§ 12. Die zusammengesetzten Gefühle.

    l. In der Entwicklung der zeitlichen Vorstellungen tritt deutlich zutage, daß die Sonderung der Vorstellungs- und der Gefühlsbestandteile der unmittelbaren Erfahrung erst ein Produkt unserer Abstraktion ist. Bei den Zeitvorstellungen erweist sich nämlich diese Abstraktion deshalb als undurchführbar, weil bei ihnen bestimmte Gefühle selbst an der Entstehung der Vorstellungen beteiligt sind. So lassen sie sich denn auch nur insofern, als man ausschließlich das Endergebnis des Vorgangs, die Ordnung bestimmter Empfindungen im Verhältnis zueinander und zum Subjekt, ins Auge faßt, als Vorstellungen bezeichnen; in ihrer eigenen Zusammensetzung betrachtet sind sie aber komplexe Produkte von Empfindungen und Gefühlen. Sie nehmen daher zugleich eine angemessene Übergangsstellung ein zwischen den Vorstellungen überhaupt und denjenigen psychischen Gebilden, die sich aus Gefühlselementen zusammensetzen, und denen wir den Gattungsnamen der Gemütsbewegungen beilegen. Diese sind den Zeitvorstellungen insbesondere auch darin ähnlich, daß bei der Untersuchung ihrer Entstehung eine abstrakte Scheidung der Gefühls- von den Empfindungselementen gar nicht ausführbar ist, da in die Entwicklung aller Arten von Gemütsbewegungen die Empfindungen und Vorstellungen als bestimmende Faktoren eingreifen.

    2. Unter den Gemütsbewegungen nehmen die intensiven Gefühlsverbindungen oder zusammengesetzten Gefühle eine den andern vorausgehende Stelle ein, weil bei ihnen die charakteristischen Eigenschaften eines einzelnen Gebildes Produkte eines augenblicklichen Zustandes sind, so daß die Beschreibung desselben nur die genaue Auffassung dieses Zustandes, nicht aber eine Zusammenfassung mehrerer in der Zeit ablaufender und auseinander hervorgehender Vorgänge voraussetzt. Auch kommen nicht selten Dauerzustände solcher Gefühlsverbindungen vor, welche man dann als Stimmungen zu bezeichnen pflegt. Da diese oft in Affekte übergehen, so bilden sie ein Grenzgebiet zwischen Gefühl und Affekt; sie selbst sind aber doch eben wegen ihres dauernden Charakters den zusammengesetzten Gefühlen zuzurechnen.

    3. Die zusammengesetzten Gefühle sind hiernach intensive Zustände von einheitlichem Charakter, in denen zugleich einzelne einfachere Gefühlsbestandteile wahrzunehmen sind. In jedem derartigen Gefühl lassen sich daher Gefühlskomponenten und eine Gefühlsresultante unterscheiden. Als letzte Gefühlskomponenten ergeben sich hierbei stets einfache sinnliche Gefühle, doch können einzelne der letzteren zunächst eine partielle Resultante bilden, die dann als zusammengesetzte Komponente in das ganze Gefühl eingeht.

    Jedes zusammengesetzte Gefühl läßt sich somit zerlegen; l) in ein aus der Verbindung aller seiner Bestandteile resultierendes Totalgefühl, und 2) in die einzelnen Partialgefühle, welche die Komponenten dieses Totalgefühls bilden, und welche wieder in Partialgefühle verschiedener Ordnung zerfallen, je nachdem sie aus einfachen sinnlichen Gefühlen bestehen (Partialgefühle erster Ordnung), oder selbst schon Totalgefühle sind (Partialgefühle zweiter und höherer Ordnung). Wo Partialgefühle höherer Ordnung vorkommen, können dann außerdem mehrseitige Verbindungen oder Verwebungen der in sie eingehenden Elemente stattfinden, indem das nämliche Partialgefühl niederer Ordnung gleichzeitig in mehrere Partialgefühle höherer Ordnung eingeht. Durch solche Verwebungen kann der Aufbau des Totalgefühls ein äußerst verwickelter werden; und zugleich kann dasselbe trotz der unveränderten Beschaffenheit seiner Elemente einen variabeln Charakter annehmen, je nachdem die eine oder andere der möglichen Verwebungen der Partialgefühle überwiegt.

    3a. So entspricht z.B. dem musikalischen Dreiklang c e g ein Totalgefühl der Harmonie, dessen letzte Elemente als Partialgefühle erster Ordnung die den einzelnen Klängen c, e und g entsprechenden Klanggefühle sind. Zwischen ihnen und dem resultierenden Totalgefühl stehen aber als Partialgefühle zweiter Ordnung die drei harmonischen Zweiklanggefühle c e, e g und c g; und je nachdem entweder eines derselben überwiegt, oder sämtliche in annähernd gleicher Stärke auftreten, hat daher auch der Charakter des Totalgefühls in diesem Fall eine vierfach verschiedene Nuance. Ein Anlaß zum Überwiegen irgendeines komplexen Partialgefühls kann bald in der größeren Intensität seiner Empfindungsbestandteile, bald in vorangegangenen Gefühlen seinen Grund haben. Geht man z. B. von c es g zu c e g über, so wird die Partialwirkung c e, geht man dagegen von c e a zu c e g über, so wird die Partialwirkung c g verstärkt. Ähnlich kann auch eine Mehrheit von Farbeneindrücken je nach dem Übergewicht dieser oder jener Partial Verbindungen wechselnde Wirkungen hervorbringen; doch übt hier wegen der extensiven Ordnung der Eindrücke die räumliche Nachbarschaft einen der Varianten der Verbindung entgegenwirkenden Einfluß aus, während als ein wesentlich komplizierendes Moment noch der Einfluß der räumlichen Form mit allen ihn begleitenden Bedingungen hinzukommt.

    4. Ist auf diese Weise die Struktur der zusammengesetzten Gefühle im allgemeinen eine höchst verwickelte, so bieten nun aber doch auch sie eine Stufenfolge von Entwicklungen dar, indem die von den Gebieten des Tast-, Geruchs- und Geschmackssinns ausgehenden komplexen Gefühle eine wesentlich einfachere Beschaffenheit haben als die mit den Gehörs- und Gesichtsvorstellungen verbundenen.

    Man pflegt speziell dasjenige Totalgefühl, das an die äußeren und inneren Tastempfindungen geknüpft ist, als das Gemeingefühl zu bezeichnen, indem man es als das Totalgefühl betrachtet, in welchem der gesamte Zustand unseres sinnlichen Wohl- und Übelbefindens zum Ausdruck kommt. Unter dem letzteren Gesichtspunkt müssen aber die beiden niederen chemischen Sinne, Geruchs- und Geschmackssinn, ebenfalls dem Empfindungssubstrat des Gemeingefühls zugerechnet werden. Denn die von ihnen ausgehenden Partialgefühle verbinden sich mit den vom Tastsinn ausgehenden zu unlösbaren Gefühlskomplexen. Dabei können dann im Einzelfall bald die an das eine, bald die an das andere Sinnesgebiet gebundenen Gefühle dominieren. Bei allem diesem Wechsel der Empfindungsgrundlage bleibt es die Eigenschaft des Gemeingefühls, daß es der unmittelbare Ausdruck unseres sinnlichen Wohl- oder Übelbefindens und daher unter allen zusammengesetzten Gefühlen den einfachen sinnlichen Gefühlen am nächsten verwandt ist. Gesichts- und Gehörssinn beteiligen sich dagegen nur ausnahmsweise, namentlich bei ungewöhnlicher Intensität der Eindrücke, an dem Empfindungssubstrat des Gemeingefühls.

    5. Das Gemeingefühl ist die Quelle der Unterscheidung jenes Gefühlsgegensatzes der Lust und Unlust, der von ihm aus nicht nur auf die einzelnen einfachen Gefühle, aus denen es sich zusammensetzt, sondern manchmal auf alle Gefühle übertragen wurde. Insofern das Gemeingefühl ein Totalgefühl ist, welchem das sinnliche Wohl- oder Übelbefinden des Subjekts entspricht, sind die Ausdrücke Lust und Unlust in der Tat vollkommen geeignet, uns die Hauptgegensätze anzudeuten, zwischen denen dasselbe, freilich nicht selten mehr oder weniger lange in einer Indifferenzlage verweilend, hin- und herschwanken kann. Ebenso kann man dann diese Ausdrücke auf die einzelnen Komponenten nach Maßgabe ihrer Beteiligung an jenem Gesamteffekt übertragen. Völlig unberechtigt ist es aber, sie auf die Gesamtheit der übrigen Gefühle anzuwenden oder gar ihre Anwendbarkeit zu einem Kriterium für den Begriff des Gefühls überhaupt zu machen. Läßt sich doch selbst für das Gemeingefühl die Gegenüberstellung von Lust und Unlust nur in dem Sinne festhalten, daß diese Wörter allgemeine Klassenbegriffe bezeichnen, die eine Fülle qualitativ mannigfaltiger Gefühle in sich schließen. Diese Mannigfaltigkeit resultiert schon aus der ungemein großen Variation der Zusammensetzung der einzelnen von uns mit dem Gesamtnamen des Gemeingefühls belegten Totalgefühle. (Vgl. hierzu § 7, 8 ff.)

    6. Die erwähnte Zusammensetzung ist zugleich die Ursache, daß es Gemeingefühle gibt, die deshalb nicht schlechthin als Lust- oder Unlustgefühle bezeichnet werden können, weil sie aus einer Folge von Lust- und Unlustgefühlen bestehen, in der je nach Umständen bald das eine, bald das andere vorherrschen kann. Da die Eigentümlichkeit derartiger Gefühle auf der Verbindung entgegengesetzter Partialgefühle beruht, so können sie Kontrastgefühle genannt werden. Eine einfache Form eines solchen Kontrastgefühls unter den Gemeingefühlen ist das Kitzelgefühl, das sich aus einem schwache äußere Tastempfindungen begleitenden Lustgefühl und aus den an die Muskelempfindungen gebundenen Gefühlen zusammensetzt, welche durch die von den Tastreizen ausgelösten Reflexkrämpfe entstehen. Indem sich diese Reflexkrämpfe mehr oder weniger weit verbreiten und häufig zugleich durch die Irradiation auf das Zwerchfell Atmungshemmungen herbeiführen, kann das resultierende Gefühl in einzelnen Fällen nach Intensität, Umfang und Zusammensetzung außerordentlich variieren.

    6a. Das Gemeingefühl ist diejenige zusammengesetzte Gefühlsform, bei der man zuerst die Verbindung aus Partialgefühlen bemerkt, zugleich aber freilich die psychologische Gesetzmäßigkeit dieser Verbindung durchaus verkannt und überdies in der in der Physiologie üblichen Weise das Gefühl nicht von seiner Empfindungsgrundlage unterschieden hat. So wird das Gemeingefühl bald als das "Bewußtsein von unserm eigenen Empfindungszustand", bald als die "Summe oder das ungesonderte Chaos von Sensationen" definiert, welches uns von allen Teilen unseres Körpers zugeführt werde. In der Tat entspringt das Gemeingefühl aus einer Vielheit von Partialgefühlen; aber es ist nicht die bloße Summe dieser Gefühle, sondern ein aus ihnen resultierendes einheitliches Totalgefühl. Zugleich ist es aber allerdings ein Totalgefühl von der möglichst einfachen Struktur, indem es sich aus lauter Partialgefühlen erster Ordnung, nämlich aus einzelnen sinnlichen Gefühlen zusammensetzt, ohne daß dieselben speziellere Verbindungen zu Partialgefühlen zweiter oder gar höherer Ordnung einzugehen pflegen. Dabei ist in dem entstehenden Produkt meistens ein einzelnes Partialgefühl vorherrschend: dies ist insbesondere immer dann der Fall, wenn eine sehr starke örtliche Empfindung von Schmerzgefühl begleitet ist. Doch können auch schwächere Empfindungen durch ihr relatives Übergewicht den herrschenden Gefühlston bestimmen: so besonders häufig die Geruchs- und Geschmacksempfindungen oder auch gewisse an die regelmäßige Funktion der Organe gebundene Empfindungen, wie die die Gehbewegungen begleitenden inneren Tastempfindungen. Häufig kann übrigens dies relative Übergewicht einer einzelnen Empfindung so schwach sein, daß erst die Aufmerksamkeit auf den eigenen subjektiven Zustand das dominierende Gefühl entdeckt. In diesem Falle hat dann zugleich diese Richtung der Aufmerksamkeit meist die Eigenschaft, ein beliebiges Partialgefühl zum bevorzugten zu machen.

    Literatur. E. H. Weber, Tastsinn u. Gemeingefühl. Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinnesw., 6. Abh. Phys. Ps.6, II, Kap. 11. M. u. T.5 Vorl. 14. Pathologische Veränderungen des Gemeingefühls: Störring, Vorlesungen über Psychopathologie, 1900, Vorl. 23 u. 24.

    7. Die zusammengesetzten Gefühle im Gebiet des Gesichts- und Gehörssinns pflegt man auch als ästhetische Elementargefühle zu bezeichnen, ein Ausdruck, der an und für sich alle Gefühle umfaßt, die an zusammengesetzte Wahrnehmungen gebunden und deshalb selbstzusammengesetzt sind. Zu der Klasse dieser nach dem Begriff der  im weiteren Sinne benannten Gefühle gehören dann aber insbesondere diejenigen, die als Elemente ästhetischer Wirkungen in dem engeren Sinne dieses Wortes vorkommen. Der Begriff des Elementaren bezieht sich demnach bei diesen Gefühlen nicht auf die Gefühle selbst, die durchaus nicht einfach sind, sondern er soll nur einen relativen Gegensatz zu den noch weit zusammengesetzteren höheren ästhetischen Gefühlen ausdrücken. Die Wahrnehmungsgefühle oder ästhetischen Elementargefühle des Gesichts- oder Gehörssinns können uns aber zugleich als Repräsentanten aller weiteren im Verlauf der intellektuellen Prozesse auftretenden zusammengesetzten Gefühle, wie der logischen, der moralischen, der höheren ästhetischen, dienen. Denn ihrer allgemeinen psychologischen Struktur nach gleichen solche verwickeltere Gefühlsformen durchaus den einfacheren Wahrnehmungsgefühlen; nur verbinden sich jene stets noch mit den Gefühlen und Affekten, die aus dem gesamten Zusammenhang der psychischen Prozesse hervorgehen.

    Während die Gegensätze, zwischen denen sich die Gemeingefühle bewegen, vorwiegend denjenigen Qualitäten der Gefühle angehören, die wir durch die Ausdrücke Lust und Unlust bezeichnen, lassen sich auf die ästhetischen Elementargefühle meist die in die nämlichen Richtungen fallenden, aber ihrer Bedeutung nach objektiveren, nicht das eigene Wohl- oder Übelbefinden, sondern das Verhältnis der Gegenstände zum vorstellenden Subjekt zum Ausdruck bringenden Gegensätze des Gefallens und Mißfallens anwenden. Hier ist es freilich noch augenfälliger als bei Lust und Unlust, daß diese Gegensatzbegriffe nicht selbst Einzelgefühle bezeichnen, sondern nur auf die allgemeinen Richtungen hinweisen, nach denen sich die im einzelnen unendlich mannigfaltigen und bei jeder individuellen Vorstellung eigentümlichen Gefühle ordnen lassen. Zugleich kommen dann aber bei den einzelnen Gefühlen in mehr wechselnder Weise die andern Gefühlsrichtungen (§ 7, 7), die erregenden und beruhigenden, die spannenden und lösenden, zur Geltung.

    8. Abgesehen von den genannten, über alle einzelnen Formen übergreifenden Hauptrichtungen lassen sich die Wahrnehmungsgefühle nach den für ihre Qualität maßgebenden Verhältnissen der Vorstellungselemente in zwei Klassen bringen, die wir die der intensiven und der extensiven Gefühle nennen wollen. Unter den intensiven Gefühlen verstehen wir diejenigen, die aus dem Verhältnis der qualitativen Eigenschaften der Empfindungselemente einer Vorstellung, unter den extensiven solche, die aus der räumlichen oder zeitlichen Ordnung der Elemente entspringen. Die Ausdrücke "intensiv" und "extensiv" sollen also hier nicht auf die Beschaffenheit der Gefühle selbst, die in Wirklichkeit immer eine intensive ist, sondern auf ihre Entstehungsbedingungen bezogen werden.

    Demnach sind die intensiven und extensiven Gefühle nicht bloß die subjektiven Begleiterscheinungen der entsprechenden Vorstellungen, sondern, da jede Vorstellung einerseits aus qualitativ verschiedenen Elementen zu bestehen pflegt, anderseits irgendeiner extensiven Ordnung von Eindrücken sich einreiht, so kann eine und dieselbe Vorstellung gleichzeitig das Substrat intensiver und extensiver Gefühle sein. So erregt ein Gesichtsobjekt, das aus verschiedenfarbigen Teilen besteht, ein intensives Gefühl durch das Verhältnis der Farben zueinander, ein extensives durch seine Form. Eine Aufeinanderfolge von Klängen ist mit einem intensiven Gefühl verbunden, das dem qualitativen Verhältnis der Klänge entspricht, und mit einem extensiven, das aus der rhythmischen oder arrhythmischen zeitlichen Folge derselben hervorgeht. Darum sind an die Gesichts- wie an die Gehörsvorstellungen im allgemeinen stets intensive und extensive Gefühle zugleich gebunden; doch kann natürlich unter bestimmten Bedingungen die eine gegenüber der andern Form zurücktreten. So ist beim momentanen Anhören eines Zusammenklangs nur ein intensives Gefühl wahrzunehmen; umgekehrt beim Anhören einer Taktfolge aus indifferenten Schalleindrücken macht sich bloß ein extensives Gefühl in merklichem Grade geltend usw. Zum Zweck der psychologischen Analyse ist es aber natürlich angemessen, solche Bedingungen herzustellen, unter denen eine bestimmte Gefühlsform bei möglichstem Ausschlusse jeder andern entsteht.

    9. Unter den auf diese Weise zu beobachtenden intensiven Gefühle zeigen die an die Farbenverbindungen gebundenen die Eigentümlichkeit, daß eine gegebene Farbe mit mehreren, von ihr qualitativ hinreichend verschiedenen wohlgefällige Zusammenstellungen bildet, wobei aber im allgemeinen die komplementären Farbenpaare nicht die günstigsten Kombinationen sind. So stimmen z. B. Rot und Blau besser zusammen als Rot und Grün. Disharmonisch wirken dagegen stets einander näherliegende Farben, wie z. B. Blau und Grün. Daneben kann auch hier, wie schon bei den einfachen Farbengefühlen, die Wirkung durch zufällige Assoziationen und die von ihnen ausgehenden komplexen Gefühle gekreuzt werden. Kombinationen von mehr als zwei Farben sind noch nicht hinreichend untersucht.

    Eine außerordentlich reiche Mannigfaltigkeit bilden sodann die Gefühle der Klangverbindungen. Sie sind dasjenige Gefühlsgebiet, in welchem die oben im allgemeinen erörterte Bildung von Partialgefühlen verschiedener Ordnung mit ihren je nach besonderen Bedingungen wechselnden Verwebungen vorzugsweise ihre Wirkungen geltend macht. Die Untersuchung der einzelnen auf diese Weise entstehenden Gefühle gehört jedoch zu den Aufgaben der psychologischen Musikästhetik.

    10. Die extensiven Gefühle können wir wieder in die räumlichen und die zeitlichen unterscheiden, von denen jene, die Formgefühle, vorzugsweise dem Gesichtssinn, diese, die rhythmischen Gefühle, dem Gehörssinn eigentümlich sind, während dem Tastsinn die Anfänge der Entwicklung beider zufallen.

    Das optische Formgefühl spricht sich vor allem in der Bevorzugung regelmäßiger vor unregelmäßigen Formen, und dann bei der Wahl zwischen verschiedenen regelmäßigen Formen in der Bevorzugung der nach gewissen einfachen Regeln gegliederten aus. Unter diesen Regeln werden wieder zwei, die der Symmetrie mit dem Verhältnis 1:1 und die des goldenen Schnittes mit dem Verhältnis (x + l) : x = x : 1 (das Ganze zum größeren Teil wie dieser zum kleineren) vor andern ausgezeichnet. Daß bei der Wahl zwischen diesen beiden die Symmetrie für die horizontale, der goldene Schnitt für die vertikale Gliederung der Gestalten im allgemeinen den Vorzug gewinnt, ist wahrscheinlich durch Assoziationen, speziell mit organischen Gestalten, wie z. B. mit der menschlichen, bedingt. Diese Bevorzugung der Symmetrie und gewisser einfachster Proportionen kann nicht wohl anders als so gedeutet werden, daß die Durchmessung jeder einzelnen Dimension mit einer inneren Tastempfindung des Auges und einem begleitenden sinnlichen Gefühl verbunden ist, das in das Ganze eines optischen Formgefühls als Partialgefühl eingeht, worauf das bei dem Anblick der ganzen Form entstehende Totalgefühl der regelmäßigen Ordnung durch das Verhältnis der Partialgefühle zueinander modifiziert wird. Als sekundäre, aber ebenfalls mit dem Totalgefühl verschmelzende Bestandteile können dann auch hier wieder Assoziationen und die an sie gebundenen Gefühle hinzukommen.

    Das rhythmische Gefühl ist ganz von den bei der Betrachtung der zeitlichen Vorstellungen besprochenen Bedingungen abhängig. Die Partialgefühle werden hier durch jene Gefühle gespannter und erfüllter Erwartung gebildet, die in ihrem regelmäßigen Wechsel die rhythmische Zeitvorstellung selbst konstituieren. Die Art der Verbindung der Partialgefühle und besonders die Vorherrschaft einzelner derselben in dem entstehenden Totalgefühl ist aber zugleich in noch höherem Grad als der momentane Charakter eines intensiven Gefühls von dem Verhältnis abhängig, in dem die unmittelbar gegenwärtigen zu vorangegangenen Gefühlen stehen. Dies zeigt sich namentlich an dem starken Einfluß, den jeder Wechsel des Rhythmus auf das rhythmische Gefühl ausübt. Hierdurch sowie schon durch ihr allgemeines Gebundensein an einen bestimmten zeitlichen Verlauf bilden die rhythmischen Gefühle den nächsten Übergang zu den Affekten. Kann sich auch aus jedem zusammengesetzten Gefühl ein Affekt entwickeln, so ist doch bei keinem andern so wie hier die Bedingung der Entstehung des Gefühls zugleich eine notwendige Bedingung zur Entstehung eines gewissen Affektgrads, der in diesem Fall nur durch die regelmäßige Folge der Gefühle ermäßigt zu werden pflegt. (Vgl. unten § 13, l, 7.)

    11. Bei der ungeheuern Mannigfaltigkeit der zusammengesetzten Gefühle, die mit einer ebenso großen Mannigfaltigkeit ihrer Bedingungen verknüpft ist, kann man natürlich an eine sie alle umfassende psychologische Theorie von ähnlich einheitlicher Beschaffenheit, wie sie z. B. bei den räumlichen und zeitlichen Vorstellungen möglich ist, nicht denken. Immerhin treten bei ihnen einige gemeinsame Eigenschaften hervor, durch die sie sich gewissen allgemeinen psychologischen Gesichtspunkten unterordnen. Zwei Faktoren sind es nämlich, aus denen sich zunächst jede solche Gefühlswirkung zusammensetzt: erstens das Verhältnis der verbundenen Partialgefühle zueinander, und zweitens ihre Zusammenfassung zu einem einheitlichen Totalgefühl. Der erste dieser Faktoren tritt bei den intensiven, der zweite bei den extensiven Gefühlen stärker hervor; in der Tat aber sind sie beide nicht nur stets verbunden, sondern sie bestimmen sich auch wechselseitig. So kann eine Gestalt, die noch eine wohlgefällige Auffassung zuläßt, um so komplizierter sein, je mehr sich die Verhältnisse ihrer Teile nach gewissen Regeln ordnen; und das nämliche gilt für den Rhythmus. Anderseits aber begünstigt zugleich die Verbindung zu einem Ganzen die Geltendmachung der einzelnen Gefühlsbestandteile. In allen diesen Beziehungen zeigen die Gefühlsverbindungen die nächste Ähnlichkeit mit den intensiven Vorstellungsverbindungen, während die extensive Ordnung der Eindrücke, namentlich die räumliche, viel eher eine relativ unabhängige Koexistenz mehrerer Vorstellungen möglich macht.

    12. Diese Eigenschaft der engen intensiven Verbindung aller Bestandteile eines Gefühls, selbst bei solchen Gefühlen, deren Vorstellungsgrundlagen extensiv (räumlich oder zeitlich) geordnet sind, hängt mit einem Prinzip zusammen, das für alle, auch die im folgenden noch zu besprechenden Gemütsbewegungen gültig ist, und das wir als das Prinzip der Einheit der Gefühlslage bezeichnen können. Dasselbe besteht darin, daß in einem gegebenen Moment stets nur ein Totalgefühl möglich ist, oder, wie wir es auch ausdrücken können, daß alle in einem gegebenen Moment vorhandenen Partialgefühle schließlich zu einem einzigen Totalgefühl verbunden sind. Dieses Prinzip steht aber augenscheinlich im Zusammenhang mit dem allgemeinen Verhältnis zwischen Vorstellung und Gefühl, wonach in der Vorstellung ein unmittelbarer Erfahrungsinhalt nach den ihm ohne Rücksicht auf das Subjekt beigelegten Eigenschaften, in dem Gefühl das einem solchen Erfahrungsinhalt immer zugleich zukommende Verhältnis zu dem Subjekt seinen Ausdruck findet.

    12a. Unter den verschiedenen obenerwähnten Formen ästhetischer Elementargefühle bieten wohl die der Harmonie und Disharmonie der Klänge wegen der verhältnismäßig durchsichtigen Beschaffenheit ihrer Empfindungssubstrate die für die psychologische Analyse günstigsten Bedingungen dar. Auch hat hier seit langer Zeit schon das Interesse der musikalischen Ästhetik zu mancherlei theoretischen Erklärungen geführt, bei denen freilich nicht immer die tatsächlich der Beobachtung zugänglichen Erscheinungen zureichend Beachtung gefunden haben. Vielmehr wurden denselben oft hypothetische oder willkürliche Voraussetzungen substituiert: so z. B., wenn man die Harmonie auf eine unbewußte Auffassung regelmäßiger Zahlenverhältnisse (Euler), auf eine unbewußte Wirkung des Rhythmus der Schwingungen (Lipps) oder auf eine Wirkung der Tonverschmelzungen (Stumpf) zurückführte. Oder aber es wurde eines der tatsächlich mitwirkenden Momente einseitig bevorzugt: so besonders die störende Wirkung der Schwebungen bei der Dissonanz (Helmholtz). Nach den in § 6 und 9 erörterten Tatsachen lassen sich wohl folgende vier Bedingungen als die wahrscheinlich für das Harmoniegefühl bedeutsamen ansehen: l) Die Bevorzugung einfacher Einteilungen der Tonlinie nach dem für unsere Tonempfindungen gültigen Prinzip arithmetischer Teilung, z.B. 4:5:6 (Durdreiklang) usw. (§ 6, 11 f., metrisches Prinzip). 2) Die ausgezeichnete Stellung, welche die harmonischen Intervalle dadurch einnehmen, daß ihre Differenztöne teils mit den primären Tönen zusammenfallen, teils harmonische Untertöne zu denselben bilden, z.B. 4:5:6 die Differenztöne l und 2, d. h. die beiden tieferen Oktaven (Prinzip der Einfachheit). 3) Die Koinzidenz der Teiltöne der Klänge, die mit dem Grade der Harmonie zunimmt, und die sich bei der Klangfolge als Klangverwandtschaft, beim Zusammenklang als Verstärkung gewisser, jeweils für bestimmte Intervalle charakteristischer Teiltöne (Differenz- und Obertöne) geltend macht (phonisches Prinzip). 4) Die Schwebungen der primären Töne sowie der Ober- und Differenztöne beim Zusammenklang in dissonanten Intervallen (Störungsprinzip).

    Literatur. Allgemeine Gefühls- und Affektsymptome: Gent, Philos. Stud., Bd. 18. Alechsieff, Psychol. Stud., Bd. 3. Rehwohldt, ebenda, Bd. 7. Drozyñski (Rhythm. Gefühle}, ebenda. Sander, ebenda, Bd. 9. Wirkung von Farbenverbindungen: Goethe, Farbenlehre, Didakt. Teil, 6. Abt. Brücke, Physiologie der Farben, 1866. Kirschmann u. Baker, Toronto Studies, 2, 1902. Stefanescu-Goanga, Psychol. Stud., Bd. 7. Optisches Formgefühl: Fechner, Vorschule der Ästhetik, 1876, Bd. l. Abh. der sächs. Ges. der Wiss., Bd. 14. Witmer, Phil. Stud., Bd. 9. R. Vischer, Das optische Formgefühl, 1873. Hildebrand, Das Problem der Form in der bildenden Kunst, 1893 (5. Aufl. 1905). Müller-Freienfels, Ztschr. f. Psychol., Bd. 54. Lipps, Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen, 1897. Klangharmonie: Lohnert, Psychol. Stud., Bd. 9. Bühler, Die Gestaltwahrnehmungen, 1913. Helmholtz, Ton-empfindungen, Abschn.19. von Oettingen, Das duale Harmoniesystem, 1914. Stumpf, Beiträge zur Akustik und Musikwissensch., 1898–1901. Riemann, Elemente der musikalischen Ästhetik, 1900. Lipps, Psychol. Stud., 1885 (2. Aufl. 1905), II. F. Krueger, Archiv für ges. Psychol., 1903, Bd. l u. 2. Psychol. Stud., Bd. 2 u. 4. H. Sartorius, ebenda, Bd. 8. Phys. Psych.6, III, Kap. 16. Völkerpsych.2 III (Kunst).