§ 17. Apperzeptionsverbindungen

    1. Die Assoziationen in allen ihren Formen werden von uns als passive Erlebnisse aufgefaßt. Denn das für die Willens- und Aufmerksamkeitsvorgänge charakteristische Tätigkeitsgefühl greift immer nur in der Weise in sie ein, daß es bei der Apperzeption gegebener psychischer Inhalte an die bereits gebildeten Verbindungen sich anschließt. (Vgl. § 15, 8 f.) Die Assoziationen sind demnach Erlebnisse, die ihrerseits Willensvorgänge erwecken können, selbst jedoch nicht unmittelbar durch Willensvorgänge beeinflußt werden. Eben dies ist uns aber das Kriterium eines passiven Erlebnisses.

    In dieser Hinsicht unterscheiden sich nun wesentlich die Verbindungen zweiter Art, die zwischen verschiedenen psychischen Gebilden und ihren Elementen stattfinden können: die Apperzeptionsverbindungen. Bei ihnen folgt das Gefühl der Tätigkeit, begleitet von wechselnderen Spannungsempfindungen, nicht bloß den Verbindungen als eine von ihnen ausgelöste Wirkung nach, sondern es geht ihnen voraus; daher die Verbindungen selbst unmittelbar als unter der Mitwirkung der Aufmerksamkeit zustande kommend aufgefaßt werden. In diesem Sinne bezeichnen wir sie als aktive Erlebnisse.

    2. Die Apperzeptionsverbindungen erstrecken sich über eine Menge psychischer Vorgänge, welche die gewöhnliche Erfahrung durch gewisse Allgemeinbezeichnungen, wie Denken, Reflexion, Phantasie- und Verstandestätigkeit, zu unterscheiden pflegt. Dabei gelten diese zwar sämtlich als höhere Stufen psychischer Prozesse, den sinnlichen Wahrnehmungen und den reinen Erinnerungsvorgängen gegenüber; doch wird ihnen im einzelnen wieder ein völlig verschiedenartiger Charakter zugeschrieben. Insbesondere wird für die sogenannten Phantasie- und Verstandestätigkeiten ein solcher Unterschied angenommen. Gegenüber dieser zersplitternden Auffassung der Vermögenstheorie suchte die Assoziationspsychologie dadurch einen einheitlichen Standpunkt zu gewinnen, daß sie auch die apperzeptiven Vorstellungsverbindungen dem allgemeinen Begriff der Assoziationen subsumierte, wobei sie außerdem an der oben (§ 16) hervorgehobenen Beschränkung dieses Begriffs auf die sukzessive Assoziation festhielt. Bei dieser Reduktion auf die sukzessive Assoziation wurden jedoch entweder die wesentlichen subjektiven wie objektiven Unterschiedsmerkmale der Apperzeptionsverbindungen vernachlässigt ; oder man suchte sich über die Schwierigkeiten einer Erklärung derselben durch die Einführung gewisser der Vulgärpsychologie entnommener Hilfsbegriffe hinwegzusetzen, indem man dem "Interesse" oder der "Intelligenz" einen Einfluß auf die stattfindenden Assoziationen einräumte. Häufig lag dieser Auffassung überdies das Mißverständnis zugrunde, mit der Anerkennung bestimmter Unterschiede zwischen den Apperzeptionsverbindungen und den Assoziationen solle überhaupt eine Unabhängigkeit jener von diesen behauptet werden. Natürlich kann davon keine Rede sein. An die Assoziationen sind gerade so gut wie an die ursprünglichen Sinneseindrücke alle psychischen Vorgänge gebunden. Aber wie die Assoziationen selbst schon überall an den Sinneswahrnehmungen teilnehmen und sich trotzdem in den Erinnerungsvorgängen zu relativ selbständigen Prozessen gestalten, so ruhen wiederum die Apperzeptionsverbindungen ganz und gar auf den Assoziationen, ohne daß es jedoch möglich wäre, ihre wesentlichen Eigenschaften auf diese zurückzuführen.

    3. Suchen wir uns nun über diese wesentlichen Eigenschaften der Apperzeptionsverbindungen Rechenschaft zu geben, so lassen sich die in ihnen zum Ausdruck kommenden psychischen Vorgänge zunächst in einfache und in zusammengesetzte Funktionen der Apperzeption unterscheiden. Als einfache begegnen uns die Funktionen der Beziehung und der Vergleichung; als zusammengesetzte die Funktionen der Synthese und der Analyse.

A. Die einfachen Apperzeptionsfunktionen.
(Beziehung und Vergleichung.)

    4. Die elementarste aller Funktionen der Apperzeption ist die Beziehung zweier psychischer Inhalte aufeinander. Die Grundlagen solcher Beziehung sind überall in den einzelnen psychischen Gebilden und ihren Assoziationen gegeben; aber die Ausführung der Beziehung besteht in einer besonderen Apperzeptionstätigkeit, durch die erst die Beziehung selbst zu einem neben den aufeinander bezogenen Inhalten vorhandenen, wenn auch freilich fest mit ihnen verbundenen besonderen Bewußtseinsinhalt wird. Wenn wir uns z. B. bei einer Wiedererkennung der Identität des Gegenstandes mit einem früher wahrgenommenen, oder wenn wir uns bei einer Erinnerung einer bestimmten Beziehung des erinnerten Erlebnisses zu einem gegenwärtigen Eindruck bewußt werden, so verbindet sich hier mit den Assoziationen eine Funktion der Apperzeption in Gestalt beziehender Tätigkeit.

    Solange die Wiedererkennung eine reine Assoziation bleibt, beschränkt sich die Beziehung auf das unmittelbar oder nach einer kurzen Zwischenzeit der Assimilation des neuen Eindrucks folgende Bekanntheitsgefühl. Tritt dagegen zur Assoziation die apperzeptive Funktion hinzu, so gewinnt jenes Gefühl ein deutlich bewußtes Vorstellungssubstrat, indem die frühere Wahrnehmung und der neue Eindruck voneinander zeitlich unterschieden und zugleich nach ihren wesentlichen Eigenschaften in ein Verhältnis der Übereinstimmung gebracht werden. Ähnlich verhält es sich, wenn wir uns der Motive eines Erinnerungsakts bewußt werden. Auch dies setzt voraus, daß zu der assoziativen Entstehung des Erinnerungsbildes eine Vergleichung desselben mit den die Assoziation auslösenden Eindrücken hinzukomme, ein Vorgang, der abermals nur als eine Funktion der Aufmerksamkeit möglich ist.

    5. Auf diese Weise wird durch die Assoziationen überall da, wo sie oder ihre Produkte zu Gegenständen willkürlicher Beobachtung werden, die Funktion der Beziehung ausgelöst. Diese aber verbindet sich, wie die obigen Beispiele lehren, mit der Funktion der Vergleichung, sobald die aufeinander bezogenen Bewußtseinsinhalte deutlich gesonderte Vorgänge sind, die zugleich einer und derselben Klasse psychischer Erlebnisse angehören. Die Beziehung ist demnach der weitere, die Vergleichung der engere Begriff. Eine Vergleichung ist nur dadurch möglich, daß die verglichenen Inhalte zueinander in Beziehung gebracht werden. Dagegen können Bewußtseinsinhalte aufeinander bezogen werden, z. B. eine Eigenschaft auf einen Gegenstand, oder ein Vorgang auf einen andern, dem er regelmäßig folgt oder vorausgeht, ohne daß sie miteinander verglichen werden. Dieses Verhältnis bringt es zugleich mit sich, daß, wo die Bedingungen zu einer Vergleichung gegeben sind, die nämlichen Erlebnisse bald bloß in Beziehung gebracht, bald miteinander verglichen werden können. So nenne ich es eine Beziehung, wenn ich einen gegenwärtigen Eindruck als den Grund für die Erinnerung an einen früheren auffasse; eine Vergleichung dagegen, wenn ich zwischen dem früheren und dem jetzigen Eindruck bestimmte Übereinstimmungen und Unterschiede feststelle.

    6. Die Vergleichung setzt sich wieder aus zwei, in der Regel auf das engste verbundenen Elementarfunktionen zusammen: aus der Übereinstimmung und der Unterscheidung, wobei wir den ersteren Ausdruck als Feststellung von Übereinstimmungen, ähnlich wie den zweiten als solche von Unterschieden verstehen. Es ist ein noch heute in der Psychologie verbreiteter, aus der Vulgärpsychologie überkommener und von der logisch-intellektualistischen Richtung (§ 2, 5 f.) gesteigerter Irrtum, daß man mit der Existenz der psychischen Elemente und Gebilde ohne weiteres ihre apperzeptive Vergleichung zusammenwirft. Danach soll jede Empfindung ein "Empfindungsurteil", die unmittelbare Wahrnehmung einer Entfernung ein "Tiefenurteil" sein usw. Da das Urteilen, in allen diesen Fällen den Empfindungen und Vorstellungen erst nachfolgt, so ist es aber durchaus von diesen zu trennen. Natürlich bestehen in unseren psychischen Vorgängen Übereinstimmungen und Unterschiede, und ohne daß sie vorhanden wären, würden wir sie nicht bemerken können. Immer jedoch bleibt die vergleichende Tätigkeit, die diese Verhältnisse der Empfindungen und Vorstellungen feststellt, eine von ihnen verschiedene Funktion, die zu ihnen hinzutreten kann, aber nicht notwendig hinzutreten muß.

    7. Schon die psychischen Elemente, die Empfindungen und einfachen Gefühle, können wir nach solchen Übereinstimmungen und Unterschieden vergleichen. In der Tat beruht es auf einer Reihe derartiger Vergleichungsakte, wenn wir jene Elemente in bestimmte Systeme bringen, deren jedes die näher zusammengehörigen enthält. Innerhalb eines Systems ist dann wieder eine doppelte Vergleichung möglich: die der Intensitätsgrade und der Qualitätsstufen, zu denen überdies, sobald man die Art in Betracht zieht, wie die Elemente bewußt sind, noch die der Klarheitsgrade hinzutreten kann. In gleicher Weise erstreckt sich die Funktion der Vergleichung über die zusammengesetzten intensiven und extensiven Gebilde. Jedes psychische Element und jedes psychische Gebilde ist, sofern es in ein irgendwie gradweise abgestuftes System eingeordnet werden kann, eine psychische Größe. Die Auffassung des Wertes einer solchen Größe ist aber nur dadurch möglich, daß sie mit andern Größen desselben Kontinuums verglichen wird. Kommt daher auch die Größeneigenschaft als solche, und zwar im allgemeinen in verschiedenen Formen, nämlich als Intensität, als Qualität, als extensiver (räumlicher und zeitlicher) Wert, und eventuell, wenn die verschiedenen Bewußtseinszustände berücksichtigt werden, als Klarheitsgrad, jedem psychischen Element und jedem psychischen Gebilde zu, so ist doch eine Größenbestimmung nur mittels der apperzeptiven Funktion der Vergleichung möglich.

    8. Hierbei unterscheidet sich nun die psychische von der physischen Größenbestimmung durch die Eigenschaft, daß diese, weil sie an relativ konstanten Objekten ausgeführt werden kann, ein Vergleichungsverfahren gestattet, das in fast beliebig getrennten zeitlichen Akten möglich ist: wir können z. B. heute durch Barometermessung die Höhe eines gewissen Berges und dann über Jahr und Tag die Höhe eines andern Berges bestimmen, und gleichwohl, solange sich nur in der Zwischenzeit keine merklichen Erdrevolutionen ereignet haben, die Resultate beider Messungen vergleichen. Da hingegen die psychischen Gebilde nicht relativ feste Objekte, sondern fortwährend fließende Vorgänge sind, so können wir zwei psychische Größen nur unter der Bedingung vergleichen, daß sie uns unter sonst konstanten Bedingungen des Bewußtseinszustandes in unmittelbarer Aufeinanderfolge gegeben werden. Diese Bedingung führt von selbst die zwei andern mit sich, daß es für die psychische Vergleichung keine absoluten Maßstäbe gibt, sondern daß jede Größenvergleichung ein zunächst für sich alleinstehender und daher bloß relativ gültiger Vorgang ist; und daß femer Größenvergleichungen jeweils nur an Größen einer und derselben Dimension vorgenommen werden können. Eine analoge Übertragung, wie sie bei der Reduktion der verschiedensten physischen Größen, wie Zeitgrößen, Kraftgrößen, auf lineare räumliche Größen ausgeführt wird, ist demnach bei den psychischen Größenvergleichungen unmöglich.

    9. Diese Verhältnisse bringen es mit sich, daß nicht psychische Größenverhältnisse von beliebiger Beschaffenheit direkt festgestellt werden können, sondern daß eine unmittelbare Vergleichung nur für gewisse ausgezeichnete Fälle möglich ist. Solche Fälle sind: l) die Gleichheit zweier psychischer Größen und 2) der eben merkliche Unterschied zweier Größen, z. B. zweier Empfindungsintensitäten von gleicher Qualität oder zweier der nämlichen Dimension angehörender Empfindungsqualitäten von gleicher Intensität. Hierzu kommt dann noch als ein etwas verwickelterer, aber dennoch die Grenzen unmittelbarer Vergleichung noch nicht überschreitender Fall: 3) die Gleichheit zweier Größenunterschiede, namentlich wenn diese unmittelbar aneinander grenzenden Größengebieten angehören. Es ist klar, daß bei jeder dieser drei Arten psychischer Größenmessung die beiden fundamentalen Funktionen apperzeptiver Vergleichung, die Übereinstimmung und Unterscheidung, nebeneinander zur Anwendung kommen. Bei der ersten stuft man von zwei psychischen Größen A und B die zweite B so lange ab, bis sie für die unmittelbare Vergleichung mit A übereinstimmt. Bei der zweiten verändert man von zwei ursprünglich gleichen Größen A und B die eine, B, so lange, bis sie entweder eben merklich größer oder eben merklich kleiner als A erscheint. Die dritte endlich wendet man am zweckmäßigsten in der Form an, daß man eine Strecke psychischer Größen, z. B. von Empfindungsstärken, die von A als unterer bis zu C als oberer Grenze reicht, durch eine mittlere Größe B, die wieder durch stetige Abstufung gefunden wird, so einteilt, daß die Teilstrecken AB und BC als gleich aufgefaßt werden.

    10. Die am unmittelbarsten und einfachsten zu verwertenden Ergebnisse unter diesen Vergleichungsmethoden liefert die zweite, die als Methode der minimalen Unterschiede bezeichnet wird. Man nennt bei ihr denjenigen Unterschied der beiden physischen Reize, der den eben unterscheidbaren psychischen Größen entspricht, die Unterschiedsschwelle des Reizes; diejenige Reizgröße aber, bei welcher der zugehörige psychische Vorgang, z. B. eine Empfindung, eben noch apperzipiert werden kann, nennt man die Reizschwelle. Die Beobachtung zeigt nun, daß die Unterschiedsschwelle mit der Entfernung von der Reizschwelle immer mehr wächst, und zwar so, daß ihr Verhältnis zur absoluten Größe des Reizes oder die relative Unterschiedsschwelle konstant bleibt. Muß man z. B. eine Schallstärke l um 1/10 vermehren, damit die Schallempfindung eben merklich größer werde, so muß man die Schallstärke 2 um 2/10, 3 um 3/10 wachsen lassen usw. Dieses Gesetz wird nach seinem Entdecker E. H. Weber das Webersche Gesetz genannt. Dasselbe ist ohne weiteres verständlich, wenn wir es als ein Gesetz der apperzeptiven Vergleichung auffassen. Denn unter dieser Voraussetzung hat es offenbar die Bedeutung, daß psychische Größen nur nach ihrem relativen Wert verglichen werden können.

    Diese Auffassung des Weberschen Gesetzes als eines allgemeinen Gesetzes der Relativität psychischer Größen setzt voraus, daß die psychischen Größen selbst, die der Vergleichung unterworfen werden, innerhalb der Grenzen der Gültigkeit des Weberschen Gesetzes den sie bedingenden Reizen proportional wachsen. Die Richtigkeit dieser Voraussetzung hat bis jetzt wegen der Schwierigkeit, die Nerven- und Sinneserregungen exakt zu messen, physiologisch noch nicht nachgewiesen werden können. Dagegen spricht für sie die psychologische Erfahrung, daß in gewissen besonderen Fällen, in denen durch die Bedingungen der Beobachtung eine Vergleichung absoluter Größenunterschiede nahegelegt wird, statt der Konstanz der relativen eine Konstanz der absoluten Unterschiedsschwelle gefunden worden ist: so z. B. in weitem Umfang bei der Vergleichung minimaler Tonhöhenunterschiede (§ 6, 11). Ebenso werden bei der Vergleichung von größeren Empfindungsstrecken nach der dritten der oben angegebenen Methoden im allgemeinen gleiche absolute, nicht gleiche relative Reizunterschiede als gleich aufgefaßt. Demnach kann die apperzeptive Vergleichung unter abweichenden Bedingungen zwei verschiedenen Prinzipien folgen: entweder, und dies in der Regel, dem Prinzip der relativen Vergleichung (dem Weberschen Gesetz), oder aber einem Prinzip der absoluten Vergleichung, das unter besonderen, eine solche Auffassung begünstigenden Bedingungen an die Stelle des vorigen tritt.

    10a. Das Webersche Gesetz ist in erster Linie für Empfindungs intensitäten und sodann noch in beschränkterem Umfang für die Vergleichung extensiver Gebilde, namentlich zeitlicher Vorstellungen, sowie in gewissen Grenzen auch für die räumlichen Gesichtsvorstellungen und für die Bewegungsvor-stellungen nachgewiesen. Dagegen trifft es für die extensiven Vorstellungen des äußeren Tastsinns, offenbar wegen der verwickelten Abstufungen der Lokalzeichen (§ 10, 4), nicht zu. Ebenso läßt es sich durchgängig bei den Empfindungsqualitäten nicht bestätigen. Allerdings ist die Abstufung der Tonin-tervalle wieder eine relative, indem jedes Intervall einem bestimmten Verhältnis der Schwingungszah-len entspricht (z.B. Oktave 1:2, Quinte 2:3 usw.); dies beruht aber wesentlich auf den durch die Ver-hältnisse eines Grundtons zu seinen Obertönen bestimmten Eigenschaften der Klangverwandtschaft. (Vgl. § 9, 3ff.) Wo an Stelle des Weberschen Relativitätsgesetzes eine absolute Größenvergleichung stattfindet, da ist übrigens diese natürlich nicht mit einer Feststellung absoluter Maße zu verwechseln. Eine solche würde eine absolute Einheit, also die Möglichkeit der Gewinnung eines konstanten Maßstabs, voraussetzen, was, wie oben bemerkt, auf psychischem Gebiet ausgeschlossen ist (s. o. Pkt. 8f.). Vielmehr tritt die absolute Größenvergleichung immer nur in der Form der Gleichschätzung gleicher absoluter Unterschiede auf. Eine solche ist aber von Fall zu Fall möglich, ohne daß eine konstant bleibende Größeneinheit vorhanden wäre. So vergleichen wir z. B. zwei Empfindungsstrecken A B und B C nach ihrem relativen Wert, wenn wir bei beiden das Verhältnis der oberen zur unteren Grenzempfindung auffassen. In diesem Falle beurteilen wir demnach die Strecken A B und B C als gleichwertig, wenn  ist (Webersches Gesetz). Wir vergleichen dagegen A B und B C nach ihrem absoluten Werte, wenn uns innerhalb der untersuchten Empfindungsdimension der Abstand von C und B gleich dem von B und A, also C – B = B - A erscheint (Merkelsches Gesetz). Erschwerende Bedingungen treten für die Auffassung von Intensitäts- und Qualitätsunterschieden dann ein, wenn die beiden zu vergleichenden Reize nicht unabhängig voneinander in einer durch eine Zwischenzeit getrennten Sukzession oder beim Gesichts- und Tastsinn räumlich gesondert einwirken, sondern wenn der eine kontinuierlich in den andern übergeht. Demnach wird in diesem Fall die Unterschiedsschwelle größer, und zugleich wächst sie mit der Langsamkeit der Veränderung. So beträgt z. B. die Schwelle für die Vergleichung getrennt einwirkender Helligkeiten 1/100, sehr schnelle, aber kontinuierliche Veränderungen derselben 3/100, für langsame Veränderungen etwa 10/100. Tonhöhen werden sukzessiv bei 1/3 Schw., kontinuierlich verändert bei 1/2 bis 11/2 Schw., Druckempfindungen sukzessiv bei 8/100, kontinuierlich verändert bei 10/100 - 30/100 ihrer Größe unterschieden, wobei die größeren Zahlen jedesmal für die langsameren Veränderungen gelten. Doch bewahrt das Webersche Gesetz in den Gebieten, wo es überhaupt zutrifft, auch unter diesen erschwerenden Bedingungen der Vergleichung seine Geltung.

Indem er das Webersche Gesetz als einen Ausdruck für die funktionelle Beziehung zwischen Empfindung und Reiz betrachtete und voraussetzte, daß es noch für unendlich kleine Änderungen beider gelte, hat ihm Fechner die mathematische Form der Differentialgleichung  gegeben, worin E die Empfindungs-, R die Reizgröße bedeutet, und daraus für endliche Empfindungs- und Reizwerte die Form der logarithmischen Funktion abgeleitet: E = k · log R + c, wo k und c aus den Versuchen zu ermittelnde konstante Größen bedeuten (Fechners psycho-physisches Gesetz: die Empfindung wächst proportional dem Logarithmus des Reizes). Doch kommt gerade bei dieser Formel, da sie eine unmittelbare Beziehung zwischen Empfindung und Reiz annimmt, die Tatsache nicht zum Ausdruck, daß das Gesetz aller Wahrscheinlichkeit nach vielmehr auf der relativen Maßbeziehung der Empfindungen selbst beruht. Im Sinne dieser Auffassung läßt sich dasselbe ausdrücken durch die Formel , worin DE die Unterschiedsschwelle und V die Vergleichsfunktion bezeichnet. Diese Formel enthält, der wahrscheinlichen Bedeutung des Weberschen Gesetzes entsprechend, nur psychische Größen.

    10b. Die Methoden zur Nachweisung des Weberschen Gesetzes oder anderer Größenbeziehungen zwischen psychischen Elementen und Gebilden pflegt man psycho-physische Methoden zu nennen, ein ungeeigneter Ausdruck, weil die Tatsache, daß man sich physischer Hilfsmittel bedient, auch allen andern Methoden der experimentellen Psychologie eigen ist. Zweckmäßiger werden sie daher "Methoden der psychischen Größenmessung" genannt. Im allgemeinen aber kann man bei diesen Methoden zum Behuf der Auffindung der oben bemerkten ausgezeichneten Punkte in doppelter Weise verfahren. Entweder ermittelt man jene Punkte direkt, indem man von zwei psychischen Größen A und B die eine A konstant läßt und die andere B so lange abstuft, bis sie einem jener ausgezeichneten Punkte entspricht, also entweder gleich A oder eben merklich größer oder eben merklich kleiner ist usw.: Abstufungsmethoden. Dahin gehört namentlich die am häufigsten benutzte und am direktesten zum Ziel führende "Methode der Minimaländerungen" und, als eine Art Modifikation derselben für den Fall der Gleicheinstellung, die "Methode der mittleren Fehler". Oder man vergleicht in oft wiederholten Versuchen zwei beliebig, aber sehr wenig verschiedene Reize A und B und berechnet aus der Zahl der Fälle, in denen A = B, A > B, A < B geschätzt wurde, die ausgezeichneten Punkte, namentlich die Unterschiedsschwellen: Abzählungsmethoden. Die hauptsächlich hier angewandte Methode hat man als die der richtigen und falschen Fälle bezeichnet. Sie würde richtiger die Methode der drei Fälle (Gleichheit, positiver, negativer Unterschied) genannt werden. Das Nähere über diese und andere Methoden gehört in eine spezielle Darstellung der experimentellen Psychologie.

    In der Deutung des Weberschen Gesetzes sind noch immer neben der oben entwickelten psychologischen zwei andere Auffassungen vertreten, die man die physiologische und die psycho-physische nennen kann. Jene leitet dasselbe aus irgendwelchen hypothetischen Verhältnissen der Leitung der Erregungen im zentralen Nervensystem ab. Diese betrachtet es als ein spezifisches Gesetz der "Wechselwirkung zwischen Leib und Seele". Von diesen beiden Deutungen ist aber die physiologische nicht nur ganz hypothetisch, sondern auch auf gewisse Fälle, z. B. zeitliche und räumliche Vorstellungen, unanwendbar. Die psycho-physische Deutung Fechners beruht auf einer Auffassung des Verhältnisses von Leib und Seele, die von der heutigen Psychologie nicht mehr festgehalten werden kann. (Vgl. § 22, 8.)

    Literatur. E. H. Weber, Tastsinn und Gemeingefühl, Handwörterbuch d. Physiol., III, 2. Fechner, Elemente der Psychophysik, 1860. In Sachen der Psyohophysik, 1877. Revision der Hauptpunkte der Psychoph. 1882. Über die psychischen Maßprinzipien, Philos. Stud., Bd. 4, 1887. G. E. Müller, Zur Grundlegung der Psychophysik, 1878. Delboeuf, Elements de psychophysique, 1883. G. F. Lipps, Grundriß d. Psychophysik, 1899. Arch. f. Psych., Bd. 3. Die psychischen Maßmethoden, 1906. Wirth, Psychol. Stud., Bd. 6. Foucault, La Psychophysique, 1901. Wundt, Phil. Stud., Bd. l u. 2, Phys. Psych.6, I, Kap. 7, III, Kap. 19. M. u. T. Vorl. 2–4. Logik3, III, Kap. 3 (über psychische Größenmessung im allg.). G. E. Müller, Ergebnisse der Physiologie von Asher u. Spiro, II, 2, 1904. Wirth, Psychophysik, in Hdbch. d. physiol. Methodik, III, 5, 1912.–Spezialarbeiten: Merkel, Phil. Stud., Bd. 4, 5, 7, 8 u. 9. Tischer, Phil. Stud., Bd. l. Kraepelin, ebenda, Bd. 2. Angell, Bd. 7. Kämpfe, Bd. 8. Keller, Psychol. Stud., Bd. 3. Stephanowitsch, ebenda, Bd. 8. Herfurth, ebenda, Bd. 9. Vergleichung von Empfindungsänderungen: Stanley Hall u. Motora, Amer. Journ., I. Stratton, Phil. Stud., Bd. 12. Stern, Psychologie der Veränderungsauffassung, 1898.

    11. Einen Spezialfall der im allgemeinen unter das Webersche Gesetz fallenden apperzeptiven Vergleichung bilden diejenigen Erscheinungen, bei denen die zu vergleichenden Größen als relativ größte Unterschiede oder, wenn es sich um Gefühle handelt, als Gegensätze aufgefaßt werden. Diese Erscheinungen pflegt man unter dem Gesamtnamen des Kontrastes zusammenzufassen. Dabei pflegen jedoch gerade auf demjenigen Gebiete, auf dem die Kontrasterscheinungen bis dahin am genauesten untersucht sind, bei den Lichtempfindungen, zwei in ihren Ursachen offenbar völlig verschiedene, wenn auch in ihren Wirkungen bis zu einem gewissen Grade verwandte Erscheinungen zusammengeworfen zu werden; die der Lichtinduktion oder des physiologischen Kontrastes (§ 6, 24f.), und die des eigentlichen oder psychologischen Kontrastes. Dieser wird bei intensiveren Eindrücken stets durch die stärkeren physiologischen Induktionswirkungen überdeckt. Von ihnen unterscheidet er sich jedoch durch zwei wichtige Merkmale: erstens erreicht er nicht bei den größten Helligkeiten und Sättigungen, sondern bei denjenigen mittleren Stufen, bei denen das Auge für Helligkeits- und Sättigungsänderungen am empfindlichsten ist, seine größte Stärke; und zweitens kann er unter günstigen Bedingungen durch die Vergleichung mit einem unabhängig gegebenen Objekt aufgehoben werden. Besonders durch das letztere Merkmal gibt sich dieser Kontrast ohne weiteres als das Produkt eines Beziehungsvorgangs zu erkennen. Wenn man z. B. ein graues Quadrat auf schwarzem und daneben ein Quadrat vom gleichen Grau auf weißem Grund anbringt und dann das Ganze mit durchsichtigem Seidenpapier überdeckt, so erscheinen die beiden Quadrate ganz verschieden: das auf dem schwarzen Grunde sieht hell, beinahe weiß, das auf dem weißen Grunde dunkel, beinahe schwarz aus. Da die Nachbild- und Irradiationswirkungen bei diesem "Florkontrast" verschwindend klein sind, so kann man annehmen, daß die Erscheinung wesentlich dem psychologischen Kontrast angehört. Hält man nun ein aus schwarzem Karton hergestelltes Lineal, das ebenfalls mit dem durchsichtigen Papier bedeckt ist und daher genau in dem nämlichen Grau wie die beiden Quadrate erscheint, so an die letzteren, daß es die unteren Enden derselben verbindet, so wird der Kontrastunterschied der Quadrate entweder ganz aufgehoben oder doch stark vermindert. Wählt man in diesem Versuch statt des farblosen einen farbigen Hintergrund, so erscheint das graue Quadrat sehr auffallend in der zugehörigen Komplementärfarbe; aber auch dieser Kontrast kann durch die Vergleichung mit einem unabhängigen grauen Objekt zum Verschwinden gebracht werden.

    12. Ähnliche Kontrasterscheinungen finden sich nun nicht bloß bei den Empfindungen aller andern Sinnesgebiete, sofern die Bedingungen zu ihrer Nachweisung günstig sind, sondern besonders stark ausgeprägt bei den Gefühlen, und endlich unter geeigneten Umständen bei den extensiven räumlichen und zeitlichen Vorstellungen. Verhältnismäßig am freiesten von ihnen sind die Empfindungen der Tonhöhen, wo die bei den meisten Menschen ziemlich gut ausgebildete Fähigkeit, absolute Tonhöhen wiederzuerkennen, wahrscheinlich dem Kontrast entgegenwirkt. Bei den Gefühlen hängt die Wirkung desselben mit den natürlichen Gegensätzen der Gefühle zusammen. So werden Lustgefühle durch unmittelbar vorangegangene Unlustgefühle und manche Entspannungsgefühle durch die vorangegangenen Spannungsgefühle, z. B. das Gefühl der Erfüllung durch das der vorangegangenen Erwartung, gehoben. Bei den räumlichen und zeitlichen Vorstellungen zeigt sich die Wirkung des Kontrastes am deutlichsten, wenn eine und dieselbe Raum- oder Zeitstrecke das eine Mal mit einer kleineren, das andere Mal mit einer größeren Strecke verglichen wird. Die nämliche Strecke erscheint dann beidemal verschieden: dort im Verhältnis zur kleinen vergrößert, hier im Verhältnis zur großen verkleinert. Auch bei den räumlichen Vorstellungen kann man aber den Kontrast beseitigen, wenn man ein Vergleichsobjekt so zwischen den kontrastierenden Strecken anbringt, daß eine gleichzeitige Beziehung beider auf dasselbe leicht möglich ist.

    13. Als eine besondere Modifikation des Kontrastes lassen sich die Erscheinungen betrachten, die bei der Auffassung von Eindrücken eintreten, deren wirkliche von ihrer erwarteten Beschaffenheit abweicht. Wenn man z.B. darauf vorbereitet ist, ein schweres Gewicht zu heben, während sich bei der wirklichen Hebung das Gewicht als leicht erweist, oder wenn man umgekehrt statt des erwarteten leichten ein schweres Gewicht hebt, so tritt dort eine Unterschätzung, hier eine Überschätzung des gehobenen Gewichts ein. Stellt man eine Reihe genau gleicher Gewichte her, die von verschiedenen Volumen sind, so daß sie wie ein aufsteigender Gewichtssatz aussehen, so erscheinen bei der Hebung die Gewichte verschieden schwer, und zwar scheint das kleinste Gewicht das schwerste und das größte das leichteste zu sein. Hierbei bestimmt zunächst die geläufige Assoziation des größeren Volumens mit der größeren Masse die Erwartung des Eindrucks, und die abweichende Schätzung wird dann durch den Kontrast der wirklichen mit der erwarteten Empfindung hervorgebracht.

    Literatur. Florkontrast: H. Meyer, Poggendorffs Ann. der Physik, Bd. 44. Helmholtz, Physiol. Optik, 2. Abschn., §24. J. Köhler, Arch. f. Psych., Bd. 2. Phys. Psych.6, II, Kap. 10,4. Baumkontrast: Müller-Lyer, Zeitschr. f. Psychol., Bd. 9. Wundt, Geom.-optische Täuschungen. Abh. d. sächs. Ges, d. W., 1898. Zeitkontrast: Meumann, Phil. Stud., Bd.8. Gefühlskontrast Phys.Psych.6, II, Kap. II, 3. Gewichtstäuschungen: Müller u. Schumann, Pflügers Arch. f. Physiol., Bd. 37. Seashore, Scriptures Stud. of Yale Psych. Lab., 1895. Raumtäuschungen: Spearman, Psychol. Stud., Bd. I. Menderer, ebenda, Bd. 4. Klemm, ebenda, Bd. 5.

B. Die zusammengesetzten Apperzeptionsfunktionen.
(Synthese und Analyse.)

    14. Indem die einfachen Funktionen der Beziehung und der Vergleichung in mehrfacher Wiederholung und Verbindung zur Anwendung kommen, gehen aus ihnen die beiden zusammengesetzten psychischen Funktionen der Synthese und der Analyse hervor. Unter ihnen ist die Synthese zunächst das Produkt der beziehenden, die Analyse das der vergleichenden Apperzeption.

    Als verbindende Funktion ruht die apperzeptive Synthese auf den Verschmelzungen und Assoziationen. Sie scheidet sich von diesen durch die Willkür, mit der bei ihr von den durch die Assoziation bereitliegenden Vorstellungs- und Gefühlsbestandteilen einzelne bevorzugt und andere zurückgedrängt werden, während zugleich die Motive dieser Auslese im allgemeinen erst aus der ganzen zurückliegenden Entwicklung des individuellen Bewußtseins erklärt werden können. Das Produkt der Synthese ist infolgedessen ein zusammengesetztes Ganzes, dessen Bestandteile sämtlich von früheren Sinneswahrnehmungen und deren Assoziationen herstammen, in welchem sich aber die Verbindung dieser Bestandteile mehr oder minder weit von den ursprünglichen Verbindungen der Eindrücke entfernen kann.

    Insofern die Vorstellungsbestandteile eines durch apperzeptive Synthese entstandenen Gebildes als die Träger des übrigen Inhaltes betrachtet werden können, bezeichnen wir ein solches Gebilde allgemein als eine Gesamtvorstellung. Wo die Verbindung der Elemente des Ganzen als eine eigenartige, von den Assoziationsprodukten der Eindrücke erheblich abweichende erscheint, da wird die Gesamtvorstellung, ebenso wie jeder ihrer relativ selbständigen Vorstellungsbestandteile, wohl auch eine Phantasievorstellung oder ein Phantasiebild genannt. Da sich übrigens diese willkürliche Synthese bald mehr, bald weniger von den in den unmittelbaren Sinneswahrnehmungen und ihren Assoziationen gegebenen Verbindungen entfernen kann, so ist praktisch kaum eine scharfe Grenze zwischen Phantasie- und Erinnerungsbild zu ziehen. Auch bildet das positive Merkmal der willkürlichen Synthese ein wesentlicheres Kennzeichen des apperzeptiven Vorgangs als das negative, daß die Beschaffenheit der Verbindung keiner einzelnen bestimmten Sinneswahrnehmung entspricht. Zugleich liegt hierin der augenfälligste äußere Unterschied der Phantasie- von den bloßen Erinnerungsbildern begründet. Er besteht darin, daß jene in ihrer Klarheit und Deutlichkeit wie auch meist in der Vollständigkeit und Stärke ihres Empfindungginhalts den unmittelbaren Sinneswahrnehmungen näher stehen als diese. Dies erklärt sich wohl daraus, daß die hemmenden Wechselwirkungen, welche die frei schwebenden Assoziationen aufeinander ausüben, und welche es zu einer festeren Gestaltung der Erinnerungsbilder nicht kommen lassen, durch die willkürliche Bevorzugung bestimmter Vorstellungsgebilde vermindert oder beseitigt werden. Man kann daher in Phantasiebildern sich ergehen wie in wirklichen Erlebnissen. Bei Erinnerungsbildern ist das nur dann möglich, wenn sie zu Phantasiebildern werden, d. h. wenn man die Erinnerungen nicht mehr bloß passiv in sich aufsteigen läßt, sondern bis zu einem gewissen Grade frei mit ihnen schaltet, wobei dann freilich auch willkürliche Veränderungen derselben, eine Vermengung erlebter und erdichteter Wirklichkeit, nicht zu fehlen pflegt. Darum bestehen alle unsere Lebenserinnerungen aus "Dichtung und Wahrheit". Unsere Erinnerungsbilder wandeln sich unter dem Einfluß unserer Gefühle und unseres Willens in Phantasiebilder um, über deren Ähnlichkeit mit der erlebten Wirklichkeit wir meist uns selbst täuschen.

    15. An die so durch apperzeptive Synthese entstandenen Gesamtvorstellungen schließt sich nun in zwei Formen die in entgegengesetzter Richtung wirkende apperzeptive Analyse an. Die erste ist unter dem Vulgärnamen der Phantasietätigkeit, die zweite unter dem der Verstandestätigkeit bekannt. Beide sind übrigens durchaus nicht, wie man nach diesen Namen vermuten könnte, verschiedene, sondern nahe verwandte und immer miteinander verbundene Vorgänge. Was sie zunächst scheidet, und worauf alle weiteren sekundären Unterschiede sowie die Rückwirkungen, die sie auf die synthetische Funktion ausüben, beruhen, ist das sie bestimmende Grundmotiv.

    Dieses besteht bei der "Phantasietätigkeit" in der Nacherzeugung wirklicher oder der Wirklichkeit analoger zusammengesetzter Erlebnisse. Unmittelbar an die Assoziationen sich anlehnend, ist daher die Phantasietätigkeit die ursprünglichere Form der apperzeptiven Analyse. Sie beginnt mit einer mehr oder minder umfassenden, aus mannigfachen Vorstellungs- und Gefühlselementen bestehenden Gesamtvorstellung, die den allgemeinen Inhalt eines Erlebnisses umfaßt, in welchem die einzelnen Bestandteile zunächst nur unbestimmt ausgeprägt sind. Diese Gesamtvorstellung zerlegt sich dann in einer Reihe sukzessiver Akte in eine Anzahl bestimmterer teils zeitlich, teils räumlich verbundener Gebilde. So schließen hier an eine primäre willkürliche Synthese analytische Akte sich an, infolge deren wieder Motive einer neuen Synthese und damit einer Wiederholung des ganzen Prozesses mit einer teilweise veränderten oder mit einer beschränkteren Gesamtvorstellung entstehen können.

    Die Phantasietätigkeit zeigt zwei Entwicklungsstufen. Die erste, mehr passive, geht unmittelbar aus den gewöhnlichen Erinnerungsfunktionen hervor. Sie findet sich namentlich in der Form der Antizipation der Zukunft fortwährend in unserem Gedankenlauf und spielt als Vorbereitung der Willensvorgänge eine wichtige Rolle in der psychischen Entwicklung. Doch kann sie in analoger Weise als ein beliebiges Hineindenken in imaginäre Lebenslagen oder in äußere Erscheinungsfolgen vorkommen. Die zweite, aktivere Form steht unter dem Einfluß streng festgehaltener Zweckvorstellungen und setzt daher einen höheren Grad willkürlicher Gestaltung der Phantasiebilder und ein höheres Maß teils hemmender, teils auswählender Wirkungen gegenüber den unwillkürlich sich aufdrängenden Erinnerungsbildern voraus. Schon die ursprüngliche Synthese der Gesamtvorstellung ist hier eine planvollere. Eine einmal entstandene Gesamtvorstellung wird strenger festgehalten und durch eine vollständigere Analyse zerlegt, wobei die Bestandteile häufig wieder untergeordnete Gesamtvorstellungen bilden, auf die der nämliche Prozeß der Analyse abermals Anwendung findet. Auf diese Weise beherrscht das Prinzip der zweckmäßigen organischen Gliederung alle Produkte und Prozesse der aktiven Phantasietätigkeit. In deutlichster Weise zeigt sich dies an den Erzeugnissen der Kunst. Doch finden sich auch schon in dem gewöhnlichen freien Spiel der Phantasie mannigfache Übergänge zwischen der passiven, noch unmittelbarer an die Erinnerungsfunktionen sich anlehnenden und der aktiven, von festeren Zwecken geleiteten Phantasietätigkeit.

    16. Dieser Nachbildung wirklicher oder als Wirklichkeit vorstellbarer Erlebnisse gegenüber besteht das Grundmotiv der "Verstandestätigkeit" in der Auffassung der Übereinstimmungen und Unterschiede, sowie der aus diesen sich entwickelnden sonstigen logischen Verhältnisse der Erfahrungsinhalte. Demnach geht die Verstandestätigkeit ursprünglich ebenfalls von Gesamtvorstellungen aus, in denen eine Anzahl wirklicher oder als wirklich vorstellbarer Erlebnisse willkürlich in Beziehung gesetzt und zu einem einheitlichen Ganzen verbunden ist. Aber der hierauf folgenden Analyse ist durch das abweichende Grundmotiv ein anderer Weg vorgezeichnet. Die Analyse besteht nämlich hier nicht mehr bloß in einer klareren Vergegenwärtigung der einzelnen Bestandteile der Gesamtvorstellung, sondern in der Feststellung der durch die vergleichende Funktion zu gewinnenden mannigfachen Verhältnisse, in denen jene Bestandteile zueinander stehen. Zum Behuf dieser Feststellung werden dann zugleich, sobald nur einmal mehrfach solche Analysen vollzogen sind, anderweitig gewonnene Ergebnisse der Beziehung und Vergleichung herbeigezogen.

    Infolge dieser strengeren Anwendung der beziehenden und vergleichenden Elementarfunktionen folgt die Verstandestätigkeit schon in ihrer äußeren Form, namentlich auf den vollkommeneren Stufen, festeren Regeln. Die im allgemeinen bereits für die Phantasie- und selbst für die bloße Erinnerungstätigkeit gültige Tatsache, daß sich uns die zur Apperzeption gelangenden Beziehungen verschiedener psychischer Inhalte zueinander nicht simultan, sondern sukzessiv darbieten, so also, daß wir jeweils von einer Beziehung zu einer folgenden fortschreiten, wird bei den Verstandesfunktionen zu einer diskursiven Gliederung der Gesamtvorstellungen. Sie findet ihren Ausdruck in dem Gesetz der Dualität der logischen Denkformen, nach welchem die durch beziehende Vergleichung entstehende Analyse den Inhalt einer Gesamtvorstellung zunächst in zwei Teile zerlegt, Subjekt und Prädikat, worauf sich dann an jedem dieser Teile die ähnliche Zweigliederung noch einmal oder mehrmals wiederholen kann. Solche Untergliederungen werden durch die ebenfalls dual einander gegenüberstehenden und nach ihrem logischen Verhältnis dem Subjekt und Prädikat analogen grammatischen Kategorien von Nomen und Attribut, Verbum und Objekt, Verbum und Adverbium bezeichnet. Auf diese Weise geht hier aus dem Vorgang der apperzeptiven Analyse das Urteil, das sprachlich in dem Satze seinen Ausdruck findet, hervor.

    Für das psychologische Verständnis der Urteilsfunktion ist es von fundamentaler Bedeutung, daß dieselbe nicht als eine synthetische, sondern als eine analytische Funktion aufzufassen ist. Die ursprüngliche Gesamtvorstellung, die in dem Urteil in ihre aufeinander bezogenen Bestandteile gegliedert wird, stimmt durchaus überein mit einer Phantasievorstellung. Die Zerlegungsprodukte, die so entstehen, sind aber nicht, wie bei der Phantasietätigkeit, Phantasievorstellungen von beschränkterem Umfang und größerer Klarheit, sondern Begriffsvorstellungen. Hierbei bezeichnen wir mit dem letzteren Ausdruck solche Vorstellungen, die zu andern dem nämlichen Ganzen angehörenden Teilvorstellungen in irgendeiner der Beziehungen stehen, die durch die Anwendung der allgemeinen Funktionen der Beziehung und Vergleichung auf Vorstellungsinhalte gewonnen werden. Nennt man die Gesamtvorstellung, die einer derartigen beziehenden Analyse unterworfen wird, einen Gedanken, so ist demnach das Urteil die Gliederung eines Gedankens in seine Bestandteile, und der Begriff ist das Produkt einer solchen Gliederung.

    17. Die Begriffe, die auf diesem Wege gewonnen werden, ordnen sich nach der Art der stattgehabten Analyse in gewisse allgemeine Klassen. Solche Klassen sind die Begriffe von Gegenständen, Eigenschaften, Zuständen. Indem sich die Urteilsfunktion in der Gliederung einer Gesamtvorstellung betätigt, setzt sie einen Gegenstand zu einer Eigenschaft oder einem Zustand, oder setzt sie verschiedene Gegenstände zueinander in Beziehung. Da nun hierbei der einzelne Begriff eigentlich niemals isoliert vorgestellt werden kann, sondern in dem Ganzen der Vorstellung stets an einen andern Begriff oder eine Mehrheit anderer Begriffe gebunden ist, so unterscheiden sich die Begriffsvorstellungen in sehr auffallender Weise durch ihre Unbestimmtheit und Veränderlichkeit von den Phantasievorstellungen. Diese Unbestimmtheit wird dann wesentlich noch dadurch vermehrt, daß sich infolge des übereinstimmenden Ablaufs verschiedener Urteilsgliederungen Begriffe bilden, die als Bestandteile vieler in ihrer konkreten Beschaffenheit variabler Vorstellungen vorkommen. Ein Begriff dieser Art kann daher in sehr vielen einzelnen Abwandlungen existieren. Solchen Allgemeinbegriffen, die wegen der Ausdehnung der beziehenden Analyse auf verschiedene Urteilsinhalte die überwiegende Mehrheit der Begriffe überhaupt bilden, entspricht demnach eine mehr oder minder große Anzahl einzelner Vorstellungen. Von diesen wird aber stets irgendeine einzelne als Stellvertreterin des Begriffs gewählt. Dadurch gewinnen nun die Begriffsvorstellungen wieder eine größere Bestimmtheit. Doch verbindet sich zugleich mit jeder solchen Vorstellung das in der Regel nur in der Form eines eigentümlichen Gefühls zum Ausdruck kommende Bewußtsein der bloß stellvertretenden Bedeutung. Dieses Begriffsgefühl läßt sich wohl darauf zurückführen, daß sich dunklere Vorstellungen, die sämtlich die zur Vertretung des Begriffs geeigneten Eigenschaften besitzen, in der Form wechselnder Erinnerungsbilder zur Auffassung drängen. Hierfür spricht besonders die Tatsache, daß das Begriffsgefühl so lange sehr intensiv ist, als irgendeine der konkreten Verwirklichungen des allgemeinen Begriffs als repräsentative Vorstellung gewählt wird, wie z. B. ein individueller Mensch für den Begriff des Menschen, wogegen es fast ganz verschwindet, sobald die repräsentative Vorstellung ihrem Inhalte nach völlig von den Objekten des Begriffs abweicht. Darin, daß die Wortvorstellungen diesen Zweck erfüllen, liegt zu einem großen Teil die Bedeutung, die ihnen als allgemeingültigen Hilfsmitteln des Denkens zukommt. Da dem einzelnen Bewußtsein diese Hilfsmittel bereits in fertigem Zustand überliefert werden, so muß übrigens die Frage nach der psychologischen Entwicklung der in der Sprache sich betätigenden Hilfsfunktionen des Denkens der Völkerpsychologie überlassen bleiben. (Vgl. § 21, A.)

    18. Phantasie- und Verstandestätigkeit sind nach allem dem nicht spezifisch verschiedene, sondern zusammengehörige, in ihrer Entstehung und in ihren Äußerungen gar nicht zu trennende Funktionen, die in letzter Instanz auf die nämlichen Grundfunktionen der apperzeptiven Synthese und Analyse zurückführen. Auch mit den Begriffen Phantasie und Verstand verhält es sich daher ähnlich wie mit dem des Gedächtnisses (§ 16, 21). Sie bezeichnen nicht einheitliche Kräfte oder Vermögen, sondern komplexe Erscheinungsformen elementarer psychischer Vorgänge, nicht von spezifischer, sondern von allgemeingültiger Art. Wie das Gedächtnis ein Allgemeinbegriff für die Erinnerungsvorgänge, so sind Phantasie und Verstand Allgemeinbegriffe für bestimmte Richtungen der apperzeptiven Funktionen. Einen gewissen praktischen Nutzen haben auch sie nur insofern, als sie bequeme Hilfsmittel abgeben, um die mannigfaltigen Unterschiede individueller Beanlagung für die intellektuellen Prozesse in gewisse Klassen zu ordnen, innerhalb deren dann freilich wieder unendlich viele Abstufungen und Nuancen möglich sind. So lassen sich als Hauptarten der Phantasiebegabung, abgesehen von den allgemeinen Gradunterschieden, die anschauliche und die kombinierende Phantasie, als Hauptar-ten der Verstandesbegabung der vorzugsweise den einzelnen logischen Beziehungen und ihren Verknüpfungen zugekehrte induktive und der mehr auf allgemeine Begriffe und ihre Analyse gerichtete deduktive Verstand unterscheiden. Als das Talent eines Menschen bezeichnen wir dann die Gesamtanlage, die ihm infolge der besonderen Richtungen sowohl seiner Phantasie- wie seiner Verstandesbegabung eigen ist.

    Literatur. Denkvorgänge: M. u. T. Vorl. 21. Logik3, I, Kap. l. Völkerpsychologie2, I, 2, Kap. 6. Phantasie: Ebenda, III, 2, Kap. l.