3. Vollkommene psychologische Experimente.

    Wenn man bloß die äußeren Hilfsmittel berücksichtigt, deren wir uns in einer experimentellen psychologischen Untersuchung bedienen können, so lassen sich bekanntlich die angewandten Methoden in Reiz- oder Eindrucksmethoden und in Ausdrucksmethoden scheiden. Bei den Eindrucksmethoden wirkt man durch äußere Sinnesreize von einfacher oder komplexer Beschaffenheit auf die Bewußtseinsvorgänge ein. Bei den Ausdrucksmethoden beobachtet und registriert man womöglich mit Hilfe bekannter physikalischer Methoden die physischen Symptome psychischer Vorgänge. Änderungen der Herz-, Atmungs- und Gefäßinnervation, unwillkürliche mimische oder pantomimische Bewegungen, und endlich Willenshandlungen, die man etwa zuvor einem bestimmten psychischen Vorgang eindeutig zugeordnet hat, können auf diese Weise Bestandteile der Ausdrucksmethode sein. Gerade das Verhältnis dieser Symptome oder reagierenden Bewegungen zu den psychischen Vorgängen, zu denen sie in Beziehung stehen, zeigt nun aber, daß jene beiden Begriffe nicht sowohl gesonderte Methoden als vielmehr Bestandteile einer einzigen psychologischen Experimentalmethode bezeichnen, wobei nur je nach Umständen die eine oder die andere der beiden Partialmethoden in den Vordergrund gerückt werden kann. Zugleich erweist sich dieses Verhältnis in dem Sinne durchaus als ein einseitiges, daß die Eindrucksmethode sehr wohl für sich allein vorkommen kann, daß dagegen die Ausdrucks- stets an die Eindrucksmethode gebunden ist: den psychischen Vorgang, dessen physische Symptome wir beobachten wollen, müssen wir, wenn eine annähernd exakte Beobachtung stattfinden soll, in der Regel durch einen äußeren Eindruck hervorbringen. In diesem Sinne ist also die Ausdrucksmethode nur Bestandteil eines aus beiden Partialmethoden zusammengesetzten komplexen Verfahrens, das wir die Reaktionsmethode nennen können. Im Hinblick auf diese Unselbständigkeit der Ausdrucksmethode bleiben so nur zwei Methoden, die Reizmethode und die Reaktionsmethode, zurück, wobei dann die letztere eine durch die Hinzunahme der Ausdruckssymptome gewonnene Ergänzung der in zahlreichen anderen Untersuchungen für sich allein bestehenden Reizmethode ist. Wenn demnach auch mit Rücksicht auf die größere Komplikation der Hilfsmittel die Reaktionsmethode als die ausgebildetere erscheint, so kehrt sich doch dieses Verhältnis in vielen Fällen um, wenn man die Exaktheit der zu erzielenden Resultate in Betracht zieht: dann ist die Reizmethode im allgemeinen der Reaktionsmethode übergeordnet, und es ergibt sich, daß das Bedürfnis zur Herbeiziehung der Ausdruckssymptome in der Regel erst entsteht, wenn die Schwierigkeiten der Beobachtung so sich häufen, daß die Reizmethode allein nicht mehr ausreicht. Dies wird denn auch durch die Tatsache bestätigt, daß alles, was in dem seitherigen Inventar psychologischer Untersuchungen der Kategorie der "vollkommenen" Experimente in dem oben angegebenen Sinne zugehört, ausschließlich der Reizmethode anheimfallt.

    Nun ist die Zahl der Gebiete, die einer Anwendung der sämtlichen vier Regeln der experimentellen Methode zugänglich sind, eine verhältnismäßig beschränkte. Gleichwohl darf man sagen, daß eine Fülle von Arbeit gerade auf diesen Gebieten getan ist, so daß die experimentelle Psychologie hier über eine Menge von Ergebnissen verfügt, die durch ihre Sicherheit zu ihrem wertvollsten Besitzstande gehören. Diese Sicherheit verdanken wir aber, wie man sich leicht überzeugt, ganz und gar dem Umstand, daß bei diesen Untersuchungen jene Regeln ausnahmslos zur Anwendung kommen konnten. Sie gehören freilich fast alle der Untersuchung der Empfindungen und der Vorstellungsbildung an, und nur in einzelnen Arbeiten erstrecken sie sich auf die zentraleren Bewußtseinsvorgänge. Darum ist unsere gesamte psychologische Kenntnis der Empfindungen und der Vorstellungsbildung tatsächlich heute bereits, nachdem hier die Sinnesphysiologie wesentlich vorgearbeitet hatte, auf experimentellen Untersuchungen von exaktem Charakter aufgebaut. Dieser voraussichtlich auf keinem anderen Gebiet der Psychologie zu erreichende Vorzug entspringt aber unmittelbar aus der Natur der Empfindungen und Vorstellungen als der Bestandteile unseres Bewußtseins, die unmittelbar auf Objekte und ihre Eigenschaften bezogen werden. Hierdurch teilen sich auch den psychischen Inhalten die Merkmale mit, die den Objekten selbst zukommen, und die für die experimentelle Beherrschung der Erscheinungen wesentlich sind. Besteht doch die Fixierung eines Objektes durch die Aufmerksamkeit nur in einer Fixierung unserer Vorstellung, und die willkürliche Veränderung des Objektes bedeutet für uns immer zugleich eine willkürliche Variation dieser Vorstellung. Indem wir aber hierbei außerdem die unabhängig von unserer subjektiven Auffassung bestehenden objektiven Eigenschaften des Gegenstandes und ihre objektiv hervorgebrachten Veränderungen ermitteln und nötigenfalls mit den uns zu Gebote stehenden physikalischen Hilfsmitteln messen, werden wir in den Stand gesetzt, jene objektiven Verhältnisse unmittelbar mit den subjektiven unserer Empfindungen und Vorstellungen zu vergleichen. So eröffnen sich hier mannigfache Wege, um die Vorzüge der experimentellen Untersuchung physischer Vorgänge auf die Bewußtseinsinhalte zu übertragen.

    Es mag genügen, hier auf die hauptsächlichsten Probleme hinzuweisen, die auf solche Weise der Lösung zugänglich gemacht und zum Teil bereits gelöst worden sind. Die Maßmethoden der Empfindung, die Versuche über Zeit- und Raumvorstellungen, in weiterer Folge die Versuche über den Umfang und die Verteilung der Aufmerksamkeit unter bestimmten objektiv gegebenen Bedingungen, die Ermittelungen über den Maximalumfang eines im Bewußtsein zusammenzuhaltenden Ganzen und seiner Veränderungen unter wechselnden Bedingungen, alle diese Aufgaben gestatten es verhältnismäßig leicht, der Forderung nachzukommen, daß die Aufmerksamkeit auf den zu untersuchenden Bewußtseinsvorgang gerichtet, daß ferner eine willkürliche, eventuell quantitativ abstufbare Veränderung desselben möglich ist, und daß endlich eine beliebige Wiederholung des Versuches unter übereinstimmenden Bedingungen stattfinden kann. Dem entsprechend zeigt sich denn auch, daß in diesen Fällen die Antworten des Experimentes im allgemeinen von völlig eindeutiger und, falls die Versuche mit der nötigen Sorgfalt ausgeführt werden, von nicht zu bezweifelnder Beschaffenheit sind, wenn auch natürlich hier wie überall die Interpretation der Ergebnisse dem Streit der Meinungen ausgesetzt bleibt. Diesen Streit zu entscheiden, gehört nur dann zur Aufgabe des Experimentes, wenn er sich durch Tatsachen der Beobachtung entscheiden läßt. Dessen einzige unmittelbare Aufgabe besteht aber darin, Bedingungen herzustellen, die eine Nachweisung von Tatsachen möglich machen, die uns nicht selbst schon in der unmittelbaren Wahrnehmung gegeben sind. Da das letztere für die einfachen Tatsachen, aus denen sich die komplexen Vorgänge der Natur wie die unseres eigenen Bewußtseins zusammensetzen, niemals zutrifft, so ergibt sich eben daraus die Notwendigkeit der experimentellen Analyse.

    Es mag an zwei Beispielen genügen, die ich aus der reichen Zahl der hierher gehörenden Untersuchungen herausgreife, um die volle Übereinstimmung zu veranschaulichen, in der sich in diesen Fällen die experimentelle Methode mit den vier oben aufgestellten Regeln befindet. Ich lasse die psychischen Maßmethoden beiseite, weil manche Psychologen noch immer geneigt sind, ihnen eine Art Ausnahmestellung einzuräumen oder sie in ein teilweise außerhalb der Psychologie liegendes Zwischengebiet zu verweisen. Ich wähle vielmehr die Beispiele aus dem Gebiet der Vorstellungsbildung, und zwar das eine aus dem der Zeit-, das andere aus dem der Raumvorstellungen.

    In seinen schönen Untersuchungen über die Psychologie der Zeitvorstellungen hat Meumann gezeigt, daß jede Intensitätssteigerung eines Taktelementes zugleich eine zeitliche Verschiebung desselben gegenüber den umgebenden Elementen herbeiführt, wobei die Richtung dieser Verschiebung von der Stellung des verstärkten Taktschlages abhängt. Ein einfaches Beispiel bietet der Dreitakt mit objektiv gleich großen Intervallen der Taktschläge. Das eine der zwei gleichen Intervalle verschiebt sich dann in unserer Vorstellung durch die Intensitätssteigerung des einen Taktschlages regelmäßig in einer Weise, die sich am einfachsten in dem folgenden, keines Kommentars bedürfenden Schema darstellen läßt:

    Auf die weiteren Komplikationen dieser Erscheinungen bei größeren Taktreihen, bei gehäuften oder verschieden verteilten Intensitätssteigerungen, wie sie teils schon von Meumann behandelt, teils noch Aufgaben künftiger Untersuchungen sind, gehe ich hier nicht näher ein, ebenso wenig auf eine Interpretation, die ja möglicherweise verschieden ausfallen kann. Ich beschränke mich auf dieses eine experimentelle Resultat, wie es sich jedem unmittelbar aufdrängt, der diesen einfachen Versuch ausführt. Daß nun bei diesen, ebenso wie bei den meisten weiteren Versuchen, die in das gleiche Gebiet gehören, die vier Forderungen sämtlich erfüllt sind, ist augenscheinlich. Der Beginn des Versuches steht um so mehr in der Hand des Beobachters, als dieser, wenn er über die nötigen Instrumente verfügt, allein die Versuche ausführen kann, ohne eines "Versuchsleiters" zu bedürfen. Nicht minder liegt es in der Natur der Versuche, daß jener den Taktschlägen seine gespannteste Aufmerksamkeit zuwendet. Auch eine beliebige Wiederholung steht ihm frei, obgleich das Ergebnis so regelmäßig und unzweideutig ist, daß es eine besondere Häufung der Beobachtungen überflüssig macht. Endlich steht es ihm frei, den Versuch in doppelter Weise zu variieren, indem er teils verschieden große Intensitätssteigerungen vornimmt, teils die objektive Zeitdistanz der Taktschläge bei Einhaltung ihrer Gleichheit in ihrer Größe variiert, Modifikationen, die allerdings bis dahin noch nicht in weiterem Umfange eingeführt worden sind 1).

            1) Meumann, Phil. Stud. Bd. IX, S. 295 ff. Physiol. Psychol. 5 III, S. 60.

    Als ein ähnlich einfaches Beispiel aus dem Gebiete der räumlichen Vorstellungen nehme ich die bekannte Müller-Lyersche Täuschung. Auch hier sollen wieder die weit auseinandergehenden theoretischen Diskussionen außer Betracht bleiben. Die Tatsache, daß eine gerade Linie verlängert erscheint, wenn man an ihr nach auswärts gekehrte, verkürzt, wenn man nach einwärts gekehrte schräge Fortsätze anbringt, fällt sofort in die Augen, und um dieses allgemeine Resultat allein festzuhalten, bedarf es keiner methodisch ausgeführten Experimente. Aber da die Erscheinung in ihrer Größe mit der Länge der Ansatzstücke wechselt, ebenso mit der Größe der Linie selbst sowie mit dem Winkel, in dem jene zu dieser geneigt sind, so fordert sie zu einer ganzen Anzahl planmäßig zu sondernder experimenteller Untersuchungen heraus, die in der Tat schon verschiedene Beobachter beschäftigt, wenn auch den ganzen Umfang des Problems noch kaum erschöpft haben. Ein zweckmäßiges äußeres Hilfsmittel bei der Durchführung dieser Versuche ist hier wie bei manchen anderen ähnlichen Aufgaben die Projektionsmethode: man entwirft mittels des Skioptikons ein Bild des einen der Müller-Lyerschen Objekte und daneben in etwas verschiedener Höhe (um die Schätzung nach den Endpunkten zu verhüten) eine einfache Gerade, die der mittleren Geraden des Objektes gleich ist. Dann verändert, d. h. verkürzt oder verlängert man, je nachdem das erste oder zweite Objekt untersucht wird, diese zum Vergleich dienende Gerade so lange, bis sie dem Objekte gleich erscheint. Dieser Versuch, unter den verschiedenen oben angedeuteten Bedingungen ausgeführt, liefert ein Material, aus dem sich schließlich die Gesamtheit der Bedingungen quantitativ abschätzen läßt. Auch hier sind, wie man ohne weiteres erkennt, die vier Forderungen erfüllt, oder, soweit sie in den Untersuchungen nicht vollständig erfüllt sein sollten, ist der Weg, auf dem dies geschehen kann, leicht zu erkennen: Herstellung der Erscheinung in einem willkürlich zu wählenden Moment, genaue Fixierung durch die Aufmerksamkeit, Wiederholung der Versuche unter genau gleichen Bedingungen, und endlich planmäßige und in diesem Fall leicht quantitativ abstufbare Veränderung der Bedingungen.

    Obgleich nun aber bei diesen einfachen Versuchen, deren Aufgabe sich auf die Analyse der Bedingungen einer einzelnen Vorstellung bezieht, die Übereinstimmung mit den allgemeinen Regeln der experimentellen Methode, die sich bei einem planmäßigen Versuchsverfahren von selbst ohne eine besondere Absicht des Beobachters einzustellen pflegt, natürlich am deutlichsten in die Augen fällt, so würde es doch verfehlt sein, wenn man demzufolge mit diesen begrenzten Aufgaben das Gebiet der den strengeren Anforderungen genügenden psychologischen Experimente geschlossen glaubte. Vielmehr verhält es sich hier nicht anders als wie in der Physik oder in anderen Naturwissenschaften, wo überall die wachsende Komplikation der Bedingungen nur um so mehr eine planmäßig geübte und meist über eine größere Zahl sich ergänzender Untersuchungen ausgedehnte Methode fordert. Für die Psychologie haben aber diese komplexeren Aufgaben noch die besondere Bedeutung, daß sie zugleich in die zentraleren psychologischen Probleme eingreifen, in die Fragen nach der Konstitution des Bewußtseins, des Verhältnisses zwischen Bewußtsein und Aufmerksamkeit, endlich des Verhältnisses der klar bewußten, apperzipierten zu den mehr oder weniger dunkel bewußten Erlebnissen. So wenig natürlich zu erwarten ist, daß Fragen dieser Art sich sozusagen mit einem Schlage oder auch nur in ihrer allgemeinen Richtung schon bei einem ersten Versuch beantworten lassen, so ist es doch trotz der größeren Schwierigkeit dieser eminent psychologischen Aufgaben schließlich hier ebenfalls möglich, die Forderungen der experimentellen Methodik in voller Strenge einzuhalten. Ich verweise hier nur auf die Untersuchungen über den Umfang des Bewußtseins und den Fokus der Aufmerksamkeit, von den ersten Taktier- und tachistoskopischen Versuchen an bis zu den neueren Experimenten über die Verteilung der Aufmerksamkeit im Sehfeld und über die elektive Apperzeption und Abstraktion, Untersuchungen, zu denen vornehmlich die Verbesserungen der tachistoskopischen Methoden durch Wirth die Wege geebnet haben 2). Einer ausführlicheren Auseinandersetzung des Inhaltes und der Methoden dieser Untersuchungen kann ich mich um so mehr enthalten, als ein Teil derselben erst in dem vorangehenden Bande dieser Studien eingehend geschildert worden ist. Trotz der bedeutend größeren Komplikation der Aufgaben wird man aber nicht verkennen, daß hier jene Grundsätze der günstigsten Einstellung der Aufmerksamkeit, der Sicherung der Resultate durch Wiederholung der Versuche unter gleichen Bedingungen und endlich der angemessenen Variation der Bedingungen überall gewahrt sind. Das ist um so beachtenswerter, als gerade die tachistoskopischen Versuche zugleich das Verhalten der dunkleren Bewußtseinsinhalte und ihren Einfluß sowohl auf die Gesamtlage des Bewußtseins wie auf die apperzipierten Bestandteile ins Licht setzen. Naturgemäß ist aber dieses Studium der allgemeinen Bewußtseinsverhältnisse eine ganz unentbehrliche Vorbereitung für die Untersuchung aller komplexeren Vorgänge, vor allem derer des logischen Denkens, soweit diese überhaupt einer von dem Experiment geleiteten Selbstbeobachtung zugänglich sind. Es ist daher ein bedauernswerter Mangel der meisten Untersuchungen, die sich in neuerer Zeit mit diesen komplexeren Fragen beschäftigt haben, daß sie den letzteren in diesem Sinne völlig unvorbereitet gegenübertreten.

2) W. Wirth, Phil. Stud. Bd. 18 und 20, und Psychol. Stud. Bd. II, S. 30 ff. Vgl. auch Mittenzwey, ebenda S. 358 ff.