§ 14. Die Willensvorgänge.

    l. Indem jeder Affekt einen in sich zusammenhängenden Gefühlsverlauf von einheitlichem Charakter darstellt, kann der Ausgang des Affekts ein doppelter sein: entweder macht er dem gewöhnlichen wechselnderen und relativ affektlosen Gefühlsverlauf Platz, – solche ohne bestimmten Enderfolg ausklingende Gemütsbewegungen bilden die eigentlichen Affekte, wie sie der Betrachtung des §13 zugrunde gelegt worden sind. Oder der Vorgang geht in eine plötzliche Veränderung des Vorstellungs- und Gefühlsinhalts über, die den Affekt momentan zum Abschluß bringt. Solche durch einen Affekt verbreitete und ihn plötzlich beendende Veränderungen der Vorstellungs- und Gefühlslage nennen wir Willenshandlungen. Der Affekt selbst zusammen mit dieser aus ihm hervorgehenden Endwirkung ist ein Willensvorgang.

    Der Willensvorgang schließt sich demnach in ähnlicher Weise an den Affekt, wie dieser an das Gefühl, als ein Prozeß höherer Stufe an; die Willenshandlung aber bezeichnet bloß einen bestimmten, und zwar den für die Unterscheidung von dem Affekt charakteristischen Teil dieses Prozesses. Vorbereitet wird die Entwicklung der Willensvorgänge aus den Affekten durch jene Affekte, bei denen äußere pantomimische Ausdrucksbewegungen (§ 13, 5) auftreten, die ebenfalls schon vorzugsweise dem Endstadium des Vorgangs angehören und meist die Lösung des Affekts beschleunigen: so besonders beim Zorn, aber auch bei der Freude, dem Kummer usw. Doch fehlen dabei noch die Veränderungen im Vorstellungsverlauf, die beim Wollen die unmittelbaren Ursachen der momentanen Affektlösung bilden, und die von charakteristischen Gefühlen begleitet sind.

    Gemäß diesem nahen Zusammenhang der Willenshandlungen mit den pantomimischen Ausdrucksbewegungen müssen nun auch in der Entwicklung der Willensvorgänge diejenigen, die mit bestimmten, aus dem vorausgehenden Vorstellungs- und Gefühlsverlauf hervorgehenden körperlichen Bewegungen, also mit äußeren Willenshandlungen endigen, als die ursprünglicheren angesehen werden, wogegen die bloß mit Vorstellungs- und Gefühlswirkungen oder sogenannten inneren Willenshandlungen abschließenden Willensvorgänge überall erst als die Produkte einer späteren Entwicklung erscheinen.

    2. Ein Willensvorgang, der in eine äußere Willenshandlung übergeht, ließe sich hiernach definieren als ein Affekt, der mit einer pantomimischen Bewegung abschließt, die neben der allen pantomimischen Bewegungen eigentümlichen Charakterisierung der Qualität und Intensität des Affekts noch die besondere Bedeutung hat, daß sie äußere Wirkungen hervorbringt, die den Affekt selbst aufheben. Eine solche Wirkung ist nun aber nicht bei allen Affekten möglich, sondern nur bei solchen, bei denen der sie zusammensetzende Gefühlsverlauf Gefühle und Vorstellungen erzeugt, die zur Beseitigung der vorangehenden Affekterregung führen können, Dies ist naturgemäß vorzugsweise dann der Fall, wenn jene Endwirkung des Affekts in einem direkten Gegensatze zu den vorangegangenen Gefühlen steht. Die ursprüngliche psychologische Grundbedingung der Willenshandlungen ist daher der Kontrast der Gefühle; und die Entstehung primitiver Willensvorgänge geht wahrscheinlich stets auf Unlustgefühle zurück, die äußere Bewegungsreaktionen auslösen, als deren Wirkungen kontrastierende Lustgefühle auftreten. Das Ergreifen der Nahrung zur Stillung des Hungers, der Kampf gegen Feinde zur Befriedigung des Rachegefühls und andere ähnliche Vorgänge sind ursprüngliche Willensvorgänge solcher Art. Die Affekte, die aus sinnlichen Gefühlen entstehen, sowie nicht minder die allverbreiteten sozialen Affekte, wie Liebe, Haß, Zorn, Rache, sind auf diese Weise die dem Menschen mit den Tieren gemeinsamen ursprünglichen Quellen des Willens. Der Willensvorgang unterscheidet sich hier von dem Affekt dadurch, daß sich bei ihm eine äußere Handlung an den Affekt anschließt, welche diesen zum Stillstand bringt, indem sie kontrastierende Gefühle auslöst oder direkt durch ihre Wirkungen in den Affektverlauf hemmend eingreift.

    3. Je reicher die Vorstellungs- und Gefühlsinhalte sich gestalten, und je mehr damit die Mannigfaltigkeit der Affekte zunimmt, ein um so weiteres Gebiet gewinnen auch die Willensvorgänge. Denn es gibt kein Gefühl und keinen Affekt, die nicht in irgendeiner Weise eine Willenshandlung vorbereiten oder wenigstens an ihrer Vorbereitung teilnehmen könnten. Alle, selbst die verhältnismäßig indifferenten Gefühle, enthalten in irgendeinem Grade ein Streben oder Widerstreben, mag dieses auch nur ganz allgemein auf die Erhaltung oder Beseitigung des bestehenden Gemütszustandes gerichtet sein. Wenngleich daher der Willensvorgang als die verwickeltste Form der Gemütsbewegungen erscheint, die als ihre Bestandteile Gefühle und Affekte voraussetzt, so ist doch auf der andern Seite nicht zu übersehen, daß zwar im einzelnen fortwährend Gefühle vorkommen, die sich nicht zu Affekten verbinden, und Affekte, die nicht in Willenshandlungen endigen, daß aber in dem ganzen Zusammenhang des psychischen Lebens jene drei Formen sich wechselseitig bedingen, indem sie die zusammengehörigen Glieder eines einzigen Vorganges bilden, der nur als Willensvorgang zu seiner vollständigen Ausbildung gelangt. In diesem Sinne kann das Gefühl ebensogut als der Anfang einer Willenshandlung, wie umgekehrt das Wollen als ein zusammengesetzter Gefühlsprozeß und der Affekt als ein Übergang zwischen beiden betrachtet werden.

    4. In dem Affekt, der mit einer Willenshandlung abschließt, pflegen nun die einzelnen Gefühle keineswegs eine übereinstimmende und gleichwertige Bedeutung zu haben, sondern einzelne von ihnen heben sich samt den an sie gebundenen Vorstellungen als die vorzugsweise den Willensakt vorbereitenden hervor. Diese in unserer subjektiven Auffassung die Handlung unmittelbar vorbereitenden Vorstellungs- und Gefühlsverbindungen pflegt man als die Motive des Willens zu bezeichnen. Jedes Motiv läßt sich aber wieder in einen Vorstellungs- und in einen Gefühlsbestandteil sondern, von denen wir den ersten den Beweggrund, den zweiten die Triebfeder des Willens nennen können. Wenn ein Raubtier seine Beute ergreift, so besteht der Beweggrund in dem Anblick der Beute, die Triebfeder kann in dem Unlustgefühl des Hungers oder des durch den Anblick erregten Gattungshasses bestehen. Die Beweggründe eines verbrecherischen Mordes können Aneignung fremden Gutes, Beseitigung eines Feindes u.dgl., die Triebfedern Gefühl des Mangels, Haß, Rache, Neid u. a. sein.

    Wo die Affekte von zusammengesetzter Beschaffenheit sind, da sind auch Beweggründe und Triebfedern von gemischter Art, oft so sehr, daß es selbst für den Handelnden schwer wird zu entscheiden, welches Motiv das vorwiegende sei. Dies hängt wesentlich damit zusammen, daß die Triebfedern eines Willensaktes sich, gerade so wie die Elemente eines zusammengesetzten Gefühls, zu einem einheitlichen Ganzen verbinden und sich dabei einer Triebfeder als dem herrschenden Element unterordnen, wobei die Gefühle von übereinstimmender Richtung die Wirkung verstärken und beschleunigen, die Gefühle von entgegengesetzter Richtung sie schwächen. In jenen Verbindungen von Vorstellungen und Gefühlen, die wir Motive nennen, kommt übrigens nicht den Vorstellungen, sondern den Gefühlen, also den Triebfedern, die entscheidende Bedeutung in der Vorbereitung der Willenshandlungen zu. Dies geht schon daraus hervor, daß die Gefühle integrierende Bestandteile der Willensvorgänge selbst sind, während die Vorstellungen nur indirekt, nämlich durch ihre Verbindungen mit den Gefühlen, dieselben beeinflussen. Die Annahme eines aus rein intellektuellen Erwägungen entspringenden Wollens, einer Willensentscheidung im Gegensatz zu allen in Gefühlen zum Ausdruck kommenden Neigungen usw., schließt daher einen psychologischen Widerspruch in sich. Sie beruht auf dem abstrakten Begriff eines transzendenten, von den realen psychischen Willensvorgängen absolut verschiedenen Willens. In der Verbindung einer Mannigfaltigkeit von Motiven, d. h. von Vorstellungen und Gefühlen, die aus einem zusammengesetzten Affektverlauf als die für den Abschluß einer Handlung maßgebenden hervortreten, liegt aber die wesentlichste Bedingung einerseits für die Entwicklung des Willens, anderseits für die Unterscheidung der einzelnen Formen von Willenshandlungen.

    6. Der einfachste Fall eines Willensvorgangs liegt dann vor, wenn innerhalb eines Affekts von geeigneter Beschaffenheit ein einziges Gefühl mit begleitender Vorstellung zum Motiv wird und mit einer ihm entsprechenden äußeren Bewegung den Vorgang zum Abschluß bringt. Solche von einem Motiv bestimmte Willensvorgänge können wir einfache Willensvorgänge nennen. Die Bewegungen, in denen sie endigen, werden auch als Triebhandlungen bezeichnet, ohne daß jedoch in dem populären Begriff des Triebes diese Unterscheidung nach der Einfachheit des Willensmotivs zureichend durchgeführt wäre, da sich hier meist noch ein anderer Gesichtspunkt, nämlich die Beschaffenheit der als Triebfedern wirkenden Gefühle, einmengt. Nach diesem hat man alle Handlungen, die bloß von sinnlichen Gefühlen, namentlich Gemeingefühlen, bestimmt sind, Triebhandlungen genannt, gleichgültig, ob dabei bloß ein einziges Motiv oder eine Mehrheit von Motiven wirksam ist. Dieser zweite Gesichtspunkt der Unterscheidung ist aber psychologisch ebensowenig zutreffend, wie die damit nahe zusammenhängende völlige Trennung der Trieb- von den Willenshandlungen als einer spezifisch verschiedenen Art psychischer Vorgänge gerechtfertigt ist.

    Wir wollen daher unter einer Triebhandlung lediglich eine einfache, d. h. aus einem einzigen Motiv hervorgehende Willenshandlung verstehen, ohne Rücksicht darauf, welcher Stufe in der Reihenfolge der Gefühls- und Vorstellungsprozesse das Motiv angehört. In dieser Bedeutung genommen bildet die Triebhandlung, abgesehen davon, daß sie fortan neben zusammengesetzteren Willensvorgängen vorkommen kann, notwendig den Ausgangspunkt für die Entwicklung aller Willenshandlungen. Zugleich sind aber allerdings die ursprünglichen Triebhandlungen solche, die von einfachen sinnlichen Gefühlen ausgehen. In diesem Sinne sind die meisten Handlungen der Tiere Triebhandlungen; doch auch beim Menschen kommen fortwährend solche vor, teils infolge einfacherer sinnlicher Affekte, teils als Ergebnisse der gewohnheitsmäßigen Ausführungen einzelner, ursprünglich von zusammengesetzten Motiven bestimmter Willensprozesse (10).

    6. Sobald nun in einem Affekt eine Mehrheit von Gefühlen und Vorstellungen in äußere Handlungen überzugehen strebt, und sobald diese zu Motiven gewordenen Bestandteile des Affektverlaufs zugleich auf verschiedene, untereinander verwandte oder entgegengesetzte äußere Endwirkungen abzielen, entsteht aus der einfachen eine zusammengesetzte Willenshandlung. Zur Unterscheidung von der einfachen Willens- oder Triebhandlung bezeichnen wir dieselbe als Willkürhandlung.

    Die Willkürhandlungen haben dies mit den Triebhandlungen gemein, daß auch sie schließlich aus einem Motiv oder aus einem zu einer Totalkraft verschmolzenen Komplex von eindeutig wirkenden Motiven hervorgehen; aber sie unterscheiden sich dadurch, daß sich bei ihnen dieses entscheidende Motiv erst aus einer Anzahl nebeneinander bestehender verschiedener und einander widerstreitender Motive zum herrschenden erhoben hat. Sobald ein Kampf solcher widerstreitender Motive deutlich wahrnehmbar der Handlung vorausgeht, nennen wir die Willkürhandlung speziell eine Wahlhandlung und den ihr vorangehenden Prozeß einen Wahlvorgang. Ein Herrschendwerden eines Motives über andere gleichzeitig mit ihm gegebene ist überhaupt nur unter der Voraussetzung eines Kampfes der Motive verständlich. Aber dieses Kampfes werden wir uns bald klar, bald nur dunkel bewußt. Bloß im ersten dieser Fälle sprechen wir von einer eigentlichen Wahlhandlung. Demnach ist der Unterschied von Willkür- und Wahlhandlungen ein fließender. Immerhin nähert sich bei den gewöhnlichen Willkürhandlungen der psychische Zustand noch mehr dem der Triebhandlungen, während bei den Wahlhandlungen der Unterschied deutlich erkennbar ist. Wir können uns diese Verhältnisse der verschiedenen Stufen der Willensentwicklung am anschaulichsten durch die in Fig. 21 gezeichneten Schemata versinnlichen, wo der größere Kreis jedesmal den Bewußtseinsumfang bezeichnet, während jeder der in ihm liegenden kleinen Kreise eine als Motiv wirkende gefühlsbetonte Vorstellung andeuten soll. Der im Mittelpunkt liegende unter diesen soll endlich das entscheidende Motiv symbolisieren. Es ist dann A das Schema einer Trieb-, B das einer Willkürhandlung, C aber entspricht einer Wahlhandlung in dem dieser selbst vorangehenden Stadium des Kampfes der Motive, welcher letztere durch die zwischen den streitenden Motiven befindlichen Pfeile angedeutet ist.

Fig. 21. Symbolische Schemata einer Trieb-, Willkür- und Wahlhandlung.

    7. Den der Handlung unmittelbar vorangehenden psychischen Vorgang des mehr oder weniger plötzlichen Herrschendwerdens des entscheidenden Motivs nennen wir bei den Willkürhandlungen im allgemeinen die Entscheidung, bei den Wahlhandlungen die Entschließung. Hier weist das erste Wort nur auf die Scheidung des herrschenden von den andern Motiven hin, während das zweite durch seinen Zusammenhang mit dem Zeitwort "schließen" andeutet, daß der Vorgang als ein Endergebnis aus mehreren Vorbedingungen betrachtet wird1).

1) Selbstverständlich darf übrigens dieser Zusammenhang der Ausdrücke nicht zu der von den intellektualistischen Richtungen der Psychologie vielfach gemachten irrigen Annahme verführen, daß die Willensentschließung selbst ein logischer Schlußprozeß oder einem solchen auch nur irgendwie verwandt sei.
 
 
    Während sich nun die Anfangsstadien eines Willensvorgangs von einem gewöhnlichen Affektverlauf nicht bestimmt unterscheiden, sind diese Endstadien von durchaus charakteristischer Beschaffenheit. Namentlich sind sie durch begleitende Gefühle ausgezeichnet, die außerhalb der Willensvorgänge nicht vorkommen und daher als die dem Willen spezifisch eigentümlichen Elemente betrachtet werden müssen. Diese Gefühle sind zunächst die der Entscheidung und der Entschließung, von denen sich das letztere von dem ersteren wohl nur durch seine größere Intensität unterscheidet. Sie sind erregende und lösende, je nach Umständen auch mit einem Lust- oder Unlustfaktor verbundene Gefühle. Die relativ größere Stärke des Entschließungsgefühls hat wahrscheinlich ihren Grund in dem Kontrast zu dem vorangehenden Gefühl des Zweifels, welcher das Schwanken zwischen verschiedenen Motiven begleitet. Im Gegensatze zu diesem gewinnt das Gefühl der Lösung eine erhöhte Stärke. Im Moment des Eintritts der Willenshandlung werden dann aber die Gefühle der Entscheidung sofort durch das spezifische Gefühl der Tätigkeit abgelöst, das bei den äußeren Willenshandlungen in den die Bewegung begleitenden Spannungsempfindungen sein Empfindungssubstrat hat. Dieses Gefühl der Tätigkeit ist von ausgeprägt erregender Beschaffenheit, und es kann nach den besonderen Willensmotiven in wechselnder Weise von Lust- oder Unlustelementen begleitet sein, die im Verlauf der Handlung sich verändern und einander ablösen können. Als Totalgefühl ist das Tätigkeitsgefühl ein auf- und absteigender zeitlicher Vorgang, der sich über den ganzen Verlauf der Handlung erstreckt und mit dem Ende derselben in die sehr mannigfachen Gefühle der Erfüllung, Befriedigung, Enttäuschung u.dgl., sowie in die verschiedenen Gefühle und Affekte übergeht, die an die besonderen Erfolge der Handlung geknüpft sind. Betrachten wir diesen bei den Willkür- und Wahlhandlungen sich darbietenden Verlauf als den einer vollständigen Willenshandlung, so unterscheiden sich nun die Triebhandlungen wesentlich dadurch, daß bei ihnen die vorbereitenden Gefühle der Entscheidung und Entschließung hinwegfallen, indem das an das Motiv geknüpfte Gefühl unmittelbar in das Tätigkeitsgefühl und dann in die der Wirkung der Handlung entsprechenden Gefühle übergeht.

    8. An den Übergang der einfachen in die zusammengesetzten Willenshandlungen schließt sich eine Reihe weiterer Veränderungen an, die für die Entwicklung des Willens von großer Bedeutung sind. Die erste dieser Veränderungen besteht darin, daß die Affekte, welche die Willensvorgänge einleiten, infolge der Gegenwirkung verschiedener sich wechselseitig hemmender Gefühle mehr und mehr an Intensität abnehmen, so daß endlich auch aus einem anscheinend völlig affektlosen Gefühlsverlauf Willenshandlungen entspringen können. Freilich handelt es sich dabei niemals um einen absoluten Mangel des Affekts. Damit ein in dem gewöhnlichen Gefühlsverlauf auftretendes Motiv eine Entscheidung oder Entschließung herbeiführe, muß es sich immer in einem gewissen Grade mit einer Affekterregung verbinden. Diese kann aber doch tatsächlich so schwach und vorübergehend sein, daß wir sie um so leichter übersehen, je mehr wir geneigt sind, einen solchen kurzen, nur die Entstehung und Wirkung der Motive begleitenden Affekt ohne weiteres mit dem Entschluß und der Handlung in den einen Begriff des Willensaktes zusammenzufassen. Diese Abschwächung der Affekte wird hauptsächlich herbeigeführt durch jene Verbindungen der psychischen Prozesse, die wir der intellektuellen Entwicklung zurechnen, und auf die unten bei der Erörterung des Zusammenhangs der psychischen Gebilde näher einzugehen sein wird (§ 17). Die intellektuellen Prozesse können zwar niemals die Affekte vernichten; sind sie doch im Gegenteil vielfach selbst die Quellen neuer, eigenartiger Affekte. Ein durch rein intellektuelle Motive bestimmtes, völlig affektloses Wollen ist daher, wie schon oben bemerkt, ein psychologisch unmöglicher Begriff. Immerhin übt die intellektuelle Entwicklung zweifellos eine mäßigende Wirkung auf die Affekte und speziell auf die die Willenshandlungen vorbereitenden in allen den Fällen aus, wo intellektuelle Motive in dieselben eingehen. Das mag teils in der dabei meist vorhandenen wechselseitigen Kompensation der Gefühle, teils in der langsamen Entwicklung der intellektuellen Motive seinen Grund haben, da im allgemeinen die Affekte um so stärker sind, je rascher die sie zusammensetzenden Gefühle ansteigen.

    9. Mit der Ermäßigung der Affektbestandteile der Willensvorgänge unter der Vorherrschaft intellektueller Motive hängt noch eine andere Veränderung zusammen. Sie besteht darin, daß die den Willensvorgang abschließende Handlung nicht eine äußere Bewegung, sondern daß die den erregenden Affekt aufhebende Wirkung selbst ein psychischer Vorgang ist, der sich unmittelbar durch keine äußeren Symptome verrät. Solche für die äußere Beobachtung nicht wahrnehmbare Wirkungen bezeichnen wir als innere Willenshandlungen. Der Übergang der äußeren in innere Willenshandlungen ist aber derart an die intellektuelle Entwicklung gebunden, daß die Beschaffenheit der intellektuellen Prozesse zu einem großen Teil selbst sich aus dem Hereingreifen von Willensvorgängen in den Verlauf der Vorstellungen erklärt (§ 15, 9). Es besteht dann die den Willensvorgang abschließende Handlung in irgendeiner Veränderung jenes Vorstellungsverlaufs, die an vorangegangene Motive infolge einer eintretenden Entscheidung oder Entschließung sich anreiht. Dabei stimmen nun die diese unmittelbaren Vorbereitungsakte begleitenden Gefühle, sowie das mit der eintretenden Veränderung selbst verbundene Tätigkeitsgefühl durchaus überein mit den bei den äußeren Willenshandlungen zu beobachtenden Gefühlen. Ebenso folgen der Handlung mehr oder minder intensive Gefühle der Befriedigung und der Lösung vorangegangener Affekt- und Gefühlsspannungen nach. Der Unterschied dieser eigentümlichen, mit der intellektuellen Entwicklung verbundenen Willensvorgänge von den ursprünglichen besteht also nur darin, daß der schließliche Willenseffekt nicht in einer äußeren körperlichen Bewegung zutage tritt.

    Immerhin kann auch aus einer inneren Willenshandlung sekundär eine körperliche Bewegung hervorgehen: wenn nämlich der gefaßte Entschluß auf eine zu einem späteren Zeitpunkt auszuführende äußere Handlung abzielt. Hierbei entsteht dann die letztere stets aus einem zweiten, späteren Willensvorgang, dessen entscheidende Motive zwar aus der vorangegangenen inneren Willenshandlung entspringen, der aber doch ein neuer, von dieser verschiedener Prozeß ist. In diesem Sinn ist z. B. das Fassen eines Entschlusses zu einer künftig unter bestimmten, noch zu erwartenden Vorbedingungen auszuführenden Tat eine innere Willenshandlung; und die spätere Ausführung der Tat ist eine von ihr verschiedene, doch sie als Bedingung voraussetzende äußere Willenshandlung. Hieraus ergibt sich zugleich, daß in den Fällen, wo die äußere Willenshandlung aus einer einem Kampf der Motive folgenden Entschließung entspringt, die Fälle eines einzigen in sich zusammenhängenden Willensvorgangs und zweier Willensvorgänge, eines früheren und eines späteren, ohne deutliche Grenze ineinander übergehen, indem hierbei die Entschließung, sobald sie zeitlich irgend merklich von der Handlung selbst getrennt ist, als ein diese vorbereitender innerer Willensakt aufgefaßt werden kann.

    10. Sind die beiden bisher besprochenen mit der Entwicklung des Willens verbundenen Veränderungen, die Ermäßigung der Affekte und die Verselbständigung innerer Willenshandlungen, progressiver Art, so steht ihnen ein dritter Vorgang als eine Art regressiver Entwicklung gegenüber. Sobald sich nämlich zusammengesetzte Willensvorgänge von übereinstimmendem Motivinhalt häufiger wiederholen, erleichtert sich der Kampf der Motive: die in den früheren Fällen unterlegenen Motive treten bei den neuen Anlässen zunächst schwächer auf und verschwinden zuletzt völlig. Die zusammengesetzte ist dann in eine einfache oder Triebhandlung übergegangen. Besonders diese Rückverwandlung komplexer Willensvorgänge ist es, die die obenerwähnte Beschränkung des Begriffs "Trieb" auf die aus sinnlichen Gefühlen entspringenden Willenshandlungen völlig angeeignet erscheinen läßt. Denn infolge jener allmählichen Elimination der unterlegenen Motive gibt es ebensowohl intellektuelle, sittliche, ästhetische u. dgl. wie einfache sinnliche Triebhandlungen.

    Zugleich bildet diese regressive Entwicklung einen Bestandteil eines Prozesses, der die sämtlichen äußeren Handlungen eines lebenden Wesens, die Willenshandlungen wie die automatisch-reflektorischen Bewegungen, verbindet. Denn setzt sich die gewohnheitsmäßige Einübung der Handlungen weiter fort, so wird schließlich auch in der Triebhandlung das bestimmende Motiv immer schwächer und vorübergehender. Der äußere Reiz, der ursprünglich die als Motiv wirkende gefühlsstarke Vorstellung weckte, löst, ehe er noch als Vorstellung aufgefaßt werden konnte, die Handlung aus. Auf diese Weise ist die Triebbewegung endlich in eine automatische Bewegung übergegangen. Je häufiger dieser Prozeß sich wiederholt, um so leichter kann die Bewegung automatisch erfolgen, ohne daß der Reiz auch nur empfunden wird, z. B. in tiefem Schlaf oder bei völliger Ablenkung der Aufmerksamkeit. Dann erscheint die Bewegung als ein rein physiologischer Reflex des Reizes: der Willensvorgang selbst ist zu einem Reflexvorgang geworden.

    Diese allmähliche Mechanisierung der Vorgänge, die im wesentlichen in der Elimination aller zwischen dem Anfangs- und Endpunkt gelegenen psychischen Mittelglieder besteht, kann aber ebensowohl bei den ursprünglichen wie bei vielen der sekundären, durch Verdichtung von Willkürhandlungen entstandenen Triebbewegungen eintreten. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Reflexbewegungen der Tiere und des Menschen überhaupt diesen Ursprung haben. Dafür spricht, abgesehen von der erörterten Mechanisierung der Willenshandlungen durch Übung, einerseits der zweckmäßige Charakter der Reflexe, der auf ursprünglich vorhanden gewesene Zweckvorstellungen als Motive hinweist, anderseits der Umstand, daß die Bewegungen der niedersten Tiere durchgängig offenbar einfache Willenshandlungen, nicht Reflexe sind, so daß auch von dieser Seite die häufig gemachte Annahme einer in entgegengesetzter Richtung erfolgenden Entwicklung der Reflexe zu Willenshandlungen nicht wahrscheinlich ist. Endlich erklärt sich unter dem gleichen Gesichtspunkt am einfachsten die in §13 hervorgehobene Tatsache, daß die Ausdrucksbewegungen der Affekte jeder dieser in der Stufenleiter äußerer Handlungen möglichen Formen angehören können. Denn offenbar sind hier die einfacheren Bewegungen ursprünglich Triebhandlungen, während manche verwickeltere pantomimische Bewegungen wahrscheinlich auf einstige Willkürhandlungen zurückzuführen sind, die zuerst in Trieb- und dann sogar in Reflexbewegungen übergingen. Zugleich nötigen gerade hier die Erscheinungen zu der Annahme, daß die während des individuellen Lebens beginnende Rückverwandlung durch die Vererbung der erworbenen Anlagen allmählich gesteigert wird, so daß gewisse ursprüngliche Willkürhandlungen bei den späteren Nachkommen von Anfang an als Trieb- oder Reflexbewegungen auftreten. (Vgl. § 19 u. 20.)

    10a. Aus ähnlichen Gründen wie bei den Affekten ist auch bei dem Willen die Beobachtung der sich uns zufällig im Leben darbietenden Vorgänge ein unzureichendes und leicht irreführendes Verfahren zur Feststellung des wirklichen Tatbestandes. Überall, wo sich zum Behuf irgendwelcher theoretischer oder praktischer Lebensaufgaben innere oder äußere Willenshandlungen vollziehen, ist unser Interesse viel zu sehr durch jene Aufgaben selbst in Anspruch genommen, als daß wir imstande wären, die gleichzeitig vorhandenen psychischen Vorgänge mit Genauigkeit zu beobachten. In den Willenstheorien der älteren Psychologen, die freilich vielfach noch in die heutige Wissenschaft ihre Schatten werfen, spiegelt sich deutlich dieser unvollkommene Zustand psychologischer Beobachtungskunst. Indem die äußere Willenshandlung das einzige war, was sich aus dem ganzen Gebiet der Willensvorgänge deutlich der Beobachtung aufdrängte, war man zunächst geneigt, den Begriff des Willens überhaupt auf die äußeren Willenshandlungen zu beschränken und danach nicht nur das ganze für die höhere Entwicklung des Willens so wichtige Gebiet der inneren Willenshandlun-gen gänzlich unbeachtet zu lassen, sondern auch die die äußere Handlung vorbereitenden Bestandteile des Willensvorgangs nur höchst unvollständig, in der Regel nur in bezug auf die am meisten hervortretenden Vorstellungsbestandteile der Motive, zu berücksichtigen. Die Folge war, daß man den genetischen Zusammenhang der Trieb- und der Willkürhandlungen nicht beachtete, jene als den Reflexen nahestehende Erscheinungen gänzlich von dem Willen loslöste und diesen auf die Willkür- und Wahlhandlungen einschränkte. Da nun außerdem die einseitige Rücksicht auf die Vorstellungs-bestandteile der Motive die Entwicklung des Willensaktes aus dem Affekt völlig übersehen ließ, so kam man zu der seltsamen Vorstellung, die Willenshandlung sei nicht das Erzeugnis der ihr vorausgehenden Motive und der auf die letzteren einwirkenden, dem entscheidenden Motiv zur Herrschaft verhelfenden psychischen Bedingungen, sondern das Wollen sei ein neben den Motiven sich ereignendes und an sich von ihnen unabhängiges Geschehen; es sei das Produkt eines metaphysischen Willensvermögens, welches man auch, da nur die Willkürhandlungen für wirkliche Willenshandlungen gehalten wurden, geradezu als das "Wahlvermögen der Seele" definierte oder als ihr Vermögen, von verschiedenen auf sie wirkenden Motiven einem den Vorzug zu geben. Damit hatte man eigentlich nur den Enderfolg des Willensvorgangs, die Willenshandlung, statt sie aus den vorausgehenden psychischen Bedingungen abzuleiten, zur Bildung eines allgemeinen Begriffs benutzt, den man Willen nannte, welchen Gattungsbegriff man nun im Sinne der Vermögenstheorie als eine erste Ursache behandelte, aus der alle einzelnen Willensakte hervorgehen sollten.

    Es war nur eine Modifikation dieser abstrakten Willenstheorie, wenn Schopenhauer und, ihm folgend, manche neuere Psychologen und Philosophen den Willensvorgang selbst für ein "unbewußtes" Geschehen erklärten, dessen Erfolg erst, die Willenshandlung, ein bewußter psychischer Vorgang sei. Hier hatte augenscheinlich die unzulängliche Beobachtung des der Handlung vorausgehenden Willensvorgangs zu der Annahme geführt, ein solcher existiere überhaupt nicht. Da somit die ganze Mannigfaltigkeit der konkreten Willensprozesse in dem Begriff des einen unbewußten Willens aufgehoben war, so war das psychologische Ergebnis dasselbe wie vorher: an die Stelle der Erfassung der wirklichen psychischen Vorgänge und ihrer Verbindung wurde ein Gattungsbegriff gesetzt, der fälschlich die Bedeutung einer allgemeinen Ursache annahm.

    Auch die neuere und selbst die experimentelle Psychologie steht vielfach noch im Banne dieser tief eingewurzelten abstrakten Willenslehre. Indem man die Erklärung einer Handlung aus der konkreten psychischen Kausalität des vorangegangenen Willensvorgangs von vornherein für unmöglich erklärt, gilt als das einzige Merkmal des Willensaktes die Summe der Empfindungen, welche die äußere Handlung begleiten, und welche, wenn sich eine Handlung oft wiederholt hat, dieser selbst als blasse Erinnerungsbilder unmittelbar vorausgehen sollen. Als die Ursachen der Handlung werden aber die physischen Erregungsvorgänge innerhalb des Nervensystems betrachtet. Wie die Frage nach der Kausalität des Willens bei der vorigen Theorie aus der Psychologie in die Metaphysik, so wird sie daher bei dieser aus der Psychologie in die Physiologie verwiesen. In der Tat wird sie aber auch hier auf dem Wege von der einen in die andere von der Metaphysik eingefangen. Da nämlich die Physiologie als empirische Naturwissenschaft die vollständige Ableitung der eine komplexe Willenshandlung begleitenden physischen Vorgänge aus ihren Vorbedingungen nicht nur für jetzt, sondern für alle Zeit ablehnen muß, weil diese Frage auf eine unendliche Reihe von Bedingungen zurückführt, so bleibt als der einzige Rechtsgrund dieser Theorie der Lehrsatz der materialistischen Metaphysik stehen, daß die sogenannten materiellen Vorgänge die einzige Wirklichkeit der Dinge seien, und daß daher die psychischen nur aus den materiellen Vorgängen erklärt werden könnten. Nun ist es ein unerläßliches Regulativ der empirischen Psychologie, daß sie den Tatbestand der psychischen Vorgänge so erforscht, wie er der unmittelbaren Erfahrung gegeben ist, und daß sie daher den Zusammenhang dieser Vorgänge nicht unter Gesichtspunkten betrachtet, die ihm selbst fremd sind. (Vgl. § l und 8. 19 ff.) Wie ein Willensvorgang verläuft, können wir unmöglich anders erfahren, als indem wir ihn genau so verfolgen, wie er uns in der unmittelbaren Erfahrung gegeben ist. In dieser ist er aber nicht als ein abstrakter Begriff gegeben, sondern als konkretes einzelnes Wollen; und von diesem wiederum wissen wir nur etwas, insofern es ein unmittelbar wahrzunehmender Vorgang ist, nicht ein unbewußter oder, was für die Psychologie auf dasselbe hinauskommt, ein materieller Vorgang, der nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern nur auf Grund metaphysischer Voraussetzungen hypothetisch angenommen wird. Solche metaphysische Annahmen sind hier also offenbar bloße Lückenbüßer einer mangelhaften oder völlig fehlenden psychologischen Beobachtung.

    Literatur. Darstellungen der hauptsächlichsten Willenstheorien: Volkmann, Lehrbuch der Psychologie, II, § 147 (Herbartscher Intellektualismus). Baumann, Handbuch der Moral, 1879 u. Philos. Monatshefte, Bd. 17. Meumann, Intelligenz u. Wille, 1908 (Intellektualistische Auffassungen). Münsterberg, Die Willenshandlung, 1888 (Psyohophysischer Materialismus). Psychologie, Bd. l (Verbindung des vorigen Standpunktes mit voluntaristischen Elementen). Voluntarismus: Wundt, Kl. Schriften, Bd. 2. Ethik3, Bd. 2, Abschn. III, Kap. l. M. u. T.5 Vorl. 14 und 15. Phys. Psych.6, III, Kap. 17. Völkerpsychol. Bd. 9. (Das Recht), Kap. III.

    11. Da die exakte Beobachtung der Willensvorgänge aus den oben angeführten Gründen bei den von selbst im Laufe des Lebens vorkommenden Willensakten unmöglich ist, so besteht auch hier der einzige Weg zu einer gründlichen psychologischen Untersuchung in der experimentellen Beobachtung. Nun können wir freilich nicht Willensvorgänge beliebiger Art nach Willkür erzeugen, sondern wir müssen uns auf die Beobachtung solcher beschränken, die der Beeinflussung durch äußere Hilfsmittel zugänglich sind, indem sie mit äußeren Reizeinwirkungen beginnen und mit äußeren Handlungen abschließen. Die Versuche, die diesem Zwecke dienen, hat man Reaktionsversuche genannt. Sie bestehen im wesentlichen darin, daß ein Willensvorgang von einfacher oder zusammengesetzter Beschaffenheit durch einen äußeren Sinnesreiz angeregt und nach Ablauf bestimmter, zum Teil als Motive benutzter psychischer Vorgänge durch eine Bewegungsreaktion beendet wird. Neben ihrer Bedeutung für die Analyse der Willensvorgänge haben daher die Reaktionsversuche noch die zweite, allgemeinere, daß sie die Hilfsmittel darbieten, um die Geschwindigkeit gewisser psychischer und psychophysischer Vorgänge zu messen.

    Der einfachste Reaktionsversuch, der sich ausführen läßt, ist hiernach der folgende. Man läßt, nachdem in angemessener und stets gleicher Zeit (1–2 Sek.) ein die vorbereitende Spannung der Aufmerksamkeit bewirkendes Signal vorausgegangen ist, einen äußeren Reiz auf irgendein Sinnesorgan einwirken und im Moment der Auffassung des Reizes eine vorher bestimmte und vorbereitete Bewegung, z. B. eine solche der Hand, ausführen. Dieser Versuch entspricht in seinen psychologischen Bedingungen im wesentlichen einem einfachen Willensvorgang: der Sinneseindruck wird bei ihm als einfaches Motiv benutzt, dem eine bestimmte Handlung eindeutig zugeordnet ist. Trifft man nun mittels graphischer oder irgendwelcher anderer zeitmessender Hilfsmittel die Einrichtung, daß die Zeit von der Einwirkung des Reizes an bis zum Moment der Ausführung der Reaktionsbewegung objektiv gemessen wird, so ist es dadurch möglich, in oft wiederholten Versuchen gleicher Art sich die subjektiven Vorgänge, die den ganzen Reaktionsvorgang zusammensetzen, genau zu vergegenwärtigen, während zugleich in den objektiven Ergebnissen der Zeitmessung ein Kontrollmittel für die Konstanz wie für die etwaigen Abweichungen jener subjektiven Vorgänge zur Verfügung steht. Von diesem Kontrollmittel macht man namentlich auch in den Fällen Gebrauch, wo absichtlich irgendeine Bedingung des Versuchs, und dadurch der subjektive Verlauf des Willensvorgangs selbst verändert wird.

    12. Eine derartige Variation läßt sich in der Tat schon bei dem oben geschilderten einfachen Reaktionsversuch ausführen, indem man die der Einwirkung des Sinnesreizes vorausgehende Vorbereitung der Handlung verschiedentlich modifiziert. Wird diese Vorbereitung so getroffen, daß die Erwartung dem als Motiv wirkenden Sinnesreiz zugewandt ist, und daß die äußere Handlung erst erfolgt, sobald der Reiz deutlich aufgefaßt wurde, so entsteht die Form der vollständigen oder sensoriellen Reaktion. Wird dagegen die vorbereitende Erwartung derart auf die durch das Motiv auszulösende Handlung gerichtet, daß die Handlung so schnell wie möglich der Auffassung des Reizes nachfolgt, so entsteht die Form der verkürzten oder muskulären Reaktion. Im ersten Fall enthält die Erwartung als Vorstellungsfaktor ein blasses Erinnerungsbild des bekannten Sinneseindrucks, das sich, wenn die Vorbereitungszeit länger dauert, in oszillierendem, abwechselnd deutlicher und undeutlicher werdendem Zustand befindet; als Gefühlsfaktor ist ein in ähnlicher Weise oszillierendes Erwartungsgefühl vorhanden, das überdies mit Spannungsempfindungen verbunden ist, die dem betreffenden Sinnesgebiet angehören, z. B. mit Spannungen des Trommelfells, der Akkommodations- und äußeren Augenmuskeln u. dgl. Diesen vorbereitenden Gefühlen und Empfindungen folgt dann im Moment des Eindrucks ein verhältnismäßig schwaches Lösungsgefühl der Überraschung, von dem sich deutlich als ihm nachfolgend das die Reaktionsbewegung begleitende erregende Gefühl der Tätigkeit mit den zugleich eintretenden inneren Tastempfindungen abhebt. Im zweiten Fall dagegen, bei der verkürzten Reaktion, beobachtet man während der Zeit der vorbereitenden Erwartung ein blasses oszillierendes Erinnerungsbild des Reaktionsorgans (z. B. der reagierenden Hand), zugleich mit starken Spannungsempfindungen desselben und mit einem an diese Empfindungen gebundenen ziemlich kontinuierlichen Erwartungsgefühl. Im Moment des Reizeintritts wird dann dieser Zustand von einem starken Überraschungsgefühl abgelöst, mit dem sich das die Reaktion begleitende Tätigkeitsgefühl nebst den zugehörigen Empfindungen so schnell verbindet, daß eine Zwischenzeit zwischen beiden Momenten entweder gar nicht oder nur sehr undeutlich wahrgenommen werden kann. Die sensorielle Reaktionszeit beträgt durchschnittlich 0,120–0,240, die muskuläre 0,100–0,150 Sek. (die kleinsten Zeiten gelten für Schall-, die größten für Lichteindrücke)2).

2) Außerdem unterscheiden sich beide Reaktionsformen in charakteristischer Weise dadurch, daß in einer größeren Anzahl von Versuchen bei der vollständigen Reaktion niemals, bei der verkürzten dagegen sehr häufig vorzeitige Reaktionen und Fehlreaktionen auftreten. Beide werden nur beobachtet, wenn in oft wiederholten Versuchen dem eigentlichen Reiz ein auf ihn vorbereitender Signalreiz in konstanter Zwischenzeit vorangeht. Eine vorzeitige Reaktion besteht dann darin, daß vor dem wirklichen Eintritt des verabredeten Reizes, eine Fehlreaktion darin, daß auf irgendeinen andern zufälligen Sinnesreiz reagiert wird. – Außer Betracht geblieben sind bei den obigen Zahlen die Reaktionszeiten für Geschmacks- und Geruchs-, für Temperatur- und Schmerzreize. Sie sind durchweg größer gefunden worden. Da aber diese Unterschiede offenbar auf Rechnung rein physiologischer Bedingungen kommen (langsameres Vordringen der Reize zu den Nervenenden, bei den Schmerzreizen langsamere zentrale Leitung), so bieten sie kein erhebliches psychologisches Interesse dar.
 
 
    13. Beide Reaktionsformen bilden nun durch die Einführung besonderer Bedingungen die Ausgangspunkte für das Studium der Entwicklung der Willensvorgänge nach verschiedenen Richtungen. Die vollständige (sensorielle) Reaktion liefert nämlich, da sich bei ihr leicht zwischen die Auffassung des Eindrucks und die Ausführung der Reaktion verschiedene psychische Prozesse einschalten lassen, das Hilfsmittel, um von einfachen zu zusammengesetzten Willensvorgängen überzugehen. So entsteht eine Willkürhandlung von relativ einfacher Art, wenn man der Auffassung des Eindrucks einen unmittelbaren sinnlichen Erkennungs- und Unterscheidungsakt folgen läßt, der dann erst die Reaktionsbewegung auszulösen hat. In diesem Fall ist nicht der unmittelbare Eindruck, sondern erst die aus dem Erkennungs- und Unterscheidungsakt resultierende Vorstellung das Motiv der auszuführenden Handlung. Insofern dieses Motiv nur eines unter einer größeren oder geringeren Anzahl gleich möglicher ist, die statt seiner eintreten konnten, hat aber die Reaktionsbewegung den Charakter einer Willkürbewegung: in der Tat ist bei ihr das dem Willensakt vorausgehende Gefühl der Entscheidung deutlich zu beobachten; nicht minder sind die vorangehenden an die Auffassung des Eindrucks gebundenen Gefühle scharf ausgeprägt. Noch mehr geschieht dies, und die Aufeinanderfolge der Vorstellungs- und Gefühlsprozesse wird zugleich eine verwickeltere, wenn man noch einen andern psychischen Vorgang, z. B. eine Erinnerungsassoziation, einschaltet, der erst als Motiv für die Ausführung der Bewegung wirken soll. Der willkürliche Vorgang wird endlich bei diesen Versuchen zu einem Wahlvorgang, wenn die Handlung nicht bloß derart von einer Vielheit von Motiven beeinflußt ist, daß mehrere aufeinander folgen müssen, ehe eines die Handlung bestimmt, sondern wenn überdies von verschiedenen möglichen Handlungen eine nach Maßgabe der vorhandenen Motive entscheidend wird: dies geschieht, wenn zu verschiedenen Reaktionsbewegungen, z. B. zu einer solchen mit der rechten und der linken Hand oder zu einer solchen mit irgendeinem der zehn Finger, die Vorbereitung getroffen, jede einzelne Bewegung aber an die Bedingung geknüpft ist, daß ein Eindruck von bestimmter Qualität als Motiv für sie gelten soll, z. B. der Eindruck blau für die Bewegung rechts, rot für die Bewegung links.

    14. Im Gegensatze hierzu kann die verkürzte (muskuläre) Reaktionsform benutzt werden, um die Rückbildung der Willenshandlungen zu Reflexbewegungen in der Beobachtung zu verfolgen. Indem sich nämlich bei dieser Reaktionsform die vorbereitende Erwartung ganz auf die äußere Handlung richtet, die möglichst rasch ausgeführt werden soll, ist hier eine willkürliche Hemmung oder Auslösung derselben je nach der Beschaffenheit der Eindrücke, also auch ein Übergang von einfachen zu zusammengesetzten Willenshandlungen, unmöglich. Dagegen gelingt es leicht, die Verbindung des Eindrucks mit der ihm eindeutig zugeordneten Bewegung so einzuüben, daß der Auffassungsvorgang immer mehr verschwindet oder erst nach erfolgtem Bewegungsimpuls eintritt, sonach die Bewegung selbst reflexähnlich erfolgt. Diese Mechanisierung verrät sich objektiv hauptsächlich darin, daß die Reaktionszeit auf die Größe der bei reinen Reflexbewegungen beobachteten Zeitgrößen herabsinkt, subjektiv aber darin, daß in der psychologischen Beobachtung Eindruck und Reaktion als ein zeitlich zusammenfallender Vorgang erscheinen, während das charakteristische Gefühl der Entscheidung allmählich ganz verschwindet.

    14 a. Die der experimentellen Psychologie unter dem Namen der "Reaktionsversuche" geläufigen chronometrischen Experimente verdanken ihre Wichtigkeit der doppelten Bedeutung, die sie, erstens als Hilfsmittel zur Analyse der Willensvorgänge, und zweitens als solche zur Untersuchung des zeitlichen Verlaufs der psychischen Vorgänge überhaupt, besitzen. In dieser zweiseitigen Bedeutung der Reaktionsversuche spiegelt sich die zentrale Bedeutung der Willensvorgänge, die einerseits darin besteht, daß die einfacheren Prozesse, die Gefühle, Affekte und die an sie gebundenen Vorstellungen, Bestandteile eines vollständigen Willensvorgangs sind, anderseits darin, daß alle möglichen Formen des Zusammenhangs der psychischen Gebilde als Bestandteile eines solchen vorkommen können. Hierdurch bilden die Willensvorgänge den angemessenen Übergang zu dem im folgenden Kapitel zu erörternden Zusammenhang der psychischen Gebilde.

    Ein "Reaktionsversuch", der zur Analyse eines Willensvorgangs oder irgendeines in ihn eingehen-den psychischen Prozesses bestimmt ist, setzt vor allem die Anwendung genauer und zureichend feiner (1/1000 Sek. noch sicher angebender) chronometrischer Hilfsmittel (elektrischer Uhren oder graphischer Registriermethoden) voraus, bei denen zugleich die Einrichtung getroffen ist, daß sowohl der Augenblick des einwirkenden Reizes wie der Augenblick der Reaktionsbewegung des Beobachters zeitlich fixiert wird. Dies kann z. B. dadurch geschehen, daß man eine Stimmgabel auf einen schnell mit gleichförmiger Geschwindigkeit rotieren den Zylinder ihre Schwingungen (S S' Fig. 22) aufzeichnen läßt, während gleichzeitig zwei darunter befindliche elektromagnetisch bewegliche Hebel angebracht sind, deren einer im Moment des Eindrucks, und deren anderer im Moment der Reaktionsbewegung durch die Öffnung des seinen Elektromagneten durchkreisenden Stromes bewegt wird. Man erhält dann unter der Kurve der Stimmgabelschwingungen S S' zwei geknickte Linien E E' und R R', deren Knickungspunkte a und c, der erste der Reizeinwirkung, der zweite der Reaktionsbewegung entspricht, so daß die zwischen b und d gelegenen Stimmgabelschwingungen unmittelbar die verflossene Zeit angeben. Handelt es sich darum, solche Reaktionsversuche in sehr großer Zahl auszuführen, so bedient man sich zweckmäßig statt dieser direkten Registrierung einer elektrischen Uhr, deren Zifferblatt noch 1/1000 Sek. anzeigt, und die so eingerichtet ist, daß sie im Moment der Reizeinwirkung elektrisch in Gang kommt und gleichzeitig mit der Reaktionsbewegung ebenso wieder zum Stillstand gebracht wird. Die so gemessene einfache Reaktion läßt sich nun teils, wie oben angedeutet, in verschiedener Weise abändern (vollständige und verkürzte Reaktion, solche mit und ohne vorausgehendes Signal), teils lassen sich in den Reaktionsvorgang jene verschiedenen psychischen Akte (Unterscheidungen, Erkennungen, Assoziationen, Wahlvorgänge) einschalten, die einerseits als Motive eines Willensvorgangs, anderseits als Bestandteile des allgemeinen Zusammenhangs der psychischen Gebilde betrachtet werden können. Der einfache Reaktionsvorgang ist aber ein Verlauf, der neben dem Willensvorgang stets zugleich rein physiologische Glieder (Leitung der sensibeln Erregung bis zum Gehirn, der motorischen zum Muskel) in sich schließt. Schaltet man nun, wie es freilich nur bei der Benutzung der vollständigen Reaktionsform geschehen kann, weitere psychische Vorgänge (Unterscheidungen, Erkennungen, einfache Assoziationen, Wahlakte) ein, so lassen sich, indem man von der Zeitdauer der so gewonnenen zusammengesetzten Reaktion die Zeit einer einfachen Reaktion abzieht, die Zeitwerte bestimmt definierbarer psychischer Vorgänge gewinnen. Man findet so die Zeiten der Erkennung und der Unterscheidung relativ einfacher Eindrücke (Farben, Buchstaben, kurze Wörter) = 0,03–0,05", die der Erinnerungsassoziation = 0,3–0,8", die der Wahl zwischen zwei Bewegungen (rechte und linke Hand) = 0,06", zwischen 10 Bewegungen (die 10 Finger) = 0,4" usw. Dabei besteht, wie schon oben angedeutet, der Wert dieser Zahlen nicht sowohl in ihrer absoluten Größe als vielmehr darin, daß sie Kontrollmittel der psychologischen Beobachtung sind, während diese zugleich auf Vorgänge angewandt wird, die mit Hilfe der experimentellen Methode genau vorgeschriebenen und darum beliebig zu wiederholenden Bedingungen unterworfen werden. Auch ist nicht zu übersehen, daß die gewonnenen Zahlen um so weniger den Zeitwerten bestimmt abzugrenzender psychischer Vorgänge entsprechen können, je verwickelter die zusammengesetzten Reaktionsvorgänge werden. Ein Wahl- und ein Assoziationsvorgang z. B. setzen sich aus einer so großen Zahl elementarer Prozesse zusammen, die sich in den einzelnen Fällen wieder in verschiedener Weise kombinieren und mit verschiedener Vollständigkeit ablaufen können, daß die gewonnene Reaktionszeit immer nur in den aus einer größeren Zahl von Versuchen berechneten Mittelwerten ein gewisses relatives Maß für die Komplikation der Vorgänge, aber kein absolutes für die Dauer eines bestimmt abzugrenzenden psychischen Geschehens abgeben kann. Überhaupt ist zu beachten, daß die Reaktionsversuche, wenn sie psychologisch verwendbar sein sollen, zu den allerschwierigsten Aufgaben der experimentellen Psychologie gehören, welche einerseits die größte technische Sorgfalt und die Sammlung und statistische Verarbeitung zahlreicher Beobachtungen, anderseits einen hohen Grad von Übung in der Selbstbeobachtung voraussetzen. Leider ist diesen Bedingungen nicht überall Rechnung getragen worden, indem man entweder auf wenige flüchtige Beobachtungen weittragende Folgerungen über die Natur der Vorgänge stützte, oder indem man die Reaktionsmethode sofort auf höchst komplexe psychische Vorgänge, wie z. B. auf zusammengesetzte Assoziationen, auf Urteilsakte, die unter beschränkenden logischen Bedingungen ausgeführt wurden, u. ä. anwandte. Derartige Versuche sind wertlos, weil die komplizierten Bedingungen eine psychologische Deutung der Resultate nicht zulassen, die Selbstbeobachtung aber durch die Forderung einer reflektierenden Überlegung, die eine solche Aufgabe enthält (wie z. B. bei sogenannten "Urteilsreaktionen" durch die Forderung, einen passenden Oberbegriff, einen koordinierten, einen kontrastierenden Begriff u. dgl. zu finden), unmöglich gemacht wird. Die komplexen Prozesse des logischen Denkens, der künstlerischen, der mythenbildenden Phantasie usw. sind überhaupt der experimentellen Methode, die ihrem Wesen nach auf die Analyse der einfachen seelischen Vorgänge angewiesen bleibt, unzugänglich. Vielmehr beginnt bei diesem Punkte die Völkerpsychologie mit ihren Hilfsmitteln (Entwicklung der Sprache, des Mythus, der Sitte usw.) ergänzend einzutreten.

Fig. 22. Graphische Messung eines Reaktionsvorgangs.

    14b. Von manchen Psychologen sind die Unterschiede der sog. sensoriellen und der muskulären Reaktion nicht als solche angesehen worden, die in dem mehr oder weniger vollständigen Ablauf der Willensvorgänge in allgemeingültiger Weise begründet liegen, sondern sie erblickten darin lediglich individuelle, sogenannte "typische" Unterschiede in der Schnelligkeit der Ausführung der Reaktionsbewegung. Daß diese Ansicht irrig ist, ergibt sich aber ohne weiteres, wenn man 1) die Versuche planmäßig und nach eingetretener Übung in zureichend großer Zahl ausführt, und 2) das für die Verwertung derartiger Versuche mit starken Abweichungen der Einzelwerte überhaupt zu empfehlende Verfahren der Konstruktion von "Häufigkeitskurven" anwendet. Man ordnet zu diesem Zweck eine große Zahl, z. B. 500–1000 Einzelversuche, die unter gleichen Bedingungen ausgeführt sind, derart, daß man auf einer Abszissenlinie XX' (Fig. 23) die Reaktionszeiten in gewissen, aus der Beschaffenheit der Versuche näher zu bestimmenden Zeitabständen, z. B. in solchen von 0,004 Sek., abmißt und auf den einzelnen Zeitwerten die zugehörigen Reaktionen in der Weise aufträgt, daß die in dem betreffenden Punkt errichtete Ordinate der Häufigkeit der auf diesen Zeitwert fallenden Reaktionszeiten entspricht. Mittels dieser Konstruktion erhält man von einem einzelnen Beobachter, der ohne irgendwelche ihm gemachte Vorschriften einfache Reaktionen ausführt, eine Kurve von der Form der ausgezogenen Linie N N'. Übt man aber weiterhin in einem ersten Fall einen Beobachter so ein, daß ihm möglichste Schnelligkeit in der Ausführung der Reaktion eingeschärft wird, so geht im Lauf einer längeren Versuchsübung die Kurve N N' allmählich in eine andere Häufigkeitskurve von der Form M über, die nicht, wie N N' zwei, sondern nur einen Gipfelpunkt hat. Schärft man umgekehrt ein, immer erst zu reagieren, wenn der Sinneseindruck deutlich aufgefaßt worden ist, so verändert sich abermals im Laufe längerer Einübung die Häufigkeitskurve, aber im entgegengesetzten Sinne wie vorhin: sie geht nun in eine Form S über. Danach ist es klar, daß die anfängliche zweigipfelige Kurve N N' Fälle ganz verschiedener Art vereinigt, von denen der eine, um den Gipfel N gelegene Teil annähernd der muskulären, der andere um N' ebenso der sensoriellen Reaktion entsprechen wird, während es noch eine weitere unbestimmte Zahl von Fällen gibt, die zwischen beiden in der Mitte liegen. Durch die Einübung in einer der beiden Richtungen erhält man dann erst rein muskuläre, im wesentlichen als Reflexbewegungen zu deutende Reaktionen M, oder umgekehrt rein sensorielle S, an die sich dann weitere komplexe Reaktionen mit Einschaltung bestimmter psychischer Vorgänge anschließen lassen. Aus diesen Verhältnissen ergibt sich klar, daß die gewöhnliche Methode bei der Ausführung solcher Versuche, wonach man jeden Beobachter nach Belieben reagieren läßt, um dann aus allen beobachteten Zeiten das Mittel zu ziehen, kein irgend exaktes Resultat ergeben kann. Ein solches Mittel würde z. B. bei den durch die Häufigkeitskurve N N' dargestellten Versuchen etwa durch die Linie m ausgedrückt werden. Der Wert m entspricht aber keiner der beiden eindeutigen Reaktionsweisen, vielmehr verdeckt er die schon in der natürlichen Häufigkeitskurve zum Ausdruck kommenden psychologischen Unterschiede vollständig. Führt man die Versuche an einer größeren Zahl von Personen aus, so zeigen sich nun allerdings individuelle Unterschiede. Diese bestehen aber lediglich darin, daß bei den einen der Gipfel N, bei den andern N' der höhere ist. Die Unterschiede beruhen also bloß auf einer je nach der individuellen Anlage vorhandenen größeren Neigung zu der vollständigen oder zur verkürzten Reaktion, und diese Unterschiede können in beiden Fällen durch die planmäßige Einübung überwunden werden.

Fig. 23. Häufigkeitskurven bei Reaktionsversuchen.

    Literatur. Donders, Archiv f. Anat. u. Physiol., 1868 (erster Versuch einer psychologischen Verwertung der Reaktionsversuche). Exner, Pflügers Archiv, Bd. 7. Wundt, Phil. Stud., Bd. l (Psychol. Methoden). Merkel, ebenda, Bd. 2. Cattel, Bd. 3 u. 4. L. Lange, Bd. 4. Alechsieff, Bd. 16. Bergemann, Psychol. Stud., Bd. l. Deuchler, ebenda, Bd. 4, 5 u. 8. Günther, ebenda, Bd. 7. Westphal, ebenda, Bd. 8. Salow, ebenda, Bd. 7 u. 8. N. Ach, Die Willenstätigkeit und das Denken, 1905. Über den Willensakt und das Temperament, 1910. Kramers, Psychol. Stud. Bd. 9. Lohnert, ebenda. Hammer, ebenda. Kraepelin, Über die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel, 1892. Phys. Ps.6, III, Kap. 17. M. u. T., Vorl. 18.