§ 4. Allgemeine Übersicht des Gegenstandes.

    1. Die unmittelbaren Erfahrungsinhalte, die den Gegenstand der Psychologie bilden, sind unter allen Umständen Vorgänge von zusammengesetzter Beschaffenheit. Wahrnehmungen äußerer Gegenstände, Erinnerungen an solche, Gefühle, Affekte, Willensakte sind nicht nur fortwährend in der mannigfaltigsten Weise miteinander verbunden, sondern jeder dieser Vorgänge ist regelmäßig selbst wieder ein mehr oder weniger zusammengesetztes Ganzes. Die Vorstellung eines äußeren Körpers z. B. besteht aus den Partialvorstellungen seiner Teile. Einen noch so einfachen Ton verlegen wir in irgendeine räumliche Richtung; wir bringen ihn also in Verbindung mit der selbst wieder höchst zusammengesetzten Vorstellung des äußeren Raumes. Ein Gefühl, ein Wollen beziehen wir auf irgendeine Empfindung, die das Gefühl erregt, auf ein Objekt, das gewollt wird, usw. Einem derartig komplexen Tatbestand gegenüber hat nun die wissenschaftliche Untersuchung drei Aufgaben nacheinander zu lösen. Die erste besteht in der Analyse der zusammengesetzten Vorgänge, die zweite in der Nachweisung der Verbindungen, welche die durch diese Analyse aufgefundenen Elemente miteinander eingehen, die dritte in der Erforschung der Gesetze, die bei der Entstehung solcher Verbindungen wirksam sind.

    2. Unter diesen drei Aufgaben ist es vor allem die zweite, synthetische, die wieder eine Reihe von Problemen in sich schließt. Zunächst verbinden sich nämlich die psychischen Elemente zu zusammengesetzten psychischen Gebilden, die sich in dem fortwährenden Fluß des Geschehens relativ selbständig voneinander sondern. Solche Gebilde sind z. B. die Vorstellungen, mögen sie nun direkt auf äußere Eindrücke oder Objekte bezogen, oder von uns als Erneuerungen früher wahrgenommener Eindrücke und Objekte gedeutet werden, ferner die zusammengesetzten Gefühle, die Affekte, die Willensvorgänge. Weiterhin stehen dann aber diese psychischen Gebilde untereinander in den mannigfaltigsten Zusammenhängen. So verbinden sich die Vorstellungen teils zu größeren gleichzeitigen Vorstellungskomplexen, teils zu regelmäßigen Vorstellungsfolgen. Nicht minder bilden die Gefühls- und Willensvorgänge sowohl untereinander wie mit den Vorstellungsprozessen Verbindungen. Auf diese Weise entsteht der Zusammenhang der psychischen Gebilde als eine Klasse synthetischer Vorgänge zweiter Stufe, die sich auf den einfacheren Verbindungen erhebt. Indem ferner einzelne psychische Zusammenhänge selbst wieder umfassendere Verbindungen miteinander bilden, die in der Ordnung ihrer Bestandteile ebenfalls eine bestimmte Regelmäßigkeit erkennen lassen, gehen hieraus Verbindungen dritter Stufe hervor, die wir mit dem allgemeinen Namen der psychischen Entwicklungen bezeichnen. Sie lassen sich in Entwicklungen verschiedenen Umfangs unterscheiden. Entwicklungsvorgänge beschränktester Art sind solche, die sich auf eine einzelne psychische Richtung, z. B. auf die Entwicklung der intellektuellen Funktionen, des Willens, der Gefühle, oder auch etwa bloß eines besonderen Bestandteils dieser Funktionsformen, wie der ästhetischen, der moralischen Gefühle u. dgl., beziehen. Daran schließt sich dann die aus einer Menge solcher Partialentwicklungen bestehende Gesamtentwicklung der einzelnen psychischen Individualität. Indem sich aber schon das tierische Individuum und in höherem Maße noch der einzelne Mensch in fortwährenden Wechselwirkungen mit Wesen gleicher Art befindet, erheben sich endlich über diesen individuellen die generellen psychischen Entwicklungen. Diese mannigfachen Zweige der psychischen Entwicklungsgeschichte bilden teils die psychologischen Grundlagen anderer Wissenschaften, wie der Erkenntnistheorie, Pädagogik, Ästhetik, Ethik, und werden darum zweckmäßiger im Zusammenhang mit diesen behandelt; teils haben sie sich zu besonderen psychologischen Wissenschaften entwickelt: so die Psychologie des Kindes, die Tier- und Völkerpsychologie. Es werden daher im folgenden nur die für die allgemeine Psychologie wichtigsten Ergebnisse der drei letztgenannten Gebiete erörtert werden.

    3. Auf die Untersuchung der sämtlichen Verbindungen verschiedener Stufe, der Verbindungen der Elemente zu Gebilden, der Gebilde zu Zusammenhängen, der Zusammenhänge zu Entwicklungen gründet sich schließlich die Lösung der letzten und allgemeinsten psychologischen Aufgabe: die Ermittlung der Prinzipien und der allgemeinen Gesetze des psychischen Geschehens. Lehrt uns die Untersuchung der psychischen Verbindungen die tatsächliche Beschaffenheit der psychischen Vorgänge kennen, so lassen sich die Eigenschaften der in diesen Vorgängen zum Ausdruck kommenden psychischen Kausalität nur den Gesetzen entnehmen, auf welche die Verbindungsformen der psychischen Erfahrungsinhalte und ihrer Bestandteile zurückweisen.

Hiernach werden wir im folgenden betrachten:

1) die psychischen Elemente,
2) die psychischen Gebilde,
3) den Zusammenhang der psychischen Gebilde,
4) die psychischen Entwicklungen,
5) die Prinzipien und Gesetze der psychischen Kausalität.