ihre Bedeutung anzuweisen. In der Tat ließe sich eine Naturlehre der innern Erfahrung denken, in der von Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft, Gedächtnis u. s. w. gar nicht die Rede wäre. Denn unmittelbar in unserer Selbstbeobachtung gibt es nur einzelne Vorstellungen, Gefühle und Triebe. Erst nachdem diese Elementarphänomene der innern Erfahrung zergliedert sind, wird daher auch die wahre Bedeutung jener Klassenbegriffe sich feststellen lassen.

    Der obigen Betrachtung mögen hier noch einige kritische Bemerkungen über die Wechselbegriffe Seele und Geist, sowie über die Lehre von den Seelenvermögen sich anschließen.
    a. Seele und Geist. Von der Seele trennt unsere Sprache den Geist als einen zweiten Substanzbegriff, dessen unterscheidendes Merkmal darin gesehen wird, daß er nicht, wie die Seele, durch die Sinne notwendig an ein leibliches Dasein gebunden erscheint, sondern entweder mit einem solchen in bloß äußerer Verbindung steht oder sogar völlig von demselben befreit ist. Der Begriff des Geistes wird daher in einer doppelten Bedeutung gebraucht: einmal für die Grundlage derjenigen inneren Erfahrungen, von welchen man annimmt, daß sie von der Tätigkeit der Sinne unabhängig seien; sodann um solche Wesen zu bezeichnen, denen überhaupt gar kein leibliches Sein zukommen soll. Die Psychologie hat sich natürlich mit dem Begriff nur in seiner ersten Bedeutung zu beschäftigen, übrigens ist unmittelbar einleuchtend, daß diese zur zweiten fast von selbst führen muß, da nicht einzusehen ist, warum der Geist nicht auch als völlig ungetrennte Substanz vorkommen sollte, wenn seine Verbindung mit dem Leibe nur eine äußerliche, gewissermaßen zufällige ist.
    Das philosophische Nachdenken konnte das Verhältnis von Seele und Geist nicht in der Unbestimmtheit belassen, mit welcher sich das gemeine Bewußtsein zufrieden gab. Sind Seele und Geist verschiedene Wesen, ist die Seele ein Teil des Geistes oder dieser ein Teil der Seele? Der älteren Spekulation merkt man deutlich die Verlegenheit an, welche sie dieser Frage gegenüber empfindet. Einerseits wird sie durch den Zusammenhang der inneren Erfahrungen dazu getrieben, eine einzige Substanz als Grund derselben zu setzen, anderseits scheint ihr aber auch eine Trennung der in der sinnlichen Vorstellung befangenen und der abstrakteren geistigen Tätigkeit unerläßlich zu sein. So bleibt neben dem großen Dualismus zwischen Geist und Körper der beschränktere zwischen Geist und Seele bestehen, ohne daß es der alten Philosophie gelungen wäre, denselben vollständig zu beseitigen, ob sie nun mit plato die Substantialität der Seele aufzuheben versucht, indem sie die Seele als eine Mischung von Geist und Körper auffaßt 4), oder ob sie mit aristoteles durch Übertragung des von der Seele abstrahierten Begriffes auf den Geist an Stelle der Einheit der Substanz eine übereinstimmende Form der Definition setzt 5). Die neuere spiritualistische Philosophie ist im allgemeinen mehr den Spuren PLATOS gefolgt, hat aber entschiedener als er die Einheit der Substanz für Geist und Seele festgehalten. So kam es, daß überhaupt die scharfe Unterscheidung der Begriffe aus der wissenschaftlichen Sprache verschwand. Wenn je noch ein Unterschied gemacht wurde, so nahm man entweder mit WOLFF den Geist als den allgemeinen Begriff, unter dem die individuelle Seele enthalten sei 6), oder man confundirte den Geist mit den unten zu erwähnenden Seelenvermögen, indem man ihn als eine Generalbezeichnung bald für die so genannten höheren Seelenvermögen, bald für das Erkenntnisvermögen beibehielt; im letzteren Fall wurde dann das Fühlen und Begehren im Gemüt zusammengefaßt und demnach die ganze Seele in Geist und Gemüt gesondert, ohne daß man jedoch unter beiden besondere Substanzen verstanden hätte. Bisweilen wurde auch wohl zwischen den Begriffen Geist und Seele ein bloßer Gradunterschied angenommen und so dem Menschen ein Geist, den Tieren aber nur eine Seele zugesprochen. So verliert diese Unterscheidung immer mehr an Bestimmtheit, während zugleich der Begriff des Geistes seine substantielle Eigenschaft einbüßt. Wollen wir demselben hiernach eine Bedeutung anweisen, welche der weiteren Untersuchung nicht vorgreift, so läßt sich dieselbe nur dahin feststellen, daß der Geist gleichfalls das Subjekt der innern Erfahrung bezeichnet, daß aber in ihm abstrahiert ist von den Beziehungen dieses Subjektes zu einem leiblichen Wesen. Die Seele ist das Subjekt der innern Erfahrung mit den Bedingungen, welche dieselbe durch ihre erfahrungsmäßige Gebundenheit an ein äußeres Dasein mit sich führt; der Geist ist das nämliche Subjekt ohne Rücksicht auf diese Gebundenheit. Hiernach werden wir immer nur dann vom Geist und von geistigen Erscheinungen reden, wenn wir auf diejenigen Momente der innern Erfahrung, durch welche dieselbe von unserer sinnlichen, d. h. der äußern Erfahrung zugänglichen Existenz abhängig ist, kein Gewicht legen. Diese Definition läßt es vollkommen dahingestellt, ob dem Geistigen jene Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit wirklich zukommt. Denn man kann von einer oder mehreren Seiten einer Erscheinung absehen, ohne darum zu leugnen, daß diese Seiten vorhanden sind.

4) Timaeos 35.
5) Die Aristotelische Definition der Seele im allgemeinen als »erste Entelechie eines der Möglichkeit nach lebenden Körpers« gilt nämlich auch für den von der Sinnlichkeit unabhängigen Geist, den nouz poihticoz , der aber, weil er die Wirklichkeit der Seele selbst sei, abtrennbar von dem Körper gedacht werden könne, was bei den übrigen Teilen der Seele nicht der Fall ist. De anim. II, 1 am Schlusse.

6) Psychologia rationalis, § 643 u. f.

    b. Die Seelenvermögen. Es ist längst das Bestreben der Philosophen gewesen, die vielen Seelenvermögen, welche die Sprache unterscheidet, wie Empfindung, Gefühl, Verstand, Vernunft, Begierde, Einbildungskraft, Gedächtnis u. s. w., auf einige allgemeinere Formen zurückzuführen. Schon im Platonischen Timäos findet sich eine Dreiteilung der Seele angedeutet, die der Unterscheidung des Erkenntnis-, Gefühls- und Begehrungsvermögens entspricht. Dieser Dreiteilung geht aber eine Zweiteilung in niederes und höheres Seelenvermögen parallel, wovon das erstere, die Sinnlichkeit, als der sterbliche Seelenteil zugleich Begierde und Gefühl umfaßt, während das zweite, die unsterbliche Vernunft, mit der Erkenntnis sich deckt. Das Gefühl oder der Affekt gilt hierbei ebenso als vermittelnde Stufe zwischen Begehren und Vernunft, wie die wahre Vorstellung zwischen den sinnlichen Schein- und die Erkenntnis sich einschiebt. Aber während die Empfindung ausdrücklich mit der Begierde auf den nämlichen Teil der Seele bezogen wird7), scheinen das vermittelnde Denken (die dianoia ) und der Affekt nur in analoge Beziehungen zur Vernunft gesetzt zu werden. Es machen demnach diese Klassifikationsversuche den Eindruck, als wenn plato seine beiden Einteilungsprinzipien, von denen dem einen die Beobachtung eines fundamentalen Unterschieds zwischen den Phänomenen des Erkennens, Fühlens und Begehrens, dem andern die Wahrnehmung einer Stufenfolge im Erkenntnisprozeß zu Grunde lag, unabhängig neben einander gebildet und erst nachträglich den Versuch gemacht habe, das eine auf das andere zurückzuführen, was ihm aber nur unvollständig gelang. Bei aristoteles sondert sich die Seele, da er sie als das Prinzip des Lebens auffaßt, nach der Stufenfolge der vornehmlichsten Lebenserscheinungen in Ernährung, Empfindung und Denkkraft. Zwar führt er gelegentlich noch andere Seelenvermögen an; doch ist deutlich, daß er jene drei als die allgemeinsten betrachtet, indem er insbesondere auch das Begehren der Empfindung unterordnet8). Hatte Plato bei seiner Dreiteilung die Eigenschaften der Seele nach ihrem ethischen Wert gemessen, so gewann aristoteles die seinige, conform seinem Begriff von der Seele, aus den Hauptklassen der lebenden Wesen: ernährend ist die Seele der Pflanze, ernährend und empfindend die tierische, ernährend, empfindend und denkend die menschliche. Eben diese in der Beobachtung der verschiedenartigen Wesen gegebene Trennbarkeit der drei Vermögen war wohl die ursprüngliche Veranlassung der Klassifikation. Mag aber auch der Ausgangspunkt derselben ein abweichender sein, so fällt sie doch offenbar, sobald wir von der Unterscheidung der Ernährung als einer besonderen Seelenkraft absehen, mit der Platonischen Zweiteilung in Sinnlichkeit und Vernunft zusammen und kann also ebenso wenig wie irgend einer der späteren Versuche als ein wirklich neues System betrachtet werden.

7) Timaeos 77.
8) De anima II, 2, 3.

Unter den Neueren hat der vorzüglichste psychologische Systematiker, WOLFF, wieder die beiden Platonischen Einteilungen neben einander benutzt, dabei aber das Gefühls- dem Begehrungsvermögen untergeordnet. Hierdurch schreitet sein ganzes System in einer Zweiteilung fort. Er sondert zunächst Erkennen und Begehren und trennt sodann jedes derselben in einen niederen und einen höheren Teil. Die weitere Einteilung erhellt aus der folgenden Übersichtstafel.

l. Erkenntnisvermögen.                                  II. Begehrungsvermögen.
1. Niederes Erkenntnisvermögen.                             1. Niederes Begehrungsvermögen.
Sinn. Einbildungskraft. Dichtungsvermögen.                 Lust und Unlust. Sinnliche Begierde
Gedächtnis (Vergessen und Erinnern).                         und sinnlicher Abcheu. Affekte.
2. Höheres Erkenntnisvermögen.                             2. Höheres Begehrungsvermögen.
Aufmerksamkeit und Reflexion. Verstand 9).                 Wollen und Nichtwollen. Freiheit.

9) Begriff, Urteil und Schluß bezeichnet Wolff als die drei Operationen des Verstandes, führt also keines derselben auf ein besonderes Vermögen zurück, die Vernunft handelt er, neben dem Ingenium, der Kunst des Erfindens, Beobachtens etc. unter den natürlichen Dispositionen des Verstandes ab. Psychologia empirica. Edit. nov. Francof. et Lipsiae 1738.

Ein wesentlicher Fortschritt dieses Systems lag darin, daß es das Gefühls- und Begehrungsvermögen nicht auf den Affekt und das sinnliche Begehren beschränkte, sondern ihm denselben Umfang wie der Erkenntnis gab, so daß von einem ethischen Wertunterschied nicht mehr die Rede war. Dagegen ist ersichtlich, daß bei der Unterscheidung der in den vier Hauptklassen aufgeführten einzelnen Vermögen kein systematisches Prinzip maßgebend ist, sondern daß dieselben rein empirisch an einander gereiht sind. In der WOLFF'schen Schule wurde diese Einteilung manchfach modifiziert. Namentlich wurden bald Erkenntnis und Gefühl als die beiden Hauptvermögen bezeichnet, bald wurde das Fühlen dem Erkennen und Begehren als drittes und mittleres hinzugefügt. Die letztere Klassifikation ist es, die kant adoptiert hat. wolff wird schon in der empirischen Seelenlehre von dem Bestreben geleitet, die verschiedenen Vermögen aus einer einzigen Grundkraft, der vorstellenden Kraft, abzuleiten, und seine rationale Psychologie ist zu einem großen Teil jener Aufgabe gewidmet. Seine Schüler sind hierin zum Teil noch weiter gegangen. kant mißbilligte solche Versuche gegebene Unterschiede um eines bloßen Strebens nach Einheit willen verwischen zu wollen. Dennoch ragt auch bei ihm die Erkenntnis über die beiden andern Seelenkräfte herüber, da jeder derselben ein besonderes Vermögen in der Sphäre des Erkennens entspricht. In dieser Beziehung der drei Grundvermögen auf die Formen der Erkenntniskraft besteht das Eigentümliche der KANT'schen Psychologie. Während wolff und die Späteren, welche die Quellen der innern Erfahrung auf eine einzige zurückzuführen suchten, diese in der Erkenntnis oder in ihrem Hauptphänomen, der Vorstellung, zu finden glaubten, behauptete kant die ursprüngliche Verschiedenartigkeit des Erkennens, Fühlens und Begehrens. Über diese drei Grundkräfte erstreckt sich nur insofern das Erkenntnisvermögen, als es gesetzgeberisch auch für die beiden andern auftritt; denn es erzeugt sowohl die Naturbegriffe wie den Freiheitsbegriff, der den Grund zu den praktischen Vorschriften des Willens enthält, außerdem die zwischen beiden stehenden Zweckmäßigkeits- und Geschmacksurteile. Demnach sagt kant von dem Verstand im engeren Sinne, er sei gesetzgeberisch für das Erkenntnisvermögen, die Vernunft für das Begehrungsvermögen, die Urteilskraft für das Gefühl10). Verstand, Urteilskraft und Vernunft werden dann aber auch zusammen als Verstand im weiteren Sinne bezeichnet.11). Anderseits adoptiert kant zwar die Unterscheidung eines unteren und oberen Erkenntnisvermögens, von denen das erstere die Sinnlichkeit, das zweite den Verstand umfaßt: aber er verwirft die Annahme eines bloßen Gradunterschiedes beider. Die Sinnlichkeit ist ihm vielmehr die rezeptive, der Verstand die aktive Seite der Erkenntnis12). In seinem kritischen Hauptwerk ist daher die Sinnlichkeit geradezu dem Verstande gegenübergestellt: dieser für sich vermittelt die reinen, in Verbindung mit der Sinnlichkeit die empirischen Begriffe13).

10) Kritik der Urteilskraft S. 14 u. f. Werke von Rosenkranz Bd. 4.
11) Anthropologie S. 100 u. 104. Werke, Bd. 7, Abth. 2.
12) Anthropologie S. 28.
13) Kritik der reinen Vernunft S. 31, 55.

In dieser ganzen Entwicklung sind offenbar hauptsächlich drei Momente aus einander zu halten: erstens die Unterscheidung der drei Seelenvermögen, zweitens die Dreigliederung des oberen Erkenntnisvermögens und drittens die Beziehung, in welche die letztere zu den drei Hauptvermögen gebracht wird. Das erste stammt im wesentlichen aus der WOLFF-schen Psychologie, die beiden andern sind KANT eigentümlich. Die frühere Philosophie hatte im allgemeinen als Vernunft (logoz ) jene Tätigkeit des Geistes bezeichnet, welche durch Schließen (ratiocinatio) über die Gründe der Dinge Rechenschaft gibt. Dabei wurde aber bald im Sinne des Neuplatonismus die Vernunft dem Verstande (nouz, intellectus) untergeordnet, da dieser ein unmittelbares Wissen enthalte, während die Tätigkeit des Schließens eine Vermittelung mit der Sinnenwelt bedeute, bald wurde sie, da sie die Einsicht in die letzten Gründe der Dinge bewirke, dem Verstande übergeordnet, bald endlich als eine besondere Form der Betätigung des Verstandes betrachtet. Für alle drei Auffassungen finden sich Beispiele in der scholastischen Philosophie. Diese verschiedene Wertschätzung der Vernunft hat augenscheinlich darin ihre Ursache, daß man das Wort ratio in doppeltem Sinne gebraucht: einmal für den Begriff des Grundes zu einer gegebenen Folge einzelner Wahrheiten, und sodann für die Fähigkeit der ratiocinatio, des Folgerns der Einzelwahrheiten aus ihren Gründen. Obgleich nun die ratio ursprünglich wohl nur in der letztgenannten Bedeutung, als Schlußvermögen, zu den Seelenvermögen gerechnet wurde, so hat man doch später auch die ratio im ersteren Sinne, den Grund, in ein solches übersetzt und sie demnach als ein Vermögen der Einsicht in die Gründe der Dinge bestimmt. Wurde vorwiegend auf die letztere Bedeutung Wert gelegt, so erschien dann die Vernunft geradezu als Organ der religiösen und moralischen Wahrheiten, die, weil sie aus den Verstandesbegriffen nicht zu deduzieren seien, auf eine höhere Erkenntnisquelle hinweisen sollen, als welche man nun naturgemäß jenes Seelenvermögen betrachtete, das sich auf die Gründe der Dinge beziehe. So wurde die Vernunft zu einem metaphysischen Vermögen im Unterschied vom Verstande, dessen Begriffe immer auf die Erfahrungen des äußern oder innern Sinnes beschränkt bleiben. Eine Vermittelung zwischen beiden Formen des Begriffs konnte man darin finden, daß sich die allgemeinen Vernunftwahrheiten als die letzten Vordersätze betrachten ließen, von welchen die Vernunftschlüsse ausgehen, wie LEIBNIZ an dem Beispiel der mathematischen Demonstrationen erläuterte14). In diesem doppeldeutigen Sinne wurde dann die Vernunft von den Psychologen als das Vermögen definiert, durch welches wir den Zusammenhang der allgemeinen Wahrheiten einsehen15). Kant ging zunächst von der ersten jener Auffassungen aus, welche den Verstand als das Vermögen der Begriffe, die Vernunft als das Schlußvermögen betrachtet. Es mochte ihm um so näher liegen, den hierin angebahnten Versuch einer Gliederung des oberen Erkenntnisvermögens nach Anleitung der Logik vollends durchzuführen, als ihm Ähnliches bereits in der Ableitung der Kategorien geglückt war. Da zwischen Begriff und Schluß das Urteil steht, so nahm er also zwischen Verstand und Vernunft als mittleres Vermögen die Urteilskraft an. Nun hatte aber KANT in seinem kritischen Hauptwerk die beiden Seiten des Vernunftbegriffes in eine tiefere Beziehung zu bringen gesucht, indem er darauf hinwies, daß die Vernunft, wie sie in dem Schlusse ein Urteil unter seine allgemeine Regel subsumiere, so auch diese Regel wieder unter eine höhere Bedingung unterordnen müsse, bis sie endlich bei dem Unbedingten angelangt sei. Die Idee des Unbedingten in ihren verschiedenen Formen blieb somit als Eigentum der Vernunft übrig, während alle Begriffe und Grundsätze a priori, aus welchen die Vernunft als Schlußvermögen einzelne Urteile ableitet, und welche die frühere Philosophie zum Teil ebenfalls der reinen Vernunfterkenntnis zugerechnet hatte, ausschließliches Eigentum des Verstandes wurden. So geriet die Vernunft bei KANT in eine eigentümliche Doppelstellung: als Schlußvermögen war sie gewissermaßen die Dienerin des Verstandes, welche die von letzterem aufgestellten Begriffe und Grundsätze anzuwenden hatte; als Vermögen der Ideen war sie dagegen, als durchaus auf transzendente Grundsätze gerichtet, weit über dem Verstande erhaben, der, nur dem empirischen Zusammenhang der Erscheinungen zugekehrt, der Vernunftidee höchstens als einem regulativen Prinzip folgen soll, welches ihm die Richtung nach einer Zusammenfassung der Erscheinungen in ein absolutes Ganzes vorschreibe, von welcher der Verstand selbst keinen Begriff besitze. Was aber hier die Vernunft als Erzeugerin der Ideen des Unbedingten an Erhabenheit gewann, das verlor sie durch ihre gänzliche Unfruchtbarkeit für die Erkenntnis. Selbst das regulative Prinzip, das sie angeblich dem Verstande an die Hand gibt, ist in Wirklichkeit nicht in ihren Ideen, sondern schon in ihrer Tätigkeit als Schlußvermögen enthalten, welches zu jedem Urteil die Aufsuchung der Prämissen fordert. Weiter reicht aber die Betätigung der Vernunft als regulatives Prinzip des Verstandes nirgends. Sobald sie eine Seelensubstanz oder eine höchste Endursache u. dgl. annimmt, wird sie konstitutiv, mag auch eine solche Annahme nur als Hypothese zur Verknüpfung der Erscheinungen eingeführt und die Absicht, damit einen wirklichen Erkenntnisbegriff bezeichnen zu wollen, noch so sehr zurückgewiesen werden. Entzieht man nun den Vernunftideen diese letzte erkenntnistheoretische Bedeutung, so bleibt gar nichts übrig als die Tatsache der Existenz jener Ideen, der jedoch sogleich die Warnung mitgegeben wird, daß man sich hüten müsse, hieraus auf die Existenz ihrer Urbilder zu schließen oder überhaupt irgend einen theoretischen Gebrauch von ihnen zu machen. Bekanntlich hat aber KANT die konstitutive Bedeutung, welche die Vernunftideen auf theoretischem Gebiete nicht besitzen, ihnen für den praktischen Gebrauch vorbehalten. In diesem machen sich nach seiner Ansicht Grundsätze a priori geltend, welche durch die imperative Form, in der sie Gehorsam fordern, ihre eigene Wahrheit sowie die Wahrheit der Idee, aus welcher sie entspringen, der Freiheit des Willens, beweisen und eben damit auch wenigstens die Möglichkeit der andern Vernunftideen dartun sollen16). Wie der Verstand für die Erkenntnis, so ist demnach die Vernunft gesetzgebend für das Begehrungsvermögen. Man sieht leicht, daß hier von der Vernunft nur in ihrer zweiten Bedeutung als dem Vermögen der Ideen die Rede sein kann. Die praktische Verwirklichung der Freiheitsidee in dem Sittengebot entscheidet den in den Antinomien der reinen Vernunft geführten Streit zwischen Freiheit und Notwendigkeit zu Gunsten der ersteren17). Betrachtet man jedoch den Antinomienstreit bloß theoretisch, und erwägt man, daß derselbe in der Vernunft als dem Schlußvermögen seinen Grund hat, welches zu jeder Folge eine Bedingung zu finden fordert, so kann nicht zweifelhaft sein, daß im rein theoretischen Betracht die Antithese Recht behält, welche nirgends bei einem Anfang der Reihe der Bedingungen anzuhalten gestattet und demnach jene Idee des Unbedingten als eine bloße Fiktion erscheinen läßt, welche die Vernunft sich erlaubt, um die Totalität der Bedingungen auszudrücken, ohne deshalb aber zu gestatten, daß in dem Aufsteigen von Bedingung zu Bedingung jemals ein Halt gemacht werde. In der Tat gibt auch kant selbst, obgleich er anscheinend den Streit unentschieden läßt, nachträglich der Antithese Recht, indem er die Vereinigung des Sittengesetzes und des Naturgesetzes nur dadurch für möglich erklärt, daß das erstere für den Menschen an sich selbst, das letztere aber für ihn als Erscheinung Gültigkeit besitze18), wobei freilich die Frage schwierig bleibt, wie der Mensch als Noumenon doch auch wieder zum Phänomenon werden könne, da ja die Idee der Freiheit in ihrer praktischen Betätigung als Kausalität in der Reihe der Erscheinungen auftritt. Im Geiste der KANTischen Kritik kann man diesen Widerspruch wohl darin gelöst finden, daß der Mensch als Erscheinung und als Wesen an sich selbst zwei verschiedene Maximen der Beurteilung nötig macht, insofern eine und dieselbe Handlung als Erscheinung in der Kette der Naturbedingungen betrachtet am Maßstab der Kausalität, als Ausfluß der eigensten Natur des Menschen aber am Maßstab der Freiheit gemessen werden soll. Immerhin wird auch so die Schwierigkeit nicht gehoben, weil das Sittengesetz, obgleich es nur von praktischer Anwendung sein sollte, doch unversehens dann benutzt wird, um aus ihm theoretische Erkenntnis zu ziehen, wie aus der Behauptung hervorgeht, der von praktischen Ideen bestimmte Mensch sei der Mensch an sich selbst, wornach die praktische Idee gerade eine solche Erkenntnis vermittelt, zu welcher die spekulative Vernunft immer vergebliche Anstrengungen macht, nämlich die Erkenntnis des Dinges an sich.

14) Opera philos. ed. ERDMANN, p. 393.
15) Wolff, psychologia empirica, §. 483.
16) Kritik der prakt. Vernunft S. 106. Werke Bd. 8.
17) Kritik der reinen Vernunft, S. 353.
18) Kritik der prakt. Vernunft, S. 109.

Somit ist Kant zu der ihm eigentümlichen Anwendung der drei Teile des oberen Erkenntnisvermögens auf die drei Hauptvermögen der Seele zunächst durch die Beziehung geführt werden, in welche sich ihm die Vernunft zum Begehrungsvermögen setzte. Da nun der Verstand ohnehin schon in der früheren Psychologie mit dem Erkenntnisvermögen selbst sich deckte, so blieb für das zwischen Erkennen und Begehren stehende Gefühl nur die in ähnlicher Weise zwischen dem Begriffs- und Schlußvermögen stehende Urteilskraft übrig. Daß bei der Beziehung der letzteren auf das Gefühl in erster Linie diese Analogie maßgebend gewesen ist, geht aus allen Begründungen hervor, die KANT seinem Gedanken gegeben hat19). Nimmt man nun hinzu, daß anderseits die Vernunft als Schlußvermögen, als welches sie doch in jene Dreigliederung des oberen Erkenntnisvermögens eingeht, in gar kein Verhältnis zu dem Begehren gesetzt werden kann, sondern daß dieses erst aus der praktischen Bedeutung einer der transzendenten Vernunftideen hervorgeht, so erhellt ohne weiteres, wie die ganze Beziehung der drei Grundkräfte der Seele auf die drei wesentlichen in der formalen Logik zum Ausdruck kommenden Betätigungen der Erkenntniskraft durchaus nur das Produkt jenes künstlichen Schematisierens nach Anleitung logischer Formen ist, durch welches auch das Licht der Vernunftkritik nicht selten getrübt wird. Der Schematismus hat aber im vorliegenden Falle auch auf die Auffassung der Seelenvermögen seine Rückwirkung geübt, indem kant seine drei Hauptvermögen überhaupt nur in ihren höheren Äußerungen berücksichtigt. Wenn es schon zweifelhaft ist, ob das erste Vermögen in der Gesamtheit seiner Erscheinungen passend unter dem Namen der Erkenntnis zusammengefaßt werde, so leidet es gar keinen Zweifel, daß die Beschränkung des Lust- und Unlustgefühls auf das ästhetische Geschmacksurteil und die Beziehung des Begehrungsvermögens auf das Ideal des Guten nicht geeignet sind, einer rein psychologischen Betrachtung zum Ausgangspunkte zu dienen. So bleibt als das eigentliche Resultat der psychologischen Untersuchungen Kant's die ihn von Wollf und seiner Schule unterscheidende Behauptung einer ursprünglichen Verschiedenheit des Erkennens, Fühlens und Begehrens. Seine Beziehung derselben auf die drei Stufen des Erkennens dagegen enthält, da sie selbst in ihrer Anwendung auf die höheren Gefühle und Strebungen auf einer zweifelhaften Grundlage ruht, für die Gesamtheit der psychischen Erscheinungen aber völlig unanwendbar ist, nur ein beachtenswertes Zeugnis der Tatsache, das auch die schärfste Spezifikation der Seelenerscheinungen wieder nach einem vereinigenden Prinzip sucht, und daß sich hierzu vorzugsweise das Erkennen zu empfehlen scheint.

19)Kritik der Urteilskraft, S. 15.

Gegen die Form, welche die Theorie der Seelenvermögen vorzugsweise bei Wolff und Kant angenommen, hat HERBART seine Kritik gerichtet. Der wesentliche Inhalt derselben läßt sich in die folgenden zwei Haupteinwände zusammenfassen: Die Seelenvermögen sind erstens bloße Möglichkeiten, welche dem Tatbestand der innern Erfahrung nichts hinzufügen. Nur die einzelnen Tatsachen der letzteren, die einzelne Vorstellung, das einzelne Gefühl u. s. w., kommen der Seele wirklich zu. Eine Sinnlichkeit vor der Empfindung, ein Gedächtnis vor dem Vorrat, den es aufbewahrt, gibt es nicht; jene Möglichkeitsbegriffe können daher auch nicht gebraucht werden, um die Tatsachen aus ihnen abzuleiten20). Die Seelenvermögen sind zweitens Gattungsbegriffe, welche durch vorläufige Abstraktion aus der innern Erfahrung gewonnen sind, dann aber zur Erklärung dessen verwandt werden was in uns vorgeht, indem man sie zu Grundkräften der Seele erhebt21). Beide Einwände erstrecken sich scheinbar über ihr nächstes Ziel hinaus, denn sie treffen Methoden wissenschaftlicher Erklärung, welche fast in allen Naturwissenschaften Anwendung gefunden haben. Auch die physikalischen Kräfte existieren nicht an und für sich, sondern nur in den Erscheinungen, die wir als ihre Wirkungen bezeichnen; vollends die physiologischen Vermögen, Ernährung, Contractilität, Sensibilität u. s. w., sind nichts als »leere Möglichkeiten«. Ebenso sind Schwere, Wärme, Assimilation, Reproduktion u. s. w. Gattungsbegriffe, abstrahiert aus einer gewissen Zahl übereinstimmender Erscheinungen, welche in ähnlicher Weise wie die Gattungsbegriffe der innern Erfahrung in Kräfte oder Vermögen umgewandelt worden sind, die nun zur Erklärung der Erscheinungen selber dienen sollen. Wenn wir Empfinden, Denken u. s. w. Äußerungen der Seele nennen, so scheint in der Tat der Satz, die Seele besitze das Vermögen zu empfinden, zu denken u. s. w., der unmittelbare Ausdruck einer Begriffbildung, die wir überall da vollziehen, wo ein Gegenstand Wirkungen zeigt, für welche wir in ihm selbst Ursachen voraussetzen müssen. Wider diese Anwendung des Kraftbegriffs im Allgemeinen hat nun auch HERBART nichts einzuwenden. Aber er unterscheidet von der Kraft das Vermögen. Kraft setze man überall voraus, wo man den Erfolg als unausbleiblich unter den gehörigen Bedingungen verstehe. Von einem Vermögen rede man dann, wenn ein Erfolg beliebig eintreten oder auch ausbleiben könne22).

20) HERBART, Werke, Bd. 7, S. 611.
21) HERBART, Werke, Bd. 5, S. 214.
22) Werke, Bd, 7. S. 610.

Gegen diese Unterscheidung hat man vielleicht mit Recht geltend gemacht, daß sie sich auf einen Begriff des Vermögens stützt, welcher der unwissenschaftlichsten Form der psychologischen Vermögenstheorie entnommen sei23). Dennoch muß zugegeben werden, daß jener Unterschied der Bezeichnung nicht bedeutungslos ist. Der Begriff der Kraft hat durch die Entwicklung der neuem Naturwissenschaft die Bedeutung eines Beziehungsbegriffs erhalten, der überall auf wechselseitig sich bestimmende Bedingungen zurückführt, und der in sich zusammenfällt, sobald man die eine Seite der Bedingungen hinwegnimmt, aus deren Zusammenwirken die Äußerung der Kraft hervorgeht. Ein richtig gebildeter Kraftbegriff ist es also z. B., wenn alles Streben zur Bewegung, das auf der Beziehung der Körper zu einander beruht, aus einer Gravitationskraft abgeleitet wird, durch welche die Körper wechselseitig ihre Lage im Raume bestimmen. Ein voreiliger Kraftbegriff aber ist es, wenn man die Fallerscheinungen auf eine jedem Körper an und für sich innewohnende Fallkraft zurückführt. Sobald man in dieser Weise die in einem gegebenen Objekt vorhandenen Bedingungen gewisser Erscheinungen in eine dem Objekt zukommende Kraft umwandelt, ohne sich auch nach den äußern Bedingungen umzusehen, so fehlt es offenbar an jedem Maßstabe, um zu entscheiden, ob eine Verschiedenheit der Wirkungen desselben Objekts von einer Verschiedenheit der in ihm vorhandenen oder aber der äußeren Bedingungen herrühre. Es kann daher bald Zusammengehöriges getrennt, bald Getrenntes vereinigt werden, indem man im ersten Fall eine Verschiedenheit der äußern Bedingungen auf eine Verschiedenheit im Gegenstande bezieht und im zweiten Fall statt einer wirklich im letztern vorhandenen Verschiedenheit eine Verschiedenheit der äußern Bedingungen annimmt. Es ist zu vermuten, daß der erste dieser Fehler häufiger sich einstellen werde, denn Niemand vermag es sich dauernd auf die Betrachtung einer Reihe von Bedingungen aus einer größeren Summe solcher zu beschränken, ohne daß er geneigt wird jene Reihe für die einzige anzusehen. In der Tat lehrt die wissenschaftliche Erfahrung, daß diejenigen Anwendungen des Kraftbegriffs, welche von der Einsicht in die äußern Bedingungen der Kraftäußerungen noch Umgang nehmen, in der Regel zu einer Vervielfältigung der Kräfte führen. So sind die Kräfte, welche die ältere Physiologie unterschied, Zeugungs-, Wachstums-, Bildungskraft u. s. w., häufig ohne Zweifel nur Äußerungen der nämlichen Kräfte unter verschiedenen Verhältnissen, und in Bezug auf die letzten Spezifikationen, zu welchen die Lehre von den Seelenvermögen geführt hat, z. B. die Unterscheidung von Wort-. Zahl-, Raumgedächtnis u. dgl., wird das nämliche wohl allgemein zugestanden. Ebenso erklärte, um ein historisch entlegeneres Beispiel zu wählen, die Physik, so lange sie die Bedingungen zu den Erscheinungen der Schwere in den schweren Körpern konzentriert dachte, die Schwereerscheinungen aus mehreren Kräften: den Fall aus einer Fallkraft, die Barometerleere aus dem »horror vacui«, die Planetenbewegungen aus unsichtbaren Armen der Sonne oder Cartesianischen Wirbeln. Indem von den äußeren Bedingungen der Erscheinungen abstrahiert wird, entsteht zugleich fast überall jener falsche Begriff eines Vermögens, das auf die Gelegenheit seines Wirkens wartet: die Kraft wird zu einem mythologischen Wesen verkörpert. Der Psychologie würde also Unrecht geschehen, wenn man bloß sie dieser Verirrung anklagte. Aber sie hat vor den physikalischen Naturwissenschaften das eine voraus, daß diese ihr vorgearbeitet haben, indem durch dieselben bestimmte Begriffe, die der äußern und innern Erfahrung gemeinsam angehören, von den Fehlern früherer Entwicklungsstufen des Denkens gereinigt sind. Dieser Vorteil schließt zugleich die Verpflichtung in sich von ihm Gebrauch zu machen. Sollte daher die Psychologie wirklich außer Stande sein den Begriff der Kraft in dem Sinne, wie er durch die Naturwissenschaften festgestellt ist, als Erklärungsprinzip zu benützen, so darf sie dieser schlimmen Lage nicht dadurch entgehen wollen, daß sie jenen Begriff in einer bereits überwundenen Bedeutung anwendet. Einem solchen Verfahren wäre der Verzicht auf jede Erklärung immer noch vorzuziehen. Aber wir werden uns überzeugen, daß auch im Gebiet des innern Geschehens der Begriff der Kraft sich in seiner wahren Bedeutung von selbst darbietet, sobald man die innern Vorgänge nicht sogleich als Äußerungen einer metaphysischen Substanz oder als Veränderungen einer solchen durch äußere Einwirkungen betrachtet, sondern sobald man sich entschließt die psychischen Elementarphänomene in ihrer unmittelbaren Wechselwirkung in's Auge zu fassen.

22) J. B. MEYER, Kant's Psychologie, S. 116.