§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.

    l. Wie die psychische Entwicklung des Kindes aus der Wechselwirkung mit seiner Umgebung hervorgeht, so steht auch noch das reife Bewußtsein in fortwährenden Beziehungen zu der geistigen Gemeinschaft, an der es empfangend und selbsttätig teilnimmt. Bei den meisten Tieren fehlt eine solche Gemeinschaft völlig; in den Tierehen, Tierstaaten und Tierschwärmen sind nur unvollkommene, auf einzelne Zwecke beschränkte Vorstufen derselben zu finden. Die dauernden unter ihnen, die Tierehen und die fälschlich so genannten Tierstaaten (§ 19, 4), haben die Bedeutung von Geschlechtsgemeinschaften, die vorübergehenderen, die Tierschwärme, wie z. B. die Schwärme der Wandervögel, die von Schutzgemeinschaften. In allen diesen Fällen sind es gewisse durch Vererbung bestimmte Instinkte, die den Zusammenhalt der Individuen bewirken; und dieser zeigt daher die nämliche, nur äußerst wenig durch individuelle Einflüsse abzuändernde Konstanz, die dem Instinkt überhaupt zukommt.

    Sind auf diese Weise die Vereinigungen der Tiere stets nur auf gewisse physische Lebenszwecke ausgehende Ergänzungen des individuellen Daseins, so ist dagegen die menschliche Entwicklung von Anfang an darauf gerichtet, daß sich das Individuum mit seiner geistigen Umgebung zu einem Ganzen verbindet, das ebensowohl der Befriedigung der physischen Lebensbedürfnisse wie der Verfolgung der verschiedenen geistigen Zwecke dient und in diesen Zwecken die mannigfaltigsten Veränderungen zuläßt. Infolgedessen sind die Formen menschlicher Gemeinschaft ungemein wechselnd, während zugleich die vollkommeneren Formen in eine Kontinuität geschichtlicher Entwicklung treten, die das geistige Zusammenleben der einzelnen über die Grenzen der unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Verbindung hinaus fort und fort erweitert. Das Resultat dieser Entwicklung ist daher schließlich die mit Bewußtsein erfaßte Idee der Menschheit als der allgemeinen geistigen Gemeinschaft, die sich nach den besonderen Bedingungen ihres Daseins in einzelne konkrete Gemeinschaften, Völker, Staaten, Kulturgesellschaften verschiedener Art, Stämme und Familien, gliedert. Darum ist die geistige Gemeinschaft, in welcher der einzelne steht, nicht eine Verbindung, sondern eine wechselnde Vielheit geistiger Verbindungen, die in der mannigfaltigsten Weise übereinander greifen und mit zunehmender Entwicklung immer reicher werden.

    2. Die Aufgabe, diese Entwicklung in ihren konkreten Gestaltungen oder auch nur in ihrem allgemeinen Zusammenhang zu verfolgen, fällt der Kultur- und Universalgeschichte zu, nicht der Psychologie. Diese hat jedoch über die allgemeinen psychischen Bedingungen und über die aus diesen Bedingungen entspringenden seelischen Vorgänge Rechenschaft zu geben, durch die sich das Leben der Gemeinschaft von dem des einzelnen sondert.

    Diejenige Bedingung, durch die überall eine geistige Gemeinschaft erst möglich wird, und die an der Entwicklung derselben fortwährend teilnimmt, ist nun die Funktion der Sprache. Sie ist es zugleich, die den Übergang von dem Einzeldasein zu der geistigen Gemeinschaft psychologisch vermittelt, indem sie ihrem Ursprunge nach zu den individuellen Ausdrucksbewegungen gehört, aber durch die Entwicklung, die sie erfährt, zur unerläßlichen Form für alle gemeinsamen geistigen Inhalte wird. Diese letzteren oder die der Gemeinschaft eigenen geistigen Vorgänge zerfallen dann wieder in zwei Klassen, die in der Wirklichkeit freilich, ebenso wie das individuelle Vorstellen und Wollen, nicht sowohl gesonderte Vorgänge als zusammengehörige Bestandteile des Gemeinschaftslebens sind: erstens in gemeinsame Vorstellungen, in denen sich namentlich die übereinstimmenden Gefühle und die Affekte der Furcht und Hoffnung niedergelegt finden, die mythologischen Vorstellungen; und zweitens in gemeinsame Motive des Wollens, die den gemeinsamen Vorstellungen und den sie begleitenden Gefühlen und Affekten entsprechen, die Normen der Sitte. Aus den mythologischen Vorstellungen entwickeln sich unter der Mitwirkung der in der Sitte herangereiften sittlichen Normen die religiösen Vorstellungen und Gefühle. Ihren Ausdruck finden endlich die mythologischen und religiösen Vorstellungen teils in dem Kultus, teils unter der Mitwirkung der ästhetischen Elementargefühle in der Kunst, in der sie mit diesen zu den höheren ästhetischen Gefühlen verschmelzen.

A. Die Sprache.

    3. Über die allgemeine Entwicklung der Sprache gibt uns ihre individuelle Entstehung beim Kinde deshalb keine Rechenschaft, weil diese ein Vorgang ist, an dem die sprechende Umgebung überwiegend beteiligt ist (§ 20, 8 f.). Immerhin zeigt das Sprechenlernen des Kindes, daß bei ihm physische und psychische Anlagen der Mitteilung der Sprache begünstigend entgegenkommen. In der Tat läßt sich annehmen, daß diese Anlagen selbst dann, wenn die äußere Mitteilung unterbliebe, zu irgendwelchen von Lauten begleiteten Ausdrucksbewegungen führen müßten, welche die Bedeutung einer unvollkommenen Sprache besäßen. Diese Vermutung wird durch die Beobachtung der Taubstummen, namentlich solcher taubstummer Kinder bestätigt, die ohne absichtlichen Unterricht aufwachsen, und zwischen denen sich trotzdem ein reger geistiger Verkehr entwickeln kann. Dieser beruht aber in solchem Falle, da der Taubstumme ausschließlich auf gesehene Zeichen angewiesen ist, in der natürlichen Entwicklung einer Gebärdensprache, die sich aus bedeutungsvollen Ausdrucksbewegungen zusammensetzt. Die Gefühle werden dabei im allgemeinen durch mimische, die Vorstellungen durch pantomimische Zeichen ausgedrückt, indem mit dem Finger entweder auf die Vorstellungsobjekte hingewiesen oder ein ungefähres Bild der Vorstellung in der Luft gezeichnet wird: hinweisende und darstellende Gebärden (§ 13, 4 f.). Indem solche Zeichen aneinandergefügt werden, entsteht eine Art von Satzbildung, mittels deren Wünsche und Fragen ausgedrückt oder auch Dinge beschrieben, Ereignisse erzählt werden. Diese natürlich entstandene Gebärdensprache beschränkt sich jedoch stets auf die Mitteilung konkreter sinnlicher Vorstellungen und ihres Zusammenhangs; an Zeichen für abstrakte Begriffe fehlt es ihr vollständig.

    4. Die ursprüngliche Entwicklung einer Lautsprache läßt sich nun nicht wohl anders als nach Analogie dieser Entstehung der natürlichen Gebärdensprache denken; nur daß die Hörfähigkeit zu den mimischen und pantomimischen Gebärden noch als eine dritte Form die Lautgebärden hinzufügen wird, die, weil sie nicht bloß leichter wahrnehmbar sind, sondern auch ungleich reichere Modifikationen zulassen, notwendig bald den Vorzug vor jenen gewinnen müssen. Wie aber die Gebärde ihre Verständlichkeit der unmittelbaren Beziehung verdankt, die bei ihr zwischen der Beschaffenheit der Bewegungen und ihrer Bedeutung besteht, so wird eine solche Beziehung auch für die ursprünglichen Lautgebärden vorauszusetzen sein. Überdies ist es nicht unwahrscheinlich, daß dieselben zuerst durch begleitende mimische und pantomimische Bewegungen unterstützt wurden, entsprechend der durchgängig zu beobachtenden ungehemmteren Äußerung solcher beim Naturmenschen, sowie der Rolle, die ihnen beim Sprechenlernen des Kindes zukommt. Demnach ist die Entwicklung der Lautsprache wahrscheinlich als ein Vorgang der Differenzierung zu denken, bei welchem aus einer Menge verschiedenartiger, sich wechselseitig unterstützender Ausdrucksbewegungen allmählich die Lautgebärde als die allein übrigbleibende hervorging, die jene andern Hilfsmittel erst abstreifte, als sie selbst sich zureichend fixiert hatte. Psychologisch läßt sich daher dieser Vorgang in eine Aufeinanderfolge von zwei Akten zerlegen: in die in der Form triebartiger Willenshandlungen von den einzelnen Mitgliedern einer Gemeinschaft erzeugten Ausdrucksbewegungen, von denen diejenigen der Sprachorgane unter dem Einfluß des Strebens nach Mitteilung vor den andern den Vorzug gewinnen; und in die hieran sich anschließenden Assoziationen zwischen Laut und Vorstellung, die sich allmählich befestigen und zugleich von ihren anfänglichen Ursprungszentren aus über größere Kreise der redenden Gemeinschaft verbreiten.

    5. In die Entstehung der Sprache greifen dann aber von Anfang an weitere physische und psychische Bedingungen ein, die stetige und unablässige Veränderungen ihrer Bestandteile hervorbringen. Solcher Veränderungen lassen sich zwei unterscheiden: der Lautwandel und der Bedeutungswandel.

    Der erstere hat seine physiologische Ursache in den allmählich in der physischen Veranlagung der Sprachorgane eintretenden Änderungen. Solche scheinen teils aus den allgemeinen Einflüssen zu entspringen, die der Wechsel der Natur- und Kulturbedingungen auf die gesamte psychophysische Organisation ausübt, teils aus den speziellen Bedingungen, welche die zunehmende Übung für die Artikulationsbewegungen mit sich führt. In letzterer Beziehung dürfte nach manchen Erscheinungen der allmählich zunehmenden Geschwindigkeit der Artikulationsbewegungen eine besondere Bedeutung zukommen. Außerdem wirken aber die verschiedenen, irgendwie einander analogen Bestandteile des Wortschatzes aufeinander ein, indem direkte psychologische Assoziationen namentlich zwischen solchen Sprachvorstellungen stattfinden, die irgendwie, sei es bloß durch den Laut, sei es zugleich durch ihren begrifflichen Inhalt, miteinander verwandt sind (sogenannte Analogiebildungen).

    Wie der Lautwandel das äußere Gerüst, so verändert der Bedeutungswandel den inneren Gehalt der Wörter. Die ursprüngliche Assoziation zwischen dem Wort und der durch dasselbe bezeichneten Vorstellung wird verändert, indem eine von der ersten abweichende Vorstellung an deren Stelle tritt, ein Prozeß, der sich im Laufe der Zeit an dem nämlichen Wort mehrmals wiederholen kann. Hiernach beruht der Bedeutungswandel auf allmählich sich vollziehenden Veränderungen in denjenigen Assoziations- und Apperzeptionsbedingungen, welche die bei dem Hören oder Sprechen des Wortes in den Blickpunkt des Bewußtseins tretende Vorstellungskomplikation bestimmen. Er kann daher auch kurz als ein Prozeß bald mehr assoziativer, bald mehr apperzeptiver Verschiebung der mit der Lautvorstellung verbundenen Vorstellungskomponente der sprachlichen Komplikationen definiert werden (§ 16).

    Laut- und Bedeutungswandel wirken nun in dem Sinne zusammen, daß sie die ursprünglich vorauszusetzende Beziehung zwischen Laut und Bedeutung immer mehr schwinden lassen, so daß das Wort schließlich nur noch als ein äußeres Zeichen der Vorstellung aufgefaßt wird. Dieser Vorgang ist ein so tiefgreifender, daß selbst diejenigen Lautzeichen, bei denen jene Beziehung noch erhalten zu sein scheint, die onomatopoetischen Wortbildungen, zumeist wohl verhältnismäßig späte Produkte einer sekundär eingetretenen Assimilation zwischen Laut und Bedeutung sind, durch die sich die verloren gegangene ursprüngliche Affinität zwischen Laut und Bedeutung wiederherzustellen strebt.

    Eine weitere wichtige Folge jenes Zusammenwirkens von Laut- und Bedeutungswandel besteht darin, daß zahlreiche Wörter allmählich ihre ursprüngliche konkret sinnliche Bedeutung ganz verlieren und in Zeichen für allgemeine Begriffe und für den Ausdruck der apperzeptiven Funktionen der Beziehung und Vergleichung und ihrer Produkte übergehen. Auf diese Weise entwickelt sich das abstrakte Denken, das, weil es ohne den zugrunde liegenden Bedeutungswandel nicht möglich wäre, selbst erst ein Erzeugnis jener psychischen und psychophysischen Wechselwirkungen ist, aus denen sich die Entwicklung der Sprache zusammensetzt.

    6. Wie die Bestandteile der Sprache, die Wörter, in Laut und Bedeutung einer fortwährenden Umwandlung unterworfen sind, so vollziehen sich endlich allmähliche, wenngleich im allgemeinen langsamere Veränderungen in der Verbindung dieser Bestandteile zu einem zusammengesetzten Ganzen, dem Satze. Keine Sprache ist ohne eine syntaktische Wortfolge zu denken. Satz und Wort sind daher gleich wesentliche Formen des Denkens, und der Satz ist sogar die ursprünglichere von beiden, da der Gedanke zunächst als Ganzes gegeben ist und dann erst in seine Bestandteile gegliedert wird (§ 17, 16). Auf unvollkommeneren Sprachstufen sind daher die Wörter eines Satzes oft nur unsicher gegeneinander abzugrenzen. Auch für die Wortfolge gibt es nun so wenig wie für das Verhältnis von Laut und Bedeutung irgendeine allgemeingültige Norm. Insbesondere hat diejenige Wortfolge, die von der Logik mit Rücksicht auf die Verhältnisse der wechselseitigen logischen Abhängigkeit der Begriffe bevorzugt wird, keine psychologische Allgemeingültigkeit; ja sie erscheint als ein ziemlich spätes und zum Teil durch willkürliche Konvention entstandenes Entwicklungsprodukt, dem nur manche der neueren, syntaktisch beinahe erstarrten Sprachformen in dem gewöhnlichen Prosastil nahekommen. Das ursprüngliche Prinzip, dem die sprachlichen Apperzeptionsverbindungen folgen, ist dagegen sichtlich dieses, daß die Wortfolge der Vorstellungsfolge entspricht; darum gehen namentlich diejenigen Redeteile voraus, welche die am stärksten das Gefühl erregenden und die Aufmerksamkeit fesselnden Vorstellungen ausdrücken. Infolgedessen bilden sich dann in einer bestimmten redenden Gemeinschaft gewisse Regelmäßigkeiten der Wortfolge aus. In der Tat ist eine solche schon an den natürlichen Gebärdezeichen der Taubstummen zu beobachten. Doch ist es begreiflich, daß in dieser Beziehung unter speziellen Bedingungen die mannigfachsten Abweichungen vorkommen können. Im allgemeinen zeigt sich aber hierbei, daß die assoziative Übung mehr und mehr zur Fixierung bestimmter syntaktischer Formen führt, so daß allmählich durch eine von den am meisten gebrauchten Formen ausgehende assoziative Attraktion eine immer größere Regelmäßigkeit einzutreten pflegt.

    Die näheren Eigenschaften der syntaktischen Verbindungen und ihrer allmählichen Veränderungen sind übrigens, abgesehen von den bei der allgemeinen Betrachtung der Apperzeptionsverbindungen hervorgehobenen Gesetzen, die aus den allgemeingültigen psychischen Funktionen der Beziehung und der Vergleichung hervorgehen (§ 17, A), so sehr von den spezifischen Anlagen und Kulturbedingungen der Sprachgemeinschaften abhängig, daß ihre Erörterung trotz ihres hervorragenden psychologischen Interesses der Völkerpsychologie zuzuweisen ist.

Literatur. Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, l. (einziger) Band, 1871. Lazarus, Lebender Seele2, Bd. 2, 1878. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, 4. Aufl., 1909. Wundt, Völkerpsychologie, I.3 (Die Sprache), 1911. Delbrück, Grundfragen der Sprachforschung, 1901. Wundt, Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, 1901; Probleme der Völkerpsychologie, 1911. H. Oertel, Lectures on the Study of Language, 1901. O. Dittrich, Grundzüge der Sprachpsychologie, Bd. l, 1902. Probleme der Sprachpsychologie, 1913.

B. Mythus und Religion.

    7. Als die Grundfunktion, auf deren verschiedenartiger Betätigung alle mythologischen Vorstellungen beruhen, ist eine eigentümliche, dem naiven Bewußtsein überall zukommende Art der Apperzeption anzusehen, die man als die beseelende Apperzeption bezeichnen kann. Sie besteht darin, daß die apperzipierten Objekte ganz und gar durch die eigene Natur des wahrnehmenden Subjekts bestimmt werden, so daß dieses nicht bloß seine Empfindungen, Affekte und willkürlichen Bewegungen in den Objekten wiederfindet, sondern daß es insbesondere auch durch seinen augenblicklichen Gemütszustand jeweils in der Auffassung der wahrgenommenen Erscheinungen bestimmt und zu Vorstellungen über die Beziehungen derselben zu dem eigenen Dasein veranlaßt wird. Infolge dieser Auffassung werden dann auf den Gegenstand die persönlichen Eigenschaften, die das Subjekt an sich selbst vorfindet, übertragen. Unter diesen Eigenschaften fehlen namentlich die inneren der Gefühle, Affekte usw. niemals, während die äußeren der willkürlichen Bewegungen und sonstiger menschenähnlicher Lebensäußerungen meist von wirklich wahrgenommenen Bewegungen abhängen. So kann der Naturmensch bei Steinen, Pflanzen, Kunstobjekten an ein inneres Empfinden und Fühlen und davon ausgehende Wirkungen glauben; ein unmittelbares äußeres Handeln pflegt er aber nur bei bewegten Gegenständen, wie Wolken, Gestirnen, Winden u. dgl., vorauszusetzen. Begünstigt wird in allen Fällen dieser Prozeß durch assoziative Assimilationen, die sich leicht zur phantastischen Illusion steigern (§ 16, 11 f.).

    8. Diese mythologische oder beseelende Form der Apperzeption ist jedoch nicht als eine besondere oder gar normwidrige Abart der Apperzeption überhaupt zu betrachten, sondern sie ist die natürliche Anfangsstufe derselben. Das Kind zeigt deutliche Spuren einer solchen: sie verraten sich teils in der spielenden Phantasietätigkeit (§ 20, 9), teils darin, daß bei ihm lebhafte Affekte, besonders Furcht und Schreck, leicht phantastische Illusionen von entsprechendem Gefühlscharakter hervorrufen. Aber diese Äußerungen eines mythenbildenden Bewußtseins werden hier durch die Einflüsse der Umgebung und Erziehung früh ermäßigt und bald ganz unterdrückt. Anders beim Natur- und primitiven Kulturmenschen, wo umgekehrt die Umgebung dem Einzelbewußtsein eine Fülle mythischer Vorstellungen zuführt, die, auf übereinstimmende Weise ursprünglich individuell entstanden, allmählich sich in einer bestimmten Gemeinschaft befestigt haben und mittels der Sprache von Generation zu Generation übertragen werden, wobei sie sich allmählich mit den Veränderungen der Natur- und Kulturbedingungen selber verändern.

    9. Für die Richtung, in der diese Veränderungen erfolgen, ist nun im allgemeinen die Tatsache bestimmend, daß der jeweilige Gemütszustand die besondere Art der mythologischen Apperzeption wesentlich beeinflußt. Über die Art, wie sich dieser Gemütszustand von den ersten Anfängen geistiger Entwicklung an verändert hat, gibt uns aber wieder bei dem gänzlichen Mangel anderer Zeugnisse hauptsächlich die Entwicklungsgeschichte der mythologischen Vorstellungen selbst Rechenschaft. Sie zeigt, daß durchgehends die frühesten mythischen Gedankenbildungen einerseits sich auf das eigene Schicksal in der nächsten Zukunft beziehen, anderseits von den Affekten bestimmt sind, die durch den Tod der Genossen, durch die Erinnerung an sie, dabei besonders auch durch die Erinnerungsvorstellungen des Traumes, erweckt werden. Hierin liegt der Ursprung des sogenannten "Animismus", d. h. aller jener Vorstellungen, bei denen teils die Geister Verstorbener, teils Dämonen, die man sich an bestimmte Gegenstände, Orte oder den Zwecken des Lebens dienende Vorgänge (Vegetation, Ackerbau, Schiffahrt u. dgl.) gebunden denkt, die Rolle von Schicksalsmächten spielen, die bald glück-, bald unheilbringend in das Leben des Menschen eingreifen. Abzweigungen dieses Animismus sind der "Fetischismus" und der "Totemismus", bei denen die Vorstellung der Schicksalsmacht auf einzelne Gegenstände der Umgebung, wie Pflanzen, Steine, Kunstobjekte, die durch zufällige äußere Umstände das Gefühl erregen, oder auf gewisse Tiere, die Totemtiere, übertragen wird, in welchen letzteren der Naturmensch teils die Seelen seiner Ahnen teils besondere Schutzgeister verkörpert glaubt. Unter diesen Erscheinungen sind besonders die des Animismus und Fetischismus dadurch ausgezeichnet, daß sie nicht nur die primitivsten, sondern auch die dauerhaftesten Erzeugnisse der mythologischen Apperzeption sind, da sie nach Verdrängung aller andern in den mannigfachsten Formen des Kulturaberglaubens, wie des Gespenster-, Zauber-, Amulettglaubens, noch fortleben.

    10. Erst auf einer gereifteren Stufe des Bewußtseins betätigt sich die beseelende Apperzeption auch an den großen, durch ihre Veränderungen sowie durch ihren direkten Einfluß auf das Leben des Menschen eindrucksvollen Naturerscheinungen, wie den Wolken, Flüssen, Stürmen, großen Gestirnen usw. Hierbei regt zugleich die Regelmäßigkeit gewisser Naturerscheinungen, wie des Wechsels von Tag und Nacht, von Winter und Sommer, der Vorgänge beim Gewittersturm u. dgl., zu poetischen Mythenbildungen an, in denen eine Reihe zusammengehöriger Vorstellungen zu einem in sich geschlossenen Ganzen verknüpft wird. So entsteht der Naturmythus. Sein Hauptunterschied von dem Geister- und Dämonenglauben besteht in der Erzeugung persönlicher Göttervorstellungen. Indem hierbei die einzelnes Götter mit einer größeren Zahl bleibender Eigenschaften ausgestattet und allmählich von der Gebundenheit an bestimmte Orte, Zeiten und Vorgänge gelöst werden, bilden sie sich ganz und gar zu menschenähnlichen Personen von übermenschlicher Macht um. Sie werden so als die Lenker ebensowohl der Naturerscheinungen wie der menschlichen Schicksale verehrt. Infolge dieser Bildung umfassenderer Göttervorstellungen treten dann allmählich die Dämonen und Sondergötter im Bewußtsein zurück oder verschmelzen mit jenen, um als Attribute oder als besondere Erscheinungen der persönlichen Götter nachzuwirken. Dieser Vorgang der Verbindung und Verdichtung der Vorstellungen und Gefühle pflegt aber weiterhin auch auf die persönlichen Götter überzugreifen, indem eine einzelne dieser Gestalten zuerst in wechselnder Weise, dann dauernd einen Vorrang gewinnt vor den übrigen. So bemächtigt sich des von Haus aus polytheistischen Naturmythus frühe schon ein monotheistischer Trieb. Auf der andern Seite kann aber auch im Gegensatz hierzu jene Verschmelzung mit den früheren Sondergöttern und Schicksalsdämonen wieder eine Spaltung der Götterpersönlichkeiten herbeiführen. Namentlich bilden sich auf diese Weise einzelne Lokal- und Stammesgötter, die dann gleichfalls vermöge ihrer persönlichen Natur leicht von den besonderen Bedingungen ihrer Entstehung gelöst werden können und so den vielgestaltigen Formen des Heroenmythus den Ursprung geben. Da sich mit diesem meist zugleich Züge geschichtlicher Erinnerung verweben, so schrei-tet in ihm die im Naturmythus begonnene Vermenschlichung weiter fort. Durch diese Eigenschaften fordert der Heroenmythus unmittelbar die Gestaltungskraft einzelner Dichter zu seiner weiteren Ausbildung heraus. Dadurch geht er in einen Bestandteil zuerst der Volks-, dann der Kunstpoesie über. Zugleich erfährt er aber in bezug auf die einzelnen mythischen Gestalten durch das Verblassen ursprünglicher und das Hervortreten neuer Züge einen Bedeutungswandel, der, dem der sprachlichen Vorstellungen analog und durchweg von ihm begleitet, eine fortschreitende innere Umwandlung möglich macht. Bei diesem Vorgang gewinnen dann einzelne Dichter und Denker einen wachsenden Einfluß.

    Auf diesem Wege vollzieht sich schließlich unter starker Beteiligung des zunächst gleichfalls noch in halbmythischen Vorstellungen befangenen philosophischen Denkens die Scheidung des gesamten ursprünglichen Mythengehalts in Wissenschaft und Religion. Dabei machen in dieser die Naturgötter und Heroen mehr und mehr ethischen Göttervorstellungen Platz, eine Scheidung, die zum Teil an die Wechselwirkungen zwischen Religion und Philosophie gebunden ist. Wie bei dem Naturmythus, so ereignen sich aber auch noch auf der Stufe der ethischen Religion unter der dauernden Wirkung der alten Motive fortwährende Rückbildungen. Sondergötter, Dämonen und Geister drängen sich bald beharrlicher, bald nur für Augenblicke in den Vordergrund des Bewußtseins. Teils bilden sie mythologische Nebenbestandteile der Religion selbst, teils führen sie, von dieser verworfen, im Aberglauben ein selbständiges Dasein.

Literatur. Tylor, Anfänge der Kultur, 2 Bde., 1873. Frazer, The golden Bough, 12 Bde., 3. Aufl. Totemism and Exogamy. Wundt, Völkerpsychologie, Bd. 4–6, Mythus und Religion, 2 Aufl. Ethik3, Abschn. I, Kap. 2. Die Anfänge der Philosophie und die Philosophie der primitiven Völker. Reden und Aufsätze, 1913. Rohde, Psyche (Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen), 1894, 31903. Usener Götternamen, 1896. Chantepie de Saussaye, Lehrb. der Religionsgeschichte, 2 Bde., 1902. N. Söderblom, Tieles Kompendium der Religionsgeschichte, 4. Aufl., 1912. Das Werden des Gottesglaubens, 1915. P. W. Schmidt, Der Ursprung der Gottesidee, 1912 (Fleißige Zusammenstellung vom katholischen Standpunkte aus). Ferner zahlreiche Aufsätze im Archiv für Religionswissenschaft von A. Dieterich und R. Wünsch.

C. Sitte und Kultur.

    11. Die Sitte tritt uns, soweit wir sie auch zurückverfolgen mögen, in zwei Gestaltungen entgegen, die sich als individuelle und als soziale Willensnormen unterscheiden lassen. Die ersteren regeln das Verhalten des einzelnen bei seinen Beschäftigungen und bei seinem Verkehr mit andern Menschen; die letzteren bestimmen die Formen des Zusammenlebens in Horde, Familie, Staat und sonstigen Gesellschaftsverbänden. Hiernach sind die individuellen so gut wie die sozialen Normen der Sitte an das gesellschaftliche Leben gebunden; aber jene beziehen sich auf das Verhalten des einzelnen in der Gesellschaft, diese auf das der Gesellschaftsglieder in ihrer gemeinsamen, die Formen des Zusammenlebens bestimmenden Tätigkeit.

    Die individuellen Willensnormen der Sitte pflegen in ihren freilich vielfach noch dunkeln Anfängen mit der Entwicklung des Mythus in einer Weise zusammenzuhängen, die dem Verhältnis der inneren Motive zur äußeren Willenshandlung entspricht. Überall, wo wir den Ursprung solcher Sitten mit einiger Wahrscheinlichkeit erforschen können, da verraten sie sich nämlich als Reste der Umwandlungsprodukte bestimmter Kultformen. So weisen der Leichenschmaus und andere Bestattungszeremonien der Kulturvölker auf den primitiven Ahnenkultus, so zahlreiche an bestimmte Tage, an den Wechsel der Jahreszeiten, an die Bestellung des Feldes und die Ernte geknüpfte Feste oder Sitten auf einstige Dämonenkulte und Naturmythen hin; so verrät die Sitte des Grußes in manchen ihrer Formen ihre Herkunft aus Gebetszeremonien, usw.

    Dagegen führen die sozialen Normen der Sitte im allgemeinen überall auf den Zwang der Lebensbedingungen und auf die durch diesen Zwang in ihrer Äußerungsweise bestimmten Triebe der Selbsterhaltung und der Erhaltung der Gattung als ihre nächsten Motive zurück. So sind es äußere Lebensbedingungen, die für die Beschaffung von Kleidung und Wohnung, die Bereitung der Nahrung und für die Formen gesellschaftlicher Gliederung ursprünglich maßgebend waren. Ebenso folgen dann aber auch die Veränderungen, die in diesen Arten der Lebenshaltung durch allmähliche Umgestaltungen der Natur- und Kulturverhältnisse eintreten, den Geboten praktischer Zweckmäßigkeit. Insbesondere gehören hierher die frühesten Formen des Zusammenlebens und die aus diesen allmählich hervorgehenden engeren und weiteren gesellschaftlichen Verbände. So hat sich wesentlich unter dem Zwange der äußeren Lebensbedingungen und der wachsenden Individuenzahl die Horde, in der der Mensch ursprünglich wohl überall lebte, zunächst in Unterhorden geschieden. Diese bildeten dann meist einen noch nach der Trennung fortdauernden Schutzverband, der durch den Verkehr der Geschlechter getrennter Horden zur Bildung von Gesamtfamilien den Anstoß gab, aus denen auf einer noch höheren Stufe die Einzelfamilie hervorging. Die Horde selbst aber wandelte sich in dem Maß, als die zunächst nach dem Bedürfnis des Augenblicks stattfindenden Wechselbeziehungen der einzelnen einer dauernden Regelung unterworfen wurden, in die Geschlechterorganisation (Gentilverfassung) um. Unabhängig von ihr hatten sich endlich wahrscheinlich schon in der primitiven Horde Männerverbände gebildet, die unter der Wirkung zunehmenden Schutzbedürfnisses und kriegerischer Unternehmungen allmählich eine festere Gestaltung gewannen und so, die ursprünglichen Sippenverbände auflösend, die Geschlechtsverfassung in die Formen der politischen Organisation überführten.

    12. Wie bei Sprache und Mythus, so pflegt nun aber auch bei der Sitte ein Bedeutungswandel umgestaltend in diese Entwicklungen einzugreifen. Bei den individuellen Normen treten infolgedessen hauptsächlich zwei Metamorphosen hervor. Bei der einen geht das ursprüngliche mythische Motiv verloren, ohne daß überhaupt ein neues an dessen Stelle tritt: die Sitte dauert dann bloß infolge der assoziativen Übung fort, indem sie zugleich ihren zwingenden Charakter verliert und sich in ihren äußeren Erscheinungsformen abschwächt. Bei der zweiten Metamorphose werden die ursprünglichen mythisch-religiösen durch sittlich-soziale Zwecke ersetzt. Beide Arten der Umwandlung können sich im einzelnen Fall auf das engste verbinden; und selbst da, wo eine Sitte nicht unmittelbar einem bestimmten sozialen Zwecke dient, wie das z. B. bei gewissen Regeln des Anstandes, der Höflichkeit, der Art sich zu kleiden, zu essen u. dgl. zutrifft, schafft sie sich mittelbar einen solchen, indem die Existenz irgendwelcher übereinstimmender Normen für die Mitglieder einer Gemeinschaft das Zusammenleben und eben damit die gemeinsame Kultur fördert.

    In umgekehrter Richtung vollziehen sich im allgemeinen die Veränderungen der sozialen Normen der Sitte; dabei pflegt aber mehr wie im vorigen Falle die alte Bedeutung neben der neuen bestehen zu bleiben. Die Metamorphose beruht darum hier meist auf Assoziationen des ursprünglichen Zwecks mit weiteren Motiven, indem zu dem Zwang der Lebensbedingungen bald früher, bald später namentlich religiös-mythologische Motive hinzutreten. Die zuerst unter der Nötigung bestimmter Lebenstriebe entstandenen Normen werden nun als Gebote der Götter aufgefaßt oder mindestens mit einem sie heiligenden religiösen Kultus umgeben. Die Einnahme des gemeinsamen Mahles, die Errichtung gemeinsamer Wohnstätten, Verträge und Bündnisse, Kriegserklärung und Friedensschluß, das Eingehen der Ehe treten mit dem Mythus in Verbindung oder wirken selbständig auf die mythologische Apperzeption, so daß neue Göttergestalten aus diesem Kreise sozialer Sitten entspringen. Durch allmähliche Verdunklung der mythologischen Vorstellungen kann sich endlich auch hier eine rückwärts schreitende Metamorphose anschließen, indem die religiösen Begleiterscheinungen einer Sitte entweder verschwinden oder als eingeübte bedeutungslose Gewohnheiten zurückbleiben.

    Die angedeuteten psychologischen Umwandlungen bilden zugleich die Vorbereitung zu der Verzweigung in die drei Lebensgebiete der Sitte, des Rechtes und der Sittlichkeit, von denen die beiden letzteren als besondere Ausgestaltungen der auf soziale Zwecke gerichteten Sitten zu betrachten sind. Die nähere Untersuchung der Vorgänge dieser Entwicklung und Differenzierung gehört jedoch wiederum in das spezielle Gebiet der Völkerpsychologie, die Schilderung der Entstehung von Recht und Sittlichkeit außerdem in das der Kulturgeschichte und Ethik.

Literatur. Lubbook, Die vorgeschichtliche Zeit, 2 Bde., 1874. L. H. Morgan, Die Urgesellschaft, 1891. H. Schurtz, Urgeschichte der Kultur, 1900. Altersklassen und Männerverbände, 1902. Spencer, Soziologie, Bd. 2 u. 3, 1887–1889. Frazer, Totemism and Exogamy, 4 vol., 1910. Westermarck, Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe, 2 Bde., 1907–09. von Ihering, Der Zweck im Recht, Bd. l, 2, 1877–1883. Wundt, Elemente der Völkerpsychologie, 1912. Ethik4, Abschn. I, Kap. 3. Völkerpsychologie, Bd. 7, 8 u. 9.

D. Allgemeiner Charakter der völkerpsychologischen Entwicklungen.

    13. Sprache, Mythus und Sitte bilden unter sich eng verbundene geistige Entwicklungen, die für die allgemeine Psychologie vorzugsweise deshalb von großer Wichtigkeit sind, weil sich in ihnen wegen ihrer relativ dauernden Beschaffenheit gewisse allgemeingültige psychische Vorgänge deutlicher erkennen und analysieren lassen, als es bei den vergänglicheren Gebilden des individuellen Bewußtseins möglich ist. Überdies bilden sie für das letztere selbst die Voraussetzung aller zusammengesetzteren geistigen Prozesse, die besonders an die Sprache gebunden und in ihrem individuellen Verlaufe daher von den in der Sprache verdichteten Gesetzen des gemeinsamen Denkens abhängig sind. In diesem Sinne mußte schon oben bei der Schilderung der Vorgänge der apperzeptiven Analyse und Synthese auf die in der Sprache zum Ausdruck kommenden Wirkungen dieser Vorgänge hingewiesen werden (§ 17, 16 f.). Wie in diesem für das individuelle Bewußtsein maßgebenden Falle, so geben sich nun auch bei den völkerpsychologischen Entwicklungen selbst die den beobachteten Erscheinungen zugrunde liegenden psychischen Prozesse zunächst an den Eigenschaften und den Veränderungen der in der Sprache ausgedrückten Vorstellungen zu erkennen, während auf die begleitenden Gefühlserregungen zumeist erst indirekt, aus dem gesamten Zusammenhange der Tatsachen und unter Zuhilfenahme bekannter Bedingungen zurückgeschlossen werden kann.

    Als wesentliche und bei allen Entwicklungen von Sprache, Mythus und Sitte immer wiederkehrende Vorgänge im Vorstellungsgebiete treten uns nun vornehmlich die drei untereinander eng verbundenen Erscheinungen der Verdichtung, der Verdunkelung und der Verschiebung der Vorstellungen entgegen. Die Vorstellungen verdichten sich, indem mehrere ursprünglich gesonderte infolge wiederholter oder durch starke Gefühlskomponenten gehobener Assoziation vereinigt und zuletzt in der Apperzeption zu einem unteilbaren Ganzen verbunden werden. Da bei diesem Vorgang einzelne Bestandteile wiederum zumeist infolge ihrer intensiveren Gefühlswirkung klarer als andere apperzipiert werden, so verdunkeln sich diese letzteren und können endlich ganz aus dem komplexen Produkt verschwinden. Auf diesem Weg ereignen sich dann von selbst Verschiebungen der Vorstellungen, deren Endprodukte namentlich dann, wenn die Prozesse der Verdichtung und der Verdunkelung mehrmals nacheinander eingetreten sind und wechselnde Bestandteile ergriffen haben, gänzlich von der Anfangsvorstellung verschieden sein können. Es sind nur Modifikationen dieser Prozesse, die auf der einen Seite dem Bedeutungswandel in der Sprache, auf der andern den Metamorphosen der mythologischen Vorstellungen und der Sitten zugrunde liegen; und dabei kann jeder dieser Umwandlungsprozesse zugleich auf die andern zurückwirken. So erregt der Bedeutungswandel der Wörter leicht eine Veränderung der an sie gebundenen mythologischen Vorstellungen, und diese sind ihrerseits wieder für den ersteren Vorgang maßgebend. Nicht minder kann die Sprache durch mythologische Namendeutung, wenn sonst die Motive dazu vorliegen, direkt mythologische Vorstellungen erzeugen, oder diese können die Namen- und Wortbildung in ihrer Richtung bestimmen.

    So sehr nun aber auch bei allen völkerpsychologischen Erscheinungen die Vorstellungsprozesse zunächst in die Augen fallen, so lehrt doch die psychologische Analyse, daß die entscheidenden Faktoren sowohl bei der ursprünglichen Bildung der Vorstellungen wie bei ihrer allmählichen Umwandlung die begleitenden Gefühls- und Willensvorgänge sind. So können schon jene ursprünglichen Lautgebärden, die wir als den Anfang der Sprache voraussetzen müssen, nur als einfache Triebhandlungen gedacht werden, die einem gefühlsstarken Eindruck folgen und diesen zugleich in einer für die Genossen unmittelbar oder durch mitwirkende sonstige Gebärden leicht zu erkennenden Weise bezeichnen (s. o., A). Der Einfluß der Gefühle auf den Fortgang der so begonnenen Entwicklung des gemeinsamen Denkens verrät sich jedoch ganz besonders bei den mythologischen Vorstellungen in deutlich erkennbaren Spuren. Hier unterscheidet sich jene personifizierende Apperzeption des Mythus von dem entwickelten Bewußtsein vor allem dadurch, daß nicht bloß die allgemeinen formalen Bedingungen und der sinnliche Empfindungsinhalt der Wahrnehmung aus dem Subjekt in die Gegenstände hinüberwandern, sondern daß jenes seinen gesamten Gefühls- und Willenszustand in diese hineinträgt. Dem Hoffenden wird das Objekt zum Schutzgeist, dem Fürchtenden zum Schreckdämon; in den Naturerscheinungen wird ein Wille gesehen, der ebensowohl der Assoziation mit den eigenen Willenshandlungen wie ihrer Wirkung auf das eigene Gemüt entspricht. Ebenso sind jene Vorgänge der Verdichtung, der Verdunkelung und der Verschiebung der Vorstellungen in erster Linie als Symptome von Veränderungen der Gefühlslage zu betrachten, die zunächst einen Bedeutungswandel von Mythus und Sitte hervorbringen und dann von hier aus auch auf die Sprache zurückwirken.

    14. In den geistigen Gemeinschaften und in den in ihnen sich ausbildenden Entwicklungen von Sprache, Mythus und Sitte treten uns demnach geistige Zusammenhänge und Wechselwirkungen entgegen, die sich zwar in sehr wesentlichen Beziehungen von dem Zusammenhange der Gebilde im individuellen Bewußtsein unterscheiden, denen aber darum doch nicht weniger wie diesem Wirklichkeit zuzuschreiben ist. In diesem Sinne kann man den Zusammenhang der Vorstellungen und Gefühle innerhalb einer Volksgemeinschaft als ein Gesamtbewußtsein und die gemeinsamen Willensrichtungen als einen Gesamtwillen bezeichnen. Dabei ist freilich nicht zu vergessen, daß diese Begriffe ebensowenig etwas bedeuten, was außerhalb der individuellen Bewußtseins- und Willensvorgänge existiert, wie die Gemeinschaft selbst etwas anderes ist als die Verbindung der einzelnen. Indem aber diese Verbindung geistige Erzeugnisse hervorbringt, zu denen in dem einzelnen Menschen nur spürweise Anlagen vorhanden sind, und indem sie für die Entwicklung desselben von früh an bestimmend wird, ist sie gerade so gut wie das individuelle Bewußtsein ein Objekt der Psychologie. Denn für diese entsteht notwendig die Aufgabe, über jene Wechselwirkungen Rechenschaft zu geben, aus denen die Erzeugnisse des Gesamtbewußtseins und Gesamtwillens und ihre Eigenschaften entspringen,

    14 a. Die Tatsachen, die aus dem Dasein der geistigen Gemeinschaften hervorgehen, sind erst in neuester Zeit in den Umkreis psychologischer Aufgaben eingetreten. Man wies früher die hierher gehörigen Probleme entweder gewissen einzelnen Geisteswissenschaften (Sprachwissenschaft, Geschichte, Jurisprudenz u.dgl.) oder, soweit sie allgemeinerer Natur waren, der Philosophie d. h. Metaphysik zu. Soweit die Psychologie sich auf dieselben einließ, war sie aber, ebenso wie die einschlagenden Einzelwissenschaften, meist beherrscht von jenem Reflexionsstandpunkt der Vulgärpsychologie, der geneigt ist, alle geistigen Erzeugnisse der Gemeinschaften so viel wie möglich als willkürliche, von Anfang an auf bestimmte Nützlichkeitszwecke gerichtete Erfindungen zu behandeln. Ihren hauptsächlichsten philosophischen Ausdruck fand diese Anschauung in der Lehre vom "Staatsvertrage", nach welcher die geistige Gemeinschaft überhaupt nichts Ursprüngliches und Natürliches sein sollte, sondern auf eine willkürliche Vereinigung einer Summe von Individuen zurückgeführt wurde. Eine Nachwirkung dieser unpsychologischen und gegenüber den Problemen der Völkerpsychologie völlig ratlosen Auffassung ist es, wenn heute noch die Begriffe eines Gesamtbewußtseins und Gesamtwillens den gröbsten Mißverständnissen begegnen. Statt sie einfach als einen Ausdruck für die tatsächliche Übereinstimmung und die tatsächlichen Wechselwirkungen der Individuen einer Gemeinschaft zu betrachten, meint man hinter ihnen irgendein mythologisches Wesen oder mindestens eine metaphysische Substanz zu wittern. Daß solche Meinungen verkehrt sind, bedarf nach dem oben Gesagten keines weiteren Nachweises. Es ist aber augenfällig, daß sie selbst aus jener mißbräuchlichen Anwendung des Substanzbegriffs hervorgegangen sind, die so lange die Psychologie beherrscht hat und die dazu rührte, Substanz und Realität einander gleich zu setzen. Auch in dieser Vermengung der Begriffe verrät sich wiederum deutlich die innere Verwandtschaft des vulgären Spiritualismus mit dem von ihm bekämpften Materialismus. (Vgl. hierzu § 2, S. 7.)

    Literatur. Lazarus u. Steinthal, Ztschr. f. Völkerpsychologie u. Sprachwissenschaft, I, 1860. Wundt, Völkerpsychologie, I3, Einleitung. Logik3, III, S. 458ff., Bd. 2. Elemente der Völkerpsychologie, 1912.